Ludwig Quidde
Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich
Ludwig Quidde

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1. Der Militarismus in der Armee

Für den Geist des Militarismus in der Armee sind zwei Züge charakteristisch, 1. die unbedingte blinde Unterwerfung jedes Einzelnen unter den Willen des Vorgesetzten, auf Kosten alles dessen, was sonst für menschliche Entwicklung Wert besitzt und 2. eine sich auf dieser Grundlage entwickelnde Mißachtung humanen Empfindens, die sich unter Umständen ungestraft bis zu Brutalitäten steigern darf.

Mit allen Empfindungen nicht nur von Menschlichkeit, sondern auch von Recht und Gerechtigkeit kommt die militärische Auffassung in Konflikt, wenn sie ihre Anschauungen von »Disziplin« betätigt.

Man erinnert sich wohl noch des Vorfalles, der vor einigen Jahren soviel Aufsehen erregte: Einige Landwehrmänner hatten sich geweigert, einen Viehwagen zu besteigen, und zwar, wenn ich nicht irre, als sie aus der Übung in die Heimat zurückbefördert werden sollten, sie hatten auch 85 Kameraden zum Widerstande gegen diese Behandlung aufzureizen gesucht und hatten sich deshalb beschwerdeführend telegraphisch direkt an den Kaiser gewendet.

Nach bürgerlicher Auffassung würde man die Landwehrleute, deren naive Gutgläubigkeit ja durch das Telegramm an den Kaiser so drastisch bewiesen war, gefragt haben, ob sie nicht recht bei Sinnen gewesen seien und würde sie dann mit einem scharfen Verweis haben laufen lassen. Sollte aber schon eine Bestrafung stattfinden, so würde ein Zivilist das Maß der verwirkten Buße auf vielleicht 8 oder 14 Tage Arrest schätzen.

So die bürgerliche Auffassung, die Auffassung jedes Menschen, der menschliche Dinge mit menschlichen Augen ansieht.

Anders die militärische Anschauung. – Zu 7 Jahren Zuchthaus hat man diese unbesonnenen Landwehrleute verurteilt und dieses Urteil auf 7 Jahre Zuchthaus ist nicht etwa kassiert worden, man hat nicht etwa, was doch das mindeste gewesen wäre, die Leute nach einigen Wochen begnadigt, sondern man hat sie jahrelang ihre Strafe absitzen lassen, bis endlich der Rest erlassen wurde.

Man bedenke: Zuchthaus, die entehrende Strafe für schwere Verbrecher, verhängt wegen eines Vergehens, das ja freilich die militärische Disziplin verletzt, das im übrigen aber niemand diesen Landwehrleuten zur Unehre anrechnen wird, wegen eines Vergehens, das vielmehr, so unsinnig es auch ist, doch bis zu einem gewissen Grade die Sympathie aller derjenigen erwecken wird, die sich an Selbständigkeit und an natürlichen Regungen erfreuen. Lange Jahre entzieht man diese Leute ihren Familien und steckt sie ins Zuchthaus unter gemeine Verbrecher!

Als unbegreifliche Ungerechtigkeit und Grausamkeit wird das jedem erscheinen, der nicht unter dem Bann des Militarismus steht, auch wenn er Strenge und Disziplin vollauf zu schätzen weiß und wenn er persönlich nicht im mindesten weichherzig gesinnt ist, sondern nur so weit menschlich empfindet, wie es auch, wie wir gern glauben wollen, die militärischen Richter taten. Das aber eben ist der Fluch einer solchen auf unbedingte Unterordnung angelegten Institution, daß sie den natürlichen besseren Instinkten jedes Einzelnen keinen Raum mehr gestattet.

Und nachdem ihm ähnliche Dinge erst kürzlich vorgeführt waren, hat der General-Reichskanzler die Unbefangenheit, die Existenz des Militarismus zu leugnen und darüber verwundert zu sein, daß man denselben als den Feind unseres Kulturlebens betrachtet!
 

Es ist dies nicht etwa ein vereinzelter, sondern nur ein besonders 86 bezeichnender Fall, und leicht wären die Beispiele für solche Beurteilung von Vergehen gegen die Disziplin zu vermehren.

Aber es bedarf gar nicht einzelner Beispiele aus der Praxis; dieselben sind zwar weit eindrucksvoller als die Theorie der Gesetzesparagraphen, schließlich aber doch nur Illustrationen dazu, von denen man glauben könnte, sie seien zu sensationell ausgewählt. Das Militärstrafgesetzbuch bringt schon für sich allein den Geist des Militarismus deutlich genug zum Ausdruck.

Der sechste Abschnitt, der die »strafbaren Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung« behandelt, beginnt mit einem § 89, der uns so recht in den Geist des Systems versetzt: Wer im Dienst die dem Vorgesetzten schuldige Achtung verletzt, insbesondere laut Beschwerde oder gegen einen Verweis Widerrede führt, wird mit Arrest bestraft. Wird die Achtungsverletzung unter dem Gewehr oder vor versammelter Mannschaft begangen, so ist auf strengen Arrest nicht unter 14 Tagen oder auf Gefängnis oder Festungshaft bis zu 3 Jahren zu erkennen.

Dem harmlosen Laien kann die Bedeutung dieser Bestimmungen nicht ohne weiteres klar sein, da er trotz des klaren Sinnes der Worte gar nicht darauf kommen wird, daß bloße Widerrede etwas ist, was man mit schweren Strafen belegt und da er außerdem nicht ahnen wird, was strenger Arrest bedeutet.

Versuchen wir den Paragraphen in lebendige Vorstellung umzusetzen. Wird ein Soldat in Reih und Glied vom Unteroffizier angefahren, weil er seine Knöpfe nicht ordentlich geputzt hat, und nimmt er das nicht ruhig hin, sondern versucht geltend zu machen, daß er daran aus irgendeinem Grunde unschuldig sei, so riskiert er, falls Meldung erfolgt (was allerdings, wie anzuerkennen, meist nicht geschieht), auf mindestens 14 Tage in Arrest gesteckt zu werden, und zwar in eine dunkle Zelle, in der er auf harter Lagerstätte bei Wasser und Brot drei Tage auszuharren hat, dann erblickt er auf 24 Stunden das Tageslicht wieder und erhält warme Nahrung, um dann aufs neue 72 Stunden lebendig begraben zu sein, wieder 1 Tag ans Licht zu kommen und weiterhin je 2 Tage, unterbrochen durch einen dritten Tag gelinden Arrestes, in seiner Dunkelhaft zuzubringen.

Damit bedroht man bloße Widerrede gegen einen Verweis vor versammelter Mannschaft, für eine Handlung, die an sich nicht nur kein Vergehen, sondern sehr oft die selbstverständliche und unter Umständen für den gerechten Vorgesetzten doch nur erwünschte Verteidigung gegen eine ungerechtfertigte Beschuldigung ist, die als solche also überhaupt straflos bleiben müßte!

87 Und nun die Strafe!! Was sie bedeutet, können wir, da wir sie nicht durchgemacht haben, uns gewiß auch noch nicht entfernt ausmalen, aber eine Ahnung davon wenigstens vermag uns zu kommen. Man verwende nur einige ruhige Minuten, um seine Phantasie damit zu beschäftigen, man versuche sich recht anschaulich zu machen, was es heißt, 24 Stunden eingekerkert in absoluter Dunkelheit auf hartem Lager bei Wasser und Brot zubringen, und man stelle sich dann vor: 10 Tage so verbracht, unterbrochen durch drei leichtere Arresttage am 4., 8., 11. Tag, denen zum Schluß noch ein solcher Erholungstag folgt, sind die Mindeststrafe für Widerrede gegen einen Verweis »unterm Gewehr«.

Nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller, die mir aus eigener Anschauung berichtet haben, macht ein Soldat, der längeren schweren Arrest durchgemacht hat, den Eindruck eines an Körper und Geist gebrochenen Menschen.

Unterdrückt wird beim Militär jede Äußerung individueller Freiheit. Wer nicht entweder in angeborenem zufriedenen Stumpfsinn oder in einer gewissen moralischen Überlegenheit jede Unbilligkeit geduldig hinnimmt, und wer, auch durch den Dienst und drohende Strafe nicht mürbe gemacht, noch »Widerrede« wagt, den bricht man durch derartige Behandlung im Namen und Rahmen des Gesetzes!

Man faßt nicht, wie es möglich gewesen ist, daß der deutsche Reichstag im Jahre 1872 dieses Gesetz angenommen hat, und wie diese 20 Jahre hindurch eine solche Barbarei hat aufrecht erhalten bleiben können. Man faßt es nicht, solange man nicht die Macht des Militarismus in unserem Staatswesen vollkommen erkannt hat.

Darauf nun werden wir später zu sprechen kommen. Hier handelt es sich einstweilen darum, daß sich der Militarismus innerhalb des Heeres selbst durch sein barbarisches Strafrecht als eine durch und durch kulturfeindliche Institution erweist.

Es ist recht nützlich, sich einmal darüber klar zu werden, auf welcher Stufe von Güte und Milde, Eigenschaften, die wir in seltsamer Verblendung »Menschlichkeit« nennen, die Menschheit heute noch steht, 19 Jahrhunderte nachdem man den Prediger der Güte ans Kreuz geschlagen. Und zugleich wagt man auch noch in unbewußter oder bewußter Blasphemie, diesen Apostel der Humanität zu verehren. Der Soldat pflegt auch dabei ja mit dem Priester Hand in Hand zu gehen.
 

Nicht nur in seiner unerhörten Grausamkeit zeigt sich die Eigenart des militärischen Strafrechts. Daneben tritt noch ein zweiter für den 88 Militarismus sehr charakteristischer Zug hervor: die Unterscheidung der Strafen nach der militärischen Rangordnung.

In unserm ganzen sonstigen Strafrecht gilt der Grundsatz, daß die Strafe nur nach dem Vergehen, nicht nach der Person des Täters bemessen wird; nur in der Art der Beschäftigung wird Rücksicht auf den Beruf des Gefangenen genommen. Das Militärstrafgesetzbuch steht auch hier im Widerspruch zur übrigen Gesetzgebung.

Ich bin nun geneigt, von vornherein ein sehr wenig demokratisch klingendes Zugeständnis zu machen: dieselbe Strafe ist für Personen verschiedener Lebensstellung und verschiedener Lebensgewöhnung nicht dieselbe, sondern um sie mit gleichem Maß zu treffen, muß man die Strafen in gewissen Dingen verschieden gestalten. Die formale Gleichheit kann zur großen Ungleichheit und Ungerechtigkeit werden.

Betrachten wir aber nach diesem prinzipiellen Zugeständnis das militärische Strafgesetzbuch. Der strenge Arrest, den wir kennengelernt haben, ist nur für Gemeine zulässig, der mittlere Arrest (in heller Zelle, aber mit hartem Lager und Wasser und Brot, unterbrochen durch leichteren Arrest am 4., 8., 12. und weiter jedem dritten Tage) nur für Gemeine und Unteroffiziere ohne Portepee, der gelinde Arrest für Unteroffiziere und Gemeine; die Offiziere endlich erhalten in ihrer Wohnung Stubenarrest, der eventuell durch Richterspruch geschärft werden kann zur Vollstreckung in einem besonderen Offizierarrestzimmer.

Wo bleibt die Gleichheit vor dem Gesetz, die doch längst Grundsatz der preußischen Verfassung war, als diese Abmessung der Strafen zwischen Offizier und Gemeinem im neuen deutschen Reich genehmigt wurde? Für dasselbe Vergehen wird dem Offizier verboten, seine Wohnung zu verlassen und Besuche zu empfangen, dem »Gemeinen« auf Tage das Sonnenlicht, weiches Lager und wärmende Speise entzogen! Das ist keine Abstufung, sondern ein empörender Gegensatz!

Die Unterscheidung erfolgt auch nicht nach der Lebensstellung des Bestraften, – den verwöhnten Sohn eines reichen Hauses trifft das hier so demokratische Gesetz (ob auch in der Praxis?) mit der gleichen grausamen Härte, wie den Proletarier, der an hartes Lager, Wasser und Brot und schreckliche Spelunken – dem Himmel sei es geklagt – gewöhnt ist; man unterscheidet nur nach den militärischen Chargen, die Unteroffizierscharge befreit vom strengen, das Portepee vom mittleren Arrest!
 

Man kann wirklich das Wesen des Militarismus, seine Härte und Grausamkeit und die ihm eigentümliche mechanische Auffassung von 89 Unterordnung und Disziplin nicht feiner charakterisieren, als es der Gesetzgeber in diesen Strafrechtsparagraphen getan hat, und man brauchte sie nur jedem deutschen Reichsbürger so recht zum Bewußtsein zu bringen, so würde hoffentlich der Militarismus mit allem was daran hängt – und das ist sehr viel in unserm so von ihm beherrschten Staatswesen – bald die längste Zeit existiert haben.
 

Zu den barbarischen Strafen, mit denen man den Bruch der Disziplin verfolgt, steht die Lässigkeit, mit der man vielfach gegen die Mißhandlungen Untergebener vorgeht, in einem schneidenden Kontrast.

In Bayern, wo diese Fälle dank der Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens mehr bekannt werden, hat sich die sonderbare Erscheinung wiederholt, daß bei Beurteilung empörender Mißhandlungen das militärische Gericht die »Absicht, Schmerz zu erregen« verneinte und daraufhin leichte Strafen verhängt wurden.

Einige Wochen oder auch Monate Festung für »Soldatenschinder«, 7 Jahre Zuchthaus für die Landwehrleute, die nicht in den Viehwagen wollen und die Frechheit haben, an den Kaiser zu telegraphieren. Das ist die auf militärischer Disziplin beruhende Auffassung von Gerechtigkeit.

Fanatische Gegner des Militarismus würden vielleicht mit den militärischen Richtern und mit denen, die diese Art Rechtsprechung etwa zu vertreten wagen, ähnlich verfahren wollen, wie jene mit den unglücklichen Landwehrleuten. Aber man muß sich klar machen, daß die Schuld nicht an den einzelnen Menschen liegt, sondern daß der Charakter der Institution sich in ihren Handlungen geltend macht und geltend machen muß.

Aus Norddeutschland, wo die Militärgerichte geheim verhandeln, erfährt man wenig Zuverlässiges über das Kapitel der Soldatenmißhandlungen. Aber in aller Erinnerung ist der Erlaß des Prinzen Georg von Sachsen, der ein so entsetzliches und für viele Kreise überraschendes Licht auf diese Zustände warf.

Der Erlaß vom 8. Juni 1891 führt aus, daß durch eine lange Reihe gerichtlicher Untersuchungen Zustände zu Tage gefördert sind, die in hohem Grade bedenklich erscheinen müssen, zumal da die vorgekommenen Gewalttätigkeiten und körperlichen Mißhandlungen nicht etwa bloß die Folge augenblicklicher Erregung gewesen sind. »Ein großer Teil der zahlreichen körperlichen Mißhandlungen hat sich als etwas weit Schlimmeres qualifiziert: als raffinierte Quälerei, als Ausfluß einer Roheit und Verwilderung, die man bei dem Material, aus dem unser Unteroffizier- und 90 Instruktionspersonal sich ergänzt, kaum für möglich, und bei der Aufsicht und Kontrolle, die in unsern Dienstverhältnissen ausgeübt werden soll, kaum für ausführbar halten sollte.« Der Erlaß hebt hervor, daß eine »so unwürdige, ebenso jedem Gesetz und jeder Vorschrift wie jeder Menschlichkeit hohnsprechende Behandlungsweise«, und ein »derartiger die Uniform und das Standesbewußtsein beschimpfender Terrorismus« unmöglich gute Früchte zeitigen könne, und schließt daran die besondere Nutzanwendung: »Anstatt, daß das Heer den zersetzenden Lehren der Sozialdemokratie entgegenarbeitet, wird ihr durch solche Behandlungsweise Vorschub geleistet.« Der Prinz macht schließlich noch die charakteristische Bemerkung: »Es will zuweilen scheinen, als ob seitens der Vorgesetzten von Haus aus für den Angeklagten und gegen den, welcher mißhandelt worden zu sein angibt, Partei genommen werde.«

Der Eindruck, den das Bekanntwerden dieses Erlasses machte, ist wesentlich daraus zu erklären, daß man hier einmal ein klassisches Zeugnis für die Zustände erhielt, deren Schilderung von anderer Seite man immer zurückgewiesen hatte, da sie übertrieben oder unkontrollierbar aus Wahrem und Falschem gemischt sei. Darin, daß dieses Zeugnis von hoher militärischer Seite inhaltlich so unanfechtbar war, beruhte sein besonderer Wert. Daß es im übrigen demjenigen, der sich um diese Dinge überhaupt kümmerte, nichts Neues bot, daß es vielmehr hinter den Tatsachen noch zurückblieb, konnte man oft genug hören. Es wird natürlich in einzelnen Truppenverbänden sehr viel besser stehen als in denen, die durch des Prinzen Erlaß besonders kompromittiert wurden, im allgemeinen aber stimmen alle privaten Mitteilungen darin überein, daß die Scheußlichkeiten, welche der Prinz in seinem Erlaß zusammenstellte, sich fast überall in der deutschen Armee wiederholen.

Es ist ja nun nicht zu bezweifeln, daß ebenso wie Prinz Georg auch sehr viele andere hohe militärische Stellen solche Brutalitäten aufs schärfste mißbilligen und bestrebt sind, ihnen zu steuern. Aber alle diese Bestrebungen sind doch sehr platonischer Art, sie finden eine Grenze an der Rücksicht auf vermeintliche Erfordernisse der Disziplin. Man will sich nicht entschließen, diejenigen Maßregeln zu ergreifen, die solchen Zuständen wirklich abhelfen könnten.

Man verweigert im Widerspruche zum ganzen Volke eine wirklich tiefgreifende Reform des Militärgerichtsverfahrens. Man verweigert vor allem die in Bayern schon seit Jahren bestehende Öffentlichkeit, dieses wirksamste Mittel gegen eine Entartung der Rechtsprechung. Man kann sich deshalb nicht wundern, wenn der preußische Militarismus, der hier im 91 Widerspruche zu unserem ganzen Kulturleben steht, als kulturfeindliche Macht empfunden wird.

Man hält ferner die Bestimmung aufrecht, daß der Soldat, der wissentlich oder auch nur wiederholt leichtfertig unbegründete Beschwerde erhebt, bestraft wird, und zwar ohne gerichtliches Verfahren, eine Bestimmung, die natürlich geeignet ist, jegliches Beschwerderecht illusorisch zu machen, besonders da bekanntermaßen Zeugen für Mißhandlungen unter den Kameraden oft gar nicht zu beschaffen sind und da daneben auch jede Abweichung von dem vorgeschriebenen Dienstwege mit Arrest bestraft wird und endlich die Beschwerde in der Regel dieselbe Instanz passieren muß, gegen die sie gerichtet ist. Das ist in der Zivilverwaltung schon bedenklich, aber allenfalls erträglich. Was es jedoch unter militärischen Verhältnissen bedeutet, leuchtet ohne weiteres ein.

Man müßte, wenn das Beschwerderecht wirksam fungieren soll, vorschreiben, daß der Beschwerdeführer sich an den nächsten Vorgesetzten desjenigen wendet, über den er zu klagen hat.

Eine Bestrafung des Beschwerdeführers dürfte nur dann eintreten, wenn ihm das Bewußtsein eines Mißbrauches seines Beschwerderechtes nachgewiesen ist, und dieser Nachweis müßte im gerichtlichen Disziplinarverfahren geführt werden.

Der Beschwerdeführer und seine Zeugen müßten aber weiter auch wirksam gegen die Folgen einer berechtigten oder unberechtigten Beschwerde, jeder Zeuge gegen üble Folgen seiner Aussage geschützt werden, nötigenfalls durch Versetzung in ein anderes Regiment. Es ist ja bekannt, daß heute die Anzeige von vielen groben Ungehörigkeiten unterbleibt, weil der Soldat lieber die Mißhandlungen erträgt, als sich den unfaßbaren Schikanen aussetzt, von denen er im Falle erfolgreicher Beschwerde von seiten seiner Vorgesetzten bedroht ist, und daß oft die Kameraden aus Furcht vor solchen Schikanen und Mißhandlungen absolut zu keiner Aussage zu bringen sind, während sich nach Ablauf der Dienstzeit vor einem bürgerlichen Richter ihre Zungen lösen.

Den Forderungen der bürgerlichen Gesellschaft an die Militärstrafrechtspflege ist damit allerdings noch nicht genügt. Wir verlangen Einschränkung derselben auf die Beurteilung wirklicher Disziplinarvergehen und Einschränkung ihrer Strafmittel, annähernd auf das Maß desjenigen, was sonst im Disziplinarverfahren zur Verfügung steht.

Daß Militärgerichte über Vergehen urteilen, welche nichts mit Militärdisziplin zu tun haben, sondern dem allgemeinen Strafgesetzbuche unterliegen, ist eine ganz einzig dastehende Durchbrechung unserer bürgerlichen 92 Rechtsordnung, in der sich der Militarismus wiederum als eine dem bürgerlichen Rechtsleben fremde und feindliche Macht zu erkennen gibt. Daß ein Soldat wegen Beleidigung eines Zivilisten, wegen eines Diebstahls, der außerhalb der Kaserne verübt ist, nicht vor das ordentliche Gericht, sondern vor den Militärrichter kommt, ist etwas, was einem großen Teil des Volkes anscheinend unbekannt ist, oder doch nicht recht in seiner Bedeutung erfaßt wird. Sonst könnte sich dieses ganz vereinzelt dastehende Privileg ja unmöglich gegen den allgemeinen Unwillen halten. Oder sind wir so militarisiert, daß wir eine solche Ausnahmestellung bewußt dulden?

Unsere Forderung geht freilich noch weiter: Es müssen auch alle schwereren Vergehen im Dienst und innerhalb der Kaserne, die zugleich gegen das allgemeine Strafrecht verstoßen, vor das ordentliche Strafgericht gezogen werden.

Doch das ist freilich ein Zukunftsprogramm. Die Hauptsache ist zunächst: solange die Militärrechtspflege sich nicht den Forderungen der Zeit anbequemt, solange sie sich weigert, öffentlich zu verhandeln, solange sie nicht die Beschwerdeführung grundsätzlich erleichtert und solange sie dem Beschwerdeführer nicht wirksamen Schutz verleiht, so lange wird man es dem Militarismus nicht glauben, daß es ihm wirklich voller Ernst ist mit der Bekämpfung roher Übergriffe. Und so lange liegt es für jeden auf der Hand, daß die militärischen Kreise wohl jene Brutalität beklagen, aber doch lieber sie dulden, als daß sie auf Kosten ihrer blind verehrten sog. Disziplin der bürgerlichen Auffassung die notwendigen Zugeständnisse machen.

Man könnte uns einwenden, Roheiten, Mißhandlungen und Ungerechtigkeiten ereigneten sich überall und seien nicht etwas, was dem Militarismus eigentümlich wäre.

Darauf wäre zu erwidern, daß die militärischen Einrichtungen die Bedingungen enthalten, unter denen sich jeder Keim von Roheit und Rechtsmißachtung üppiger als anderswo entwickeln muß.

Das Heer in seiner heutigen Verfassung ist eine Gemeinschaft, die vom Untergebenen unbedingten blinden Gehorsam fordert und die kein schwereres Vergehen kennt, als die Verletzung dieses Gehorsams, eine Gemeinschaft, die so sehr auf diese falsche Auffassung von Autorität gegründet ist, daß sie selbst berechtigten Beschwerden des Untergebenen gegen einen Vorgesetzten nur höchst widerwillig Folge gibt.

Dem Vorgesetzten ist damit gegenüber dem Untergebenen eine Macht 93 gegeben, wie nirgends sonst, und jede solche Macht enthält die Versuchung des Mißbrauchs in sich. Härte und Bosheit, die sich im freien bürgerlichen Leben vorsichtig zurückhalten müssen, weil man ihnen mit gleicher Münze zahlen würde, haben hier Opfer vor sich, die in der Hauptsache wehrlos sind.

Gestehen wir doch nur, wieviel Härte und Grausamkeit in der Menschennatur verborgen ist. Wenn Zorn oder Haß diese für gewöhnlich schlummernden Eigenschaften einmal wecken und wenn dann zugleich einmal zufällig die äußeren Schranken fortfallen, die den Einzelnen hindern, sich rücksichtslos gehen zu lassen, dann bleibt von dem homo sapiens nicht viel übrig. Diese Schranken nun sind für den militärischen Vorgesetzten dem Soldaten gegenüber fortwährend so schwach, wie kaum in irgendeinem anderen Verhältnis, und darin liegt für alle auch nur von fern zur Roheit neigenden Naturen, ja auch für bloß leidenschaftliche Menschen der stete Anreiz, ihren Unmut an den Untergebenen auszulassen.

Da sich außerdem der Vorgesetzte gewöhnt, in dem Untergebenen jemand zu sehen, der unbedingt und augenblicklich zu gehorchen hat, so bildet sich leicht auch bei besseren Naturen eine gewisse Härte aus, jedenfalls eine gefährliche Mißachtung all der Eigenschaften freien Menschentums, in die sonst die Völker ihren Stolz setzten und in denen wir die Kennzeichen und wirksamsten Hebel einer fortschreitenden Kultur erblicken.

Einem großen Teil unserer Offiziere und Unteroffiziere wird es beim besten Willen sehr schwer werden, sich in die freieren Anschauungen von Unterordnung, die ihre Rekruten aus dem bürgerlichen Leben als etwas ganz Selbstverständliches mitbringen, überhaupt hineinzuversetzen. Das liegt an der abgeschlossenen Erziehung in Kadettenhäusern und Unteroffiziersschulen. Wer da von klein auf an militärische Art gewöhnt ist, der mag wohl wirklich eine »Widerrede« gegen unbegründeten Verweis als schwere Ungehörigkeit empfinden, während der freier aufgewachsene Bürger sie als etwas ganz Selbstverständliches betrachtet und über die Bestrafung einer solchen Handlung empört ist.

Es kommt noch hinzu, daß in einem nicht geringen Bruchteil des Militärstandes jedenfalls schon von vornherein eine gewisse Hinneigung zu rücksichtsloser Härte vorhanden ist.

Gewiß haben wir im Offizierskorps zahlreiche hochgebildete und fein empfindende Männer, und mir liegt nichts ferner, wie ich schon betont habe, als das Urteil über die Institution ohne weiteres auf die Personen zu übertragen, oder auch Einzelnen deshalb mit einem Vorurteil zu begegnen, – 94 im Gegenteil, ich würde bei einer solchen Generalisierung mich selbst in den Personen von nahen persönlichen Freunden verletzt fühlen.

Gewiß finden sich auch unter den Unteroffizieren eine Menge braver und gutmütiger Leute, die vom Soldatenschinder keinen Zug an sich haben.

Aber es ist doch unleugbar, daß auf der einen Seite unter den Elementen, die der Heeresdienst anzieht, ein starker Prozentsatz schon von vornherein mit einem gewissen Widerwillen gegen die freieren Gewohnheiten des bürgerlichen Lebens erfüllt sein muß, und daß auf der anderen Seite feiner organisierte Naturen sich in der Regel von dem individualitätsfeindlichen Geiste des Berufes, dessen bloße Existenz obendrein mit ihren Anschauungen von Zivilisation kaum vereinbar ist, abgestoßen fühlen werden.

Unser Offizierkorps rekrutiert sich zum Teil aus Kreisen, denen die junkerliche Anschauung des Herrenverhältnisses gegenüber dem dienenden Knecht und die Auffassung von dem Pöbel, der Ordre zu parieren hat, geläufig ist. Die Behandlung, die daraus fließt, empfindet die dieser Herrschaft entwachsene Bevölkerung als Mißachtung und unter Umständen als brutale Vergewaltigung.

Einem großen Teil der Unteroffiziere aber ist gewiß von vornherein die Empfindung nicht fremd, daß, nachdem sie selbst geschunden worden sind, sie mit einem gewissen Recht weiter schinden.

Alles in allem genommen ist es doch die unausrottbare Härte und Roheit des Waffenhandwerks, die zu allen Zeiten auch einen verhältnismäßig großen Bruchteil harter und roher Gesellen angelockt hat und die für die andern die Gefahr mit sich bringt, ihrer eigenen besseren Natur nicht folgen zu dürfen und schließlich Dinge ohne Bedenken zu tun, die sie, außerhalb des Einflusses des Militarismus stehend, selbst als hart und roh empfinden würden, ja die sie auch nur im Dienste als selbstverständlich hingehen lassen, während sie im Privatleben dazu gar nicht fähig sein würden. Die Institution unterjocht eben die Individuen.

Dem Geiste des Militarismus ist es also gemäß, die Disziplin mit einer Härte aufrechtzuerhalten, zu deren Kennzeichnung nach unserem Empfinden die Worte fehlen, und zugleich gegenüber den Untergebenen Brutalitäten passieren zu lassen, zu deren Bekämpfung man die wirksamen Mittel um eben dieser Disziplin willen verweigert.
 

Die Wirkung dieses Militarismus innerhalb des Heeres empfinden nun heute in der Zeit der allgemeinen Dienstpflicht Tausende von Söhnen des Volkes am eigenen Leibe.

95 Was ein Teil von ihnen aber vielleicht nicht so sehr empfindet, das ist die demoralisierende Wirkung dieses militärischen Geistes auf alle, die sich von ihm unterjochen lassen.

Man rühmt das Heer als eine Erziehungsanstalt, und es soll nicht geleugnet werden, daß darin etwas Wahres liegt. Aber zum Teil ist es nur deshalb noch wahr, weil der Militarismus die öffentlichen Mittel so sehr verschlingt, daß für den Volksschulunterricht nicht genügend gesorgt werden kann. Wenn man den elenden Zuständen im Schulwesen, die vielfach auf dem Lande herrschen, abhelfen wollte und wenn man dafür sorgte, daß für die geistige und körperliche Ausbildung der Jugend geschähe, was sich gehört, so würde man beim Militär nicht die Dinge nachzuholen haben, die eigentlich die Schule leisten soll.

Vorteile für die Erziehung des Soldaten liegen außerdem wesentlich darin, daß er von der heimischen Scholle für einige Jahre gelöst wird und in ganz fremde Verhältnisse kommt, Vorteile, deren Bedeutung in unserm Zeitalter des wachsenden Verkehrs sich freilich jedes Jahr vermindert.

Abgesehen aber davon ist es ganz vorzugsweise der Standpunkt der herrschenden und besitzenden Klassen, von dem aus man die vortreffliche Erziehung der Leute beim Militär rühmen hört. Die Leute werden anstelliger für die Dienste, die man von ihnen verlangt, der gewesene Offiziersbursche gibt einen ausgezeichneten Diener ab, und in ländlichen Arbeitsverhältnissen fügen sich die Leute, die beim Militär gewesen sind und die Ordre parieren gelernt haben, rascher und williger dem halb militärischen Regiment des Gutsbesitzers.

Es ist dies eine Erziehung zugunsten des Herrendienstes, angepriesen vom Standpunkte der oberen Zehntausend, viel weniger eine Erziehung zugunsten der Erzogenen selbst.

Den Vorteilen steht die Beeinträchtigung der freien Entwicklung gegenüber durch stete Unterwerfung unter ein despotisches Regiment.

Gewiß, eine schöne Schulung ist es, sich selbst bezwingen zu müssen, aber etwas ganz anderes ist der Zwang, sich lautlos zu bezwingen, wo man von Gott und Rechts wegen eine Unverschämtheit oder eine Niederträchtigkeit zurückweisen müßte. Bei dem einen regt er die Leidenschaft auf und treibt zu irgendeiner gewaltsamen Katastrophe (man denke an die Soldatenselbstmorde), bei dem andern fördert er Verstellung und die Neigung, sich heimlich für erlittene Unbill, die man nicht offen zurückweisen kann, zu rächen, bei dem dritten endlich (und das wird die häufigste Wirkung sein), tötet er das richtige Ehrgefühl und erdrückt die löbliche Empfindung, daß niemand sich eine derartige Behandlung sollte gefallen lassen 96 müssen. In jedem dieser Fälle dürfen wir sagen, daß der Militarismus demoralisierend gewirkt hat.

Eine Demoralisation und zugleich eine Schädigung der Geistesspannkraft unseres Volkes erblicken wir aber schon in der Gewöhnung an die eiserne Disziplin und den unbedingten Gehorsam, wenn es dieser Gewöhnung wirklich gelingt, die Menschen innerlich zu unterjochen.

Freiwillige Disziplin und ein vernünftiger nicht durch Furcht erzwungener Gehorsam sind offenbar die Zeichen, unter denen unsere Kulturentwicklung Fortschritte machen kann. Die Zwangsdisziplin des Militarismus ist das gerade Gegenteil davon, sie ist der Feind der Kultur und ist entwürdigend für den, den sie sich unterwirft.

Die Mißachtung persönlicher Würde macht sich auch in Äußerlichkeiten geltend. Unser Auge hat sich leider schon an so vieles gewöhnt, was wir als ungeheuerlich empfinden sollten. Aber man versuche nur einmal mit dem Auge eines unbefangenen Menschen zu sehen, auch nur mit der Unbefangenheit, die jemand gewinnen kann, der einige Zeit in einsamem Landaufenthalt, oder besser noch im Auslande geweilt hat. Man wird dann wunderbar berührt werden, z. B. von den Formen des Verkehrs außer Dienst. Wie unwürdig erscheint einem die Figur des strammstehenden Soldaten, die besonders auffällig wird, wo soziale Gleichstellung den Eindruck verschärft. Charakteristisch ist der Einjährige, der seinem Vorgesetzten im Wirtshaus begegnet und angewurzelt darauf wartet, daß dieser ihn erblickt und durch »abwinken« aus seiner Lage erlöst.

Oder man beobachte etwa einen postenstehenden Soldaten, der vor dem Offizier salutiert. Wenn wir nicht wüßten, daß die Sache nach ernsthafter Vorschrift gemacht wird, so würden wir glauben, daß der Soldat sich einen übermütigen Spaß gestattet, den er einem Harlekin auf dem Possentheater abgesehen hat. Eine solche Verzerrung jeder natürlichen Haltung bringt er beim Präsentieren seines Gewehres fertig, und so komisch wirkt das Verharren in dieser abgeschmackten Stellung, wobei der Blick dem hohen Vorgesetzten am Gewehrschaft vorbei ruckweise folgt. Ich muß allerdings gestehen, daß ich selbst dieses Bild in seiner ganzen betrübenden Komik erst neuerdings in Bayern würdigen gelernt habe. Ob, weil mein Blick inzwischen geschärft war oder weil man in Preußen mehr Talent für diese Sorte von militärischen Stellungen hat, muß ich dahingestellt sein lassen.

Oder man gehe auf eine Parade und sehe sich einen Parademarsch an. Ich weiß allerdings, daß bei uns dieses Schauspiel eigentlich nur bewundernde oder bestenfalls gleichgültige Zuschauer findet, und trotzdem möchte ich 97 behaupten: Wem nicht die Röte der Scham oder des Zornes über diesen Mißbrauch menschlicher Wesen aufsteigt, der darf sich getrost sagen, daß er vom Militarismus, der bei uns alles beherrscht, selbst schon bedenklich angesteckt ist.
 

Mit besonderer Klarheit hat sich der Geist des Militarismus dem großen Publikum geoffenbart bei dem famosen Distanzritt, den Offiziere der deutschen und der österreichischen Armee im vorigen Herbst zwischen Wien und Berlin ausgeführt haben.

Als man damals erfuhr, mit welch entsetzlicher Pferdeschinderei dieses vorher so gepriesene Unternehmen geendet hatte, da erhob sich ein wahrer Sturm der Entrüstung, nicht etwa nur in militärfeindlichen Kreisen, sondern überall, wohin man nur hörte. Auch unter Offizieren wurde dieses ganz sinnlose Zutodereiten der armen Tiere auf das schärfste gemißbilligt. Man erinnert sich wohl noch der Schilderung, in welchem Zustande das Pferd des preußischen Siegers in Wien ankam. Blutend und bedeckt mit den Spuren, die Peitsche und Sporen hinterlassen hatten, ein Bild des Jammers, unfähig, weiter ein Glied zu rühren, brach das arme Tier völlig zusammen und mußte davongetragen werden, um kurz darauf zu krepieren.

Unserer bürgerlichen und der allgemein menschlichen Empfindung würde es entsprochen haben, wenn man den Reiter, dessen so offenkundiges Verhalten doch auch für die Interessen der Armee sehr bedenklich sein mußte, und andere seinesgleichen einfach entlassen hätte. Davon ist nichts geschehen, keine Bestrafung ist erfolgt, im Gegenteil, man hat diesen Sieger noch mehrfach ausgezeichnet.

Wie glaubt man wohl, daß dergleichen im Volke empfunden wird, und mit welchen Gefühlen ein Vater solchen Offizieren seinen Sohn als Rekruten anvertraut? Man fordert ja geradezu die Mißdeutung heraus, daß man die im Distanzritt bewiesene Rücksichtslosigkeit im Schinden fremder Lebewesen als eine militärische Tugend schätze.

Doch nicht genug damit, es hat sich eine Zahl von Tierschutzvereinen aus Anlaß dieses Distanzrittes mit Petitionen an den Reichstag gewendet. Es ist bekannt, daß diese Tierschutzvereine zum großen Teil unter durchaus militärfrommer Leitung stehen. Man hatte also nicht Äußerungen einer militärfeindlichen Opposition vor sich, denen ein Entgegenkommen möglichst zu verweigern ja leider oft zur Regierungspraxis gehört. Gleichwohl hat der Vertreter des Kriegsministeriums in der Petitionskommission die Erklärung abgegeben: der Militärverwaltung seien in bezug auf den 98 Distanzritt Berlin–Wien keinerlei Fälle bekanntgeworden, auf die sich der Begriff der Tierquälerei anwenden ließe.

Tierquälerei im Sinne des Strafgerichtes ist es ja freilich nur, wenn jemand öffentlich, oder in ärgerniserregender Weise Tiere boshaft quält oder roh mißhandelt, und es mag sein, daß, wenn man vom militärischen Standpunkt aus an Mißhandlungen und Roheiten einen besonderen Maßstab legt, diese Kriterien noch nicht zutrafen, besonders da die Mißhandlung ja nicht Selbstzweck war, sondern ähnlich wie bei der Vivisektion angeblich einer höheren Aufgabe diente. Der Unterschied zuungunsten des Distanzrittes ist nur noch, daß bei der die Wissenschaft schändenden Vivisektion die Tierquälerei für den Erfolg des Experiments notwendig ist, während der Distanzritt offenbar aufhörte, einen Zweck zu haben, sobald die Leistungsunfähigkeit des Tieres für militärische Zwecke und damit die abscheuliche Tierquälerei begann.

Die Herren im Kriegsministerium, die für jene Erklärung verantwortlich sind, mögen persönlich humane und wohlwollende Leute sein. Um so schlimmer aber für den Geist des Militarismus, der dann bei ihnen trotzdem eine solche Auffassung möglich macht und der (so wenig auch Graf v. Caprivi das verständlich findet) in weiten Kreisen der Nation als kulturfeindlich empfunden wird.
 

Die Erklärung über die Frage des Distanzrittes ist noch in anderem Sinne für den Militarismus charakteristisch.

So hoch wir auch den verhärtenden Einfluß dessen veranschlagen, was man im militärischen Leben rücksichtslose Schneidigkeit nennen wird, so können wir doch nicht glauben, daß man in Wirklichkeit nicht auch im Kriegsministerium die Tierquälerei des Distanzrittes als solche empfunden und beklagt hätte. Wir nehmen vielmehr zur Ehre der Herren, denen wir menschliche Empfindung nicht absprechen dürfen, gern an, daß die offiziell geleugnete Mißbilligung in Wahrheit nicht ganz fehlte.

Aber der Geist des Militarismus scheint es zu verbieten, der allgemeinen Kritik ein so erhebliches Zugeständnis zu machen und den gemachten Fehler einzugestehen.

Gerade der Umstand, daß sich die Öffentlichkeit mit einer Sache beschäftigt hat, wird für das militärische Regiment leicht ein Grund, sie zu schützen. Dazu drängt offenbar die militärische Auffassung von Disziplin und Autorität. Die von außen kommende Kritik ist von vornherein verdächtig, die von unten kommende gilt als Unbotmäßigkeit, sobald sie die bescheidensten Grenzen überschreitet. Wie diese Seite des militärischen Geistes 99 unsere ganze Staatsverwaltung mehr oder minder ergriffen hat, darauf werden wir später näher einzugehen haben. Wie sehr dieser Charakterzug aber der Erhaltung aller Mißbräuche innerhalb des Heeres zustatten kommen muß, leuchtet ohne weiteres ein.

Jede unbotmäßige Handlung also, die die Disziplin verletzt, wird mit einer Härte, die dem verständnislosen Bürger als grausiges Unrecht erscheinen muß, bestraft, und viele Brutalitäten in Wort und Tat, die gegen wehrlose Untergebene verübt werden, bleiben ohne gebührende Sühne, da z. T. die militärische Auffassung in ihrer Beurteilung von der allgemeinen menschlichen abweicht, z. T. aber wirksame Mittel zur Abwehr dieser Ausschreitungen grundsätzlich verweigert werden. Der Soldat ist im großen und ganzen wehrlos gegenüber diesem System; er wird zu blindem Gehorsam angehalten, äußerlich und innerlich einem menschenunwürdigen Zwang unterworfen.

 


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