Alexander Puschkin
Die Hauptmannstochter
Alexander Puschkin

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Sechstes Kapitel.
Pugatschow

Hört zu, ihr Jungen,
Was wir Alten erzählen!
Volkslied

 

Ehe ich an die Beschreibung der seltsamen Ereignisse gehe, deren Zeuge ich war, will ich zuvor mit wenigen Worten schildern, in welcher Lage sich das Gouvernement Orenburg gegen das Ende des Jahres 1773 befand.

Dieses große und reiche Gouvernement war von einer Menge halbwilder Völker besiedelt, die erst seit kurzer Zeit die Herrschaft der russischen Zaren anerkannten. Ihre fortgesetzten Aufstände, ihre Abneigung gegen Gesetze und bürgerliches Leben, ihre Haltlosigkeit und ihre Grausamkeit forderten von der Regierung unablässige Aufsicht, um sie in Gehorsam zu halten. An Plätzen, die man dazu für geeignet hielt, wurden Festungen erbaut, die man zum größten Teil mit Kosaken, den alten Anwohnern der Ufer des Jaik besiedelte. Allein diese selben jaikschen Kosaken, die Ruhe und Schutz dieses Landes bewahren sollten, waren seit einiger Zeit selbst unruhige und gefährliche Untertanen. Im Jahre 1772 kam es zu einer Meuterei in ihrer Hauptstadt. Sie war durch die strengen Maßregeln des Generalmajors Traubenberg verursacht, der das Heer zum schuldigen Gehorsam zwingen wollte. Die Folge war die barbarische Ermordung Traubenbergs, eigenmächtige Veränderungen in der Verwaltung und die endliche Niederwerfung des Aufruhrs mit Kartätschen und grausamen Strafen.

Dies alles geschah einige Zeit vor meiner Ankunft in der Festung Bjelogorsk. Alles war oder schien wenigstens ruhig zu sein; die obersten Behörden hatten sich der geheuchelten Reue der listigen Aufrührer gegenüber zu leichtgläubig verhalten. Diese waren noch unzufrieden und warteten auf einen günstigen Augenblick, um die Unruhen zu erneuern.

Ich wende mich wieder meiner Erzählung zu.

Eines Abends (es war im Anfang Oktober des Jahres 1773) saß ich allein zu Hause, hörte dem Heulen des Herbststurms zu und schaute auf die Wolken, die am Monde vorbeieilten. Da wurde ich zum Kommandanten gerufen. Ich machte mich sofort auf den Weg. Beim Kommandanten fand ich Schwabrin, Iwan Ignatjitsch und den Kosakenunteroffizier vor. Weder Wassilissa Jegorowna noch Marja Iwanowna waren im Zimmer. Der Kommandant begrüßte mich mit besorgter Miene. Er schloß die Türe, ließ alle Platz nehmen außer dem Unteroffizier, der an der Türe stand, zog ein Papier aus der Tasche und sagte uns: »Meine Herren Offiziere! Eine wichtige Neuigkeit! Hören Sie, was der General schreibt.« Hier setzte er die Brille auf und las folgendes vor:

»Dem Herrn Kommandanten der Festung Bjelogorsk,
Hauptmann Mironow.

Geheim.

Hiermit teile ich Ihnen mit, daß ein entsprungener Sträfling, der Donsche Kosak und Sektierer Jemeljan Pugatschow die unverzeihliche Frechheit besessen hat, den Namen des verstorbenen Kaisers Peters III. anzunehmen und gleichzeitig eine verbrecherische Schar zu sammeln und die jaikschen Ansiedelungen zum Aufruhr zu reizen. Er hat bereits einige Festungen eingenommen und zerstört und überall geplündert und gemordet. Infolgedessen haben Sie, Herr Kapitän, nach Empfang dieses Schreibens unverzüglich die entsprechenden Maßnahmen zur Abwehr des genannten Bösewichts und Usurpators zu ergreifen und ihn womöglich gänzlich zu vernichten, falls er die Festung überfallen sollte, die Ihrer Obhut anvertraut ist.«

»Entsprechende Maßnahmen ergreifen!« sagte der Kommandant, nahm seine Brille ab und faltete das Papier zusammen; »hör', das ist leicht zu sagen. Der Schuft ist augenscheinlich stark, wir haben im ganzen hundertunddreißig Mann, die Kosaken nicht eingerechnet, auf die man sich nicht verlassen kann, was für dich, Maximytsch, kein Vorwurf sein soll.« Der Unteroffizier lächelte. »Allein, es ist nichts zu machen, meine Herren Offiziere! Seien Sie eifrig, organisieren Sie Wachen und nächtliche Patrouillen; schließen Sie die Tore im Falle eines Angriffs, und formieren Sie die Soldaten. Du, Maximytsch, gib auf deine Kosaken acht. Die Kanone soll untersucht und tüchtig gereinigt werden. Das Wichtigste ist aber, daß dies alles geheim bleibt, damit niemand in der Festung vorzeitig davon erfahre.«

Nachdem uns Iwan Kusmitsch diese Befehle erteilt hatte, entließ er uns. Ich ging mit Schwabrin, und wir unterhielten uns über das Gehörte.

»Was glaubst du wohl, womit das enden wird«, fragte ich ihn.

»Mein Gott,« entgegnete er, »wir werden es schon sehen. Vorläufig sehe ich noch nichts Besonderes. Wenn aber . . .«

Er versank in Sinnen und pfiff zerstreut eine französische Arie.

Ungeachtet all unserer Vorsicht verbreitete sich in der Festung die Nachricht von dem Auftauchen Pugatschows. Wenn auch Iwan Kusmitsch seine Gemahlin sehr verehrte, so hätte er ihr doch für nichts in der Welt ein Geheimnis enthüllt, das ihm dienstlich anvertraut war. Nachdem er den Brief vom General erhalten hatte, entfernte er auf ziemlich schlaue Weise Wassilissa Jegorowna aus dem Hause, indem er ihr sagte, Vater Gerasim hätte aus Orenburg wunderliche Nachrichten erhalten, die er streng geheimhalte. Wassilissa Jegorowna beschloß darauf sofort die Popenfrau zu besuchen und nahm auf den Rat Iwan Kusmitschs Mascha mit, damit es ihr allein nicht langweilig würde.

Nachdem so Iwan Kusmitsch alleiniger Herr des Hauses geworden war, schickte er sofort nach uns, Palaschka aber sperrte er in die Kammer, damit sie nicht horchen könne.

Wassilissa Jegorowna kam nach Hause, ohne aus der Popenfrau etwas herausgebracht zu haben, und erfuhr, daß in ihrer Abwesenheit bei Iwan Kusmitsch eine Beratung stattgefunden und daß Palaschka hinter Schloß und Riegel gesessen hatte. Sie erriet, daß sie von ihrem Mann hintergangen worden war und unterwarf ihn einem Verhör. Doch Iwan Kusmitsch hatte sich auf den Überfall vorbereitet. Er wurde durchaus nicht verlegen und antwortete seiner neugierigen Lebensgefährtin kühn:

»Ja hör', Mütterchen, unseren Weibern ist's eingefallen, die Öfen mit Stroh zu heizen; da aber ein Unglück daraus entstehen kann, so habe ich den strengen Befehl erteilt, die Weiber dürften von nun ab nicht mehr mit Stroh heizen, sondern mit Reisig oder mit Lagerholz.«

»Warum aber hast du dann Palaschka eingesperrt?« fragte die Kommandantin, »warum mußte das arme Mädchen bis zu unserer Rückkehr in der Kammer sitzen?«

Iwan Kusmitsch war auf diese Frage nicht vorbereitet; er geriet in Verwirrung und stammelte etwas Sinnloses. Wassilissa Jegorowna durchschaute die List ihres Mannes, wußte aber, daß sie von ihm nichts erfahren würde, stellte deshalb die Fragen ein und lenkte das Gespräch auf die gesalzenen Gurken, welche Akulina Pamphilowna auf eine sehr eigenartige Weise zuzubereiten verstand.

Wassilissa Jegorowna schlief die ganze Nacht nicht ein und konnte auf keine Weise erraten, was in dem Kopfe ihres Mannes vor sich ging, das sie nicht erfahren durfte.

Am andern Tage, als sie aus der Kirche kam, sah sie Iwan Ignatjitsch, der aus der Kanone die Tuchlappen, kleine Steine, Holzspähne, Kinderspielzeug und Schutt aller Art hervorzog, womit die Kinder sie vollgestopft hatten.

»Was wohl die kriegerischen Vorbereitungen zu bedeuten haben?« dachte die Kommandantin, »erwartet man am Ende einen Angriff der Kirgisen? Aber solche Kleinigkeiten würde mein Iwan Kusmitsch doch nicht verheimlichen?« Mit dem festen Entschlusse, ihm das Geheimnis zu entlocken, das ihre weibliche Neugierde reizte, rief sie Iwan Ignatjitsch herbei.

Wassilissa Jegorowna machte ihm einige Bemerkungen über ihren Haushalt, wie ein Richter, der die Untersuchung mit nebensächlichen Fragen beginnt, um die Vorsicht des Antwortenden einzuschläfern, und sagte kopfschüttelnd:

»Herrgott! Himmlischer Vater! was jetzt alles geschieht! Wie wird das nur enden?«

»Ach was, Mütterchen!« antwortete Iwan Ignatjitsch, »Gott ist gnädig, Soldaten haben wir genug, Pulver ist viel da, die Kanone habe ich gereinigt. Wir werden diesen Pugatschow schon zurückschlagen. Wenn uns Gott nicht verläßt, frißt uns das Schwein nicht auf!«

»Was ist das für ein Mensch, dieser Pugatschow?« fragte die Kommandantin.

Hier merkte Iwan Ignatjitsch, daß er sich versprochen hatte und biß sich auf die Zunge. Aber es war schon zu spät. Wassilissa Jegorowna zwang ihn, alles zu gestehen, nachdem sie ihm ihr Wort gegeben hatte, niemandem etwas davon zu erzählen.

Wassilissa Jegorowna hielt ihr Versprechen und sagte niemandem ein Wort darüber als nur der Popenfrau, und auch nur deshalb, weil deren Kuh noch immer auf der Steppe graste und leicht von den Bösewichtern gepackt werden konnte.

Bald sprach alles von Pugatschow; die Meinungen gingen auseinander. Der Kommandant schickte den Urjädnik mit dem Auftrag aus, die nächstliegenden Ansiedelungen und Festungen gut auszukundschaften. Der Urjädnik kehrte nach zwei Tagen zurück und meldete, daß er in der Entfernung von etwa sechzig Werst von der Festung eine Menge Feuer in der Steppe gesehen und daß er von den Baschkiren gehört hätte, eine große unbekannte Macht ziehe heran. Im übrigen konnte er nichts Positives mitteilen, da er sich gefürchtet hatte weiterzureiten.

Unter den Kosaken in der Festung machte sich eine ungewöhnliche Bewegung bemerkbar: auf allen Straßen standen sie in Haufen zusammen, unterhielten sich leise und gingen auseinander, wenn sie einen Dragoner oder einen Garnisonssoldaten sahen. Man ließ sie durch Späher beobachten. Ein getaufter Kalmücke, Julai, brachte dem Kommandanten eine wichtige Nachricht. Die Meldung des Urjädniks war nach den Worten Julais lügenhaft; nach seiner Rückkehr hatte der listige Kosak seinen Kameraden mitgeteilt, daß er bei den Aufrührern gewesen sei, sich ihrem Anführer vorgestellt habe, der ihn zum Handkusse zugelassen und lange mit ihm gesprochen hätte. Unverzüglich ließ der Kommandant den Urjädnik verhaften und ersetzte dessen Platz durch Julai. Die Kosaken nahmen diese Neuigkeit mit offenbarer Unzufriedenheit auf. Sie murrten laut, und Iwan Ignatjitsch, der den Befehl des Kommandanten ausführte, mußte mit eigenen Ohren hören, wie sie sagten: »Das wird dir schlecht bekommen, Garnisonsratte!« Der Kommandant wollte den Arrestanten am selben Tage verhören, doch der Urjädnik war entflohen, wahrscheinlich mit Hilfe Gleichgesinnter.

Ein neues Ereignis erhöhte die Unruhe des Kommandanten. Man fing einen Baschkiren mit aufrührerischen Papieren. Aus diesem Grunde gedachte der Kommandant, wieder seine Offiziere zu versammeln und wollte zu diesem Zwecke Wassilissa Jegorowna unter einem unverdächtigen Vorwande entfernen. Doch als schlichter und wahrheitsliebender Mensch fand Iwan Kusmitsch keine andere Ausrede als die schon einmal gebrauchte.

»Hör' mal, Wassilissa Jegorowna,« sagte er zu ihr und hüstelte, »Vater Gerasim erhielt aus der Stadt, wie man sagt . . .«

»Hör' auf mit dem Unsinn, Iwan Kusmitsch,« unterbrach ihn die Kommandantin, »du willst natürlich eine Versammlung einberufen und ohne mich über Jemeljan Pugatschow beratschlagen; diesmal führst du mich aber nicht an.«

Iwan Kusmitsch sah sie mit erstaunten Augen an.

»Nun, Mütterchen,« sagte er, »wenn du schon sowieso alles weißt, so bleib nur da, wir können auch in deiner Gegenwart beraten.«

»So ist's recht, Väterchen!« antwortete sie, »es ist nicht deine Sache, schlau zu sein; schicke nur nach den Offizieren.«

Wir versammelten uns wieder. Iwan Kusmitsch las uns in Gegenwart seiner Gemahlin den Aufruf Pugatschows vor, den irgendein halbgebildeter Kosak geschrieben hatte. Der Räuber teilte darin seine Absicht mit, in nächster Zeit unsere Festung zu überfallen, forderte die Kosaken und Soldaten auf, sich seiner Bande anzuschließen und ermahnte den Kommandanten bei Todesstrafe, sich nicht zu widersetzen. Der Aufruf war in groben, aber kräftigen Ausdrücken geschrieben und mußte einen gefährlichen Eindruck auf die Köpfe der einfachen Leute machen.

»Wie gefällt euch der Halunke?« rief die Kommandantin, »was wird er uns noch vorzuschlagen wagen! Vielleicht ihm entgegenzuziehen und die Fahnen vor seinen Füßen niederzulegen! Weiß dieser Hundesohn denn nicht, daß wir schon vierzig Jahre im Dienste stehen und, Gott sei Dank, alles schon zur Genüge kennen. Sollten sich denn wirklich Kommandanten gefunden haben, die dem Räuber gehorcht haben?«

»Eigentlich wäre es nicht zu glauben,« antwortete Iwan Kusmitsch, »aber wie man sagt, hat der Schuft schon mehrere Festungen genommen.«

»Dann ist er augenscheinlich wirklich stark«, bemerkte Schwabrin.

»Wir können sofort seine Stärke erfahren. Wassilissa Jegorowna, gib mir den Speicherschlüssel. Iwan Ignatjitsch, führe den Baschkiren her und befiehl Julai, die Peitsche zu bringen.«

»Warte, Iwan Kusmitsch,« sagte die Kommandantin und stand auf, »ich will Mascha irgendwohin fortführen; wenn sie das Schreien hört, wird sie sich ängstigen. Und um aufrichtig zu sein, auch ich bin keine Freundin der Folter. Möge es glücklich ausgehen.«

Die Folter war zu jener Zeit noch so sehr mit der Gerichtsbarkeit verwachsen, daß der humane Erlaß, der sie abschaffte, noch lange ohne jede Wirkung blieb. Man meinte, daß das Geständnis des Verbrechers unbedingt notwendig sei, um ihn völlig zu entlarven – ein ebenso unbegründeter, wie einem gesunden juristischen Sinn widersprechender Gedanke. Denn sobald das Leugnen des Angeklagten nicht als Beweis seiner Unschuld gilt, kann sein Bekenntnis noch viel weniger Beweis seiner Schuld sein. Auch noch heute höre ich zuweilen bejahrte Richter sich über die Aufhebung dieser barbarischen Sitte beklagen. In unserer Zeit jedoch zweifelte niemand an der Notwendigkeit der Folter, weder die Richter noch die Angeklagten. Deshalb war keiner von uns über den Befehl des Kommandanten verwundert oder erregt. Iwan Ignatjitsch ging den Baschkiren holen, der im Speicher der Kommandantin eingeschlossen war; nach einigen Minuten wurde der Gefangene ins Vorzimmer gebracht. Der Kommandant befahl, ihn vorzuführen.

Nur mit Mühe konnte der Baschkire die Schwelle überschreiten (er war in den Block gespannt). Er nahm seine hohe Mütze ab und blieb an der Türe stehen. Ich sah ihn an und fühlte einen Schauer. Nie werd' ich diesen Menschen vergessen. Er mußte schon über siebzig Jahre alt sein. Er hatte weder Nase noch Ohren. Sein Kopf war glatt geschoren, an Stelle des Bartes hingen einige graue Haare; er war von kleinem Wuchs, mager und gekrümmt, aber seine schmalen Augen brannten feurig.

»Ei ei!« sagte der Kommandant, der in ihm an diesen fürchterlichen Merkmalen einen jener Aufrührer erkannte, die im Jahre 1741 bestraft worden waren, »also du bist schon einmal in unsern Fallen gewesen, alter Wolf. Du rebellierst wohl nicht zum ersten Male, sonst wäre dein Kopf nicht so glatt geschoren. Tritt näher; sag', wer hat dich hergeschickt?«

Der alte Baschkire schwieg und sah den Kommandanten mit dem Ausdruck völliger Gedankenlosigkeit an.

»Was schweigst du denn,« setzte Iwan Kusmitsch fort, »du verstehst wohl kein Russisch? Julai, frag' ihn mal in eurer Sprache, wer ihn in unsere Festung geschickt hat?«

Julai wiederholte auf tatarisch die Worte Iwan Kusmitschs. Aber der Baschkire sah ihn mit demselben Ausdruck an und schwieg.

»Schon gut,« sagte der Kommandant, »du wirst schon sprechen. Kinder! zieht ihm diesen dummen gestreiften Kittel aus und schreibt ihm was auf den Rücken. Sieh zu, Julai, nimm ihn ordentlich vor!«

Zwei Invaliden zogen den Baschkiren aus. Das Gesicht des Unglücklichen drückte Unruhe aus. Und wie ein von Kindern gefangenes Tierchen sah er sich nach allen Seiten um. Als aber einer der Invaliden seine Hände ergriff, diese sich um den Nacken legte und den Alten auf seine Schultern hob; als Julai die Peitsche nahm und sie schwang, da stöhnte der Baschkire mit schwacher flehender Stimme, schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, in welchem sich an Stelle der Zunge ein kurzer Stummel bewegte.

Wenn ich bedenke, daß dieses zu meiner Zeit geschah und daß ich jetzt unter der milden Regierung des Kaisers AlexanderAlexander I., 1801-1825. lebe, muß ich über die raschen Fortschritte der Bildung und über die Verbreitung der Gesetze der Menschenliebe staunen. Junger Mann! wenn dir meine Memoiren in die Hände fallen sollten, o so bedenke, daß die besten und sichersten Veränderungen diejenigen sind, die der Veredelung der Sitten und nicht gewaltsamen Erschütterungen ihre Entstehung verdanken.

Alle waren erstaunt.

»Nun,« sagte der Kommandant, »ich sehe, daß wir von ihm nichts Gescheites erfahren werden. Julai, führe den Baschkiren in den Speicher zurück. Wir aber, meine Herren, wollen noch einiges beraten.«

Wir sprachen über unsere Lage, als plötzlich Wassilissa Jegorowna atemlos und aufgeregt das Zimmer betrat.

»Was ist dir geschehen«, fragte der verwunderte Kommandant.

»Väterchen, ein Unglück!« antwortete Wassilissa Jegorowna, »die Festung Nischneje Osero ist heute morgen genommen worden. Ein Arbeiter Vater Gerasims kehrte eben von dort zurück. Er sah, wie man sie einnahm. Der Kommandant und alle Offiziere wurden gehenkt. Alle Soldaten sind gefangengenommen. Gib acht, die Schufte kommen hierher!«

Diese unerwartete Nachricht machte einen tiefen Eindruck auf mich. Der Kommandant der Festung Nischneje Osero war ein stiller, bescheidener junger Mensch, den ich persönlich kannte; vor zwei Monaten kam er aus Orenburg mit seiner jungen Frau vorbei und kehrte bei Iwan Kusmitsch ein. Nischneje Osero war etwa fünfundzwanzig Werst von unserer Festung entfernt. Von Stunde zu Stunde mußten wir den Angriff Pugatschows erwarten. Das Los, das Marja Iwanowna erwartete, trat lebhaft vor meine Seele, daß mein Herz fast stillstand.

»Hören Sie, Iwan Kusmitsch!« sagte ich zum Kommandanten, »es ist unsere Pflicht, die Festung bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen, darüber ist nichts mehr zu sagen. Doch wir sollten daran denken, die Frauen außer Gefahr zu bringen. Wenn der Weg noch frei ist, so schicken Sie sie nach Orenburg oder in eine entferntere sichere Festung, wohin die Bösewichter nie gelangen werden.«

Iwan Kusmitsch wandte sich an seine Frau und sagte ihr:

»Höre, Mütterchen, sollte man euch nicht tatsächlich fortschicken, bis wir mit den Rebellen fertig geworden sind?«

»Unsinn,« sagte die Kommandantin, »wo gibt es denn eine Festung, wohin keine Kugel fliegen könnte? Und wieso ist Bjelogorsk nicht sicher? Wir leben nun, Gott sei Dank, das zweiundzwanzigste Jahr hier. Sahen Baschkiren und Kirgisen: auch Pugatschow wird uns nichts anhaben können.«

»Ja natürlich,« bemerkte Iwan Kusmitsch, »bleibe nur, wenn du solches Vertrauen zu unserer Festung hast. Aber was fangen wir mit Mascha an? Gut, wenn wir aushalten oder Sukkurs erwarten können; wie aber dann, wenn die Schufte unsere Festung einnehmen?«

»Nun, dann . . .«

Wassilissa Jegorowna stockte und verstummte erregt.

»Nein, Wassilissa Jegorowna,« setzte der Kommandant fort, als er bemerkte, daß seine Worte vielleicht zum erstenmal in seinem Leben gewirkt hatten, »es ist nicht gut, daß Mascha hier bleibt. Schicken wir sie nach Orenburg zu ihrer Taufpatin, dort sind genug Truppen und Kanonen und die Mauern sind von Stein. Und auch dir würde ich raten, dich mit ihr dorthin zu begeben; wenn du auch eine alte Frau bist, aber bedenke, was mit dir geschieht, wenn die Festung gestürmt wird.«

»Gut,« sagte die Kommandantin, »sei's, schicken wir Marie hin. Mir aber wird es nicht im Traume einfallen, fortzugehen; ich brauche dich im Alter nicht zu verlassen, um ein einsames Grab im fremden Land zu suchen. Zusammen gelebt, zusammen gestorben.«

»Wie du willst«, sagte der Kommandant. »Aber zaudern wir nicht. Mach' Mascha reisefertig. Morgen in aller Frühe wollen wir sie unter Bedeckung wegschicken, wenn wir auch selbst keine überflüssigen Leute haben. Wo ist denn Mascha?«

»Bei Akulina Pamphilowna«, antwortete die Kommandantin; »als sie von der Einnahme der Festung Nischneje Osero hörte, wurde ihr übel; ich fürchte, sie ist in Ohnmacht gefallen. Herr Gott! was müssen wir erleben.«

Wassilissa Jegorowna ging fort, um alles für die Abreise der Tochter zu ordnen. Das Gespräch beim Kommandanten wurde fortgesetzt, doch mischte ich mich nicht hinein und hörte nicht zu. Marja Iwanowna erschien zum Abendessen bleich und verweint. Wir aßen schweigend und standen früher als gewöhnlich auf; nachdem wir uns von der ganzen Familie verabschiedet hatten, gingen wir nach Hause. Ich kehrte jedoch noch einmal zurück, um meinen Degen zu holen, den ich absichtlich vergessen hatte. Ich ahnte, daß ich Marja Iwanowna allein antreffen würde. Tatsächlich trat sie mir in der Türe entgegen und überreichte mir den Degen.

»Leben Sie wohl, Peter Andrejewitsch!« sagte sie unter Tränen. »Ich werde nach Orenburg geschickt. Bleiben Sie am Leben und seien Sie glücklich; vielleicht, wenn Gott will, sehen wir einander wieder – wenn aber nicht . . .«

Sie brach in Tränen aus. Ich umarmte sie.

»Lebe wohl, mein Engel,« sagte ich, »lebe wohl, Geliebte, Ersehnte! Und was auch mit mir geschehen möge, – glaube, daß mein letzter Gedanke, mein letztes Gebet nur dir gehören werden!« Mascha schluchzte an meiner Brust. Ich küßte sie feurig und verließ eiligst das Zimmer.


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