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Rezept, um den Redefluß jüngerer und älterer Juristen in das gehörige Bett zu leiten: Man sorge, daß jeder ein Glas Zuckerwasser vor sich habe und erwähne beiläufig die lex Aquilia! – Weitenweber lehrte mich dies Mittel; Weitenweber hatte sich in den Strudel des Finkenrodener gesellschaftlichen Lebens gestürzt! Er verglich anmutig genug seine Gefühle mit denen des Affen, als dieser die Leiter hinab in den gefüllten Salon der Arche Noah stieg.
Wir feierten der Aufforderung des Hauptmanns gemäß die Verlobung Alexanders und Sidoniens; Weitenweber machte Visiten, quälte den Notar Rettig nebst Familie, peinigte den Pastor Primarius Wachtel und seine Angehörigen, elendete den Syndikus Mümmler und Landrat Tendler samt den Ihrigen; Weitenweber besuchte den alten Wallinger und schloß Freundschaft mit der Familie Nadra. Weitenweber strich gleich einer lebendigen Vogel- und Kinderscheuche durch die Stadt und um die Stadt, stieg auf die Kirchtürme und auf die Berge, kroch in die Keller des Rathauses und in das – Herz des Hauptmanns Fasterling – Weitenweber fand auch den Weg in das stille Stübchen des kleinen grünen Häuschens vor dem Burgtore: er erzählte den Frauen Geschichten – von mir – von mir! Alte, alte Geschichten! . . . Weitenweber wurde mir fürchterlich; ich begriff wahrlich nicht mehr, wie ich ihn mir jemals hatte nach Finkenrode wünschen können. Allmählich geriet ich jedesmal, wenn sein Schritt sich irgendwie hören ließ, wenn er den Mund öffnete, in eine nervöse Aufregung sondergleichen. Hätte ich den Wackern durch ein Zauberwort nach dem Kap der guten Hoffnung versetzen können, ich würde es ohne Bedenken mit Wonne ausgesprochen haben, und viele Leute in Finkenrode hätten jubelnd eingestimmt.
Es war nicht zum Aushalten! Wäre sein Mittagsschlaf nicht gewesen, ich hätte es auch nicht ausgehalten.
Neujahrstag!
Von dem Lehnstuhl des Oheims her tönte es: Trrrr – trrrr – trrrr! Ich saß, den Kopf auf beide Hände stützend, und ließ vor meinem Geiste noch einmal alles vorübergehen, was mir die letzten Monate dieses Jahres gebracht hatten: ich seufzte und ich lächelte – ich seufzte wieder und ich seufzte noch einmal –
Trrrrrrrr!
Der Himmel war dunkel und nebelig, die Fensterscheiben waren überfroren; trotz der frühen Tageszeit war das Gemach bereits in jenes träumerische Dämmerlicht gehüllt, in welchem sich der Geist so gern verliert, in welchem man so leicht alle klaren, bestimmbaren Gedanken aufgibt, um ein phantastisches Bild an das andere zu knüpfen, um eins jener lustigen bunten spanischen Schlösser aufzubauen, welches beim Erwachen zusammenfällt, wie ein Kartenhaus, wenn an den Tisch gestoßen wird.
Erwachend aus meinem Halbschlaf fand ich mich an der Tür, die Hand auf den Griff legend. Manche Glückwünsche hatte ich heute am Morgen abgestattet; sie hatte ich noch nicht gesehen!
»Trrrrr – rr – Max, bleibe bei mir! Geh nicht von wir, Max!«
Ich drückte den Hut mit dem Krampf der Verzweiflung auf die Stirn; mit einem Satz war ich draußen –
»Nimm mich wenigstens mit, Max!«
Ich stürzte, die Zähne zusammenbeißend, die Treppe hinunter. Ich stand in der Gasse!
Mit unsäglicher Lust atmete ich die scharfe, frische Luft ein und eilte dann schnellen Schrittes die Straße hinab, öfters über die Schulter zurückblickend, ob der Unhold mir nicht auf den Fersen folgte. Ein langes Wesen stiefelte zwar hinter mir her; aber ich hatte keine Ursache, mich zu entsetzen: der Herr Syndikus Mümmler und Weitenweber sind zwei ganz verschiedene Personen.
In dem Häuschen vor dem Burgtor trat meinem Glückwunsche Frau Agnes mit einem zierlich gefalteten Schreiben entgegen.
»Wir haben auch einen Brief bekommen, und dem Forstmeister von Altenbach hat der Bote ebenfalls einen gebracht.«
Ich entfaltete das Schreiben – ein Gevatterbrief aus dem Himmelreich!
»Hurra, ein fröhliches, fröhliches Neujahr!« rief ich, erst der Mama, dann der Cäcilie die Hände schüttelnd. »O das ist herrlich, das ist prächtig!«
»Käthchen und Konrad lassen die schönsten Grüße bestellen. Wir fahren mit dem Forstmeister,« sagte Cäcilie, »ich freue mich recht darauf!«
»O ich auch, ich auch!« murmelte ich, den lustigen Brief zum zweitenmal überfliegend. Wie strahlte der dunkle Wintertag! Wie leuchteten die Augen Cäciliens! Trotz dir, Weitenweber! Stelle das ganze Haus Bösenberg auf den Kopf und das Universum dazu! Diesen Brief kannst du mir nicht nehmen!
»Wann? Wann, Cäcilie? Wann fahren wir in den verzauberten, verschneieten Wald, wann fahren wir in das Himmelreich?«
»Sie haben ja zweimal den Brief gelesen,« sagte Cäcilie lächelnd. »Morgen früh um elf Uhr wird der Forstmeister mit seinem Schlitten uns abholen; es ist die schönste Schneebahn bis Rulingen. Wir fahren ins Pfarrhaus, und von dort holt Konrad uns ab in den Wald.«
»O herrlich! herrlich!« rief ich und fragte dann weniger laut: »Und die Mama nehmen wir natürlich auch mit?!«
»Die Mama muß das Haus hüten,« sagte die Frau Agnes. »Ich hoffe, der Herr Forstmeister und Sie, Herr Max, werden die Cäcilie recht beschützen und gut auf sie acht geben. Der Herr Forstmeister hat es mir schon versprochen.«
Ich versprach es ebenfalls und blickte dabei nach Cäcilie hinüber, welche still vor sich hin lächelte; die süßen Augen halb verhangen durch die schwarzen seidenen Wimpern. Eiskalt lief es mir aber durch alle Glieder, als sie, nach dem Fenster gewandt, plötzlich sagte: »Da kommt Ihr Freund – der Herr Doktor Weitenweber – es ist wirklich ein wunderlicher Mann!«
Ich fuhr bestürzt in die Höhe; richtig, da kam er langbeinig, bedächtig langsam durch den Schnee, die Nase hoch im Winde; Theobul Weitenweber, Doktor der Philosophie, Hauptredakteur des Kamäleons! . . . Er näherte sich der Gartentür –
»Er wird Sie suchen!« rief die Frau Agnes. »Ich werde« –
»Um Gottes willen!« rief ich, entsetzt ihre Hand fassend, »bleiben Sie, bleiben Sie, beste, liebste Frau! Lassen Sie mich die Haustür verriegeln, bitte, bitte!«
»Aber –?«
Ein Augenblick aufgeregtester Spannung erfolgte jetzt für mich. Das Ungeheuer hatte die Gartentür erreicht, legte beide Pfoten auf das Gitter und hob sich auf den Zehen, über den Zaun grinsend. Aufmerksam betrachtete es die Fußstapfen im Schnee, den Gartenweg entlang, welche sich in der Haustür des kleinen grünen Hauses verloren. Jetzt! . . . . . . Nein, er schnitt eine Fratze, die Hände schoben sich wieder in die Taschen; er machte linksum kehrt, der Herrliche, und langsam schritt er zurück, wie er gekommen war. Er begnügte sich mit dem Schreck, welchen er mir eingejagt hatte.
Ich sollte nun angeben, weshalb ich meinen Freund fürchte, und murmelte etwas von »Tavernenhumor«, »absoluter Negation«; aber die Frauen wollten sich nicht damit begnügen. Was sollte ich sagen?
»Ein echter Zeitungsschreiber geht ins Wasser wie ein Pudel, ins Feuer wie ein Salamander, erhebt sich in die Luft wie ein Luftballon, genießt Gift wie Mithridates; ein echter Zeitungsschreiber fürchtet nichts als – seinen Kollegen, haßt nichts als seinen Nachbar in der Tinte!« sagte ich endlich. – »Ich fürchte und verabscheue meinen Freund Weitenweber!«
»Das ist schlimm, sehr schlimm!« sagte Cäcilie traurig. »Aber ich glaube es nicht!« rief sie im folgenden Augenblick heiter. »Er ist ja Ihr Freund!«
Ich besitze die glückliche Gabe, erforderlichenfalls so naiv aussehen zu können, wie ein neugeborenes Kind; das hat mich schon über manche Fährlichkeiten hinweggehoben und hob mich auch über diese hinweg. Ich hob nur die Schultern ein wenig und seufzte. – Durch Seufzen verdirbt man im Leben weit weniger, als durch Lächeln: eine wohl zu berücksichtigende Anmerkung!
Die Sonne hob jetzt vorsichtig den Wolkenschleier ein wenig von ihrem schönen Antlitz und lugte hervor über die Welt und über das Städtchen Finkenrode – zum ersten Male in diesem jungen Jahre. Die beiden Resedabüsche in dem Fenster öffneten jetzt ihre bescheidenen kleinen Blüten, die weiße Winterrose entfaltete ihre schönste Knospe zu voller Pracht; das Geranium fing an zu duften, und dem Spatzenvolke draußen gingen die zugefrorenen Schnäbel auf, und wacker holte es zwischen den kahlen Baumzweigen, von denen es glänzend niedertropfte, mit Zwitschern, Zirpen, Pfeifen, Flattern und Fluttern das Versäumte nach. Ich saß und trank Kaffee und aß Festkuchen und dachte nach, wie die Welt so schön und behaglich sei, und wie Cäcilie Willbrand doch das Herrlichste und Schönste in dieser schönen, behaglichen Welt sei. Jetzt schritt durch das alte Burgtor der Pastor Primarius Wachtel in seinem ehrwürdigen lutherischen Chorrock stattlich aus der Nachmittagskirche zurück, und seine drei Töchter folgten ihm ehrfurchtsvoll in einiger Entfernung, Arm in Arm, die Gesangbücher und das weiße Taschentuch in den Händen. Das war alles so hübsch, so festtäglich heiter, daß ich jetzt mit wahrer Wehmut an den finstern Schatten Weitenweber dachte, der nun wieder – Gott weiß wo – einsam umherstrich und seine unheimlichen Gedanken zerkauete, ohne daß ihm jemand im Himmel und auf Erden helfen und ihn trösten konnte. Ich sagte das auch der Cäcilie, und ihre Augen begannen im feuchten Glanz zu leuchten.
»Weshalb wollten Sie nicht, daß wir ihn hereinriefen?« sagte sie. »Wir hätten es ihm gewiß behaglich machen wollen; wir hätten ihm gesagt, daß die Welt nicht ganz Nacht sei!« Ich neigte beschämt das Haupt und dachte vernichtet, daß ich nie ihrer würdig sein würde; die Mama aber schaute unwillkürlich durch das Fenster nach dem Redakteur des Kamäleons aus, um ihn durch das vortrefflichste Stück ihres Festtagsgebäcks gutmütig über den Schmerz des Lebens zu trösten.
Immer mehr schwanden die Wolken am Himmelsgewölbe, immer ungetrübter strahlte die Sonne; aber es ward kalt, sehr kalt. Das Getröpfel des Daches und der Baumzweige erstarrte und verwandelte sich wieder in glitzernde Eiszapfen; bald genug überleuchtete den Westen das schöne Rot des winterlichen Sonnenunterganges. Wir hatten es nicht bemerkt, daß es Abend wurde; von Weitenweber war das Gespräch auf die ewige Sehnsucht des Menschen nach dem Schönen, auf das dunkel-traurige Schicksal und Ende des alten Kindes von Finkenrode, Günther Wallinger, gekommen.
Cäcilie hatte sich plötzlich erhoben. »O, lassen Sie uns jetzt noch zu ihm gehen! Mein Gott, wie ist mir denn – es war mir eben, als ob ich deutlich – dicht neben mir seine klagende Stimme hörte –«
»Cäcilie?!« . . . rief die Mama, ängstlich die Hände faltend.
»Gewiß, gewiß, er bedarf meiner! Ich fühls, er verlangt nach mir – erlaube mir, daß ich gehe, liebe, liebe Mutter – er hat mich gewiß gerufen!« . . . . . . . .
Einige Minuten später war ich mit Cäcilie auf dem Wege zu dem kranken Musikanten. Die Jungfrau beflügelte ihre Schritte so viel als möglich. »Spotten Sie meiner nicht,« sagte sie, »ich vermag es selbst nicht, mir Rechenschaft von dem Gefühl zu geben, welches mich so urplötzlich durchzuckte; aber es ist etwas mit ihm vorgegangen. Ist er tot? Ist er genesen? – ich weiß es nicht; aber er hat mich gerufen – kommen Sie, kommen Sie!«
Er hatte gerufen, und wir kamen gerade zu rechter Zeit.
Auf der Flur der Zigeunerwohnung kauerten die Kinder verschüchtert auf den Treppenstufen. Martin und seine Frau empfingen uns mit den Gebärden tiefster Bekümmernis.
»Ist er tot? – ist er gestorben?« rief Cäcilie.
»Es wird nun gut mit ihm, schönstes Fräulein, sagt die Großmutter Janna. Sie ist oben bei ihm und der fremde Herr auch. Er hat mit dem fremden Herrn noch lange gesprochen. Die Großmutter sagt, es ist klar mit ihm geworden in voriger Nacht.« Der Zigeuner wies auf die Stirn. »Horch, horch!«
Geigentöne, wie von einer allgemach ersterbenden Hand dem Instrument entlockt, drangen wunderlich schaurig von oben herab.
»Er spielt sein Totenlied!« flüsterte die Frau Lena. – »Still, ihr Krabben, still, im Namen der Jungfrau –«
Ich hatte die Hand Cäciliens ergriffen und führte sie die Treppe hinauf; die schwarze Henne der Zigeunermutter kratzte an der Tür, durch welche die Geigentöne hervordrangen; die Schleiereule in ihrem Käfige kreischte unheimlich über unseren Köpfen, als ich die Tür öffnete.
»Weitenweber!?« sagte ich verwundert, als mein erster Blick auf den Genannten fiel, der mit der alten Janna am Bett des Sterbenden saß. Wallinger, durch Kissen unterstützt, saß aufrecht auf seinem Lager und ließ die Geige bei unserm Eintritt sinken.
»Da ist sie! Dank! Dank! Ich kenne dich! ich kenne dich! Dich allein kenne ich, du Holde, Schöne, Gute! – Erlöst! erlöst! – – O gib mir deine Hand – die Hand, welche mich geschützt hat, welche über mir gewesen ist in der langen, langen Nacht – gib! gib!«
Zitternd legte Cäcilie ihre Hand in die des Musikanten.
»Das war in vergangener Nacht,« fuhr dieser fort, »da hab' ich mich wiedergefunden! Ihr habt die Neujahrsglocken um Mitternacht und den Choral, welchen sie vom Turme bliesen, auch gehört, wie ich! – Ich erwachte aufschreiend aus einem wirren Traume voll unheimlicher, nebelhafter, wirbelnder Gestalten – es war Licht um mich, in mir! Wie soll ich das sagen? Wie soll ich das schildern? Ich wußte nicht, wo ich war, und ich wußte doch, daß ich in der Heimat war, und ich wußte, daß alles gut sei! . . . O die Glocken, die Glocken! – Die Lampe war erloschen, und ich lag still in der Finsternis auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gekreuzt, in tiefster innerster Seligkeit und Befriedigung! . . . Die Glocken! die Glocken! die Glocken der Heimat! . . . Und jetzt die Hörner und Trompeten in der stillen Nacht – dieselbe Weise, in welche ich einst selbst mit eingestimmt hatte, an der Seite des Vaters, hoch über der dunkeln Erde –
»Laß dies sein ein Jahr der Gnaden, –
sang meine ganze Seele mit, ohne daß ein Laut über meine Lippen kam. Kind, Kind, die Hand der Gnade war über mir – von den meisten Gräbern dort leuchtete es auf, und der Nebel über ihnen verdichtete sich; die Toten schwebten heran, und die Toten waren die Lebendigen, und tot war die übrige Welt, die ich ja nicht mehr kannte, von der ich ja nichts mehr wußte. Sie nickten und lächelten, die seligen Freunde, und die Kindheit und die Jugend lagen wieder vor mir wie ein blühender Garten. ›Komm! komm!‹ klang es um mich, und jetzt schon wäre ich mit den Winkenden, Rufenden gegangen – da schwiegen die Töne des Chorals, ein Hund schlug unten an, und ein anderes Tier kreischte dicht neben mir, dort hinter der Tür. Ich lag still, ganz still, die Augen nach dem Fenster gerichtet, und langsam, langsam kehrte ich in die Welt der Wirklichkeit zurück. – Nun steigen sie mit ihren Windlichtern die steile Wendeltreppe herab in die stille, dunkle Kirche, wo der Küster sie in der Sakristei, auf dem kleinen Schemel am Ofen sitzend, erwartet. Jetzt treten sie aus dem Portal neben der Linde – und Meister und Gesellen trennen sich und eilen durch die dunkeln Gassen zu ihren Wohnungen, zu ihren Weibern und Kindern. Die Tränen liefen mir leise über die Wangen im unendlichen Heimweh. Was alles hatten die Menschen getrieben, während ich verzaubert lag, was war geschehen? – Eine furchtbare Angst um das kommende Morgenlicht ergriff und schüttelte mich wie im Fieber. ›Laß mich sterben! Laß mich sterben, ehe die Sonne kommt, die ich nicht mehr kenne!‹ flehte ich aus tiefstem Herzensgrunde. ›Laß mich nicht mehr das Licht sehen, das ich nicht mehr begreife! Zeige mir nicht mehr, wo ich bin! Laß mich heimgehen – – jetzt, jetzt!‹ . . . Es sollte nicht sein; aber die Nacht um mich und in mir bewegte sich – ich hörte eine Stimme, welche ich nicht gehört hatte in den Zeiten, als ich noch Günther Wallinger war – eine sanfte Stimme. Tröstend sprach sie zu mir, und im stillen Frieden tauchte ein Menschenantlitz auf aus dem Dunkel – – – du, du, du warst es – ich kenne deinen Namen nicht – o sag ihn mir nicht – aber ich weiß, daß du mich geschützt hast, daß dich Gott gesandt hat, Barmherzigkeit zu üben an mir, dem Wahnsinnigen, dem Verlorenen!« – – – – – – – –
Cäcilie weinte laut in den Armen des Sterbenden – Weitenweber drückte die geballte Faust auf die Brust – vergebens rang ich nach Atem, nach Luft.
Jetzt ließ der Alte die Jungfrau wieder frei; aber ihre Hände behielt er fest in den seinigen. Die letzten Strahlen der in den winterlichen Dunstmassen des Horizonts versinkenden Sonne leuchteten über den Kirchhof der Stadt Finkenrode und röteten zum letzten Male das Gesicht des Kindes von Finkenrode, welches ausgezogen war, das Ideal zu suchen, und welches nun dicht vor dem geheimnisvollen Vorhang stand, der es uns allen verbirgt.
»Ich gehe nun!« sagte der alte Wallinger leise, »ich gehe mit der Sonne, mit der schönen Sonne, die ich so lange Jahre nicht gesehen! Weine nicht, Kind – o weine nicht! Gott schenke dir ein friedliches, stilles Leben und einen Tod wie den meinigen! Kind, Kind – es ist bös von mir, daß ich dich hier festhalte, da ich dich nicht ganz mit fortnehmen kann – o geh! geh! Ich weiß nicht, wo und wie du lebst; o mögen viel Rosen und Lilien vor deinem Fenster blühen und die Vögel dich abends in den Schlaf singen und dich am Morgen mit ihren schönsten Liedern wecken! Geh – geh!«
»Laß mich, o laß mich hier bei dir bleiben!« schluchzte Cäcllie.
»Ich sehe die Sonne nicht mehr,« sagte der Alte. »Was für ein Jahr schreibet ihr jetzt, ihr Menschenkinder?«
Es ward dem Sterbenden gesagt, und er legte sinnend die Hand auf die Stirn. »Da ist eine lange Zeit vergangen wie eine kurze Nacht – was treiben die Geschlechter der Menschen jetzt auf Erden?«
»Sie freien und lassen sich freien! Es ist, wie es war und wie es sein wird! Geht zur Ruh, Wallinger!« sagte Weitenweber.
»Wie steht es im deutschen Land?«
»Es ist, wie es war! Auf derselben Stelle halten wir Schule für die Völker, die da kommen und gehen. Fühlende, denkende – zweifelnde Millionen quälen sich auf derselben Stelle, gleich unfähig zum Glauben, zur Liebe wie zum Haß, unfähig deshalb, Ein großes Volk zu sein.«
»Und die großen Männer in der Nation?«
»Tritt zu ihnen droben, Günther Wallinger, und sag ihnen, daß wir Götzendienst mit ihren Knochen treiben und Ketten schmieden in den Erzgruben, die sie uns aufgedeckt haben, Becher der Wollust aus den Gold- und Silberschätzen gießen, zu denen hinab sie den Weg gefunden und den Schacht gegraben haben!«
Ein Lächeln, still und friedlich, spielte auf dem Gesichte des Sterbenden. Seine Augen hatten sich geschlossen, seine Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig; – er schlief! Was hatte er mit den Worten des Redenden zu tun? Die alte Janna betrachtete aufmerksam seine Züge; sie nahm leise seine Hand aus der Cäciliens:
»Sprecht nicht mehr zu ihm!« sagte sie. »Der Tod tritt ihm zum Herzen. Sprecht zu Euren Engeln, daß sie kommen und ihn hinauftragen in den schönen Garten zu dem alten Mann, von dem die Kinder da unten erzählen. Die Geige hat er dem Martin versprochen!« – – – – – – – – –
Die Sonne war lange untergegangen, aber der Mond stieg in voller Pracht empor an dem kalten Winterhimmel, als ich die betäubte Cäcilie heimführte durch die Gassen von Finkenrode. Weitenweber war bei dem Kranken geblieben und lauschte an der finstern Pforte des Todes und legte das Auge an das Schlüsselloch – Weitenweber wollte dem alten Günther Wallinger die Augen zudrücken! . . . . . .
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