Ludwig Quidde
Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich
Ludwig Quidde

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4. Der Militarismus im Kampfe um die Militärvorlage

Meine Betrachtungen hier haben dem Militarismus ganz im allgemeinen gegolten, und es ist hier nicht der Ort auch noch ausführlich auf die Militärvorlage einzugehen. Die öffentliche Diskussion hat sich ihrer ja ausgiebig genug bemächtigt. Aber ganz vorbeigehen können wir an der Frage doch auch nicht, sie ist die im Augenblick dringendste und jeder wird fragen, ob und wie weit denn unsere ganze Beurteilung des Militarismus nun auf die Entscheidung über diese Vorlage Einfluß üben dürfe.

Die Rolle, die dem Volke, wie wir zuletzt ausführten, bei der Prüfung militärischer Forderungen zukommt, hat es gegenüber der Vorlage offenbar schon im aufgelösten Reichstage zu spielen begonnen, als der einzige Akteur in dem Drama der Verhandlungen, der neben der Regierung wirklich etwas bedeutete. Diese seine Aufgabe hat das Volk nun bei den Neuwahlen zu Ende zu führen.

Alle Welt ist ja darüber einig, daß die letzte Militärvorlage in einer für die Regierung annehmbaren Form durchgegangen wäre, wenn die Abgeordneten nicht die Verantwortung vor ihren Wählern gescheut hätten. Die Volksstimmung hat damit die Abgeordneten nicht etwa gehindert, ihrer Überzeugung zu folgen, sondern dem Militarismus ein Zugeständnis zu machen, durch das man gern ein besseres Verhältnis zur Regierung erkauft hätte, auch wenn man von der Notwendigkeit der Forderung an sich nicht überzeugt war.

Unter denen, die sich für die Bewilligung der Vorlage erklären, gibt es viele – ich möchte glauben, daß es die Mehrzahl ist –, die zwar von der absoluten Notwendigkeit der Forderungen durchaus nicht überzeugt sind, die aber zu ihrer Zustimmung etwa durch folgendes Raisonnement gelangt sind: »Es könnte doch das Unglück wollen, daß in den nächsten Jahren ein Krieg ausbricht, und wenn wir nun die militärischen Forderungen abgewiesen haben, so wird man uns beschuldigen, daß wir in blindem Vertrauen auf die Erhaltung des Friedens die Mittel für die wirksamste Führung des Krieges verweigert hätten. Das wäre zwar nach unserer Ansicht unberechtigt, denn mit den Mitteln, die wir zu bewilligen bereit sind, kann jeder waffenfähige Mann ausgebildet und ihm die beste Ausbildung gegeben werden, und sollten wir uns selbst darin irren, so kann ja, was wir verweigern, erst nach Jahren ins Gewicht fallen, – aber in so vielen Dingen gilt nicht das Sein, sondern der Schein, und diesen bösen Schein müssen wir vermeiden. Also lieber ›die paar Millionen‹ auch noch bewilligt und uns nicht der Gefahr einer falschen Beurteilung ausgesetzt.«

127 Dieses Raisonnement, das meist in verschwiegener Brust bewahrt bleibt, braucht man nur auszusprechen, um zu erkennen, daß es auf einer Schwäche beruht, der man nicht nachgeben sollte, wenigstens jetzt nicht mehr, wo nun einmal die Frage des Militarismus mit dieser »Quantitätsfrage« verknüpft ist.

Daß aber in Wahrheit unsere Wehrfähigkeit durch Ablehnung der Vorlage nicht geschädigt, nichts wirklich Notwendiges damit verweigert wird, scheint uns einleuchtend.

Man braucht sich eigentlich nur der früheren Reden des Reichskanzlers, seines Spottes über die Zahlenwut zu erinnern und der Verhandlungen vor drei Jahren, wo alle Welt darüber einig war, daß Deutschlands Rüstung nun auf absehbare Zeit abgeschlossen sei. Was ist denn inzwischen geschehen, was die Lage so von Grund aus verändert hätte?

Man darf auch nicht vergessen, wie die Vorlage zuerst im Reichstag und im Lande aufgenommen wurde. Allen Parteien schien damals die Annahme ohne sehr große Abschwächungen ganz ausgeschlossen, und kein Redner außer dem militaristisch fühlenden Großindustriellen Herrn v. Stumm trat für dieselbe unbedingt ein. Sogar die Nationalliberalen schienen sich dieses Mal ganz entschieden den Forderungen des Militarismus widersetzen zu wollen. Wenn seitdem sich die Stimmung im Reichstag und zum Teil auch im Lande zur Nachgiebigkeit gewandt hat, so ist eben überall während der langen Zeit der Verhandlungen der von uns beschriebene Einfluß des Militarismus wirksam gewesen. Man hat es ja sehr deutlich in der Presse verfolgen können. Im allgemeinen (von Ausnahmen natürlich abgesehen) wurden nicht sachliche Gründe für das Verlassen des ursprünglichen Standpunktes geltend gemacht, sondern nur ein unbestimmter Appell an den Patriotismus, hinter den der Militarismus sich zu verstecken liebt, und der allgemeine Gedanke, daß man der Regierung, falls sie nun einmal zur Nachgiebigkeit nicht zu bewegen sei, in einer militärischen Frage lieber keine Opposition machen dürfe. Die beste Rechtfertigung derer, die in der Opposition verharrt sind!

Man muß sich dann weiter vorhalten, daß die Opposition jetzt durchaus bereit ist, die Erleichterung, die durch Einführung der zweijährigen Dienstzeit eintritt, dadurch weit mehr als auszugleichen, daß die Aushebungsziffer um 25 000 Mann jährlich erhöht wird. Man spricht nur von Beibehaltung der Präsenzziffer und macht sich darüber nicht recht klar, daß diese Beibehaltung bei Einführung der zweijährigen Dienstzeit eine außerordentliche Vermehrung der Aushebungsziffer und der Kriegsstärke bedeutet, eine stärkere Vermehrung als im Jahre 1890 bewilligt ist, 128 stärker auch als jene Erhöhung des Rekrutenkontingents, die 1887 in der Septennatsvorlage enthalten war, eine Vermehrung, wie sie kaum je mit einem Schlage eingetreten ist.

Und genügt der Militärverwaltung diese Zahl nicht, gibt es noch taugliche Leute, die nicht ausgebildet werden, so vermehre sie doch gegen entsprechende Ersparnisse im Rekrutenkontingent die Zahl der in 10 bis 20 Wochen ausgebildeten Ersatzreservisten. Da aber eben steckt des Pudels Kern, und da tritt auch wieder der Geist des Militarismus in der Vorlage hervor.

Die militärisch geschulte Ersatzreserve soll beseitigt werden; sie ist zwar bisher immer außerordentlich gelobt worden, aber sie erinnert zu sehr an die Miliz, sie ist ein memento mori für das jetzige System, und ein solches Institut kann der Militarismus auf die Dauer nicht vertragen, am allerwenigsten in diesem Augenblick, wo man der populären Forderung der Herabsetzung der Dienstzeit nachgibt und man besorgen muß, es werde bald eine weitere Verkürzung verlangt werden. Da ist die Ersatzreserve ein gefährliches Wahrzeichen, verführerisch für alle, die daran zweifeln, ob der jetzige Militarismus denn notwendig ertragen werden müsse. Deshalb benutzt man diese gute Gelegenheit, die militärische Ausbildung der Ersatzreserve, die man vor 13 Jahren geschaffen hat, zu beseitigen.

Daß die Ersatzreserve nicht für den Anfang des Feldzuges verfügbar ist, was übrigens auch noch nicht einmal zuzutreffen braucht, ist kein stichhaltiger Einwand. Es ist ja überhaupt völlig unmöglich, die ganzen Millionen unserer Heeresmacht sogleich an den Feind zu führen. Es bleibt eine Reserve zurück, und für diese ist die in zehn Wochen (oder vielmehr mit Nachübungen in 20 Wochen) ausgebildete Ersatzreserve ursprünglich bestimmt gewesen und anerkanntermaßen ein sehr brauchbares Material.

Der prinzipielle Standpunkt, den die Regierung jetzt eingenommen hat, daß jeder kriegstüchtige Mann, und zwar genügend vorgebildet, zur Verwendung kommen soll, ist gerade der Standpunkt der Demokratie. Schon im Interesse der Gerechtigkeit verlangen wir, daß niemand ohne besondere Gründe befreit bleibe. Aber wir verlangen zugleich, daß die Verwaltung sich, um dieses Ziel zu erreichen, mit gewissen Mitteln einrichte.

Ihr sind riesengroße Summen so freigebig bewilligt, wie keinem anderen Ressort. Wie sie am besten mit ihnen wirtschaftet, ist in erster Linie Sache der Fachmänner. Glauben diese, wie bisher, eine kleinere Anzahl länger bei der Fahne behalten zu müssen, so wird ihrem fachmännischen Urteil sogar die Forderung der Gerechtigkeit zum Opfer gebracht, der nur dadurch wieder Genüge geschehen kann, daß für die Zurückstellungen die 129 persönlichen und häuslichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Legen sie, wie jetzt, mehr Gewicht auf die größere Zahl der in kürzerer Zeit voll ausgebildeten Mannschaften, so begrüßen wir freudig diese Annäherung an unsere Grundsätze, aber wir verlangen, daß Maß gehalten werde und daß, wenn man nicht unter volle 2 Jahre heruntergehen zu können glaubt, ein Ausgleich durch die weitere Ausbildung von Ersatzreservisten geschaffen werde.

Solange wir sehen, wie viel Allotria im Militär getrieben wird, solange der Parademarsch in bisheriger Weise geübt wird, solange der die Ausbildung schädigende Wachtdienst nicht eingeschränkt ist, solange wir die dienenden Soldaten als Lakaien der Offiziere verwendet sehen und solange wir hören, daß man die Leute als Treiber bei Jagden hoher Herrschaften benützt oder in großen Massen den Grundbesitzern für die Ernte zur Verfügung stellt, so lange werden wir dem Militarismus auf seine ungemessenen Mehrforderungen mit der Gegenforderung antworten, daß es erst einmal durch Abstellung dieser Mißbräuche den Ausgleich für Mehrbedürfnisse finden möge, und wir werden es als eine Anmaßung, wie sie eben nur dem verwöhnten Militarismus möglich ist, zurückweisen, daß man behauptet, nur das unbedingt Notwendige zu fordern.

Es handelt sich also bei Annahme oder Ablehnung der Militärvorlage nicht um die größere oder geringere Sicherheit des vaterländischen Bodens, nicht um die Vermeidung oder Herbeiführung eines Krieges, sondern lediglich um die Stärkung oder Bekämpfung des Militarismus.

Es ist das zweite Mal, daß im Reiche der Versuch gemacht wird, dem Militarismus kräftigen Widerstand zu leisten. Das erste Mal vor 6 Jahren war schließlich über das Maß der materiellen Bewilligungen überhaupt kein Streit, sondern es handelte sich lediglich darum, ob der Militarismus eine Ausnahmestellung in unserem konstitutionellen Leben einnehmen solle, in der Art, daß das ganze übrige Budget einschließlich aller auf Gesetz beruhenden Ausgaben jährlich, der Militäretat aber allein auf 7 Jahre bewilligt wird. Damals lag also die Frage eigentlich noch viel klarer; aber durch eine ungeheuerliche Verwirrung gelang es, die so klare konstitutionelle Frage, die mit unserer Wehrhaftigkeit gar nichts zu tun hatte, zu verdunkeln und durch Kriegsbesorgnisse die Septennatswahlen durchzudrücken.

Heute nun ist für eine oberflächliche Betrachtung die Frage nicht so klar und deutlich gestellt; es wird leichter sein, den Schein zu erwecken, als ob es sich um größere oder geringere Sorge für unsere volle Wehrkraft und nicht um den Militarismus handle – aber unsere Hoffnung ist, daß das 130 Volk seit jenen Septennatswahlen und durch deren Folgen so viel gelernt hat, daß eine Täuschung wie die frühere nicht mehr möglich ist und daß auch die nicht ausbleibende Beunruhigung durch schauerliche Rüstungsmärchen aus Frankreich und Rußland ihren Dienst versagen wird.

Siegt auch dieses Mal der Militarismus, so tritt, darüber täusche man sich nicht, eine neue Verschärfung aller der Erscheinungen ein, die wir zu kennzeichnen versucht haben. Mit dem brutalen Übermute des Siegers wird der Militarismus unserem Kulturleben, der bürgerlichen Gesellschaft und der Freiheit den Fuß auf den Nacken setzen und wird unser wirtschaftliches Leben für seine Zwecke ausnützen.

Es ist eine merkwürdige Verblendung, daß Leute, die ähnlich frei und militarismusfeindlich gesinnt sind, wie wir, darauf hoffen, wenn nur die Militärvorlage bewilligt sei, so werde die Lage für freiheitliche Anschauungen und für kulturelle Forderungen günstiger werden.

Das heißt doch den Zusammenhang der Dinge verkennen. Wohl möglich, daß man den Liberalen, die sich unter das Joch des Militarismus gebeugt haben, zum Dank einige Brosamen hinwirft. Aber was kann das bedeuten gegen die Stärkung des militärischen Geistes und gegen die Schwächung der bürgerlichen Widerstandskraft. Die Zustände, die man mit uns beklagt, die ganze rücksichtslose Härte in der Armee, die Durchsetzung unserer bürgerlichen Gesellschaft mit militärischen Vorurteilen, die Überhebung des Beamtentums und die Zwangsmaßregeln der Gesetzgebung und der Verwaltung, die ganze Vernachlässigung dessen, was uns den Kulturfortschritt bedeutet: alles das ist doch nur die natürliche und unausbleibliche Folge, die sich aus dem Parallelogramm der Kräfte des Militarismus einerseits und der freien bürgerlichen Gesinnung andererseits ergibt. Und nun glaubt man, dieses mathematische Ergebnis ändern zu können, indem man den Militarismus stärkt, die bürgerliche Widerstandskraft schwächt, aber gleichsam auf magnetischem Wege, durch freundliche Vorstellungen, die von Hemmungen mehr als je befreite Kraft einladet, doch nicht dem ihr innewohnenden Triebe zu folgen, sondern gütigst nach der andern Seite von der bisherigen Diagonale abzubiegen.

Wie verkennt man doch damit das Wesen des Militarismus: der Militarismus ist hart, und nur vor fremder Härte hat er Respekt, nur durch Härte kann man ihm etwas abgewinnen. Wer sich vor ihm beugt und dann auf gnädige Behandlung hofft, wird vor den Triumphwagen gespannt, um später geopfert zu werden.

 


 


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