Alexander Puschkin
Die Hauptmannstochter
Alexander Puschkin

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Zehntes Kapitel.
Die Belagerung der Stadt

Als wir uns Orenburg näherten, sahen wir eine Schar von Sträflingen mit geschorenen Köpfen und Gesichtern, die von den Zangen der Henker entstellt waren. Sie arbeiteten an den Befestigungen und wurden von Invaliden der Garnison beaufsichtigt. Einige fuhren in Karren den Müll fort, der die Gräben füllte, andere waren damit beschäftigt, die Erde umzuschaufeln; auf den Wällen schleppten Maurer Ziegelsteine und renovierten die Stadtmauer. Am Tore wurden wir von den Wachen angerufen, welche uns unsere Pässe abverlangten. Sobald der Sergeant hörte, daß ich aus der Festung Bjelogorsk käme, führte er mich direkt ins Haus des Generals.

Ich traf ihn im Garten an. Er betrachtete seine Apfelbäume, die der Herbst schon entblättert hatte, und umhüllte sie mit Hilfe eines alten Gärtners behutsam mit warmem Stroh. Sein Gesicht drückte Ruhe, Gesundheit und Gutmütigkeit aus. Er war erfreut, mich zu sehen, und fragte mich über die schrecklichen Ereignisse aus, deren Zeuge ich gewesen war. Ich erzählte ihm alles. Der Alte hörte mir mit Aufmerksamkeit zu und schnitt die dürren Zweige ab.

»Armer Mironow!« sagte er, als ich meine traurige Geschichte beendigt hatte. »Schade um ihn, er war ein guter Offizier, und Madame Mironow war eine gute Dame, und welche Meisterin war sie im Pilze-Einmachen! Und was macht denn Mascha, die Tochter des Hauptmanns?«

Ich antwortete ihm, daß sie in der Festung unter der Obhut der Popenfrau geblieben sei.

»O weh, o weh!« bemerkte der General, »das ist schlimm, sehr schlimm. Auf die Disziplin von Räubern kann man sich nicht verlassen. Was wird mit dem armen Mädchen geschehen?«

Ich antwortete, daß die Entfernung von der Festung Bjelogorsk nicht sehr groß sei und daß seine Exzellenz wohl unverzüglich Truppen zur Befreiung der armen Einwohner hinsenden würden. Der General jedoch schüttelte mit ungläubiger Miene den Kopf.

»Wollen sehn, wollen sehn,« sagte er, »wir werden darüber noch reden. Du kommst vielleicht zum Tee zu mir, heute ist bei mir Kriegsrat. Du kannst uns dann Mitteilungen über den Halunken Pugatschow und sein Heer machen. Jetzt aber geh und ruh dich aus.«

Ich suchte die mir angewiesene Wohnung auf, wo Saweljitsch bereits wirtschaftete, und erwartete ungeduldig die angesetzte Frist. Der Leser kann sich leicht vorstellen, daß ich es nicht versäumte, zu einer Beratung zu erscheinen, die einen so großen Einfluß auf mein Schicksal haben konnte. Zur festgesetzten Stunde war ich beim General.

Ich traf bei ihm einen städtischen Beamten, wenn ich mich recht erinnere, den Zolldirektor, einen dicken, rotwangigen Greis in einem goldverzierten Kaftan. Er fragte mich nach dem Lose Iwan Kusmitschs, den er seinen Gevatter nannte, und unterbrach meine Rede oft durch ergänzende Fragen und moralisierende Bemerkungen, die, wenn sie auch von keiner großen Kenntnis des Kriegswesens zeugten, doch einen gescheiten und vernünftigen Menschen erkennen ließen. Inzwischen kamen auch die andern Geladenen. Als alle saßen und man den Tee serviert hatte, legte der General weitläufig die ganze Sachlage dar. Dann fuhr er fort:

»Nun, meine Herren, müssen wir entscheiden, wie wir uns gegen die Aufrührer zu verhalten haben: angreifend oder abwehrend? Eine jede dieser Methoden hat ihre Vorteile, sowie auch ihre Nachteile. Im Angriffe liegen mehr Chancen zur baldigen Vernichtung des Feindes; die Abwehr ist sicher und ungefährlich . . . So stimmen wir denn nach der gesetzmäßigen Ordnung ab, indem wir mit dem Jüngsten im Range beginnen. Herr Fähnrich!« fuhr er fort, indem er sich an mich wandte, »sagen Sie uns bitte Ihre Meinung.«

Ich erhob mich, beschrieb zuerst in kurzen Worten Pugatschow und seine Bande und sprach die Überzeugung aus, daß der Usurpator keine Möglichkeit hätte, regelrecht bewaffneten Truppen zu widerstehen.

Meine Meinung wurde von den Beamten mit offenbarer Mißbilligung aufgenommen. Sie sahen in ihr nur Übereilung und Frechheit eines jungen Menschen. Murren erhob sich und ich hörte jemand ganz deutlich mit halblauter Stimme das Wort »Grünschnabel« sagen. Der General wandte sich zu mir und sagte lächelnd:

»Herr Fähnrich! Gewöhnlich werden die ersten Stimmen im Kriegsrate zugunsten der Angriffsbewegungen abgegeben, das ist ganz in der Ordnung. Jetzt aber lassen Sie uns die andern Stimmen hören. Herr Kollegienrat, sagen Sie uns bitte Ihre Meinung.«

Der Greis in dem goldverzierten Kaftan beeilte sich, seine dritte Tasse Tee, die er stark mit Rum vermischt hatte, zu leeren und antwortete dem General:

»Ich glaube, Euer Exzellenz, daß wir weder angreifend noch abwehrend vorgehen sollten.«

»Ja, wie denn sonst, Herr Kollegienrat?« erwiderte der erstaunte General, »die Taktik hat keine andern Methoden, es gibt nur Angriff oder Abwehr . . .«

»Eure Exzellenz, gehen Sie bestechend vor!«

»Haha! Ihre Meinung ist sehr verständig. Bestechungen werden von der Taktik gestattet. Wir wollen Ihren Rat benutzen. Man könnte ja auf den Kopf dieses Halunken . . . siebzig Rubel oder sogar hundert . . . aus der geheimen Schatulle setzen.«

»Dann aber,« unterbrach der Zolldirektor, »will ich ein Kirgisenhammel und kein Kollegienrat sein, wenn diese Diebe ihren Ataman nicht an Händen und Füßen gebunden ausliefern.«

»Das werden wir noch überlegen und beratschlagen,« antwortete der General. »In jedem Falle aber müssen wir auch kriegerische Maßregeln treffen. Meine Herren, geben Sie Ihre Stimmen nach der gesetzlichen Ordnung ab.«

Alle Meinungen waren gegen mich. Alle Beamten sprachen von der Unzuverlässigkeit der Truppen, von der Ungewißheit des Erfolges, von Vorsicht und Ähnlichem. Alle waren überzeugt, daß es viel klüger sei, im Schutze der Kanonen hinter einer festen Steinmauer zu bleiben, als im freien Felde das Glück der Waffen zu versuchen. Nachdem der General alle diese Meinungen angehört hatte, klopfte er endlich seine Pfeife aus und hielt folgende Rede:

»Meine Herren! Ich muß Ihnen erklären, daß ich mich meinerseits ganz der Ansicht des Herrn Fähnrich anschließe, denn diese Ansicht gründet sich auf allen Regeln einer gesunden Taktik, welche fast immer den Angriff der Abwehr vorzieht.«

Hier machte er eine Pause und stopfte sich seine Pfeife. Meine Eigenliebe triumphierte. Stolz sah ich die Beamten an, die unzufrieden und unruhig miteinander flüsterten.

»Dennoch, meine Herren,« fuhr er fort und blies mit einem tiefen Seufzer eine dichte Wolke Tabakrauch von sich, »dennoch wage ich es nicht, eine so große Verantwortung auf mich zu nehmen, wenn es sich um die Sicherheit der Provinzen handelt, die mir Ihre kaiserliche Hoheit, meine allergnädigste Herrscherin anvertraut hat. Und so stimme ich denn der Mehrheit zu, welche entschieden hat, daß es klüger und ungefährlicher sei, eine Belagerung in der Stadt auszuhalten und feindliche Angriffe durch Artilleriefeuer und durch gelegentliche Ausfälle abzuschlagen.«

Die Beamten sahen mich nun ihrerseits spöttisch an. Der Rat ging auseinander. Ich beklagte die Schwäche des richtigen Soldaten, der sich gegen seine eigene Überzeugung den Meinungen unwissender und unerfahrener Leute anschloß.

Einige Tage nach dieser ruhmvollen Beratung erfuhren wir, daß sich Pugatschow nach seiner Voraussage Orenburg näherte. Von der Höhe der Stadtmauer aus konnte ich das Rebellenheer erblicken. Mir schien es, daß sich seine Zahl seit der Zeit des letzten Angriffes, dessen Zeuge ich gewesen war, verzehnfacht hätte. Sie führten Geschütze mit sich, die Pugatschow den kleinen schon eroberten Festungen entnommen hatte. Ich erinnerte mich an die Entscheidung des Kriegsrates, sah eine langwierige Einschließung in den Mauern Orenburgs voraus und heulte fast vor Wut.

Ich will nicht die Belagerung Orenburgs schildern, denn sie gehört der Geschichte mehr, als einer Familienchronik an. Ich erwähne nur kurz, daß die Belagerung durch die Unvorsichtigkeit der städtischen Behörden für die Einwohner verhängnisvoll wurde; sie hatten Hunger zu leiden und vieles andere auszustehen. Man kann sich wohl vorstellen, daß das Leben in Orenburg fast unerträglich wurde. Mutlos erwarteten alle die Entscheidung ihres Schicksals, und seufzten über die Teuerung, die tatsächlich furchtbar war. Die Einwohner gewöhnten sich an die Kanonenkugeln, die in ihre Höfe schlugen; selbst Pugatschows Angriffe erregten nicht mehr die allgemeine Neugierde. Ich starb fast vor Langeweile. Die Zeit verging. Aus der Festung Bjelogorsk erhielt ich keinen Brief. Alle Wege waren abgeschnitten. Die Trennung von Marja Iwanowna wurde unerträglich. Die Ungewißheit ihres Loses peinigte mich. Meine einzige Zerstreuung bestand in Reiterabenteuern. Pugatschow hatte ich ein gutes Pferd zu verdanken; ich teilte mit ihm meine schmalen Rationen und ritt täglich vor die Stadt zu kleinen Scharmützeln mit Pugatschows Reitern. In diesen Scharmützeln behielten die Schufte gewöhnlich das Übergewicht, denn sie waren satt, betrunken und gut beritten. Die abgemagerte Garnisonskavallerie konnte ihrer unmöglich Herr werden. Manchmal wagte sich auch unsere ausgehungerte Infanterie ins Feld hervor, doch der tiefe Schnee hinderte sie, mit Erfolg gegen die flinken Reiter vorzugehen. Umsonst dröhnten die Geschütze von der Höhe des Walles, die im Felde regelmäßig steckenblieben, denn die ausgehungerten Pferde konnten sie nicht fortbewegen. Das war unsere kriegerische Tätigkeit! Und das nannten die Orenburger Behörden Vorsicht und Vernunft!

Als es uns einmal gelang, einen ziemlich starken Feindeshaufen zu zerstreuen und davonzujagen, kam ich in die Nähe eines Kosaken, der hinter seinen Kameraden zurückgeblieben war; schon wollte ich mit meinem Türkensäbel auf ihn einschlagen, als er jählings seine Mütze abnahm und schrie:

»Guten Tag, Peter Andrejewitsch. Wie geht es Ihnen?«

Ich schaute hin und erkannte unsern Urjädnik. Ich freute mich unsäglich über dies Zusammentreffen.

»Guten Tag, Maximytsch,« sagte ich. »Bist du schon lange von Bjelogorsk fort?«

»Nicht lange, Väterchen Peter Andrejewitsch, gestern erst kehrte ich hierher zurück. Ich habe ein Briefchen für Sie.«

»Wo ist es denn?« rief ich und erglühte über und über.

»Bei mir,« antwortete Maximytsch und legte die Hand auf die Brusttasche, »ich habe Palaschka geschworen, es Ihnen irgendwie zuzustellen.«

Er übergab mir ein zusammengefaltetes Papier und sprengte sofort von dannen. Ich entfaltete es und las zitternd folgende Zeilen:

»Es war Gottes Wille, mir Vater und Mutter zu nehmen, ich habe auf Erden keine Verwandten und keine Beschützer. Ich wende mich an Sie, denn ich weiß, daß Sie mir wohlwollen und bereit sind, jedem Menschen zu helfen. Ich bete zu Gott, daß dieser Brief Sie auf irgendeine Weise erreiche! Maximytsch versprach mir, ihn zu bestellen. Palaschka hat auch von Maximytsch gehört, daß er sehr oft von ferne gesehen hätte, wie Sie sich an Ausfällen beteiligten und daß Sie gar keine Vorsicht beobachteten und nicht an jene dächten, die für Sie mit Tränen zu Gott beten. Ich bin lange krank gewesen; als ich aber gesund wurde, befahl Alexej Iwanowitsch, der hier an Stelle des verstorbenen Vaters kommandiert, dem Vater Gerasim, mich ihm auszuliefern und drohte ihm mit Pugatschow. Nun werde ich in unserem Hause bewacht. Alexej Iwanowitsch zwingt mich, ihn zu heiraten. Er sagt, daß er mir das Leben gerettet hätte, denn er hätte Akulina Pamphilownas Betrug, die mich vor den Bösewichtern für ihre Nichte ausgab, nicht aufgedeckt. Ich würde lieber sterben, als die Frau eines Menschen wie Alexej Iwanowitsch zu werden. Er geht roh mit mir um und droht, wenn ich mich nicht anders besinnen und einwilligen wollte, mich in das Lager des Bösewichts zu führen und dort würde mit mir dasselbe geschehen, was mit Lisawjeta Karlowa geschah. Ich bat Alexej Iwanowitsch, mir Frist zum Nachdenken zu geben. Er will drei Tage warten, sollte ich aber nach drei Tagen nicht einverstanden sein, so würde er mich nicht mehr schonen. Väterchen Peter Andrejewitsch! Sie sind mein einziger Beschützer; treten Sie für mich Arme ein. Bitten Sie den General und alle andern Kommandeure, möglichst bald Sukkurs hierher zu schicken und kommen Sie selber, wenn Sie können. Ich verbleibe Ihre gehorsame arme Waise

Marja Mironow.«

Dieser Brief machte mich fast wahnsinnig. Ich gab meinem armen Pferde unbarmherzig die Sporen und raste in die Stadt. Auf dem Wege überdachte ich auf alle Weise die Rettung des armen Mädchens, konnte aber nichts finden. In der Stadt angekommen, begab ich mich direkt zum General und stürzte Hals über Kopf in sein Zimmer.

Der General schritt im Zimmer auf und ab und rauchte aus seiner Meerschaumpfeife. Als er mich sah, blieb er stehen. Mein Aussehen erstaunte ihn augenscheinlich; besorgt erkundigte er sich nach dem Grunde meines eiligen Kommens.

»Eure Exzellenz,« sagte ich zu ihm, »ich trete vor Sie, wie vor einen Vater; um Gottes willen versagen Sie mir nicht die Erfüllung dieser Bitte: es handelt sich um das Glück meines ganzen Lebens.«

»Ja, was denn, Väterchen?« fragte mich der verwunderte Greis, »was kann ich für dich tun? Sage?«

»Eure Exzellenz, gestatten Sie mir eine Kompagnie Soldaten und ein halb Hundert Kosaken zu nehmen und zum Entsatz der Festung Bjelogorsk auszuziehen!«

Der General sah mich mit einem langen Blick an und glaubte wahrscheinlich, daß ich den Verstand verloren hätte (worin er sich kaum versah).

»Wie das? Zum Entsatz der Festung Bjelogorsk!« fragte er schließlich.

»Ich bürge Ihnen für den Erfolg!« antwortete ich voll Feuer, »schicken Sie mich nur!«

»Nein, junger Mann!« sagte er kopfschüttelnd, »bei so großer Entfernung kann der Feind euch leicht die Kommunikation mit dem strategischen Hauptpunkte abschneiden und euch völlig vernichten. Eine abgeschnittene Kommunikation . . .«

Ich erschrak, als ich ihn sich in militärische Meditationen verlieren sah und beeilte mich, ihn zu unterbrechen.

»Die Tochter des Hauptmanns Mironow,« sagte ich ihm, »hat mir einen Brief geschrieben; sie fleht um Hilfe; Schwabrin zwingt sie, ihn zu heiraten.«

»Was? O dieser Schwabrin, er ist ein niederträchtiger Schelm, und wenn er mir in die Hände fallen sollte, so werde ich den Befehl erteilen, in vierundzwanzig Stunden das Urteil über ihn zu sprechen und wir erschießen ihn auf dem Parapet der Festung. Jetzt aber müssen wir uns in Geduld fassen . . .«

»Geduld!« schrie ich und geriet außer mich, »und unterdessen soll er Marja Iwanowna heiraten!«

»Ach was!« versuchte der General zu widerlegen, »das ist noch kein Unglück, es ist gar nicht mal schlecht für sie, jetzt die Frau Schwabrins zu werden, jetzt kann er sie protegieren; wenn er dann erschossen wird, wird sich mit Gottes Hilfe noch ein anderer Bräutigam für sie finden. Niedliche Witwen bleiben nicht lange Jungfern; das heißt, ich wollte sagen, eine Witwe findet viel rascher einen Mann als ein Mädchen.«

»Lieber den Tod,« schrie ich toll vor Aufregung, »als daß ich sie Schwabrin abtrete!«

»Ba, ba, ba, ba,« sagte der Alte, »jetzt versteh' ich's! . . . Du bist also in Marja Iwanowna verliebt, das ist eine andere Sache! Armer Kerl! Trotzdem aber kann ich dir keine Kompagnie Soldaten und kein halbes Hundert Kosaken geben. Diese Expedition wäre zu unvernünftig, ich könnte sie nicht verantworten.«

Ich senkte den Kopf. Verzweiflung überkam mich. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: worin er bestand, sollen die Leser aus dem folgenden Kapitel ersehen, wie die alten Romanciers zu sagen pflegen.


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