Wilhelm Raabe
Die Kinder von Finkenrode
Wilhelm Raabe

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12

Der Hauptmann Fasterling trommelte leise, aber grimmig an der Fensterscheibe; im Nebenzimmer war der Schauspieler Alexander Mietze mit der Skizzierung der Kostümbilder für die »lebendigen Bilder«, von denen oben schon einmal die Rede gewesen ist, beschäftigt. Fräulein Sidonie schaute über die Schulter des Mimen den geschickten Bleistiftzügen desselben zu, und nach einem letzten Blick auf das eifrig beschäftigte Paar schritt ich auf den Zehen zu dem Hauptmann hin und legte ihm leise die Hand auf die Schulter.

»Nun, teuerster Herr Hauptmann« –

Ein unverständliches Geknurr unterbrach mich.

»O, das ist herrlich!« rief Sidonie. »Das ist vortrefflich, lassen Sie mich noch einmal sehen, Herr Mietze!«

»Teufel! Teufel!« brummte der Hauptmann. »Das ist ein Herz und eine Seele – Himmel und Hölle, bringe sie auseinander, Max!«

Ich legte den Finger auf den Mund, schritt zu der Tür des Nebenzimmers und zog sie leise zu. Dann legte ich mein Gesicht ln die feierlichsten Falten, trat dicht vor den alten Krieger hin und sprach:

»Geben Sie sie mir, Herr Hauptmann Fasterling!«

Der Alte machte einen Satz mitten in das Zimmer hinein.

»Was? Meine Tochter einem Zeitungsschreiber? Einem von der Linken? Einem Wühler?«

Ich zuckte die Achseln und ließ einen kläglichen Ausdruck über meine Physiognomie hingleiten.

»Blücher und Bomben! Hab' ich da etwa den Iltis gerufen, um den Fuchs zu verjagen? Einem Schlechte-Witzemacher mein Kind – einem Journalisten« –

»Bürger und Hausbesitzer zu Finkenrode – es wäre noch gar so übel nicht, Papa Fasterling! Aber trösten Sie sich; sie – will mich gar nicht« . . .

»Das wollt' ich ihr auch geraten haben.«

Ich stieß einen herzzerbrechenden Seufzer aus, und der Alte musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen.

»Na, mein Junge« –

»Lassen Sie, Hauptmann! Ein Literat ist gleich einer Katze; man mag sie noch so hoch herabwerfen, sie kommt immer wieder auf die Füße,« sagte ich, und verweise auf das vorige Kapitel.

»Das ist recht! Das ist brav! Siehst du, mein Junge, ich kann unmöglich mein Apfelpfropfreis auf solch einen sauern Holzbirnenbaum pfropfen – bitt' um Entschuldigung! – weißt du was, wir wollen ein Glas Wein zusammen trinken!«

»Teuerster alter Freund,« sagte ich mit einem Blick nach der Seitentür, – »lassen Sie das. Ich habe durchaus keinen Ärger hinabzuspülen. Wir wollen's für eine andere Gelegenheit aufsparen: wer weiß, was die Zukunft bringt!«

»Das sagte der Rittmeister Fielitz auch, als er auf einer Schleichpatrouille in Frankreich, in der Dunkelheit sich eine halbe Stunde lang mit einem Zug russischer Husaren herumgeschlagen hatte, welche er für Franzosen hielt. Na, Max, es war nur Euer Spaß eben, nicht wahr?«

»Ja, es war nur mein Spaß!« sagte ich und horchte auf. Eine andere Stimme erklang noch im Nebenzimmer.

»Das ist ja Cäcilie Willbrand!« rief der Hauptmann. »Max, das ist ein Mädel! Ach, wenn doch die Sidonie so wäre!«

Ein rosiger Nebel lag vor meinen Augen, als wir wieder in das andere Zimmer traten –

Cäcilie Willbrand! – – – – – – – – – – – –

»O Papa, Papa!« sprang uns Sidonie entgegen. »Sie haben es wieder fertiggebracht! Sie sitzen wieder!«

»Wer sitzt? Ihr Diener, Cäcilie! Wer hat es wieder fertiggebracht?«

»Die Nadras, Papa! Meine großen Kinder! Cäcilie bringt uns eben die Nachricht« –

»Das Teufelszeug!« rief der Hauptmann, – »das Gesindel! Was mag es nun wieder angefangen haben, Cäcilie? Haben sie gestohlen, haben sie sich oder anderen die Köpfe blutig geschlagen? – ich habe wahrhaftig keine Lust mehr, mich mit ihnen abzugeben« –

»Aber ich!« jubelte Sidonie. »Ich! Sidonie Fasterling!«

»Und ich!« sagte der Schauspieler leise.

»Ich auch!« sagte Cäcilie. »Sie behandeln den alten Wallinger sehr gut« –

»Ich auch!« fiel ich so eifrig als möglich ein. »Schauen Sie nicht so grimmig drein, Herr Hauptmann; wahrhaftig, ich fühle mich ganz kollegialisch zu den Vagabunden hingezogen.«

»Als wir in Frankreich waren« –

»Gott, ach Gott, Papa, du bist unerträglich mit deinem ewigen – Als wir in Frankreich waren! . . . Cäcilie, erzähle, was unsere Schützlinge getan haben.«

Cäcilie zuckte die Achseln. »Es ist mir völlig unbekannt; Wallinger konnte durchaus keine Nachricht darüber geben, er mengte wie gewöhnlich allerlei Wundersames, Vergangenes und Gegenwärtiges durcheinander. Er ist sich ja nur klar, wenn er seine Geige handhabt, oder vor einem Fortepiano sitzt.«

»Soll ich meinen Caliban auf Kundschaft ausschicken?« fragte der Schauspieler. »Der Bursch wird wohl noch nichts von dem Mißgeschick seiner Familie vernommen haben.«

»Wie wär's, wenn ich selbst den Meister Martin aufsuchte?« fragte ich.

»Ja, ja! Das tun Sie, Herr Vetter! bitte, bitte!« rief Sidonie. Cäcilie lächelte ihre Zustimmung, ich nahm den Hut und ging. –

Das Gefängnis der Stadt Finkenrode befindet sich in dem schon einmal von mir erwähnten Burgtor. Vagabunden, unglückselige, beim Betteln ertappte Handwerksburschen, heimatlose Weiber mit ihren Kindern, Forstfrevler und Gartendiebe müssen oft genug in seinen dunkeln, feuchten, kalten Räumen unbehagliche Stunden und Tage hinbringen. Der Kerker selbst befindet sich rechts von dem Torwege, und durch ein kleines Guckfenster mit eisernem Gitter fällt ein schwaches Licht hinein. Drei ausgetretene Stufen führen zu der niedern im Spitzbogenstil gebauten Tür dieses Gefängnisses, in welcher ein kleines Loch, das durch eine Klappe verschlossen werden kann, sich befindet und dem Gefangenen gestattet, ein wenig frische Luft in seinen dumpfigen Aufenthaltsort zu lassen. Es haften viele meiner frühesten Erinnerungen an diesem alten Gebäude; manches unheimliche Gefühl erregte es mir in meiner Kindheit; und mit geheimem Schauder und Gedanken an Henkersknechte, Marterinstrumente und allerlei böse Gespenster begleitete ich mit den Genossen den dicken Polizeimann der Stadt, Herrn Grippelmann, wenn er ein unglückliches Opfer in diese finstere Höhle schleppte.

Mancherlei Schauergeschichten erzählte man von dem Burgtor und seinem Kerker: ein Handwerksbursche sollte darin von den Ratten gefressen worden sein, und beim Abbruch eines Pfeilers fand man natürlich zwischen dem Schutt in einer Höhlung ein Gerippe im Harnisch. Ein alter Vers ging von dem Burgtor in der Stadt Finkenrode; die Wärterinnen sangen ihn den Kindern vor, und die Handwerker regelten nach seinem Takt den Schlag ihrer Hämmer und Äxte.

Im Sommer ziehen die Töchter des Gefangenwärters in den Scherben vor den schießschartenartigen Fenstern der Dienstwohnung desselben im Turm mancherlei Gewächse: Goldlack, Kresse und Schnittlauch, und geben dem finstern Gebäu dadurch ein etwas freundlicheres Ansehen; heute deutete mir nur ein leichter Rauch, der aus dem Schornstein aufwirbelte in die Nebelluft, an, daß der menschenfeindliche Ort doch seine Bewohner habe.

Ein Kinderhaufen bildete im zertretenen Schnee einen dichten Kreis um die Gefängnistür, als ich mich ihr näherte. Ein kleines Männlein stand auf den Stufen und steckte den Kopf in die eben von mir beschriebene Klappe. Ich erkannte den Musikanten Wallinger in ihm, schritt durch die Kinderschar hindurch und legte ihm leise die Hand auf die Schulter. Schnell drehte sich der arme Künstler um; er machte mir eine tiefe Verbeugung, die Schar der kleinen Buben und Mädchen jubelte ironisch, und ein Schneeball flog gegen die Tür. Vor einer Handbewegung meinerseits zerstob jedoch der Schwarm der Finkenrodener Jugend; zwei funkelnde, schwarze Augen in einem gelblichen hagern Gesicht leuchteten mir aus dem Dunkel des Gefängnisses entgegen.

»Lassen Sie ihn am Leben – es ist so hart, den Kopf zu verlieren!« sagte der kleine Wallinger mit gefalteten Händen. »Vielleicht weiß er auch etwas von der Prinzessin!«

Eine zum Nehmen gekrümmte Hand kroch langsam aus der Klappe hervor.

»Seid Ihr der Zigeuner Martin Nadra?«

»Zu Diensten, gnädiger Herr! Den ganzen Tag Martin Nadra – zu Diensten der ganzen Welt! Haben Sie nicht etwas kleines Geld bei sich, allergnädigster Herr?«

»Deshalb komme ich nicht. Fräulein Sidonie Fasterling, welcher ihr soviel Mühe und Not macht, Martin, will wissen, weshalb ihr hier wieder im Loch steckt?«

Martin, der Zigeuner, stieß einen gewaltigen Seufzer aus und kratzte sich hinter den Ohren, wurde aber in demselben Augenblick zurückgezogen, und ein anderes Gesicht erschien in der Türklappe.

»Das ist die Frau Lena!« sagte mit dem Lächeln der Irren der alte Musikant.

»Das schönste Fräulein schickt den gnädigen Herrn?« rief das Zigeunerweib mit kreischender Stimme. »Tausend Segen Gottes über sie – wir haben nichts Unrechtes getan – wir haben Böses mit Bösem vergolten – da haben sie uns in den Turm geworfen« –

»Habt ihr noch jemanden von eurer Familie bei euch, Leute? Wo stecken die Mädel und die Buben?«

Das braune Weib machte eine ungemein bezeichnende Handbewegung über den Mund weg und grinste dabei sehr bedeutsam.

»Ich bin ein Freund! In frühern Zeiten haben wir uns recht gut gekannt – Max Bösenberg! Erinnert Ihr Euch?«

»Ah!« rief das Weib. »Die heilige Jungfrau sei gesegnet – das ist der kleine Max aus dem großen Haus, der einmal mit uns fortlief auf den Jahrmarkt« –

»Richtig! Richtig! Ein andermal mehr davon! Jetzt sprecht, wo sind die Kinder?«

»Wir stecken allein darin, allerschönster junger Herr,« rief Martin aus dem Hintergrunde. »Die Großmutter sitzt zu Haus bei den Kleinsten, der Anton ist bei dem gnädigen Herrn Mietze, und die andern« –

»Nun, die andern?«

»Wir wissen es nicht, schönster Herr Max! Sie sind noch nicht nach Haus gekommen, sagt Herr Wallinger! Dieser Herr da!«

Der alte Wallinger stand und hielt den linken Arm vor sich, als läge eine Violine darin; mit dem rechten Arm und der rechten Hand machte er die Bewegung des Geigens: vollständig hatte er das ihn Umgebende vergessen. Die Kinder sammelten sich bereits wieder in einiger Entfernung, und auch die erwachsenen Finkenrodener wurden aufmerksam. Ich suchte meine Unterredung mit den Landstreichern zu Ende zu bringen.

»Es ist wieder über den Rollo hergekommen!« sagte der Zigeuner, streckte seine linke, braune Pfote aus und schlug klatschend mit der rechten drein. »Das war vor einem Jahr in Volkmannsdorf – er sollte dem Schulzen ein Huhn gestohlen haben; aber ich glaube es nicht! – als er zurückkam, war sein schöner Schwanz ab. Das arme Vieh! Es sah gar nicht mehr aus wie ein Mensch, und kein Bauer wollte nachher mehr glauben, daß der kluge Hund mit allen großen Potentaten Karte gespielt habe. Na, dem Schulzen haben wir's gezeigt! Die Buben und Mädeln mußten ihm in der Nacht die Fenster einwerfen« –

»Und ich ließ ihm des Nachbars Schweine in den Garten!« rief die Frau Lena. »Da kamen wir zum erstenmal von wegen des Rollo in den Turm, – und – – und jetzt ist der tot, und – und die Frau Oberpastorin ist schuld daran, und der Knecht auf dem Pfarrhofe. Wir haben geheult um den Hund, als wär's unser eigen Kind, und der Pfarrknecht hat sich aus seinem armen Fell eine Mütze gemacht! – Es ist ihm aber schlecht bekommen, und der gnädigen Frau Pastorin hab' ich's auch vergolten, und nun sitzen wir hier wieder, weil wir uns unser Recht genommen haben – wir hätten's sonst ja nicht gekriegt!«

»So ist die Geschichte!« sagte ich. »Und die Kinder« –

»Verraten Sie nicht, daß die Kinder dabei gewesen sind, allergnädigster Herr«, flüsterte das gelbe Weib ängstlich. »Es ist so ungesund, so kalt in dem Loch – bitte, bitte, lassen Sie sie zu Hause – wir Alten sind es auch nur allein gewesen!«

»Ich werde Fräulein Sidonie und Fräulein Willbrand die Lage der Dinge verkünden, ihr tollen Menschenkinder. Gehabt euch wohl so lange; vielleicht können wir etwas für euch tun.«

»Segen Gottes und aller Heiligen auf den Herrn!« schrie Martin. »Wir gehen für die Herrschaft durch Wasser und Feuer und wollen alle zerbrochenen Töpfe in des Herrn Hause für umsonst kitten und binden! Der hübsche Hund Waddel ist auch ein Söhnlein des armen Rollo – da ist die weiße Spitzhündin auf dem Pfarrhofe« –

Ich winkte lachend mit der Hand. »Hinc illae lacrimae!« sagte ich, als ich die Stufen der Gefängnistreppe herabsprang. »Wollen Sie mich nicht begleiten, Herr Wallinger?«

Der Angeredete schüttelte ängstlich den Kopf. Ich wiederholte meine Frage; aber er antwortete nicht. Ich ließ ihn an der Tür des Gefängnisses von Finkenrode. –

Wer sagt, daß Finkenrode, das vergessene Städtlein, nicht seine Geheimnisse habe?

Der Wald hat seine klugen Zwerge und Alraunen, das Wasser hat seine Nixen und Undinen, von Salamandern und Feuergeistern lebt die Flamme: auch die Menschenwelt hat ähnliche Erscheinungen, und ich liebe diese Erscheinungen und denke ihrem unberechenbaren Wesen und Treiben nach. – Es ist ein seltsam Studium in einer Zeit, wo die schwarze Kunst zu einem Ammenmärchen geworden ist, in einer Zeit, wo die Zucht- und Besserungshäuser, die Irrenanstalten so höchst vortrefflich eingerichtet sind.

»Es hätte schlimmer sein können,« brummte der Hauptmann, als ich das Erfahrene im Auszug mitteilte. Sidonie lachte wie toll, der Schauspieler teilte ihre Heiterkeit. »Der arme Rollo!« sagte Cäcilie, »er konnte so herrliche Kunststücke machen – das ist abscheulich, daß sie ihn tot geschlagen haben!«

»Als wir in Frankreich waren – wollen Sie uns schon verlassen, Herr Mietze?«

»Leider!« sagte der Schauspieler, und ein Vergnügen war es, das ehrenfeste Gesicht des zukünftigen Schwiegerpapas zu beobachten.

»Wir sind Ihnen so tief verpflichtet für Ihre vielen Mühen um unsere Aufführung, Herr Mietze,« sagte Sidonie. »Es wird aber auch prächtig werden! Alle jungen Damen der Stadt sollen eine Dankadresse an Sie aufsetzen« –

»O, ich bitte!« rief Mietze und hätte dem holden Bäschen beinahe im feurigsten Theaterpathos die Hand geküßt, wenn nicht in demselben Augenblick das kokette Lächeln von den Lippen der Reizenden verschwunden und sie nicht mit einem feierlichen »Gehorsamste Dienerin!« in einer tiefen Verbeugung zurückgesunken wäre. In Ermangelung eines Besseren hätte nun der Schauspieler und Spiritusfabrikant Alexander Mietze beinahe an – dem Daumen gesogen, gleich einem Kinde, welches nach einem Stück Kuchen gegriffen hat und dem ein Schlag auf die verlangende Hand zuteil geworden ist. Einige neue Verbeugungen, und der Schauspieler lud seinen Sack voll süßer Schmerzen, seliger Hoffnungen, quälender Zweifel auf und ging. Cäcilie schüttelte kaum bemerkbar das Haupt: sie war höchstwahrscheinlich die einzige, welcher der arme Teufel leid tat. Der Hauptmann begann von neuem den Dessauer Marsch zu trommeln: Waddel schnappte, am Ofen liegend, nach der letzten Winterfliege, welche abzurichten der Hauptmann sich vorgenommen hatte, und Sidonie – Sidonie, die Komödiantin, brach urplötzlich in das hellste Gelächter aus, welches jemals von einer Mädchenkehle angestimmt wurde. Cäcilie blickte verwundert auf, der Hauptmann am Fenster drehte sich schnell um, Waddel, der Sohn Rollos, des künstlichen Hundes, kam aus seinem Winkel hervor.

»Was hast du, Sidonie?«

»Nun, was gibt's, Sidonie?«

»Ich – ich – ich – ich dachte an die Frau Oberpredigerin Wachtel und unsere eingesperrten Taugenichtse!«

Das war eine kleine Lüge, und jeder der Gesellschaft wußte es; sagte es aber aus den verschiedenartigsten Gründen nicht, und das Gespräch kam wieder auf die Familie Nadra: Menschen, Hunde, Affen, Esel und Katzen.

Es war Dämmerung geworden.

Gerhard, der Hausknecht, hatte verkündet: es lasse sich zum Frost an! Die Magd stellte die Teegerätschaften auf den Tisch und die unangezündete Lampe daneben; die Stadt Finkenrode hinter den niedergelassenen Fensterscheiben schwieg bis auf eine Zugharmonika, aus welcher ein musikalisches Talent anmutig die Melodie: Schier dreißig Jahre bist du alt – hervorzog; der Hauptmann mit der langen Pfeife schritt gleich dem Geist eines guten Bürgers der guten alten Zeit seinen gewöhnlichen Weg, quer durch das Gemach, hin und her –

Dämmerung!

Rolands Horn ertönt hilferufend über Berg und Tal, und Kaiser Karl wendet lauschend sein Streitroß – Peter Schlemihl sucht jammernd seinen verkauften Schatten – Reineke Fuchs lugt blinzelnd aus seiner Feste Malepartus – Faust und Mephistopheles lauschen vor Gretchens Tür – Kriemhildens Klage erschallt an Siegfrieds Leiche – Leibgeber und Siebenkäs, hager und dürr, schreiten lächelnd durch die Gassen von Kuhschnappel – Barbarossa schaut auf aus seinem Traum: fliegen noch immer die Raben um den Kyffhäuser? . . .

O du schaurig-süße germanische Dämmerung mit deinen Irrlichtern und Sternschnuppen; schütt aus dein buntes Spielzeug deinen deutschen Kindern! –

»Ach, was für Not mir das gelbe Volk macht!« rief Sidonie altklug. »Wie Kinder sind sie! Wie Kinder lachen sie, weinen sie, sind sie boshaft, zänkisch, diebisch – artig und unartig. Das sind seltsame Menschen. Hätten sie uns nicht, den Papa, die Cäcilie und mich; es ginge ihnen gewiß sehr übel. Und wir können ihnen nicht böse werden – was sie Ihnen gesagt haben, Herr Vetter Bösenberg, würden sie ganz gewiß tun: die ganze Gesellschaft, – alt und jung, Kinder, Hunde und Affen – ginge durch dass Feuer für uns. Erinnerst du dich noch, Cäcilie, wie sie im vorigen Jahre für uns beide durchs Wasser gingen?«

»O, das erzählen Sie mir!« rief ich.

»Es ist nicht viel daran; aber du kannst die Geschichte immerhin anhören,« brummte der Oheim. »Die Frauenzimmer denken bei jedem Wassertropfen, welcher ihnen auf die Nase fällt, gleich ans Ersaufen!«

»Danke, Herr Hauptmann!« lachte Cäcilie, und Sidonie begann:

Wir hatten uns im vorigen Juli, an dem heitersten Morgen, aufgemacht, um das Käthchen im Walde ein wenig eifersüchtig auf ihren rotköpfigen Schatz zu machen. Cäcilie ist eine schlechte Fußgängerin« –

»Die erste Lüge!« rief der Hauptmann, in seinem Marsche innehaltend. Cäcilie lachte. »Sie verwechselt die Persönlichkeiten,« sagte sie.

»Unterbrecht mich nicht,« fuhr Sidonie fort, »ich erzähle die Geschichte zum zwölften Male und erzähle sie deshalb auch gut. Cäcilie Willbrand ist eine schlechte Fußgängerin und war schuld daran, daß wir das Försterhaus statt zur Mittagszeit erst am Nachmittag erreichten und natürlich keinen Menschen zu Haus fanden. Karo, der Hofhund, begrüßte uns zwar anfangs mit seinem Gebell, legte sich aber, nachdem er uns erkannt hatte, wieder auf die Seite, ohne ferner Notiz von uns zu nehmen; obgleich Waddel, der mit uns ging, sehr höflich und zuvorkommend gegen ihn war.«

»Das einsame, verlassene Försterhaus war allerliebst in seiner Stille,« sagte Cäcilie. »Im Garten summten die Bienen in der Bohnenblüte, ein Specht arbeitete an einer hohen Eiche – o wie schön und heimlich war der Wald rings umher! Ich blickte durch das Fenster in Käthchens Stübchen – es war alles wie ein Märchen! – Der kleine Nähtisch, die tickende Uhr an der Wand, der Lehnstuhl hinter dem Ofen, alles war so unbeschreiblich friedlich, heimlich, daß es mir wahrhaftig leid getan hätte, wenn in diesem Augenblick einer der Bewohner des Hauses erschienen wäre und das hübsche Bild gestört hätte.«

»Waddel und ich waren anderer Meinung!« lachte Sidonie. »Das Mittagsessen hätte ich zur Not noch entbehren wollen; aber den Kaffee – Cäcilie, gestehe es ein, verdrießlich war es doch, daß die Vögel ausgeflogen waren, und das Nest leer stand?«

Cäcilie zuckte lächelnd die Achseln, und Sidonie nahm die Erzählung wieder auf.

»Unserm Rufen antwortete niemand, wir waren müde und konnten doch nicht still sitzen; das heißt, Cäcilie wollte es nicht. Vielleicht treffen wir die Ausgeflogenen an der steinernen Frau, ich glaube, da ist man mit Waldarbeiten beschäftigt, – meinte sie, und so zogen wir denn auf gut Glück immer tiefer in das Dickicht hinein, und der arme Waddel humpelte immer verdrießlicher hinter uns her. Den seltsamen Felsen, die steinerne Frau, erreichten wir freilich nach vielem Klettern und Rutschen; aber von dem Käthchen, ihrem Gemahl und den Waldarbeitern war nichts zu sehen und zu hören. Hätte ich mich nicht halsstarrig, fest entschlossen, keinen Schritt weiter zu gehen, neben Waddel auf die Erde geworfen, Cäcilie wäre auch noch auf den alten Steinklumpen geklettert, so aber fühlte sie eine menschliche Rührung, lachte über unser Gebaren und ließ sich ebenfalls auf dem nächsten moosigen Stein nieder. Da sind wir! sagte ich. Was nun weiter? – Hier ist noch ein Kuchen für Waddel und einer für dich – antwortete sie – diese Kirschen wollen wir teilen, Sidonie!« –

»Es war ein herrliches Plätzchen,« sagte Cäcilie. »Ein Eichhornpärchen jagte sich um einen Buchenstamm, die Fichten dufteten so köstlich – das Gras war so weich, so frisch, so grün –«

»Daß ich den Kopf in deinen Schoß legte und einschlief! Ja, es war reizend!« rief Sidonie. »Wenn ich nur wüßte, was du unter der Zeit angefangen hast, daß du von dem aufsteigenden Gewitter gar nichts merktest!«

»Ich habe vielleicht ebenfalls geträumt, wie du,« lächelte Cäcilie.

»Wahrhaftig, ich träumte!« lachte Sidonie. »Was träumte mir doch? Richtig, ich saß in der Kirche zu Finkenrode, und rings um mich her saß die Gemeinde, und jeder hatte statt des Gesangbuches einen Blumenstrauß in der Hand, und die Orgel klang, und wir sangen einen langen, langen Gesang. Dann trat der Oberprediger Wachtel auf die Kanzel, wendete den Hals nach allen vier Himmelsgegenden und sagte: Als wir in Frankreich waren« –

»Donnerwetter! Dummes Zeug!« rief ärgerlich der Hauptmann Fasterling.

»Richtig, Papa, das war es auch! Und das Donnerwetter stand auch am Himmel, als ich mit einem Schreckensschrei auffuhr. Waddel heulte jämmerlich; zwar schimmerte ein kleines Stückchen blauen Himmels durch die Baumzweige über mir, aber es war doch ganz dunkeldämmerig im Walde geworden. Cäcilie! Cäcilie! rief ich, aber das Mädchen hörte nicht; ganz starr saß sie da und starrte unbeweglich in den Wald hinein. Ich sprang auf und schüttelte sie – Cäcilie, Cäcilie! um Gottes willen, ein Gewitter, – so hör doch! – Sie fuhr mit der Hand über die Stirn und sah mich groß an; erst allmählich kam sie wieder zur Besinnung. – Ich glaube, ich habe auch geschlafen, sagte sie. – Mit offenen Augen? fragte ich; aber die Angst vor dem Donner ließ mich bald alles um mich her vergessen.«

»Fürchten Sie sich so vor dem Donner, Fräulein Bäschen?« fragte ich.

»Schrecklich!« sagte die Cousine, und der Hauptmann und Cäcilie Willbrand bestätigten es durch ihr Kopfnicken, Waddel durch ein kurzes Gebell.

»Du dummes Tier, ich begreife heute noch nicht, weshalb du das Maul nicht eher aufmachtest, wenn du merktest, daß ein Gewitter herankam!« redete Sidonie den Köter an. »Ich meine, ihr Vierbeine merkt das so lange vorher? – Ach, du lieber Gott – ach ja, es war mir recht schlecht zumute, das Weinen war mir näher als das Lachen, allen Trostsprüchen Cäciliens zum Trotz, und jetzt kam nun auch noch der Wind und faßte die Baumwipfel und bog die Tannen, und große Regentropfen schlugen nieder.«

»Ich mag den Wind auch nicht!« sagte ich.

»Ich mag ihn wohl« meinte Cäcilie. »Wenn er mich faßt und mir den Atem so in die Brust zurückdrängt, ist es mir immer, als gehöre ich in solchen Augenblicken der Natur mehr an, als sonst – ich kann es nicht recht ausdrücken; aber ich mag auch gern in einem dichten Nebel oder in einem Schneegestöber gehen, in welchem man keinen Schritt weit sieht und jede Richtung verloren hat. Es ist ein so ängstliches Behagen an den Wirkungen der großen Kraft, die um einen waltet – der Sturm bläst mir immer alle Alltagsgedanken und Alltagssorgen aus der Seele.«

Ich lauschte atemlos und schwieg; der Hauptmann rief: »Bravo!« und Sidonie lachte und klatschte in die Hände und rief: »Ja, es ist so, ich kann's bezeugen, sie lehnte sich an die nächste Tanne – obgleich der Blitz am ehesten in die Bäume schlägt – und ließ sich von ihr hin und her schaukeln« –

»Es war ein wundervoller Aufruhr im Wald!« sagte Cäcilie. »Ein Klingen, Ächzen, Rauschen und Brausen erfüllte ihn – es ward mir, als läge ich in einer großen Wiege, und die große Mutter Natur schaukelte ihr kleines Kind.«

»Ja, ja!« rief Sidonie. »Aber Waddel und ich, wir fühlten uns nicht so sicher aufgehoben. Das arme Tier kroch ängstlich, so dicht als möglich, an mich heran, und winselte stehend an mir empor. Die Regentropfen schlugen mir eisig genug ins heiße Gesicht, und mein Herz pochte gewaltig. Die Augen schloß ich, und vor die Ohren hielt ich die Hände – ich schäme mich gar nicht, es zu sagen, Herr Vetter aus der Residenz; aber ich muß auch der Cäcilie ihr Recht angedeihen lassen. Als das Laubdach und die Tannen keinen Schutz mehr gegen den nun immer stärker herabströmenden Regen gewährten, machte sie eine Felsspalte in der Wand der steinernen Frau ausfindig, eine Art Höhle, ans welcher sich vor langen Jahren einmal ein Felsenstück losgelöst haben mußte: dahin schleppte sie mich, wie ein Kind, und die Vertiefung hatte Raum genug für uns alle drei und auch noch für einen großen Schröter, welchen der Wind von einer Eiche herabgeworfen haben mußte, und der zu unsern Füßen am Boden kroch. Cäcilie faßte ihn vorsichtig und nahm ihn unter Dach und Fach, obgleich er sich undankbar sehr bemühete, sie mit seinen großen Scheren zu packen. Papa, ein solches Gewitter habt Ihr doch nicht erlebt, als ihr in Frankreich waret! – Waddel, denkst du noch daran?«

»Ich hätte wohl einen Blick in dieses Schlupfwinkelchen werfen mögen!« sagte ich seufzend.

»Ich auch,« sagte der Hauptmann. »Das mag ein Häuflein Unglück gewesen sein!«

»Durchaus nicht!« lachte Cäcilie. »Sidonie fing an zu stricken, was sie konnte, und hatte sich wirklich nach zehn Minuten soweit beruhigt, daß ich sie nur mit Mühe und Not abhalten konnte, dem armen Waddel den Hirschkäfer mit den großen Scheren an den Schwanz zu hängen.«

»Natürlich!« brummte der Hauptmann. »Menschen und Vieh muß sie quälen.«

»Das Gewitter verrollte; aber der Regen ließ nicht nach,« fuhr Cäcilie fort. »Ich wurde selbst für unsern Heimweg besorgt, als plötzlich ein Schatten auf mich fiel, Sidonie erschreckt einen kleinen Schrei ausstieß und Waddel aufsprang und laut bellte. Ein junges Mädchen stand vor unserm Schlupfwinkel, im strömenden Regen, und betrachtete verwundert das seltsame Nest, ein großes Klettenblatt über den Kopf haltend. Das Wasser troff aber dessenungeachtet aus ihrem schwarzen Haar, und die Kleider hingen ihr feucht am Körper herab. Sie sah sehr hübsch, wild und romantisch aus. Es war Marianne, die älteste Tochter des Zigeuners Martin Nadra. Schnell war ich auf den Füßen; ach – ich freute mich doch herzlich, ein menschliches Wesen zu erblicken. ›O die Fräulein, die schönen Fräulein im Wald und im Wetter!‹ kreischte das Kind, und zog die schwarzen Haarflechten durch die Finger, daß das Wasser in Perlen über die Hand lief. ›Gottlob, Marianne, daß du da bist!‹ rief Sidonie, ›der Himmel hat dich geschickt: wo sind die andern?‹ Das Zigeunermädchen zeigte die weißen Zähne und wies in den Wald hinein. ›Dorten – ich will die Mutter rufen – das ist ein Prachtwetter – aber nicht für die schönen Damen! – bin gleich zurück.‹ Sie war verschwunden, wie sie gekommen war, bald aber hörten wir ihren Ruf in der Ferne, darauf andere Stimmen und Hundegebell, welchem Waddel fröhlich antwortete, und einige Augenblicke später waren wir umgeben von der seltsamen Schar unserer Freunde.«

»Da hättet ihr das Volk sehen sollen!« rief Sidonie. »Das war ein Treiben, Lärmen, Purzelbaumschlagen um uns her! Die Kinder tanzten und kreischten im Regen, die Mama Nadra aber kauerte vor uns nieder, schluchzte, lachte, streichelte uns die Hände und Kleider, versicherte hoch und teuer, daß das Wetter uns nichts tun würde; die Großmutter habe es schon besprochen und bespreche es noch – und in demselben Augenblick meldete ein neues Jubelgeschrei uns die Annäherung der Alten. Auf ihren Krückstock gestützt, humpelte das alte Weiblein daher, begleitet von dem tollen Musikanten Wallinger, der seine Geige sorgsam unter den Rockschößen gegen den Regen verbarg. Ein wunderliches Paar! Vor ihnen her trippelte die schwarze Henne der Alten; die Männer der Familie schienen abwesend zu sein. Kennen Sie den Wettersegen der Zigeuner von Finkenrode, Herr Vetter?«

Ich verneinte es und sprach den Wunsch aus, ihn kennen zu lernen für eintretende Fälle.

»Warten Sie!« rief Sidonie und sprang zu ihrem zierlichen Schreibtischchen, in welchem sie eine Zeitlang kramte und suchte. »Willst du die Güte haben, die Lampe anzuzünden, Cäcilie. Ach, ein wenig Ordnung könnte mir doch nicht schaden« –

»Durchaus nicht! im Gegenteil!« sagte der Hauptmann; die Lampe flammte auf, das Zimmer trat ins Licht – der Zettel mit dem Wettersegen fand sich, und das Bäschen stellte sich deklamierend mitten in das Gemach:

»Jesus Christus, ich bitte dich! Jesus Christus, Sohn Gottes, laß uns nicht vergehen!

Buro, Baro, Kirn, Ofel, Jop! – Mausa, Coma, Broit Zorobam –

    Haltet den Wind! Haltet den Wind!

Jungfrau Maria, sei uns gnädig! Sei uns gnädig!

    Halt den Blitz! Halt den Blitz!

Jesus, Maria, Lukas, Markus, Matthäus und Johannes, legt Ketten an dem Donner! Kaspar, Melchior, Balthasar –

    Schützet uns! Schützet uns!

Im Namen des Vaters, laßt keinen Schaden geschehen an Mensch und Vieh, an Leib und Seele, an Korn und Getreide!

Mit Gottes Hülfe und Gottes Gnaden und Beistand; und mit Beistand der hohen göttlichen Worte und Namen – Amen! Amen! Amen! Amen!«

»Welch ein tolles Gemisch von Heidentum und Christentum! Sie müssen mir eine Abschrift dieses prächtigen Spruches überlassen, Sidonie.«

»Bei jedem Amen wird ein Kreuz nach einer der vier Weltgegenden hin geschlagen,« sagte Cäcilie. »O Herr Bösenberg, Sie müssen die Bekanntschaft der Großmutter Janna machen – sie kann Ihnen auch von dem Fall des heiligen römischen Reiches erzählen, kennt Mittel gegen allerlei Krankheiten der Tiere und Menschen und weiß viel Sagen, Geschichten, seltsame Lieder und Sprüche. ›Nun, Mutter Janna,‹ fragte ich sie, ›wird der Spruch gegen den Regen helfen?‹ – ›Mein schwarz Hühnel bleibt im Regen gehen, es hört so bald nicht auf. Wie sollen die schönen Fräulein nach Haus kommen? Der Hurlebach wird wild genug sein; oben in den Bergen sind zwei Wetter zusammengestoßen.‹ – Der Hurlebach ist freilich nur ein altklug murmelndes Waldbächlein, aber wenn er böse wird, dann ist gar nicht mit ihm zu spaßen, wir wußten, daß wir für einige Zeit jedenfalls von jedem Weg nach Haus, oder nach dem Försterhause im Himmelreich abgeschnitten waren, wenn uns nicht andere Hülfe, als die Zigeunerweiber und Kinder geschickt wurde. – ›Wo sind denn eure Männer?‹ fragte ich, und die Frau Nadra wies nach Westen. – ›Sie graben an der Eisenbahn, der Landrat hat sie hingeschickt. Wir mit den Tieren liegen im Dorf Rulingen und helfen den Bauern im Feld, und die Kinder müssen da in die Schule gehen, sonst nimmt man sie uns weg.‹ – ›'s ist nicht mehr, wie in alter Zeit‹ – sagte die Großmutter kopfschüttelnd: ›O je, die Männer graben, die Weiber sitzen und spinnen, die Kinder lernen die schwarzen Zeichen! Seit das römisch' Reich all geworden ist, ist's aus mit der freien Herrlichkeit des fahrenden Volkes.‹ – ›Sollten wir an der Brauteiche über den Hurlebach gelangen können?‹ fragte ich die Lena. Ich dachte an die Sorgen, welche sich meine Mutter um mich machen würde« –

»Der Papa macht sich um mich keine Sorgen – deshalb konnte ich ganz ruhig in dem Felsenwinkelchen, zu den Füßen der steinernen Frau, sitzen bleiben!« lachte Sidonie.

»›Es wäre der einzige Weg‹ meinte die Frau Nadra. ›Wollen die Fräulein es versuchen?‹ Wir erklärten uns bereit dazu, ein allgemeines Lustgeschrei der Kinder begleitete unsern Aufbruch. Sidonie hing sich an meinen Arm, und nun schritten wir in den rauschenden, rieselnden Wald hinein.«

»Es war ein Vergnügen!« rief Sidonie. Binnen fünf Minuten waren wir vollständig durchnäßt – es war kühl, fast kalt geworden, und der Abend dämmerte auch schon herein. Die Alte hinkte mir zur Seite und schwatzte ununterbrochen auf mich los, das Huhn hüpfte gackernd vor unsern Füßen. Die Frau Lena schalt über die Kinder, Waddel trabte mit hängendem Schwanze dicht hinter mir; Wallinger der Musikant bildete den Nachtrab. – So ging es über Berg und Tal durch das verworrene Gebüsch, über boshafte Wurzeln und heimtückisches Steingeröll der Brauteiche zu, bis wir endlich in der Ferne das Brausen des angeschwollenen Hurlebachs hörten. ›Da ist der Baum!‹ rief die Frau Lena. ›O das ist bös, sehr bös!‹ sagte die Zigeunermutter. Selbst Cäciliens heroische Miene verzog sich ein wenig. Ratlos standen wir an dem toll gewordenen Wasser. Schon lagen alle Kinder auf den Knien am Rande des weit in den Wald hineingetretenen Baches, platschten mit den Händen in die Fluten, oder warfen jubelnd abgerissene Zweige hinein und kreischten laut auf, wenn dieselben pfeilschnell fortgerissen wurden. Wir hielten nun unter der Brauteiche einen Kriegsrat, kamen aber zu keinem Resultate, als der Frage an die alte Janna: ›Großmama, wissen Sie nicht auch einen Wassersegen?‹ – Die Alte schüttelte den Kopf: ›Als das Reich noch stand, da zog einmal einer mit uns, der wußte etwas davon; aber sie haben ihn gehängt in der Pfalz; da ist das Wort verborgen geblieben! Versuch's Lena, ob du durchkommst!‹ – Die Frau Nadra schürzte sich und trat in den Bach hinein. Mit einem Schrei aber griff sie in dem nämlichen Augenblicke nach einem Baumzweige, der glücklicherweise über ihr hing, und mühsam gelangte sie mit Hülfe desselben und mit unserer Hülfe wieder ans Land, und guter Rat war nun so teuer wie vorher. Da schlugen plötzlich die Hunde an; selbst Waddel brachte noch ein klagendes Geheul hervor; – ein Mann kam am jenseitigen Ufer daher, ihm folgte ein zweiter« –

»Und diesem ein dritter, der eine leichte Reisetasche an der Seite trug und ganz elegant aussah!« lächelte Cäcilie.

Der Hauptmann aber hielt wieder einmal in seinem Marsch inne, stieß die Pfeife auf den Boden und brummte: »Und das war der Hasenfuß, der Komödiant, der Mietze, den sie draußen in der Welt ebensowenig brauchen konnten, wie wir ihn hier in Finkenrode gebrauchen können!«

»Ah!« rief ich unwillkürlich, und Sidonie wurde diesmal so rot wie ein Röslein und nahm so schnell als möglich ihre Erzählung wieder auf: »›Der Vater, der Vater!‹ riefen die Kinder um uns her – ›Jesus Maria, und auch der Bruder!‹ rief die Frau Lena. ›Wo kommt ihr her? Wo kommt ihr her?‹ Die Männer gelangten jetzt mit einem lauten Hallo uns gegenüber am Rande des Baches an, und eine eifrige Unterredung hinüber und herüber begann. Der Bruder der Frau Nadra sollte einem Mitarbeiter an der Eisenbahn die Uhr gemaust haben. Man hatte es ihm freilich nicht beweisen können, aber eine fürchterliche Tracht Prügel war die Folge des Verdachtes gewesen, und der Meister Martin hatte ebenfalls sein Teil davon bekommen. Beide Verwandte hatten sich sogleich schleunigst von dem Schauplatz ihrer Taten entfernt und waren so schnell als möglich ihrer Heimat wieder zu vagabundiert. Für uns kamen sie wahrlich zur rechten Zeit; denn eine Viertelstunde später waren wir wohlbehalten über den Hurlebach, und« –

»Dem Herrn Alexander Mietze sind wir vielen Dank schuldig!« sagte lächelnd Cäcilie.

»Im Triumphzug begleitete uns die ganze wunderliche Gesellschaft nach dem Försterhaus, dessen Bewohner wir diesmal antrafen. Käthchen stieß ein lautes Jammergeschrei aus, als sie uns erblickte – was meinst du, Cäcilie, wir sahen auch gewiß ziemlich liebenswürdig aus? Was mich anbetrifft, ich war kaum noch halb lebendig.«

»Konrad Rösener und Herr Mietze erneuerten schnell ihre Bekanntschaft; die Zigeuner, jung und alt, wurden mit allem bewirtet, was das Himmelreich bieten konnte; der alte Wallinger wurde gehätschelt wie ein Kind, und Anton Nadra, den Herr Mietze jetzt Caliban genannt hat, wurde nach der Stadt geschickt, um meiner Mutter und dem Herrn Hauptmann Fasterling unser Wohlbefinden zu verkünden. Wir blieben die Nacht im Försterhause, und es war ein herrlicher Abend, den wir noch feierten, nicht wahr, Sidonie?«

»Jawohl, und als ich am andern Tage zu Hause anlangte in Käthchens Kleidern, hatte der Papa sich richtig keine Sorgen um mich gemacht; den Zigeunern aber schenkte er eine Ziege und seinen alten, bunten, türkischen Schlafrock – Goethes Hermann und Dorothea, Herr Vetter aus der Residenz! – ah, oh, ah! – nun erzähl' ich aber diese Geschichte nicht wieder!«

»Ich werde sie mir bei Gelegenheit noch einmal von dem Schauspieler Alexander erzählen lassen,« sagte ich mit einem Seitenblick auf das Bäschen. Dieses mimte ein sehr zierliches Gähnen und zuckte die Achseln. – Ich durfte Cäcilie nach Hause geleiten und irrte, nachdem dies geschehen war, noch eine geraume Zeit in den stillen, weiß vom Schnee und Mondschein zugedeckten Straßen von Finkenrode umher. Eine dunkle Gestalt glitt mehrere Male scheu vor mir über den Weg; – der verrückte Musikant Günther Wallinger suchte noch immer die verwünschte Prinzessin, das Ideal! . . . . . . . . .

 
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