Alexander Puschkin
Die Hauptmannstochter
Alexander Puschkin

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Drittes Kapitel.
Die Festung

In der Festung lebt sich's gut,
Brot und Wasser sind genug;
Aber wenn der wilde Feind
Gut bei uns zu tafeln meint,
Scheuen wir wohl keinen Schaden,
Werden die Kanonen laden.
Soldatenlied
Altmodische Leute, Väterchen.
»Der Krautjunker«

 

Die Festung Bjelogorsk lag vierzig Werst von Orenburg entfernt. Der Weg führte an den steilen Ufern des Jaik entlang. Der Fluß war noch nicht zugefroren und seine bleifarbenen Wellen zogen traurig und dunkel zwischen den einförmigen, schneebedeckten Ufern hin. Hinter ihnen dehnten sich die kirgisischen Steppen aus. Ich verfiel in traurige Gedanken. Das Garnisonleben hatte für mich wenig Anziehendes. Ich versuchte mir den Hauptmann Mironow vorzustellen, der mein zukünftiger Chef sein sollte, und sah ihn in der Phantasie als einen strengen, mürrischen Greis, der für nichts außer für den Dienst Sinn hatte und bereit war, mich für jede Kleinigkeit bei Wasser und Brot in Arrest zu setzen. Unterdessen dunkelte es langsam. Wir fuhren ziemlich rasch.

»Ist es noch weit bis zur Festung?« erkundigte ich mich bei meinem Fuhrmann.

»Nicht mehr weit,« entgegnete er, »dort sieht man sie schon.«

Ich schaute mich nach allen Seiten um und erwartete drohende Basteien, Türme und Wälle zu erblicken, aber es war nichts zu sehen außer einem Dörfchen, das von einem Bretterzaune umgeben war. Auf der einen Seite standen dann noch drei oder vier Heuschober, die vom Schnee fast zugeweht waren; auf der andern eine windschiefe Mühle mit träge herunterhängenden Flügeln.

»Wo ist denn die Festung?« fragte ich erstaunt.

»Aber da ist sie«, antwortete der Fuhrmann, wies auf das Dörfchen, und schon fuhren wir hinein.

Am Tore bemerkte ich eine alte gußeiserne Kanone; die Gassen waren eng und krumm; die Hütten niedrig und zum großen Teil mit Stroh gedeckt. Ich befahl zum Kommandanten zu fahren, und nach einer Minute hielt mein Reisewagen vor einem hölzernen Häuschen, das auf einer Anhöhe in der Nähe der gleichfalls hölzernen Kirche errichtet war.

Niemand kam mir entgegen. Ich trat in die Vorhalle und öffnete die Tür zum Vorzimmer. Auf einem Tische saß dort ein alter Invalide und nähte einen blauen Fleck auf den Ellbogen einer grünen Uniform. Ich befahl ihm, mich zu melden.

»Tritt nur ein, Väterchen,« sagte mir der Invalide, »unsere Leute sind alle zu Hause.«

Ich trat in ein reinliches, kleines Zimmer mit altmodischen Möbeln. In der einen Ecke stand ein Geschirrschrank; an der Wand hing ein Offiziersdiplom unter Glas und Rahmen; neben ihm prangten ein paar einfache Holzschnitte, die die Einnahme Küstrins und Otschakoffs, eine Brautfahrt und das Begräbnis eines Katers darstellten.

Am Fenster saß eine alte Frau in einer gestrickten Jacke, ihren Kopf bedeckte ein Tuch; sie wickelte Garn von den ausgebreiteten Armen eines einäugigen Greises in Offiziersuniform.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Väterchen?« fragte sie und setzte ihre Beschäftigung fort.

Ich antwortete, daß ich hier dienen solle und gekommen wäre, mich pflichtschuldigst bei dem Herrn Hauptmann zu melden, und bei diesen Worten wollte ich mich an den einäugigen Greis wenden, da ich in ihm den Kommandanten zu sehen glaubte; doch die Hausfrau unterbrach meine auswendig gelernte Rede.

»Iwan Kusmitsch ist nicht zu Hause,« sagte sie, »er ist beim Priester Gerasim auf Besuch; doch das macht nichts, Väterchen, ich bin seine Frau. Bitte, erweise mir die Ehre. Setz' dich, Väterchen!«

Dann rief sie einem Mädchen und befahl ihr, den UrjädnikGegenwärtig Bezeichnung für den Landpolizisten; hier ist aber der Unteroffizier der in der Festung liegenden Kosakenabteilung gemeint. zu rufen. Unterdessen schaute mich der Greis mit seinem einen Auge neugierig an.

»Darf ich mir erlauben, Sie zu fragen,« sagte er, »in welchem Regimente Sie zu dienen beliebten?«

Ich befriedigte seine Neugier.

»Und darf ich mir auch erlauben, zu fragen,« fuhr er fort, »aus welchem Grunde Sie beliebten, sich von der Garde zur Linie versetzen zu lassen?«

Ich antwortete, daß meine Vorgesetzten es so beschlossen hätten.

»Wahrscheinlich für Vergehungen, die eines Gardeoffiziers unwürdig sind?« fragte er unermüdlich weiter.

»Genug mit dem Geschwätz!« rief ihm die Hauptmannsfrau zu, »siehst du nicht, daß der junge Mann von der Reise müde ist, ihm ist's jetzt gar nicht um dich zu tun! Halte die Arme gestreckt! Du aber, Väterchen,« sprach sie weiter, indem sie sich an mich wandte, »sei nicht traurig, daß man dich in unsere Einöde verbannt hat. Du bist nicht der erste und wirst auch nicht der letzte sein. Kommt Zeit, kommt Rat. Schon fünf Jahre ist es her, daß Alexej Iwanowitsch Schwabrin zu uns versetzt wurde wegen Totschlages. Gott weiß, was ihn dazu gebracht hat; er fuhr, mußt du wissen, mit einem Leutnant vor die Stadt, dort nahmen sie ihre Degen und stachen aufeinander los, und Alexej Iwanowitsch hat den Leutnant auch richtig erstochen; und dazu noch vor zwei Zeugen! Was ist da zu machen? Der Sünde ist noch keiner Herr geworden.«

In diesem Augenblick trat der Urjädnik, ein junger und stattlicher Kosak, ein.

»Maximytsch!« sagte die Hauptmannsfrau zu ihm, »suche dem Herrn Offizier eine Wohnung, aber eine saubere.«

»Zu Befehl, Wassilissa Jegorowna,« antwortete der Urjädnik, »soll ich seine Wohlgeboren nicht zu Iwan Poleschajew bringen?«

»Unsinn! Maximytsch,« sagte die Hauptmannsfrau, »Poleschajew ist sowieso eingeengt, außerdem ist er mein Gevatter und weiß, daß wir seine Vorgesetzten sind. Führe den Herrn Offizier – wie ist Ihr Vor- und Vatersname, Väterchen?«

»Peter Andrejewitsch.«

»Führe Peter Andrejewitsch zu Semjon Kusow. Der Halunke hat sein Pferd in meinen Gemüsegarten gelassen. Nun und sonst, Maximytsch, steht alles gut?«

»Gott sei Dank, alles ist ruhig«, antwortete der Kosak; »nur der Korporal Prochorow hat sich im Bade mit Ustinja Negulina wegen einer Kanne heißen Wassers geprügelt.«

»Iwan Ignatjitsch!« sagte die Hauptmannsfrau zu dem einäugigen Alten, »untersuche die Sache mit dem Prochorow und der Ustinja, wer von ihnen recht hat und wer die Schuld trägt. Und bestrafe beide. Nun, Maximytsch, geh mit Gott. Peter Andrejewitsch, Maximytsch wird Sie in Ihre Wohnung bringen.«

Ich verbeugte mich. Der Unteroffizier brachte mich zu einer Hütte, die hart an der Grenze der Festung am hohen Flußufer stand. Die Hälfte der Hütte nahm die Familie Semjon Kusows ein, die andere Hälfte wurde mir angewiesen. Sie bestand aus einem Zimmer, das durch eine Scheidewand in zwei Teile geteilt wurde und ziemlich sauber war. Saweljitsch brachte alles in Ordnung; ich schaute zum schmalen Fenster hinaus. Vor mir breitete sich die traurige Steppe aus. Mir gegenüber sah ich einige ärmliche Hütten stehen; auf der Straße trieben sich Hühner umher. Vor einer Tür stand eine alte Frau mit einem Troge und rief ihre Schweine, die ihr mit zutraulichem Grunzen antworteten. In solch einem Lande sollte ich also meine Jugend verbringen. Trostlose Sehnsucht überwältigte mich; ich verließ das Fenster und legte mich ohne Abendessen schlafen, ungeachtet aller Ermahnungen Saweljitschs, der immer wieder erzürnt wiederholte:

»Mein Gott, mein Gott! aber auch gar nichts beliebt er zu essen! Was wird die gnädige Frau sagen, wenn das Kind krank wird?«

Am Morgen des nächsten Tages, als ich eben mit dem Ankleiden beschäftigt war, ging plötzlich die Tür auf und ein junger Offizier von nicht zu hohem Wuchs mit braunem Gesicht und merkwürdig unschönen, aber lebensvollen Zügen trat zu mir herein.

»O verzeihen Sie mir,« sagte er auf französisch zu mir, »daß ich so ohne alle Umstände hier eindringe, um Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich hörte gestern von Ihrer Ankunft; der Wunsch, endlich ein menschliches Gesicht zu sehen, wurde so stark, daß ich's nicht länger aushielt: Sie werden das begreifen, wenn Sie hier einige Zeit gelebt haben.«

Ich erriet sofort, daß dies der Offizier sei, den man aus der Garde eines Duells wegen hieher versetzt hatte. Wir wurden sofort gute Bekannte. Schwabrin war außerordentlich klug. Seine Art zu sprechen war beißend und anregend. Mit vielem Humor beschrieb er mir die Familie des Kommandanten, die Gesellschaft und auch das Land, wohin mich das Schicksal verschlagen hatte. Ich lachte gerade von ganzem Herzen, als jener Invalide bei mir eintrat, der im Vorzimmer des Kommandanten die Uniform geflickt hatte, und mich im Namen Wassilissa Jegorownas zum Mittagessen einlud. Schwabrin bot sich an, mich zu begleiten.

Als wir uns dem Hause des Kommandanten näherten, sahen wir auf dem Vorplatz etwa zwanzig bejahrte Invaliden mit langen Zöpfen und alten Dreimastern stehen. Sie waren in einer Front aufgestellt. Vor ihnen stand in einer Schlafmütze und in einem chinesischen Schlafrock der Kommandant, ein rüstiger Greis von hohem Wuchse. Als wir näher kamen, trat er auf uns zu, sagte mir einige liebenswürdige Worte und kommandierte dann weiter. Wir blieben stehen, um uns das Exerzieren anzuschauen; er aber bat uns, zu Wassilissa Jegorowna hineinzugehen und versprach uns, auf dem Fuße zu folgen.

»Hier«, fügte er hinzu, »ist nichts für euch zu sehen.«

Wassilissa Jegorowna empfing uns einfach, aber herzlich, und ging mit mir um, als wäre ich schon lange ihr Bekannter. Der Tisch wurde vom Invaliden und Palaschka gedeckt.

»Warum wohl mein Iwan Kusmitsch heute solange zu tun hat?« sagte die Hauptmannsfrau. »Palaschka, ruf den Herrn zum Mittagessen. Und wo ist denn Mascha?«

Ein Mädchen von etwa achtzehn Jahren trat ein, mit rundlichem, rosigen Gesicht, lichtbraunen Haaren, die die Ohren, welche nur so glühten, freiließen. Im ersten Augenblicke gefiel sie mir nicht sehr. Ich sah sie mit einem gewissen Vorurteil an. Schwabrin hatte mir Mascha, die Tochter des Hauptmanns, als völlige Einfalt geschildert. Marja Iwanowna setzte sich in eine Ecke und nähte. Man trug die Kohlsuppe auf. Wassilissa Jegorowna, die ihren Mann immer noch nicht kommen sah, schickte Palaschka zum zweiten Male nach ihm aus.

»Sage dem Herrn, die Gäste warten, die Suppe wird kalt; das Exerzieren läuft ihm doch, Gott sei Dank, nicht weg; mag er sich nachher ausschreien.«

Bald darauf kam der Hauptmann, der von dem einäugigen Alten begleitet wurde.

»Aber Väterchen, was soll das heißen?« fragte ihn seine Frau, »das Essen ist schon lange aufgetragen, dich aber kann man nicht laut genug rufen.«

»Ja, siehst du, Wassilissa Jegorowna,« entgegnete Iwan Kusmitsch, »das war der Dienst, ich mußte die Soldatchen einexerzieren.«

»Ach was!« widersprach seine Frau, »prahle nicht mit deinem Einexerzieren der Soldaten – weder taugen sie zum Dienst, noch hast du von ihm eine Ahnung. Wenn du lieber zu Hause sitzen würdest und zu Gott beten, das wäre sicher gescheiter. Nun aber, liebe Gäste, seid so gut und nehmt Platz.«

Wir setzten uns zum Essen. Wassilissa Jegorowna schwieg eine Minute, dann überschüttete sie mich mit Fragen. Wer meine Eltern seien, ob sie noch lebten, und wo sie lebten, und welcher Art ihre Vermögensverhältnisse wären? Als sie dann hörte, daß mein Vater dreihundert Leibeigene hätte, rief sie aus: »Ist's denkbar! Es gibt also auf der Welt noch reiche Leute! Wir, Väterchen, haben nur dieses eine Mädchen Palaschka; aber Gott sei Dank, es geht trotzdem. Nur eins ist dumm; unsere Mascha könnte nun bald heiraten, aber was können wir ihr mitgeben? einen Kamm, einen Badeschwamm und ein Dreikopekenstück (verzeih Gott mir die Sünde!), um zuvor in die Badestube zu gehen. Es wäre recht, wenn sich ein guter Mensch fände; sonst wird sie wohl als alte Jungfer sterben.«

Ich sah Marja Iwanowna an, sie errötete und sogar Tränen tropften auf ihren Teller. Sie tat mir leid, und ich beeilte mich, den Gesprächstoff zu verändern.

»Ich hörte,« sagte ich ziemlich unangebracht, »daß die Baschkiren die Festung überfallen wollen.«

»Von wem, Väterchen, hast du denn das gehört«, fragte Iwan Kusmitsch.

»Man sagte mir so etwas in Orenburg«, antwortete ich.

»Unsinn!« sagte der Hauptmann, »wir haben schon lange nichts mehr davon gehört. Die Baschkiren sind ein eingeschüchtertes Volk und auch die Kirgisen sind jetzt klug geworden. Ach nein, die lassen uns sicher in Ruhe; und sollten sie es nicht tun, so will ich ihnen eine solche Lehre erteilen, daß sie für zehn Jahre genug haben werden.«

»Fürchten Sie sich nicht,« fuhr ich fort, indem ich mich an die Hauptmannsfrau wandte, »in einer Festung zu bleiben, die solchen Gefahren ausgesetzt ist?«

»Gewohnheit, Väterchen!« sagte sie, »vor zwanzig Jahren, als wir aus dem Regiment hierher versetzt wurden, ach, du lieber Gott, wie fürchtete ich damals die verfluchten Heiden! Und kam es dann vor, daß ich ihre Luchsmützen sah oder ihr schrilles Pfeifen hörte, willst du mir glauben, Väterchen, daß mein Herz da manches Mal fast stillstand! Jetzt habe ich mich an das alles so gewöhnt, daß ich mich auch nicht vom Fleck rühre, wenn man mir mitteilt, daß die Halunken um die Festung streichen.«

»Wassilissa Jegorowna ist eine sehr tapfere Dame,« bemerkte Schwabrin wichtig, »Iwan Kusmitsch kann das bezeugen.«

»Ja, höre,« sagte Iwan Kusmitsch, »das Weib ist tatsächlich keine von den verzagten.«

»Und Marja Iwanowna?« fragte ich, »ist sie ebenso mutig wie Sie?«

»Ob Mascha mutig ist?« antwortete ihre Mutter. »O nein, durchaus nicht, Mascha ist feige. Noch heute kann sie keinen Flintenschuß hören, gleich zittert sie. Als aber vor zwei Jahren Iwan Kusmitsch sich ausgedacht hatte, zu meinem Namenstag aus unserer Kanone zu schießen, da wäre unser Täubchen vor Schrecken fast ins Jenseits entflohen. Seit jener Zeit schießen wir denn auch nicht mehr aus dieser verflixten Kanone.«

Die Tafel wurde aufgehoben. Der Hauptmann und seine Frau gingen, ihren Nachmittagsschlummer abzuhalten, ich begleitete Schwabrin, mit dem ich auch den ganzen Abend verbrachte.


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