Wilhelm Raabe
Die Kinder von Finkenrode
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Als ich aus einem ziemlich unerquicklichen Schlaf gegen Mittag des nächsten Tages erwachte, saß der Schauspieler und Spiritusfabrikant Alexander Mietze, etwas bleich und übernächtig, neben meinem Lager. Alle meine Sünden traten mir bei seinem Anblick in die Erinnerung zurück. – »Meine Schuld war es nicht, Max!« sagte der Schauspieler.

»Meine Schuld war es auch nicht, Alexander! Der Punsch war jedenfalls zu stark.«

»Ja, er war zu stark!« sagte der Schauspieler mit einem tiefen Seufzer.

»Ich glaube, wir haben in vergangener Nacht tolles Zeug geschwatzt?!«

»Ich glaube es auch, Max!«

»Ah – ob wohl der Doktor noch etwas davon im Gedächtnis behalten hat, Alexander? Es wäre wahrhaftig teuflisch von ihm!«

Der Schauspieler lächelte schwach. »Ich hoffe, er hat seiner Frau sehr unklare Vorstellungen heimgebracht. Er war gottlob wacker über Bord!«

»Der liebe Gundermann!«

»Max, ich glaube, wir haben uns gestern abend mancherlei gesagt, was – was« –

»Was wir uns bei klareren Sinnen nicht gesagt hätten; – du magst recht haben!«

Ich zog die Bettdecke so hoch als möglich über die Ohren, um meinen Mißmut, meinen Ärger, meine Reue den Augen des Schauspielers zu entziehen. Dieser schritt im Zimmer auf und ab, wie es schien, ebenfalls sehr mit sich selbst beschäftigt.

Endlich streckte ich den Kopf wieder hervor:

»Was haben wir – für Wetter, Mietze?«

»Grau! Grau! Grau! Was für ein schöner Nagel dort an der Tür, um sich daran aufzuhängen!«

Ein zischender Ton ließ sich jetzt vernehmen, und Jakob der Rabe schritt aus dem Zimmer durch die halbgeöffnete Tür in die Kammer. Langsam und gravitätisch schritt er einher mit heiserem Gekrächz, von Zeit zu Zeit die gestutzten Flügel schüttelnd, als freue er sich ungemein, uns so – wohl zu sehen.

»Greuliche Bestie!« sagte der Schauspieler, vorsichtig vor dem Tiere zurückweichend. »Fort, Phantom! Was verfolgst du mich?«

»Gedenke zu lieben! Gedenke zu lieben!« sagte der Rabe lateinisch, sprang auf den Bettrand und bohrte den Schnabel in die Kissen.

»Geh ab, Jakob! Geh zur Renate und bestelle mir eine Tasse schwarzen Kaffees, und für den Herrn dort ebenfalls eine.«

»Ich danke dir, Bösenberg! Ich muß wieder in die frische Luft. Also Cäcilie« –

Blitzschnell saß ich aufrecht im Bett: »Mach, daß du zum Teufel kommst, Verräter! Fliege ihm ins Gesicht, Jakob!«

»Sei gegrüßt, Agathe!« krächzte der Rabe auf griechisch.

»Vortrefflicher Punsch!« lachte dumpf der Schauspieler. »Ich meinte, das Ideal suchtest du in Finkenrode nicht?! He, Bösenberg?«

Er war aus der Tür, ehe der Nebel, der sich vor meine Augen gelegt hatte, verflogen war.

»Ich wollte, ich säße im Bureau des Kamäleons!« seufzte ich. »Ich wollte – der Oheim Albrecht träte wieder in jene Tür dort und machte mir die Mitteilung, sie hätten ihn in der ewigen Seligkeit nicht gewollt, ich möge mich also gefälligst aus seinem Hause packen! Ich wollte – – – o Weitenweber! Weitenweber!«

Schwer sank mein Haupt wieder herab. – – – –

Horch, ein Wiegenlied aus dem Schatten blühender Obstbäume! Blütenschnee rieselt herab auf eine Wiege und auf ein darin schlummerndes Kind; – Bienen und Käfer und Schmetterlinge summen und flattern im Sonnenschein – fleißig, glücklich, müßig-selig!

Wie sanft und süß die Stimme der singenden Mutter ist! Leise schaukelt ihr Fuß die Wiege, und ihr Herz schaukelt sich mit im stillen Glück. Am Himmel und auf Erden ist kein störender, schwarzer Punkt, und alles gehört zueinander! Das offene Händchen des Kindes und die frühe Rosenknospe auf der weißen Decke! Die kleine, hübsche, bunte Spinne, welche an ihrem Faden in der ruhigen Luft schwebt, und das Knarren der Gartentür, die eben durch einen Mann geöffnet wird, welcher langsam, ein blaues Aktenheft unter dem Arm, über den reinlichen Weg an den Beeten hinschreitet!

Das Wiegenlied der Mutter bricht ab – lächelnd streckt sie dem Manne die rechte Hand entgegen und legt den Zeigefinger der linken an den Mund, daß er die kleine Schläferin nicht wecke. Welch einen vorsichtig-bewundernden Blick der Vater auf den schlummernden Liebling wirft! Er küßt die Frau, die ihn neben sich auf die grüne Bank zieht und ihm zärtlich die Schweißtropfen von der erhitzten Stirn trocknet.

Wigen wâgen
Gugen gâgen –
Minne, minne, trute minne,
Swik, ich wil dich wagen –
O, Cäcilie Willbrand! – – –

Der große Kastanienbaum in dem kleinen Garten vor dem Burgtor zu Finkenrode ist mit seinen Blüten geschmückt, wie ein Christbaum mit seinen Weihnachtskerzen. Alles Leben, welches den harten Winter hindurch in den braunen Knospenhülsen der Bäume und Gesträuche geschlummert hat, lugt keck und lustig hervor. Winzige geflügelte Wesen huschen durch die Luft und über den Boden hin; die Frösche hüpfen aus ihren Winterschlupfwinkeln, sonnen sich auf den Wegen und plumpsen bei jedem sich nahenden Schritt zurück in ihre Verstecke. Die Haselnußsträuche haben ihren gelben Blütenstaub liebend den roten Zäpfchen zugesandt – befruchtende Liebesgrüße!

Drei Kinder kauern unter der großen Kastanie und haben die Köpfe so dicht als möglich zusammengesteckt. Ein schlafender Maikäfer liegt auf dem Rücken bewegungslos in der Hand des Knaben – belauscht von den sechs glänzenden Kinderaugen.

»Er rührt sich!« sagt Käthchen Manegold.

»Nun hauche ihn noch einmal an, Max!« ruft Cäcilie Willbrand.

»Jetzt regt er sich! Sieh, er bewegt ein Bein!«

»Er streckt die Fühlhörner aus – das ist der Anfang – Gebt acht, nun macht er sich auf!« jubelt der Knabe und erwärmt noch einmal das schlummernde Tierchen durch seinen warmen Atem.

Cäcilie klatscht in die Hände: »Er ist aufgewacht! Er ist aufgewacht! Sieh, sieh!«

Mit allen Beinen zappelnd sucht das Tier auf die Füße zu gelangen; es gelingt ihm nach vielen vergeblichen Mühen.

»Laß ihn nicht fortfliegen – halt ihn! halt ihn!« rufen die beiden kleinen Mädchen, und der Knabe deckt schnell die andere Hand auf den Käfer, aber vergeblich! zwischen den kleinen Fingern durch drängt sich das Tier.

»Da ist er!« jubelt Käthchen. »O seht, was für große schwarze Augen er hat! Jetzt laß ihn, Max! Bitte, bitte!«

»Er zählt! Er zählt!« ruft Cäcilie – »Eins, zwei, drei –

»Maikäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg.«

»Jetzt geht«!« ruft Max Bösenberg.

»Nein, noch nicht; aber gleich – seht, wie er mit dem Kopfe nickt.«

»Wenn ihn nur kein Sperling fängt! Da – – surr!«

Der Käfer entfaltet die Flügel und summt im Bogen hinauf in die Frühlingsluft, den grünenden Zweigen des Kastanienbaumes zu. Ein Angstruf entringt sich allen drei Kindern – der Knabe greift nach einem Stein – ein hungriger Spatz schießt, ehe das Tierlein die schützenden Zweige erreicht hat, unter dem Baume durch und erfaßt dicht über den Lockenköpfen der Kleinen den unseligen Maikäfer und trägt ihn blitzschnell mit sich fort.

»Bösewicht!« ruft der Knabe und wirft seinen Stein dem Räuber und Mörder nach. »Kirschendieb! Galgendieb! Ach, der arme Maikäfer!«

»Ach, der arme Maikäfer!« klagt die kleine Cäcilie, und traurig singt Käthchen Manegold:

»Deine Mutter ist im Pommerland,
Das Pommerland ist abgebrannt.«

»Ach, dem ist's nun einerlei, ob die ganze Welt abgebrannt ist. Wenn wir ihn nicht losgelassen hätten, könnte er jetzt ganz ruhig in meiner hübschen bunten Schachtel sitzen!«

Wie der Hurlebach an der Weißdornhecke des Gartens vorbeimurmelt, der Hurlebach, der aus dem großen Walde kommt und soviel Märchen erzählen könnte, wenn er wollte. Eine kleine grüne Tür führt durch die Hecke, hinab an das plätschernde, seichte, klare Wässerlein, welches solche unerschöpflichen Schätze an glatten Kieseln und bunten Steinen aller Art auf seinem Grunde birgt. Schon haben die Kinder den Tod des armen Maikäfers vergessen – an dem Rande des Baches knieen sie, tauchen die kleinen Hände in die kühlen Fluten und ziehen ihre Geheimnisse hervor. Kindern ist alles Symbol, und alles – Blumen, Kiesel, Blätter, Grashalme, Insekten – wird ihnen zu Abbildern des Lebens, und im Spiel mit Blumen, Kieseln und Grashalmen zupfen sie an dem Schleier der Zukunft.

»Ich möchte wohl ein Vogel sein!« sagt plötzlich der Knabe.

»Und ich möchte wohl die Sonne sein!« ruft jubelnd Käthchen Manegold. Was wolltest du am liebsten sein, Cäcilie?«

Die beiden dunkeln Augen verlieren sich sinnend in dem blauen Himmel. »Ich möchte nichts lieber sein – ich möchte sein, was ich bin.«

»Nein, nein, nein!« ruft der Knabe. »Das gilt nicht; – nun verdirbt sie schon wieder das Spiel! Du mußt sagen, was du sein möchtest.«

»Sage es, Cäcilie!«

Die Kleine verbirgt ihr Gesicht in der Schürze; aber das wilde Käthchen reißt ihr dieselbe lachend weg: »Was möchtest du sein, was möchtest du sein, wenn du nicht Cäcilie Willbrand wärest?«

»Nun denn, wenn ihr es durchaus wissen wollt: ich möchte der Hurlebach sein.«

»O!« jubelt Käthchen.

»Der möchte ich auch wohl sein, wenn ich kein Vogel sein wollte,« ruft Max.

»Nun soll aber auch jeder sagen, weshalb er die Sonne, oder ein Vogel, oder der Hurlebach sein möchte; ich will den Anfang machen,« ruft Käthchen. »Die Sonne möchte ich sein, weil sie so schön und glänzend ist, und weil es immer schönes Wetter ist, wenn sie scheint, und weil ich sie leiden mag, und weil, weil« . . .

»Ein Vogel möchte ich sein,« fällt der Knabe eifrig ihr ins Wort, »weil der nicht bloß am Boden zu kriechen braucht wie wir Menschen und die andern Tiere; sondern in der Luft umherfliegen kann, von einem Baum zum andern, über die Dächer weg und über die Berge weg, wohin er will. Nun Cäcilie, weshalb möchtest du der Hurlebach sein?«

Die Angeredete fängt wieder an, mit ihrem Schürzenband zu spielen. »Ich möchte am liebsten Cäcilie Willbrand sein!« sagt sie furchtsam.

»Nein, nein, du hast gesagt, du wolltest der Bach sein – weshalb willst du der Bach sein? Sage?«

»Nun denn, weil er aus dem häßlichen, großen Walde glücklich herausgekommen ist, und immer an unserm Garten vorbeispielt, und immer unser Haus sehen kann, und die Mutter und den Vater. Hört nur, wie lustig er plätschert! Er freut sich, daß ihm nun die bösen Kobolde kein Leid mehr antun können.« Und das Kind kauert wieder nieder an dem murmelnden Wässerlein und läßt das klare, freundliche Element über die kleine Hand gleiten, als liebkose es die spielenden Wellen und Weilchen. Die beiden andern Kinder aber lachen und klatschen in die Hände: »O, sie glaubt, es gäbe im Walde Löwen und Bären, sie glaubt an Kobolde und Gespenster! Cäcilie, kleine Cäcilie!« –

»Und gibt es etwa keine Kobolde und keine Bären?« fragt die Kleine, die schwarzen Losen altklug schüttelnd. »Die Muhme hat mir von dem grünen und roten und blauen Zwerg erzählt, und in meinem Bilderbuch steht der Bär abgemalt« –

»Im Walde geht voll Grimm und Haß
Der Bär und orgelt seinen Baß«

lacht der Knabe.

»Seht ihr! Hört ihr! Ihr sollt nicht lachen,« ruft Cäcilie. »Mein gutes Bächlein freut sich doch, daß es aus dem bösen Wald heraus ist. Der Frau Rämer ihr Sohn ist darin totgeschossen, und sie haben ihn vor unserm Haus vorbeigetragen« –

»Höre, kleine Cäcilie,« sagt der Knabe wichtig, »der Bach bleibt ja aber nicht immer bei Eurem Garten und Hause, siehst du, er geht ja immer weiter; da unten hinter der Stadt fließt er in das große Wasser, und dann geht er mit den Schiffen und den Holzflößen weiter, immer weiter hinab, bis er in das große Meer kommt; das ist ja noch viel schlimmer als der Wald – die Walfische sind darin, und hunderttausend Menschen sind darin ertrunken.«

Das kleine Mädchen hatte aufgehört mit dem Wasser des Hurlebachs zu spielen, mit offenem Munde horcht sie den Worten des Knaben, während sie die Händchen an der Schürze trocknet.

»Ich möchte am liebsten Cäcilie Willbrand sein!« wiederholte sie – »o welch ein schöner Schmetterling!«

Ein neues Spiel beginnt; und der Hurlebach, aus welchem der Storch die Kinder holt, murmelt und plätschert immer fort, immer fort. –

Heiliger Gott, mit was für einem Satze war ich aus den Federn! Noch einmal schwang sich alles, was seit gestern abend in mir und um mich geschehen war, im tollen Wirbel in meinem Kopf herum: der Besuch in dem Häuslein vor dem Burgtor – die Schneenacht – der Punsch – das Erwachen vor zwei Stunden – der Besuch des Schauspielers – das letzte Traumspiel –

Wie eine Katze, die man aus einem Dachfenster geworfen hat, gelangte ich schwindelnd, zerschlagen auf festen Boden, auf die Füße, physisch und psychisch.

Beim Zeus, zwei Uhr! Das ist ein Vergnügen! Und so etwas konnte mir in Finkenrode passieren! Ist's nicht ein Seelen-Gaudium, in solchen Augenblicken Psychologie an sich selbst zu studieren, in solchen Augenblicken, wo man Sprünge macht, wie ein Frosch unter einer Luftpumpe? –

Mühsam gelangte ich in die Kleider, kroch in den Ofenwinkel und hüllte meinen Mißmut in immer dichtere Tabakswolken. Renate schlich um mich herum; mürrisch, murrend wedelte sie den Staub von den Tischen und Sesseln. Die Tausende von Bänden der Bibliothek meines Oheims glotzten wie ebensoviel böse Feinde aus ihren Fächern auf mich herab; nur Agathe Bösenberg lächelte süß milde wie immer und drückte ihr Kindlein an den Busen. Das Bild fing allmählich an, einen immer unbeschreiblicheren Zauber auf mich auszuüben, und in dem Anschauen desselben wurden die Minuten zu Stunden –

»Gruß dir, Agathe!« sagte ich wie der Rabe Jakob, welcher die tote Tante und ihr Kind lebend gekannt hatte. »Gruß dir, Agathe!«

Es war wieder Abend geworden, als ich müde und matt aufs Geratewohl einen Folianten aus einer der Bücherreihen hervorzog, den Staub abblies und aufs Geratewohl ihn aufschlug. Viel kurioses Zeug wurde auf den vergelbten Blättern erzählt; bis tief in die Dämmerung hinein blätterte ich in dem alten Bande –

»Es war aber derselbigen Göttin Venus Bild ein schönes Weib mit klaren lieblichen Augen. Ihr langes, gelbes Haar hing ihr bis an die Knie; auf ihrem Haubt trug sie einen Krantz von Myrthen mit rothen Rosen umbgeflochten und auf ihrem Hertzen eine brennend' Fackel mit hellen Strahlen. In ihrem lachenden Munde hielt sie eine beschlossene Rose und in ihrer rechten Hand die ganze Welt, eingetheilt in Himmel, Erden und Meer. Ihre Töchter aber, die Charites, die hatten einander lieblich in die Arme gefasset und hielten einander mit abgewandtem Gesicht Gaben zu – welches bedeut', daß die Liebe blind ist. Für den gülden Wagen, darauf sie stunden, gingen zween weiße Schwanen und zwo weiße Tauben. –«

Um zehn Uhr lag ich wieder im Bett und träumte weiter von der Göttin Venus, und den Töchtern derselben, den Charitinnen, und von Cäcilie Willbrand, der schönen, stillen Jungfrau mit der sanften Stimme, in dem kleinen grünen Häuschen vor dem Burgtore von Finkenrode.

 
————————
 


 << zurück weiter >>