Ludwig Quidde
Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich
Ludwig Quidde

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3. Der Militarismus im Staate, in der Regierung, Verwaltung und Gesetzgebung

Wie wir sahen, hat der Militarismus das ganze Land und alle Schichten der Bevölkerung mit einem Netz von Einrichtungen überzogen, durch die er die bürgerlichen Kreise sich zu unterwerfen sucht. Die natürliche und heilsame Entwicklung zu freieren Anschauungen wird damit gehemmt, die bürgerliche Gesellschaft wird in sich gespalten oder eingeschüchtert, und der Militarismus kann fast unangefochten das öffentliche Leben, das Staatswesen, die Gesetzgebung und Verwaltung beherrschen.

Wenn wir nun auf den folgenden Seiten den Geist des Militarismus in unserem öffentlichen Leben nachzuweisen suchen, so muß zunächst ein Mißverständnis abgelehnt werden. Wir meinen nicht etwa, daß überall, 110 wo dieser Geist uns zu herrschen scheint, die Dinge sofort ganz anders ständen, sobald man nur die direkten militärischen Einflüsse beseitigte.

Zwar in unsern bürgerlichen Mittelstand und auch in viele besser gestellte Erwerbskreise werden militärische Anschauungen dadurch überhaupt erst hineingetragen. In den bevorzugtesten Gesellschaftsklassen dagegen findet der Militarismus schon vielfach eine ihm nahe verwandte Ideenwelt vor. Große Stellung und Besitz erzeugen oft genug Anschauungen, die von denen des Militarismus nicht weit entfernt sind; aber diese würden ohne seine mächtige Stütze bald dem veredelnden Demokratisierungsprozeß der Zeit erliegen, während sie so in unberechenbarer Weise verschärft werden und Ansprüche geltend machen können, mit denen sie sonst nie wagen würden, hervorzutreten.

Wie der Militarismus sich im Staate äußert, haben wir in einzelnen Punkten schon berührt, als wir einleitend uns auf Vorgänge im Zentrum des Reiches bezogen, als wir dann den Militarismus im Heere, besonders auch seine Mißachtung der bürgerlichen Rechtsordnung zu charakterisieren versuchten und als wir soeben die Art seiner Einwirkung auf die bürgerliche Gesellschaft verfolgten; aber wir müssen nun noch im Zusammenhang darauf eingehen; denn für unsere nationale Entwicklung und für die Beurteilung der heutigen politischen Lage ist das schließlich der wichtigste Punkt.

Wie im Zentrum der Regierung eine durch und durch militärische Anschauungsweise vor allen anderen den Vorrang behauptet, ist ja mit Händen zu greifen. Zu Anfang unserer Betrachtungen erinnerten wir den Grafen v. Caprivi an den preußischen General, der als Reichskanzler an der Spitze der gesamten Geschäfte steht, nicht nur in einer Stellung, wie sie in andern Staaten ein Ministerpräsident einnimmt, sondern als wirklich allein verantwortlicher Leiter unseres Reichsfinanzwesens und der Handelspolitik, der sozialen Gesetzgebung und unserer auswärtigen Beziehungen. Eigentlich niemand findet das bei uns besonders auffallend.

Ebensowenig findet man Grund, sich sonderlich zu erhitzen, wenn an die Spitze der Unterrichtsverwaltung ein Mann gestellt wird, der ohne abgeschlossene Gymnasialbildung Offizier geworden, sich später allerdings als ein großes Verwaltungstalent bewährt haben soll, der aber doch allen Bildungsinteressen ziemlich fern gestanden hatte.

Als Gegenbild aber stelle man sich einmal vor, daß ein Jurist, ein Verwaltungsbeamter an die Spitze des preußischen Kriegsministeriums gestellt werden sollte. Ich weiß nicht, ob viele meiner Leser eine so ausschweifende Phantasie besitzen, um sich auszumalen, wie ein solcher Vorschlag 111 aufgenommen würde. Für völlig verrückt würde man einen Politiker erklären, der so etwas im Ernst für möglich halten wollte, – und doch: wäre es sachlich nicht sehr viel besser zu rechtfertigen als die Reichskanzlerschaft eines rein militärisch geschulten Generals, und gibt es nicht große Staaten, in denen der Zivilist als Kriegsminister etwas ganz gewöhnliches ist, und nicht etwa nur ein Verwaltungsbeamter, wie ich schüchtern andeutete, sondern ein Advokat, ein Zivilingenieur, ein politisch gebildeter Privatmann ohne bestimmten Beruf?

Worin liegt es begründet, daß uns der General als Reichskanzler ganz natürlich, ein Zivilist als preußischer Kriegsminister undenkbar erscheint? Nur in dem Einfluß des Militarismus. Überall macht sich bei uns die Anschauung geltend, daß militärische Einrichtungen für den Zivilisten tabu sind, etwas Heiliges und Unverletzliches, was man nur mit abergläubischer Scheu verehren aber nicht berühren dürfe. Von den Einflüssen des übrigen öffentlichen Lebens soll die Heeresverwaltung möglichst unberührt bleiben, und sie beansprucht wie von Rechts wegen diese Ausnahmestellung, die von allen übrigen Ständen respektiert werden muß!

Manchmal betätigt sich das ja in einer Form, die lediglich als absonderlich interessieren würde, wenn nicht die zugrundeliegende Auffassung für das Zivil so betrübend oder auch empörend wäre.

Man verzeihe, wenn wir einen Augenblick bei Äußerlichkeiten verweilen. Es sind ja Nichtigkeiten im Vergleich zu der schweren ernsthaften Frage, die uns beschäftigt, aber gerade diese Nichtigkeiten sind so charakteristisch und reden eine Sprache, die auch der verstehen wird, der uns in die späteren Erörterungen nicht folgen mag.

Der Vorgänger des Reichskanzlers war von Hause aus Jurist und Landwirt. Dem Heere hatte er nur in Erfüllung seiner einjährigen Dienstzeit angehört, war dann zur Reserve und Landwehr übergetreten und in der Landwehr bis zum Jahre 1866 zum Landwehrmajor avanciert. Seine weltberühmten diplomatischen Lorbeeren haben dann diesem Landwehrmajor zu einer späten aber glänzenden militärischen Karriere verholfen, die mit der Stellung eines Generalobersten (mit Feldmarschallsrang) abgeschlossen ist.

Dieser gewaltige Politiker, der als Diplomat der Weltgeschichte angehört, der aber Generaloberst geworden ist, ohne wohl je eine Kompanie oder Schwadron, geschweige ein Armeekorps geführt zu haben, er trat in der Öffentlichkeit jahrelang immer als Militär auf – er hat so die Feldzüge mitgemacht, und er ist in Uniform auch stets vor der Volksvertretung erschienen.

112 Auch diese Monstrosität hat man in unserm Militärstaat gar nicht mehr recht als solche empfunden; aber wo sonst außer etwa in Rußland wäre dergleichen möglich? Man stelle sich einmal vor, daß Disraeli und Gladstone für ihre politischen Verdienste von der Königin durch militärischen Rang ausgezeichnet wären, oder auch (wenn man die englischen Verhältnisse nicht als vergleichbar gelten lassen will), daß in Italien, einem Lande, das gleich uns die allgemeine Wehrpflicht kennt, Crispi, der in den Einigungskämpfen seines Volkes doch wirklich mitgefochten hat, sich vom König zum General hätte ernennen lassen und so im Parlament aufgetreten wäre! Der Fluch der Lächerlichkeit hätte einen solchen Versuch, den großen Freund zu kopieren, unmöglich gemacht.

Doch bei den Äußerlichkeiten hat es für den Generaloberst nicht sein Bewenden gehabt; seine militärische Charge konnte auch eine sehr ernsthafte Bedeutung erlangen. Als Fürst Bismarck, er, der freigebige Spender von Strafanträgen, einst selbst wegen Verleumdung verklagt werden sollte, da verwies er seinen Gegner Herrn v. Diest-Daber an die militärische Gerichtsbarkeit, und der oberste Kriegsherr schlug dann den Prozeß nieder. Gewiß ein Beispiel, das aufs schlagendste zeigt, zu welch merkwürdigen Konsequenzen es führen kann, wenn man den Militärs einen eximierten Gerichtsstand auch für nichtmilitärische Vergehen verleiht.

Zu dem ernst und trübe stimmenden Schauspiel, das uns der gewaltige Staatsmann in seiner Generalsuniform bietet, fehlt auch das Satyrspiel nicht, wenn wir uns eines andern Ministers, des Herrn v. Scholz erinnern, der mit 56 Jahren, also längst jeder Wehrpflicht entwachsen, zum Lieutenant à la suite der Armee ernannt wurde, da er es früher über den Vizefeldwebel der Landwehr nicht hinausgebracht hatte. Wer die Nachricht zuerst in einer liberalen Zeitung las, mag wohl erwartet haben, gegen das Blatt würde auf Grund des § 131 eingeschritten werden wegen Verbreitung einer erdichteten Tatsache, die geeignet war, »Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen«. Aber nein, die Nachricht war ganz richtig und die Beförderung muß also wohl dem verantwortlichen Kriegsminister in anderem Lichte erschienen sein als unserm zivilen Unverstand.

Da wäre es immerhin noch sinngemäßer, den Grafen v. Caprivi, der doch jetzt an der Spitze der inneren Verwaltung und des Reichspostwesens steht, zum Assessor und zum Postsekretär zu ernennen und dann rasch avancieren zu lassen bis zum Wirkl. Geh. Rat. Nach jedermanns Empfinden könnte solch ein Vorschlag ja nur als schlechter Scherz gelten, durch den man sich über den Grafen v. Caprivi in recht unziemlicher Weise 113 lustig machen würde; – aber die Beförderung des Herrn v. Scholz zum Leutnant sollte wirklich eine ganz ernsthafte Auszeichnung sein! Wer das nicht begreift, mag daraus nur erkennen, eine wie weite Kluft seine eigene Denkungsweise von den militärischen Anschauungen trennt, aus denen in diesem Falle nur eine, für uns freilich ins Gebiet der Komik umschlagende, Konsequenz gezogen ist.
 

Weniger komisch, vielmehr verwünscht ernsthaft ist der Militarismus, der sich in der Zivilverwaltung selbst geltend macht.

Es war schon davon die Rede, wie unser höheres Beamtentum durch das Reserveleutnantswesen mit militärischen Anschauungen durchsetzt wird und wie für die Kreise der Subalternbeamten das Militäranwärterwesen eine ähnliche Rolle spielt.

Vor allem macht der militärische Geist sich geltend auf dem Gebiete der eigentlichen, politischen Verwaltung.

Unsere Regierungsreferendare sind vielfach nichts anderes als Leutnants in Zivil, ganz erfüllt vom Geiste des Militarismus, der in ihnen die alte Überhebung des Beamtentumes noch gesteigert hat, voll Dünkel nicht auf ihre Kenntnisse, sondern auf ihre Stellung und ganz unfähig zu fassen, daß sie doch die Diener der Nation sind, für deren Bedürfnisse die Verwaltung geführt werden soll. Militärische Schneidigkeit, hochmütige Behandlung des Publikums, schnarrender Leutnantston und geckenhafte Posierung scheinen für viele die Haupterfordernisse eines Verwaltungsbeamten zu sein, der zuerst einmal der untergeordneten Gesellschaft von Bürgern und Arbeitern nach militärischer Weise imponieren muß. Daß dabei die Kenntnisse der jungen Juristen, die sich der Verwaltung widmen, auf erschreckende Weise zurückgehen, hat der jetzige Kultusminister Dr. Bosse vor einigen Jahren öffentlich konstatieren zu müssen geglaubt.

Dieses Treiben der jungen Leute, der Reserveoffiziere von heute, ist nun aber nicht das einzige militärische Element in der Verwaltung. Nach unten schließen sich ihnen die in der Armee erzogenen Subalternbeamten an, und an der Spitze der Verwaltung regiert vielfach ein nicht viel anderer Geist, wenn auch natürlich die älteren Herren sich von den einfältig-lächerlichen Manieren der jüngeren frei halten.

Was die oft unerträglich grobe Art der Subalternbeamten betrifft, so brauche ich mich nur auf die Erfahrungen zu beziehen, die jeder einzelne von uns gemacht haben wird. Auch Fürst Bismarck könnte hier als klassischer Zeuge angeführt werden. Gewiß gibt es höfliche Schutzleute (die Berliner sind mir sogar besonders angenehm in Erinnerung) und noch 114 höflichere Schaffner und Museumsdiener; aber schon bei den meisten, die ganz artig zu sein wünschen, welch ein bewußtes oder unbewußtes Hervorkehren des Beamten, der eigentlich eine Art von Regiment über das Publikum führt. Und wie steigert sich dieses Benehmen bei der geringsten Differenz! Das geschieht gegenüber uns, den sogenannten besseren Ständen. Dann beobachte man aber, wie die Mehrzahl dieser Leute mit dem schlecht gekleideten Bürger oder gar mit dem ins Elend geratenen Armen umgeht. Ziehen wir ab, was einerseits die uns zufällig begegnende persönliche Roheit eines einzelnen, andererseits die persönliche Gutmütigkeit oder die freier gebliebene Menschlichkeit eines andern ist, so bleibt für die Klasse als solche doch immer die einzig zutreffende Charakteristik, daß die Gewohnheiten des Unteroffiziers und der Kaserne in ihr herrschend sind. Wer frei unter freien Menschen zu leben sich sehnt und seinen Mitmenschen eine ähnliche Existenz wünscht, kann gegen diese Gewohnheiten nur zornigen Widerwillen empfinden.
 

Bei den Spitzen der Verwaltung sieht es nun mutatis mutandis, d. h. mit der Verschiedenheit, welche die bessere Schulbildung und die verfeinerten geselligen Formen bedingen, vielfach nicht besser aus. Man macht sich außerhalb Preußens doch keine rechte Vorstellung davon, was ein preußischer hoher Beamter, etwa ein die Wahlen machender Oberpräsident zu leisten imstande ist.

Ich habe mir einmal von dem Wirken eines solchen aus ziemlicher Nähe, freilich nur bei flüchtiger persönlicher Berührung, aber doch auf Grund von reichlich zuströmenden direkten Mitteilungen ein ungefähres Bild machen können, und ich vermag den Eindruck nur dahin zusammenzufassen, daß die Verwaltungspraxis, die anscheinend höheren Orts durchaus gebilligt wurde, charakterisiert war durch nichtachtende Behandlung der verschiedenartigsten Interessen, hochfahrendes Wesen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ein rücksichtsloses Kommandieren bei Gelegenheiten, wo zu verhandeln gewesen wäre, alles ganz im Stile des Militarismus, wenn auch ohne direkte militärische Einflüsse.

Will man ein anderes Beispiel für den Geist des Militarismus, der einen Teil unserer hohen Beamtenschaft beherrscht, so braucht man sich nur an das Auftreten des Herrn v. Stephan im Reichstage an seine Verfolgung des Postassistentenvereines zu erinnern.

Wenn sich im Ressort des Herrn v. Stephan die Unterbeamten vereinigen, um ihre Interessen zu vertreten, nicht unter der hohen Protektion der vorgesetzten Behörde, sondern unabhängig unter sich, gelegentlich auch in 115 Opposition gegen Seine Exzellenz, so werden sie behandelt wie Leute, die den schuldigen Gehorsam versagen, und Herr v. Stephan vertritt ganz ohne Scheu die Theorie, daß seine Beamten durch ihre Beamtenstellung in ihren staatsbürgerlichen Rechten (dem Vereinsrecht) beschränkt seien, eine Theorie, die für politische Beamte ihre Berechtigung haben mag, die aber offenbar auf die Beamten einer Verkehrsanstalt nicht angewendet werden kann. Viele freiheitsbedürftige Naturen werden dadurch in die allerschroffste Opposition getrieben, wie ja bekanntlich die Sozialdemokratie gerade unter den Postbeamten zahlreiche Anhänger zählt.

Anders als in einem durch und durch militärischen Staatswesen und anders als aus der Auffassung des Militarismus heraus ist ein Auftreten wie das des Herrn v. Stephan ja gar nicht zu erklären. Ob er selbst (was ich nicht weiß) je Soldat gewesen ist, berührt diese prinzipielle Auffassung nicht; denn es handelt sich dabei nicht um persönliche, sondern um allgemeine Einflüsse, um die ganze Atmosphäre des Militarismus. In welchem Staate, der auf bürgerlichen Grundsätzen aufgebaut wäre, würde man sich diese Übertragung militärischer Grundsätze in eine große öffentliche Verwaltung, die ein Glied des wirtschaftlichen Lebens ist, gefallen lassen und wie könnte der Chef einer solchen Verwaltung wagen, in das Vereinsrecht seiner Untergebenen mit Zwangsmaßregeln einzugreifen, wenn er sich nicht des Rückhaltes an dem herrschenden Militarismus bewußt wäre.

Ihm schwebt wohl als Ideal das Wort seines Herrn und Meisters vor: »Meine Botschafter müssen einschwenken wie die Unteroffiziere«, nur daß er nun seinerseits die Rekruten zu drillen versucht.

Nicht alle Ressortchefs sind solche Typen militärisch fühlender Beamten, – vielleicht zeichnet Herr v. Stephan sich deshalb aus, weil er aus kleinen Verhältnissen heraufgekommen ist und der Mißbrauch der Macht deshalb bei ihm besonders unerfreuliche Formen annimmt –, aber gemeinsam ist doch vielen eine Auffassung, die ihre Wurzel und ihre Spitze im Militarismus hat, gemeinsam ist ihnen die Neigung, selbständige Regungen bei den Untergebenen zu unterdrücken, gemeinsam insbesondere auch die Auffassung, daß jedes Massenunternehmen und jede Anrufung der Volksvertretung durch gemeinsame Petitionen als Ordnungswidrigkeit zu betrachten und mit verstärktem Widerspruch zu beantworten sei.

Eine selbstverständliche Forderung ist es, daß sich die Regierung durch berechtigte Wünsche der Interessenten und die öffentliche Kritik leiten und eines besseren belehren lasse. Wenn anstatt dessen, wie es öfter geschehen ist, ganz offen im Parlament erklärt wird, daß jeder Versuch, die 116 Regierung durch öffentliche Agitation zu einer Maßregel zu drängen, das beste Mittel sei, um diese Maßregel zu verhindern, so erkennen wir auch hier den Geist des Militarismus, der von unserem öffentlichen Leben Besitz genommen hat und der als eine dringende Gefahr für eine gesunde Fortentwicklung bekämpft werden muß.
 

Der Geist des Militarismus macht sich außerdem auch, wie es uns scheinen will, auf eine bedenkliche Weise in unserer Rechtsprechung geltend. Vergehungen, welche eine Auflehnung gegen die öffentliche Ordnung enthalten, werden unverhältnismäßig hart bestraft, wenn auch an der Militärjustiz gemessen, die Urteile noch immer Wunder von Milde sein mögen.

Das Thema ist so weitläufig und zugleich so schwierig, daß es im Rahmen dieser Schrift nicht näher behandelt werden kann. Beispiele für eine Rechtsprechung dieser Art, bei welcher dem Laien der Verstand still steht, wären sonst leicht zu häufen. Auf ein Beispiel aber von Umwandlung der Rechtsanschauung unter dem Einfluß der militaristischen Auffassung sozialer Probleme werden wir im Anschluß an die Gesetzgebung noch zurückkommen.
 

Näher liegt uns der Einfluß des Militarismus auf das Schulwesen. Überall in Preußen wird darüber geklagt, wie der militärische Geist der Bevormundung und der Unterordnung immer weitere Fortschritte macht.

Es mag in einigen Provinzen Ausnahmen geben, im allgemeinen aber wird überall die Persönlichkeit des Lehrers unterdrückt, und er gerät in immer größere Abhängigkeit von dem alles regierenden Schulrat und von dem Direktor. Der Unterricht aber und die Schuldisziplin gehen darauf aus, die Freiheit des Schülers erst recht nicht aufkommen zu lassen. Ein militärischer Drill macht sich breit und die Schuldisziplin maßt sich Gebiete an, die allein dem Elternhause gehören sollen.

Es mag sein, daß mir diese Dinge schlimmer als anderen erscheinen, weil ich in besonders menschenwürdigen Verhältnissen aufgewachsen bin; aber wenn ich höre, was die Schule an Zwang dem Schüler und dem Elternhause zu bieten wagt, so bin ich starr vor Verwunderung, wie viel man sich gefallen läßt.

Es fehlte nur noch, daß man, wie kürzlich wieder ernsthaft vorgeschlagen ist, ausgediente Unteroffiziere als Lehrer in die Volksschulen einführte. Die naive Überhebung dieses militärischen Gedankens ist so köstlich, daß Kritik ihren Eindruck schwächen würde.

117 Den Geist des Militarismus erkennen wir, wie in der Verwaltung, auch auf allen Gebieten der Gesetzgebung.

Am deutlichsten sprechen von diesem Einfluß die in Preußen noch bestehenden, wenn auch in neuester Zeit nach harten Kämpfen eingeschränkten Steuerprivilegien und der besondere militärische Gerichtsstand auch für Vergehen gegen das gemeine Recht, von dem oben schon die Rede war. Für alle übrigen Stände sind derartige Privilegien aufgehoben, nur für die regierenden und reichsunmittelbaren Häuser bestehen sie noch fort!

Weit wesentlicher aber erscheinen uns die indirekten Wirkungen des Militarismus auf die Tendenzen der Gesetzgebung.

Wie wäre es denn möglich, daß etwas, was der neueren sozialen Entwicklung so sehr Hohn spricht wie die alte preußische Gesindeordnung, sich noch halten könnte, wenn nicht alles, Regierung, Verwaltung und Parlament unter dem Einfluß dieses militärischen Geistes stände, teils bewußt mit ihm sympathisierend, teils unbewußt ihm untertan. Gibt doch diese Gesindeordnung dem Herrn noch ein Züchtigungs- und Beschimpfungsrecht, dem Knecht aber nicht die Freiheit, wie ein Mensch zum Menschen auf schlechte Behandlung mit Wort und Tat zu reagieren.

Wie wäre es sonst möglich, daß noch heute den ländlichen Arbeitern das Koalitionsrecht verwehrt ist, daß sie bestraft werden, wenn sie durch Verabredung, etwa gar einen Streik, bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen wollen.

Es ist das ganz die militärische Auffassung von der Stellung des Untergebenen, der die Disziplin verletzt, wenn er selbständig sein Interesse wahrt, und der als Meuterer behandelt wird, wenn er gar etwa versucht, gegen die Übermacht des Besitzenden, seines Gutsherrn, die Kräfte der Genossen zu vereinen, die doch vereinzelt ohnmächtig sind und erst gemeinsam wirtschaftlich etwas vermögen.

Dieser Zustand wird dann mit dem schönen Namen eines patriarchalischen Verhältnisses geschmückt, aber das Patriarchalische ist bis auf wenige Überreste längst entwichen, geblieben ist die Unterdrückung, die heute auch vom ländlichen Arbeiter als solche empfunden wird und ihn mit forttreibt in die Städte oder über das Meer in die neue Welt.

Wir Städter können uns ja nur schwer hineinversetzen, wir halten es für Übertreibung oder, wenn wir es hören und glauben müssen, so machen wir uns nicht ganz klar, was es tatsächlich für unser ganzes Volksleben bedeutet; es berührt uns wie eine Sage aus einer fremden Welt, die sich in Wirklichkeit doch wohl noch anders ausnehmen wird: die ganze ländliche 118 Arbeiterbevölkerung, der zweitzahlreichste Stand des Volkes, besitzt in Preußen noch nicht das Koalitionsrecht und steht zum großen Teil unter jener knechtenden Gesindeordnung. Wenn heute sich ländliche Arbeiter vereinigen, um gemeinsam eine Lohnerhöhung durchzusetzen, so schreitet der Strafrichter ein! Mit Gefängnis bis zu einem Jahre werden Arbeiter bestraft, die im Kampf um die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Existenz oder in der Abwehr gegen eine Schädigung derselben das Mittel ergreifen, das das allein wirksame für sie ist, ein Mittel, das die Arbeiter in der Stadt tagtäglich und ganz selbstverständlich benützen.

Besonders bezeichnend ist die Geschichte dieses Koalitionsverbotes. Ursprünglich bestand es nur für die gewerblichen Arbeiter und Arbeitgeber; erst zu Anfang der 1850er Jahre verlangten die Grundbesitzer es gegen ihre ländlichen Arbeiter, hatten aber nicht das Anstandsgefühl, wenigstens die formale Rechtsgleichheit zu wahren, die für die Industrie doch bestand. Für das flache Land schien solche Rechtsgleichheit wie ein Frevel an der dort herrschenden militärisch-patriarchalischen Auffassung. Den Besitzern also sind auf dem Lande Verabredungen, um die Löhne zu drücken erlaubt, den Arbeitern aber solche, um sie zu erhöhen, bei Gefängnisstrafe verboten. Noblesse oblige!

Das Gleichnis von dem Bündel Stäbe, die einzeln mit Leichtigkeit gebrochen werden, vereint aber einer großen Kraft widerstehen, ist von den regierenden Grundbesitzern trefflich beherzigt worden. Den Industriearbeitern hat man das Recht gewähren müssen, sich zusammenzuschließen; die Landarbeiter aber sollen in der Vereinzelung bleiben und einzeln gebrochen werden können. Vereinigung ist Auflehnung bei ihnen, so bestimmt noch die Gesetzgebung, ganz erfüllt vom Geiste des Militarismus, der mit dem Grundherrentum ja eines Stammes ist. Und unser Bürgertum, es duldet diesen Zustand seit Jahren; so sehr scheint es selbst angefressen vom Respekt vor dem Geist rücksichtsloser Klassenherrschaft.
 

Bald freilich, muß man fast fürchten, könnte es auch in der Industrie nicht viel anders aussehen.

Hat man doch in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen, den Kontraktbruch bei Arbeitseinstellungen zu bestrafen, also wohlgemerkt nicht etwa nur den Kontraktbrüchigen, wie es bisher der Fall war, für den nachgewiesenen Schaden haftbar zu machen, sondern ihn mit einer »Buße« zu belegen.

Der Gedanke, den Kontraktbruch kriminell zu verfolgen, hat ja gerade für sehr rechtlich denkende Leute zunächst etwas bestechendes: Wer sein 119 Wort nicht hält, soll bestraft werden. Aber zwischen der moralischen Mißbilligung und dem Eingreifen des Strafrechtes besteht mit Recht ein großer Unterschied, und es ist noch keinem Gesetzgeber eingefallen, jeden Wortbruch vor den Strafrichter zu ziehen. Bestraft man den, der eine Lieferung übernommen hat, auf welchem Gebiete es auch sei, den Kaufmann, den Fabrikanten, den Unternehmer, den Landwirt, den Literaten, wenn er sich dieser Lieferung entzieht, weil er sie nur mit erheblichem Schaden ausführen könnte, oder weil ihm ein Vorteil dadurch entgehen würde? Überall tritt nur der zivilrechtliche Anspruch auf Schadensersatz ein. Darüber geht man nie hinaus, auch wenn dieser Anspruch an der Zahlungsunfähigkeit des vertragsbrüchigen Schuldners scheitert.

Nur im Verhältnis zu den Arbeitern wollte man eine Ausnahme machen. Hier sollte plötzlich als ein Vergehen behandelt werden, was sonst nur einen Schadensersatz begründet und was gerade hier besonders milde zu beurteilen wäre, da der Kontraktbruch in der Regel in der Aufregung eines Lohnkampfes erfolgt und diese einen schwerwiegenden Entschuldigungsgrund bilden sollte.

Es war wieder der Geist des Militarismus, der hier sein Wesen trieb; denn was man eigentlich treffen wollte, waren nicht einzelne Kontraktbrüche, sondern die Streiks der Massen, die der Denkungsart des Militarismus im Grunde genommen immer als Auflehnung erscheinen. Vorgeschoben wurde die soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Massenkündigungen, als ob jemals eine Handlung, die im allgemeinen nicht unter das Strafgesetz fällt, bei sehr angesehenen oder reichen Leuten wegen ihrer besonderen sozialen oder wirtschaftlichen Bedeutung mit Buße belegt wäre!
 

Den Kontraktbruch des Arbeiters direkt zu bestrafen, hat man freilich noch abgelehnt, aber wirklich geübt wird die Bestrafung dessen, der zur Kontraktverletzung oder zu einem Streik, der den Kontraktbruch in sich schließen würde, öffentlich auffordert.

Es gehört diese Frage zwar nicht der Gesetzgebung, sondern der Rechtsprechung an, aber sie sei des Zusammenhanges wegen hier behandelt.

Nach § 110 des Strafgesetzbuches wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft, wer öffentlich vor einer Menschenmenge zum Ungehorsam gegen die Gesetze auffordert. Man hat diesen Paragraph früher fast allgemein dahin gedeutet, daß unter den Gesetzen solche öffentlich-rechtlicher Natur gemeint seien und nicht die dem Zivilrecht angehörenden Bestimmungen. Ein Kommentar des 120 konservativen Staatsanwalts v. Schwarze aus den 1870er Jahren schließt gerade die Aufforderung zum Kontraktbruch noch ausdrücklich aus. Wenn sich seitdem nun die Anschauung verändert hat und man den Paragraphen auf die Arbeiterführer anwenden will, so ist das offenbar nicht eine Entwicklung, die innerhalb der Jurisprudenz von wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausginge, sondern eine, die durch sozialpolitische Motive beherrscht wird.

Es ist hier eingetreten, was sich in den letzten Jahren so oft beobachten ließ, eine Interpretationspraxis, die erst kürzlich von angesehenster juristischer Seite scharfen Tadel erfahren hat: wenn ein öffentliches Interesse vorzuliegen scheint, gegen gewisse Dinge, die bisher als straffrei galten, einzuschreiten, so sucht und findet man einen Paragraphen, den darauf anzuwenden bisher noch niemand gedacht hat.

Die Auffassung aber, die dieser Anwendung zugrundeliegt, sie ist wiederum dieselbe, die sich für uns am schärfsten im Militarismus verkörpert und die im Militarismus ihren Halt findet.

Ein Teil der Arbeitgeber ist ganz von dieser Gesinnung erfüllt: wer die Massen auffordert, sich zu vereinigen und im Lohnkampf ihr Interesse wahrzunehmen, gilt als Aufwiegler, und im Grunde ihres Herzens bedauern es die schneidigen Herren, daß sie nicht gegen diese Agitatoren, die in Wahrheit meistens doch nur die führenden durch Wahl erkorenen Genossen der Arbeiter sind, wie gegen Aufruhrstifter vorgehen können. Das wird wohl meistens vorsichtig versteckt, aber von Zeit zu Zeit lüftet doch ein unvorsichtiges Wort oder eine unbesonnene Handlung den Schleier von dieser brutalen Auffassung.

Nicht ich bin es, der dieses Wort, das mir vielfach den Militarismus zu charakterisieren scheint, zuerst auf diese Verhältnisse anwendet. Ein konservativer Politiker und Chronist der Zeitereignisse spricht von dem brutalen Verfahren der Industriellen, die im Jahre 1889 zur Unterdrückung der Bewegung gegen die Führer ihrer Arbeiter mit Zwangsmaßregeln vorzugehen versuchten.

Wer zweifelt daran, daß ein richtiger Militär an einem solchen Versuch, wenn er nur erfolgreich ist, seine innige Freude haben würde? Für ihn erstrahlt in lichter Glorie die schneidige Durchführung der »Disziplin«; er darf mit Recht darin Geist vom Geist des Militarismus preisen, den herrlichen Geist des Militärstrafgesetzbuches und der Zwangsordnung, der unser ganzes Heerwesen beherrscht und die bürgerliche Gesellschaft so erfolgreich an einer freieren Auffassung verhindert.

Wäre die Kraft des Bürgertums durch Infizierung mit dem militärischen 121 Gift nicht so geschwächt, so könnte der Militarismus nicht so auf der ganzen Linie triumphieren, er könnte sich nicht in seiner oben geschilderten Härte im Heere behaupten und es würde auch nicht möglich sein, daß die Befriedigung seiner Bedürfnisse so unser öffentliches Leben überwucherte.

Ein so gemäßigter Mann, wie Herr v. Bennigsen, hat ja jüngst warnend darauf hingewiesen, wie die dringendsten Bedürfnisse der Staatsverwaltung nicht mehr in ausreichender Weise befriedigt werden.

In Preußen ist die Zahl der Richter an manchen Stellen so ungenügend, daß die Rechtsprechung bedenklich darunter leidet, und selbst beim Reichsgerichte beginnt man Klage zu führen, daß die Rückstände sich häufen und das Personal zu einer raschen Erledigung der Geschäfte nicht ausreicht.

Wie elend es auf dem Gebiete des Volksschulwesens in Preußen vielfach noch bestellt ist, wie die Zahl der Kinder, die von einem Lehrer zu unterrichten sind, das Doppelte des Zulässigen beträgt und wie die Wohnungsverhältnisse vielfach jeder Beschreibung spotten, das hat nicht etwa ein böswilliger Agitator, sondern der preußische Kultusminister selbst kürzlich mit lebhaften Farben geschildert.

Die Mißstände sind zum Teil so himmelschreiend, daß für ihre Beseitigung einiges hat geschehen müssen; um ihnen aber ausreichend zu begegnen, fehlen die Mittel, denn diese Mittel werden aufgefressen vom Militär, und es fehlt ein Interesse, das sich so energisch durchzusetzen wüßte, wie jede militärische Forderung.

In der höheren Unterrichtsverwaltung spart man seit einiger Zeit vielfach in der kleinlichsten Weise. Übelstände auf diesem Gebiete, die lediglich durch knappe Mittel bedingt sind, hat kürzlich ein Fachgenosse, der die finanzielle Last der Militärvorlage für nicht erheblich erklärt, Dr. Jastrow, in seiner Broschüre Drückt die Militärlast? zur Erörterung gebracht. Er hat die Betrachtung daran geknüpft, wie Interesse und Geld nur für militärische Zwecke vorhanden sind und wie erschreckend gering das Maß von Anforderungen geworden ist, das die zivilen Interessen noch zu machen wagen. Es sei gestattet, seinen Ausführungen einiges zu entnehmen. In wichtigen Unterrichtsanstalten herrscht schon seit Jahren empfindlicher Raummangel, während man doch noch nie gehört hat, daß auf einem Regimentsexerzierplatze nur für 11 Kompanien Raum war. Schreiende Übelstände auf dem Gebiete der Zivilverwaltung erträgt man ruhig, und werden sie endlich beseitigt, so macht man viel Rühmens davon. Die Organisation der Ministerien und obersten Reichsbehörden mit Ausnahme 122 der militärischen ist hinter den Bedürfnissen zurückgeblieben, und in der Auswahl der Personen hat man öfter mit unglaublicher Nachlässigkeit gehandelt. »Das ist in Wahrheit der Druck der Militärlast, daß die militärischen Interessen bei uns angefangen haben alle Kulturinteressen zu absorbieren.«

Doch auch rein materiell beeinträchtigt die Vorherrschaft der militärischen Forderungen aufs schwerste die Kulturinteressen und unsere wirtschaftliche Entwicklung.

In den zwei Jahrzehnten von 1872 bis 1892 sind die Ausgaben für Heer und Marine (Ordinarium und Extraordinarium) und für die Verzinsung der Reichsschuld um rund 400 Millionen, seit dem Jahre 1879, das die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, wenn wir nicht irren, kürzlich zum Ausgangspunkt einer vergleichenden Aufstellung nahm, um rund 300 Millionen gestiegen, von 316 Mill. in 1872 resp. 418 in 1879, auf 719 in 1892. Das ist also seit 1872 etwas mehr, seit 1879 etwas weniger als eine Verdoppelung.

Daneben ist freilich auch der Etat des Unterrichtsministeriums in Preußen seit 1879 in einem ähnlichen Verhältnis von 59 auf 101 Millionen, seit 1872 sogar weit stärker, von 27½ Millionen auf 101 Millionen angewachsen. Aber darin spricht sich die Vernachlässigung gewisser Bildungszwecke vor 1872 aus, und man sieht: die Steigerung wird im Kultusetat immer schwächer, während sie im Militäretat gerade in den letzten Jahren reißend angewachsen ist. Und außerdem muß noch berücksichtigt werden, daß die große Steigerung der Ausgaben für öffentliche Unterrichtszwecke im Kultusetat, die im Jahre 1889 erfolgt ist, darauf beruht, daß 20 Millionen lediglich von den Gemeinden auf den Staat übernommen wurden. Zieht man diese ab, wie es notwendig ist, um vergleichbare Zahlen zu gewinnen, so haben wir seit 1879 im preußischen Kultusetat eine Steigerung im Verhältnis von 3 zu reichlich 4, in den Reichsausgaben für Heer, Marine und Schuldverzinsung eine solche von 4 zu 7.

Bezeichnender noch ist das riesige Anschwellen der Reichsschuldenlast, das ganz vorzugsweise durch Ausgaben für Heer und Flotte veranlaßt ist. Während man in dem genannten Jahre 1879 für die Verzinsung derselben 8½ Millionen ausgab, ist der Posten 1892 auf beinahe 61 Millionen gestiegen, hat sich also versiebenfacht! Und bald wird unsere Schuldenlast auf 2 Milliarden aufgelaufen sein, die in noch nicht 20 Jahren verausgabt sind.

So drückt denn der Militarismus, auch ganz abgesehen von dem Interesse, das er allen übrigen Verwaltungszweigen entzieht, rein finanziell auf das ganze Gebiet der inneren Verwaltung.

123 Und mit ähnlicher Schwere drückt er auf das ganze Wirtschaftsleben, durch die Erhöhung der Steuerlast und durch die Entziehung so vieler rüstiger Arbeitskräfte.

Auf diese Wirkung kann hier nun nicht näher eingegangen werden. Sie wird, wenn wir uns nicht täuschen, einmal der Hebel werden, um das System zu stürzen, ein wirksamerer Hebel, als es leider die geistigen Einflüsse zu sein scheinen. Bei der immer weiter fortschreitenden Entwicklung des Weltverkehrs und der internationalen Konkurrenz muß es den europäischen Völkern doch immer mehr zum Bewußtsein kommen, wie sie in diesem militärischen Wettrennen ihre Kräfte verbrauchen und das alte Europa immer weniger fähig machen, dem von dieser Last nicht niedergedrückten Amerika und anderen durch besondere Umstände begünstigten Produktionsgebieten zu widerstehen. Ist diese Erkenntnis erst einmal durchgedrungen, so wird sich auch der Weg finden, zu der jetzt bespöttelten Abrüstung zu gelangen und dann nicht nur die Mehrforderungen des Militarismus abzuwehren, sondern seinen jetzigen Etat gehörig zu beschneiden.

Doch das ist ein schöner Zukunftstraum. Einstweilen handelt es sich noch darum, nur zu verhindern, daß der Militarismus in unserm Budget immer weitere Verheerungen anrichtet.
 

Wie er sich gerade in der Finanzverwaltung geltend macht, wie er den Etat beherrscht und wie er im Parlament seine Forderungen durchdrückt, das bedarf noch einer besonderen Darlegung.

Kein Geringerer als Fürst Bismarck hat ja einmal vor der Volksvertretung in sehr lebhaften Farben geschildert, wie der Vertreter eines jeden Ressorts übermäßige Ansprüche mache, wie jedem Fachminister die Bedürfnisse seines Faches ganz unbedingt notwendig schienen, während vom Standpunkte der Gesamtinteressen das Urteil ganz anders ausfalle, und wie nun gegenüber dieser ganz natürlichen Unersättlichkeit jedes einzelnen Ressorts der leitende Staatsmann oder der Finanzminister die Aufgabe hätte, auf Einschränkungen zu dringen und ausgleichende Gerechtigkeit zu üben, wie aber dabei die Vertretung der finanziellen Forderungen vor dem Parlament ein ausgezeichnetes Pressionsmittel sei.

Sich selbst allein überlassen (das war der Sinn der Bismarckschen Ausführungen) würde der Minister des Innern nie genug Verwaltungsbehörden, der Eisenbahnminister nie genug Schienenwege und Bahnhöfe, der Leiter des Postwesens nie genug Postpaläste, der Kriegsminister nie genug Soldaten und Kasernen, der Marineminister nie genug Schiffe – vielleicht 124 auch der Kultusminister nie genug Universitätsinstitute, Schulen und Lehrerstellen bekommen können. Ein Etat, nur von den Fachministern aufgestellt, würde bald die ganzen Staatsfinanzen gründlich ruinieren.

Gegen die übertriebenen Forderungen aller anderen Verwaltungszweige fehlt es nun weder im Reich, noch in Preußen an der Kraft des Widerstandes innerhalb der Regierung selbst oder nötigenfalls in der Volksvertretung. Nur gegenüber den militärischen Forderungen versagt dieses Ausgleichungsmittel.

Innerhalb der Regierung kann von einem entschiedenen Widerstande nicht die Rede sein. Unsere Betrachtungen haben ja gezeigt, wie sehr man dort vom Geiste des Militarismus erfüllt ist. Die entscheidenden Persönlichkeiten stecken ganz in militärischen Anschauungen, fühlen sich als Militärs und glauben sich berufen und verpflichtet, die besonderen Anforderungen ihres Standes und der Heeresverwaltung zu vertreten. In der Regierung haben wir nur den verstärkten Minister des Militärressorts vor uns.

Derselbe mag ja, wie jeder andere verständige Fachmann ehrlich versucht haben, auch die Verhältnisse die außerhalb seines Ressorts liegen, zu berücksichtigen, aber er hat es doch immer nur mit dem Auge eines für sein Fach lebhaft interessierten Militärs tun können. Eine von außen kommende Kritik, die in ganz anderen Interessen wurzelte und mit den auch noch so zärtlich gepflegten Liebhabereien und Luxusausgaben des Fachmannes unbarmherzig ins Gericht ginge, die fehlt.

Auch der Reichstag hat gegenüber den Forderungen der Militärverwaltung nicht die Kraft des Widerstandes, wie gegenüber allen übrigen Posten des Budgets, und es versagt hier seine Bedeutung als die von Bismarck mit Recht gepriesene scharfe Kontrollinstanz.

Der Militarismus, der in den höchsten Kreisen und in der Regierung herrscht, beeinflußt naturgemäß auch einen Teil der Volksvertreter, die von Hause aus ihm ablehnend gegenüberstehen. Das wird schon durch die Atmosphäre des Berliner Lebens und durch persönliche Berührungen mit sich gebracht. Andere aber halten es für politisch klug, dem Militarismus Zugeständnisse zu machen, die sie nach einer rein sachlichen Prüfung anderen Ressorts verweigern würden. Man weiß, daß man an höchster Stelle mit nichts so sehr anstößt, wie mit einem scharfen Eingriff in militärische Forderungen, für die die Regierungsautorität einmal mit voller Kraft eingesetzt ist. Man kann dringende Forderungen für Bildungszwecke ablehnen, ein Unterrichtsgesetz zu Fall bringen, die Handelsverträge bekämpfen oder der sozialpolitischen Gesetzgebung Schwierigkeiten machen, 125 aber nur um Himmels willen nicht an der geheiligten Majestät des Militarismus rühren, falls man nicht jeder Hoffnung entsagen will, auf den Gang der Regierungsgeschäfte Einfluß zu üben. Man macht sich damit für gewisse Kreise auf immer unmöglich.

Es ist ja z. B. in diesen Tagen deutlich in Äußerungen eines Teiles der zur Vermittlung geneigten Freisinnigen zwischen den Zeilen zu lesen: Man hoffte in anderen Dingen die Regierung zugunsten liberaler Ideen beeinflussen zu können, wenn man ihr die Militärvorlage durchbringen half. In dieser Hoffnung und in dem Wunsche, die Wahlen zu vermeiden, nicht aber aus sachlicher Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit der Vorlage, war ein Teil dieser vermittelnden Freisinnigen bereit, für sie zu stimmen.

Daß diese Berechnung, oder sagen wir diese Stimmung und Hoffnung, eine grundfalsche ist, sei nur nebenbei erwähnt. Die Liberalen, die dem Militarismus vorsichtig ausweichen und ihn ängstlich hätscheln, in der Hoffnung, die Träger dieses Militarismus dadurch zugänglicher zu machen für die doch so bescheidenen und einleuchtenden liberalen Forderungen, sind noch immer die Gefoppten gewesen. Jede Stärkung des Militarismus kommt schließlich reaktionären Bestrebungen zugute, und will man einer freieren Auffassung im Staatswesen die Bahn öffnen, so muß man entschlossen den Militarismus angreifen; denn in ihm steckt der Kern und der Halt des im Grunde doch noch immer halbdespotischen Systems.

Doch an dieser Stelle kommt es uns nicht auf diesen Grundfehler der Taktik eines Teiles der Liberalen, sondern auf die allgemeine Erscheinung an, daß durch eine solche teils furchtsame, teils allzukluge Rücksichtnahme auf die eigenartige Stellung des Militarismus, die sich bei unsern Berufspolitikern so leicht einstellt, auch der Reichstag in der freien Kritik militärischer Forderungen gelähmt wird.

Die Rolle des Hemmschuhes gegenüber den einseitigen Forderungen der Fachmänner, gegenüber der Unersättlichkeit, die eine so verwöhnte Verwaltung notwendig ergreifen muß, fällt damit zum größten Teile dem Volke selbst zu.

Was gegenüber allen anderen Ressorts der Finanzminister oder der Ministerpräsident und in zweiter Instanz die Volksvertretung leistet, das muß gegenüber dem übermächtigen Militarismus als letzte und mächtigste Instanz die Nation selbst besorgen: das dringende Verlangen, daß alle Forderungen von dem Maße dessen, was dem Fachmann wünschenswert scheint, auf das Maß des wirklich Notwendigen ermäßigt werden. 126

 


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