Wilhelm Raabe
Die Kinder von Finkenrode
Wilhelm Raabe

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22

Leise, aber unablässig schlug der Regen gegen die trüben, blinden Fensterscheiben der Redaktion des Kamäleons. Ich saß wieder auf demselben Platze, von welchem ich vor zwei Monaten mit dem Briefe des Notar Rettig so erregt und bewegt aufgesprungen war; saß und seufzte, seufzte – seufzte! Mir gegenüber in Weitenwebers Lehnsessel saß Hinkelmann, der kleine treue, gute, dicke Freund, und stützte den Kopf auf die Hände gleich mir. Quer durch das Gemach, hin und her, schritt ein drittes Individuum – ein sonderbares Geschöpf Gottes, begabt mit der liebenswürdigen Eigenschaft, überall in demselben Augenblick, in welchem es am wenigsten gewünscht wird, den Kopf in die Tür zu stecken und krampfhaft, hartnäckig zum Verzweifeln, Posto zu fassen – ein Individuum, über welches, offen gestanden, die Redaktion des Kamäleons, Weitenweber eingeschlossen, mit sich bis jetzt noch nicht ins klare gekommen ist.

Die Zeitungshaufen in den Winkeln hatten sich ein wenig vermehrt, der Staub ebenfalls – sonst war noch alles, wie es gewesen war, und immer noch rasselte und klappte die Druckerpresse dumpf im Nebengemach, jeden Gedanken, jedes Gefühl, welche nicht in »unser Blatt« paßten, in der Geburt erstickend, wie überflüssige junge Katzenbrut.

»Erzähle weiter, Max, armer Freund!« sagte Hinkelmann, und ich erzählte weiter:

»In dem Lampen- und Lichtschein, welcher aus dem Försterhaus im Himmelreich in die Wintermondnacht fiel, hielten jetzt beide Schlitten dicht nebeneinander, und die beiden Jägerburschen standen mit ihren Waldhörnern in der geöffneten Tür und bliesen von neuem uns den Willkommengruß. Der Papa Manegold, aus der Schmiede zu Finkenrode, empfing uns mit kräftigem Hurraruf, faßte sein Käthchen und hob es mit Kind und Fußsack und Mantel und Kragen in die Höhe, herzte und küßte es und trug es dann in das festlich glänzende, warme Heimathaus. Der Forstmeister von Altenbach bemächtigte sich nicht minder eifrig der Cäcilie, dem Konrad ward die Frau Pastorin zuteil, und langsam folgte ich mit dem jungen Pfarrer von Rulingen. Schweigend gingen wir nebeneinander dem Hause zu. Arnolds Haupt war auf die Brust gesenkt, er atmete tief und schwer. Die heiße Hand, mit welcher er die meinige hielt, zitterte. »Ich liebe sie – ich liebe sie!« flüsterte er, stehen bleibend – »o ich liebe sie, und sie weiß es – wir gehören einander in alle Ewigkeiten!«

Obgleich mir der Freund damit, seit einer Stunde, nichts Neues sagte, so griff ich doch mechanisch nieder in den Schnee und drückte eine Hand voll gegen die Stirn – alles Blut drängte sich mir gegen die Augen – ich sah nicht, hörte nicht in diesem Augenblick, schwindelnd lehnte ich gegen einen Baum: »Verspielt! verspielt! Rien ne va plus!« – – –

Der erschrockene Freund ließ meine Hand los und trat einen Schritt zurück. »Was hast du, Max? Um Gottes willen« –

»Nichts! nichts! – o ich freue mich über dein Glück. Es ist – wohl – eine – alte Liebe?«

»Lange, lange Jahre haben wir gewußt, daß wir einander zu eigen seien; aber wir haben es uns nicht gesagt, wir« –

Was der Pfarrer noch sagte, ging in dem fröhlichen Getümmel, welches das Försterhaus im Himmelreich, in das wir jetzt eingetreten waren, füllte, verloren. Weitenweber, rette!

»O schau sie an!« flüsterte mit glänzenden Augen der Jugendfreund mir zu, und ich blickte hinüber zu dem schönen stillen Stern, der mir hinein in den größten Schmerz meines Lebens geleuchtet hatte. – – Wo war ich denn eigentlich? Hier! Hier? . . . was wollte ich hier? Was hatte ich in dem Kreise dieser glücklichen Menschen zu schaffen? Hinkelmann, Hinkelmann, fühle nach, was ich in diesem Augenblicke fühlte!«

Hinkelmann seufzte und schüttelte das Haupt; der dritte Anwesende aber hielt in seinem Gange inne, blieb neben mir stehen, legte mir die Hand auf die Schulter:

»Alles Genießliche
Hab' ich genossen;
Alles Verdrießliche
Hat mich verdrossen.

Brauch' es jetzt wacker
Nur auszuschrei'n,
Um ein gelesener
Dichter zu sein!

Ich würde diese höchst merkwürdige, noch nie dagewesene Geschichte in Reime bringen, oder sie wenigstens in einem Feuilleton-Roman verwerten, oder einem andern die Erlaubnis geben, es zu tun. Weiter, Bösenberg! Sie interessieren mich ungeheuer!«

Ich schüttelte die Hand des Redenden ab und wandte mich wieder zu dem bedeutend zartsinnigeren Hinkelmann:

»Sie hatten das Häuschen inwendig überall mit grünen Tannenzweigen geschmückt; in versteckten Käfigen sangen mancherlei aus dem Schlaf geweckte Vögel, und das zahme Reh, mit einem roten Bändchen geputzt, hüpfte zur Feier des Abends zwischen den Gästen umher und leckte mir vertrauungsvoll die Hand. Die junge Mutter war mit ihrem Kindlein verschwunden und brachte es oben in seinem Wieglein zur Ruhe; einen letzten Blick warf ich auf die Cäcilie, dann schlich ich dem Käthchen nach, die Treppe herauf und pochte leise an die Tür des oberen Stübleins. Ich bekam die Erlaubnis einzutreten, und über die grüne Wiege weg erzählte ich der jungen Frau, was mir begegnet war in Finkenrode und in dem Pfarrhause zu Rulingen und in dem Försterhaus zum Himmelreich. – Und Käthchen Rösener faltete mit Tränen in den hübschen fröhlichen Augen die Hände im Schoße und sagte dann: »O wie traurig ist das! Wie ist das zum Weinen! . . . Ich hab' es wohl gewußt, daß sie sich lieb hatten, und lange, lange Zeit – aber es hat keiner wissen dürfen, und keiner hat es gewußt – – o bitte, bitte, lieber Herr Max, es ist eine Sünde, allzu traurig zu sein!«

Sie drückte mir die Hand über ihrem schlummernden Kinde, und ich sagte: »Viel Glück wünsche ich Ihnen in Ihrem ferneren Leben, liebes Käthchen; sagen Sie dem Konrad, weshalb ich heute abend verschwunden sei aus seinem fröhlichen Feste, sagen Sie, ich hätte Kopfweh bekommen.«

»O Sie wollen doch jetzt nicht gehen? Jetzt in der kalten Winternacht? O bitte! bitte!«

»Doch, doch, Käthchen, ich muß! Bitten Sie mich nicht zu bleiben – ich kann nicht, ich kann nicht.«

»Es ist nicht möglich, Sie können uns jetzt nicht verlassen!«

»Der Nachtgang wird mir gut tun; – noch weiß ich Weg und Steg in meinem Heimatswalde. Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Käthchen! Gruß allen glücklichen Herzen in diesem Hause – –«

»Lassen Sie mich es jetzt Konrad sagen! Lassen Sie mich Konrad rufen!«

»Nein, nein, nein!« rief ich, Käthchen bedeckte die Augen mit beiden Händen – ich war draußen, ich war auf der Treppe, lauschte noch einen Augenblick schwindelnd drunten auf der Flur dem Festjubel; dann eilte ich aus dem Hause und im vollen Lauf hinein in den Wald, den Hut mit beiden Händen auf dem Kopfe festhaltend. Ich glaubte einen Ruf hinter mir zu hören, aber es mag wohl nur Täuschung gewesen sein – immer zu! immer zu! Galopp! Galopp! Weitenweber würde schön gegrinst haben, wenn er mich gesehen hätte. Nach zehn Minuten gab ich es auf, mir selbst vermöge der Schnelligkeit meiner Füße zu entfliehen; außer Atem, betäubt, lehnte ich an dem Stamme einer Buche, die Hand fest auf das klopfende Herz gedrückt. Ich horchte – alles still – totenstill! Rings umher der Wald leuchtend und funkelnd im magischen Glanz! Dort, dort – war das nicht ein roter Flimmer in der Ferne? Noch einmal das Licht aus dem Försterhaus im Himmelreich – zum letzen Male! . . .

Lebe wohl, Cäcilie! Lebe wohl, Cäcilie! Ich dachte in diesem Augenblick an das Erwachen des alten Wallinger aus seinem langen Wahnsinn – die reine, kalte Luft der Winternacht verdichtete sich zu der erstickenden Atmosphäre, welche jenes Sterbebett in der Zigeunerwohnung umgab. Der Ohnmacht nahe, rang ich nach Luft. Gute Nacht, gute Nacht, – liebe – liebe Cäcilie! – – – – – – – – –

In Rot gekleidet, gleich der Stiefmutter im Märchen, ging die Sonne über den Bergen auf, als ich mich aus dem Frauenholze hervorwand und die beiden spitzen Türme der Martinskirche von Finkenrode aus dem wogenden, wallenden Nebel zu meinen Füßen ragen sah. – Zwei dumpfe Glocken lösten sich in langsamen Schlägen wechselnd ab, und ein Bauer, welcher die Landstraße hinan mir entgegenstieg, sagte mir, das sei das Totengeläute der Stadt, und ein Zeichen, daß ein Bürgerkind da unten begraben werde.

»Und wen bringen sie da zur Ruh?«

»Vor vierzehn Tagen hat er noch auf meiner Tochter Hochzeit zum Tanze aufgespielt. Er war nicht recht bei sich selbst; aber fiedeln konnte er noch, das war eine Pracht!«

Des Christen irdischer Leib muß, ehe man ihn der Erde wiedergibt, um die Kirche getragen werden, welcher der Verstorbene angehörte. Daher kam es, daß man in diesem Augenblick den alten Wallinger, welcher den Kirchhof von Finkenrode so nahe vor der Tür hatte, mir entgegen durch die Stadt aus dem Flußtor führte. Die Stadtmusik, einen Leichenmarsch blasend, schritt dem Zuge voraus: dicht hinter dem ärmlichen kleinen Sarge folgte Weitenweber mit dem Exschauspieler Mietze, an sie schloß sich in seiner Feiertagsuniform der Hauptmann Fasterling; den Schwanz des Zuges bildeten einige ehrsame Bürger, das Volk der Zigeuner und ein Haufen Kinder und Neugieriger. Ein grüner Kranz und die Geige des Toten lagen auf dem Sarge.

Weitenweber erblickte mich zuerst, winkte mir, und ich trat ein in den Zug, an seine Seite.

»Nun?!«

»Es ist vorbei – es ist aus! Ich bin verloren!«

»Ah! Wirklich? Hast du sie durchs Schlüsselloch belauscht?«

»Sie liebt den Arnold Rohwold aus Rulingen – es ist eine alte Geschichte – es ist eine alte Liebe!«

»Da hast du deinen Handschuh!« sagte Weitenweber, grinsend in die Tasche greifend. »Mach eine Elegie darauf, ich habe ihn dir gut aufbewahrt.«

Ich riß dem Lästerer den Handschuh aus der kalten, knöchernen Pfote, und zuckte zu einigen verwunderten Fragen und Glossen des Hauptmannes und seines Schwiegersohnes über meine plötzliche Erscheinung die Achseln. Damit erreichten wir den Friedhof von Finkenrode und die offene Grube, in welcher der Leib Günther Wallingers ruhen sollte.

»Anna Ludewig« – war in verwitterten Goldbuchstaben auf dem schwarzen morschen Kreuze, an welchem ich lehnte, geschrieben. Anna Ludewig – weiter nichts! –

Der Sarg des alten Musikanten stand jetzt über der Höhe, die mit Mühe in die fest gefrorene Erde gegraben war, die Totgräber hielten fröstelnd die Seile, an welchen er herabgleiten sollte. Worauf warteten wir noch?

Zu Häupten des Grabes richtete sich Weitenweber hoch und lang auf, ließ ein wenig Luft unter den Hut und begann:

»Wenn ich in diesem Augenblick im Kreise der mich und den Toten Umgebenden umherblicke, so finde ich auf keinem Gesichte jenen Ausdruck der Trauer, welcher einem andern ein größeres Recht, die Leichenrede zu halten, geben könnte, als mir. Gleichgültige, Kopfschüttelnde, Mitsichselbstbeschäftigte, ich kannte diesen Mann hier zu meinen Füßen; ich war zugegen, als der Schlag niederfiel, welcher ihn bis zum letzten Tage seines Lebens in die Nacht des Irrsinns einhüllte. – – – – – – Es war ein wilder Knabe, welcher damals in dein Dachstübchen drang, Günther Wallinger, und welchem du erzähltest von den Herrlichkeiten und der Schönheit der Welt und später auch von dem schönen Weibe, welches du nachher, als es finster in dir geworden war, so vergeblich suchtest in der herrlichen, schönen Welt. Günther Wallinger, damals dachtest du wohl nicht, daß ich es sein würde, der dir einstmals die ersten drei Hände voll Erde auf den alten müden Leib werfen würde? – Es richten sich jetzt viele neugierige Augen auf uns, Günther Wallinger; – aber schlafe ruhig weiter! Wer wollte wohl schwatzen und dem Schicksale seine Rätsel dem Menschenvolke ausplaudern?

»Meine Herren, es ist wohl schön und verständig, an jedem Morgen, welchen Gott gibt, den Kopf mit der Zipfelmütze aus dem Fenster zu stecken und sich zu freuen, daß noch alles am alten Fleck sich befindet – der Schornstein des Nachbars und der Wetterhahn auf dem Kirchturme, der plätschernde Brunnen, und vor allem der Bäckerladen; aber, meine Herren, während dessen dreht sich der Erdball selbst im Universum, Sonnen und Sterne schlingen ihren ewigen Reigen, und es ist nur ein Unglück, nicht Schuld, wenn ein armes Menschenkind so hoch in die Höhe geschleudert wird, daß es nie wieder den Boden der anständigen Realität erreicht, und selbst mittaumeln muß in den Klängen der Sphärenmusik. Hört es, ihr Leute von Finkenrode, einen echten Menschen und zugleich einen großen Künstler scharrt ihr hier ein: ich danke euch im Namen der Menschheit, daß ihr ihm dieses Plätzchen neben diesem halb versunkenen Kreuz gönnt, unter dem das kleine staubgewordene Herz begraben ist, auf welches mein vortrefflicher Freund Max Bösenberg eben den Fuß setzt; ich danke euch im Namen der Kunst, daß ihr ihn nicht mehr verhöhntet, ihr Leute von Finkenrode! – Los die Seile, ihr Männer! Ich habe gesprochen! Lebe wohl, Günther Wallinger!« –

Langsam sank der kleine Sarg hinab in die Grube, und die drei Hände voll Erde polterten aus Weitenwebers Hand ihm nach. Dann griff ich in den gefrorenen Staub, und mit ihm flog der Handschuh Cäciliens auf den Sarg des Musikanten.

»Gebt mir doch die Geige herauf – sie ist mein!« rief Martin Nadra dem Totengräber zu, der jetzt in dem Grabe stand, um einen Strick zu lösen, welcher sich in den Bleiverzierungen des Sarges verwickelt hatte. Weitenweber hielt den Arm des Zigeuners: »Ich kaufe sie Euch ab, Kamerad und Vagabund – laßt sie dem armen Teufel da unten.«

Die alte Janna nickte dem Beifall, und die Grube füllte sich allmählich. Ich nahm Weitenwebers Arm und schritt mit ihm durch die Menge, vorsichtig über die verschneieten Gräber weg, und erreichte, vom Fieberfrost geschüttelt, das Haus meines Oheims. Vierzehn Tage lang lag ich im Bett, ließ des Doktor Gundermanns Mixturen zwischen Wand und Bettrand zur Erde laufen, und ließ mir von Alexander Mietze Sidoniens Liebenswürdigkeiten und sein Glück preisen und von dem Hauptmann Fasterling Geschichten aus dem Feldzug in Frankreich erzählen.

Jetzt aber – Floh, her die Korrespondenz – ah, Freunde, Freunde – mir ist recht weh und unheimlich zumute – o, diese feigen Burschen vom Halbmond – es ist keine Möglichkeit, sie auf fünfzehn Schritte nahe zu bringen!«

»Und wo steckt denn Weitenweber noch?« fragte lachend der dritte im Redaktionsbureau des Kamäleons Anwesende.

»Verwaltet die Erbschaft meines Oheims und inspiziert den Weinkeller mit dem Doktor Gundermann. Man sagt in Finkenrode, er werde Fräulein Mümmler heiraten; aber fürs erste begnügt er sich damit, ein gutes Verhältnis mit dem Raben Jakob zu unterhalten.«

»Sind in Finkenrode außerdem noch hübsche Mädchen?« fragte Hinkelmann.

Ich nickte seufzend; der Kleine aber zupfte den Hemdkragen in die Höhe und sagte: »Ich werde in deinem Hause meine Villeggiatur nehmen!«

»Tue das, Hinkelmann; laß dich aber nicht von den Ratten aufressen.«

»Und ich werde mir dann den Schauplatz des Trauer- und Lustspiels: ›Die Kinder von Finkenrode‹ ansehen.«

»Tun Sie das, Corvinus! Viel Vergnügen!«

»Gute Nacht, Max; ich gehe zum Tee zur Geheimrätin Weißvogel.«

»Gute Nacht, Hinkelmann!«

»Und ich gehe heim, über Ihre Geschichte mich zu wundern.«

»Gute Nacht, Corvinus!« – – –

Die beiden waren gegangen; ich saß allein in dem Redaktionszimmer des Kamäleons. Draußen rieselte der Regen, draußen drängte sich das Volk, rollten die Wagen, klangen schrille Stimmen auf im wirren Durcheinander des Verkehrs der großen Stadt. – Mir war wirklich weh, sehr weh ums Herz . . . . . . . . . mir war sehr übel zumute! –

 


 


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