Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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10. Kapitel

Am Kobenzl

Am nächsten Vormittag ist sie plötzlich da. Ihr Ausschnitt leuchtet mit Goldtönen aus dem ärmellosen Sommerkleid. Wir küssen uns befangen. Gaby steht daneben. «Nur auf einen Sprung.» (Wie bei ihrem ersten Besuch.) Sie muß gleich wieder zur Schneiderin. Ich beherrsche mich und protestiere nicht. «Ja, schön war's in den Bergen. Und herrliche Spaziergänge. Alle waren so reizend. Wie mich Toni versteht.» «Große Gesellschaft?» Sie mit Trotz: «Der ganze Freundeskreis. Tonis Brüder» – plötzlich ängstlich – «du hast doch zu Hause nicht angerufen?» Ich verneine.

Also da liegt die schwache Stelle. Registriert für künftige Fälle. Gaby reitet auf ihrem Steckenpferd gegen Mariquita los. Sie soll mit ihr turnen gehn ins Dianabad, Körperkultur treiben. (Ganz wie bei ihrem ersten Besuch.) Mariquita stimmt zu, um sich zu retten. Gaby fängt Feuer. Sie bemächtigt sich seelisch ihres Gegenübers oder versucht es wenigstens. Umtost mit ungeschicktem Lärm die sich Zuschließende wie ein kindliches Gewässer. Ich beobachte schweigend. Mariquita nagt an ihrer Unterlippe. Gabys hölzerne Fröhlichkeit klopft auf die Nerven. Auch Mariquita ist verstummt. «Ja, ich muß aufbrechen.» «Ich begleite dich.» Auf der Treppe – ich: «Ich hab deinen Brief bekommen.» Pause. «Schon am Sonntag früh.» «Gelt, die Post ist jetzt wieder besser?»

Stocken. Ich unnatürlich leicht: «Hast du dich ein bißchen erholt?» «Ich bin zu Bett gelegen.» «Wo? Zu Hause?» «Bei meiner Freundin in den Bergen.» «Also bist du noch nicht zur Ruhe gekommen?» Ihre Antwort ist ein langer Blick. Vorwurf. Schmerz. Das Wort Verbrecher könnte man fast so mit den Augen ausdrücken. Der Hausgang hallt; die Straße kreischt um uns. Geduld habe ich mir versprochen. Geduld. Nur nicht mit der Tür ins Haus fallen. «Also zur Schneiderin geht es jetzt?» Meine Freundlichkeit hat einen Unterton von Groll. «Wo ist das?» «Beim Neumarkt.» «Da wart ich auf dich, das ist ja nah von der Himmelpfortgasse. Können wir nachher nicht auf einen Augenblick?» «Ich muß unbedingt gleich heim. Mama wartet.»

Stumm schreite ich neben ihr aus. Mein Kopf arbeitet wie rasend, meine Schritte beschleunigen sich, Mariquita fällt ab, geht außer Takt, klappt nach. Ich wechsle den Schritt, versuche mich anzupassen. Den Arm wage ich ihr nicht zu bieten. Noch nie sind wir so nebeneinander vorbeigelaufen. Unsere Leiber verstehen sich nicht mehr. Störung. Eine furchtbare Angst bricht aus mir: «Mariquita, wir wollen uns nicht mehr quälen, der Zustand ist ja entsetzlich. Wozu das Versteckenspiel, wozu sich voreinander verkriechen, diese hochmütige Verzweiflung? Die Hölle dieser Festtage? Sei doch wieder gut; was ist denn geschehn? (Fast schreiend.) Wir lieben uns doch.» Leute drehn den Kopf. Mariquitas Hand auf meinem Arm. «Leiser, Alexander, leiser.» Ganz wie letzthin. «Ich bitt dich, heut nicht zu reden. Ich bin zu tot. Nimm ein bißchen Rücksicht.» Sie bleibt stehn.

«Hier im zweiten.» Ihre Hände zittern. Sie ist sehr bleich. «Also nicht warten?» «Es hat keinen Sinn, ich muß gleich nach Hause. Mir ist wirklich nicht gut. Auf bald, gelt?» «Rufst du an?» «Ich, ich rufe an.» «Sonst rufe ich an.» «Bitte nicht.» Wir sind schon unter der Haustüre. «Eigentlich wollte ich dir einen Vorschlag machen. Fahren wir nach dem Süden.» Mariquita drückt mir flüchtig die Hand, fliegt ins Treppenhaus. Kein Laut. Weder ja noch nein. Ich hör sie oben klingeln und eintreten.

Weshalb ist sie wohl gekommen? – Aus Furcht. Soweit kennt sie mich also. Kurz vor dem Ausbruch ist sie gekommen. Um zu dämpfen. Dämpfen oder kämpfen, das alberne Wortspiel fällt mir ein. Also Furcht. So gibt man Sedobrol, um den epileptischen Anfall hinauszuschieben. Freilich tritt dann ein chronischer Spannungszustand ein. Aber ihre Nerven sind im Augenblick einem Eklat nicht gewachsen. Wer sich vor dem Schuß fürchtet, hält sich die Ohren zu. Die feige Methode des Neurasthenikers. Weiter nichts. Sie kontrolliert, ob der Tobsüchtige noch brav in seiner Zelle sitzt, ob er nicht schon ausgebrochen ist. Weiter nichts. Ihr Herz hat sie nicht zu mir getrieben. Nur die Angst vor Ungelegenheiten. Also, so weit sind wir schon. Sie fürchtet sich vor dem Messer und kann dem grausigen Kitzel doch nicht entsagen, es von Zeit zu Zeit aus der Scheide zu ziehn und seine Schneide zu prüfen.

Selbsterhaltung – ein Nervöser kennt nichts anderes. Und ich? Ich bin im gleichen Fall wie sie. Wir kämpfen, jeder mit seinen Waffen. Ohne Pardon. Bis aufs Messer. Mit der Grausamkeit von Schwachen. Heute noch schreib ich einen Brief nach London. Jetzt gleich. Schnell heim. Oder soll ich sie doch hier vor dem Haus erwarten? Wer sich entschließen könnte! Aber meine Sehnen sind wie durchgehauen. Dieses Zögern ist schon Irrsinn. Alle Taue sind abgekappt. Ich lehne mich ans Haus. Eine widerliche Umgebung. Hintergasse, jüdisches Kleinbürgerviertel. Der Orient beginnt nicht mehr, wie Metternich meinte, an der Wiener Landstraße. Hier im Zentrum steckt man schon mitten drin. Der Osten schiebt sich nach dem Westen vor. Wien ist Krakau, ist nicht mehr Wien. Ich bin eine lächerliche halbtote Schildwache. Was hat das für einen Sinn! Wenn sie jetzt herunterkommt, geht mein Betteln wieder an: Wann treffen wir uns – pfui Teufel!

Angst jag ich ihr ein, das ist der ganze Erfolg – einem kleinen Mädchen. Und wirklich, krank ist sie. Dauern kann sie einen, das ist die Wahrheit. Besser nach Hause gehn. Mit Rücksicht ist mehr zu gewinnen als mit Überfall. Gehn wir heim.

Ich nehme mich geistig unterm Arm und führe mich weg. Ein Taxi bringt mich zurück. Gaby ist fort. Ihr Zettel auf dem Tisch mit kindlichen Riesenlettern: «Deine Freundin ist wirklich reizend!» – Freundin ist gut gesagt. – Wie ich das Papier zerknülle, liegt ein Brief drunter mit englischer Marke – von Ruth. Ich stecke ihn in die Tasche.

Das Telephon schellt: «Hallo! Ja, Alexander Moenboom hier. Wer dort, bitte?» «Die Dame von letzthin. Ganz richtig – darf ich Sie aufs Land abholen für einige Tage? Zu einer größeren Arbeit. Sie sind natürlich mein Gast.» «Bitte, wann?» «In einer halben Stunde fahren wir, wenn es Ihnen paßt.» «Ja danke, ausgezeichnet.»

Ein Windstoß. Frische Luft. Der mächtige Wagen stürmt vorwärts wie ein Büffel. Erhebt brüllend die Stimme vor den Seitenwegen. Jagende Kraft. Ein Freiheitsgefühl überfällt mich. Derlei habe ich seit Jahren nicht mehr gekannt. Wie beim Baden in Flüssen. Auf dem Rücken treibend im Strom, Federwelle, Wellenfedern. Die festgebackenen Karrengeleise der Landstraße schlagen vergeblich gegen das Gefährt. Gedämpft, wie eine Erinnerung fast, verklingt der Stoß zwischen Feder und Polsterung. Weiße Häuserzeilen ducken sich am Weg, eine Kirchturmkante schneidet die Staubsäule in der Kurve, links und rechts noch einmal die Doppelflucht kauernder Gehöfte, dann donnern wir hinaus in die Ebene. Kalkweiß. Dame und Sohn neben mir hinter Schleiern – Haremspuk. Ich reiße die Mütze vom Kopf, der Wind fegt wie mit rauhen Bürsten über mein Gesicht, ich habe das Gefühl, daß Flammen aus meinen Haaren jagen. Ein Blick zum Chauffeur nach vorn. Der Schnelligkeitsmesser zittert über hundert hinaus. Wie köstlich wäre es zu zerschellen. Jetzt, wie eine Granate, ratsch, am Bord!

Schluß Liebe, Schluß Leidenschaft, herzliche Grüße, Problematik. Fait accompli – ein zerschlagenes Gehirn. «Gnädigste sagten? Südbahn, gewiß. Semmering.» Wir rollen in eine Seitenstraße nach links, Wiese beginnt, Park, englische Gärten, mächtig, das Schloß. Mit dem Gatter des Pförtners ist eine Lebensstrecke hinter mir zugefallen.

Diese Tage sind aus der Zeit gerückt. Eine andre Ebene betrat ich – nein, sie hat mich weggeschoben. Elfenbeinturm mit herrlichen Fliederbüschen umkleidet. Im Lichtmeer schwankend, mit violetten und weißen Dolden. Rosenbeete zwischen Knospe und Entfaltung. Über den seidigen Rasentapeten blaß im Silberspiegel frühsommerlicher Luft – Silhouette einer Stadt. Baden? Wien? Ich begehre es nicht zu wissen. Der Elfenbeinturm hier ist geräumig genug. Ein Bezirk, eine mächtige Götterwiese; Schloß, Jagdhäuser, Meierei, Fassade des englischen Landhausstils, aber innen dunkel von Schicksal, überkrustet von der Finsternis der Herzen, die da erloschen sind. Die jetzige Besitzerin ringt nach Sonne. Sie ist mutig. Schlägt sich mit der Waffe durch. Aber Vergangenes haftet – nachts geht es um – ich kann nicht schlafen. Das Gift ist unterdrückt. Aber schlafen kann ich nicht.

Ulmen wetzen ihre Zweige an meinem Fensterbrett. Die Nacht hat ungeheure Laute hier. Die Stimme der alten Bäume wandert und wandert, eine dunkle Wolke des Rauschens, als tauschten greise Hirten miteinander Worte aus, und ihre Herden, die Büsche, kauern schlaftrunken unter der Besprechung ihrer Herrn. Dann und wann sprudelt eine innere Fontäne von Licht über das schwarze Wogen empor, ein heißer Augenblick, bald im Dunkel erstickend: die Kadenz einer Nachtigall. Noch andere Laute der Nacht. Eulenstimmen, Insektenschwärme, ferne Pfiffe des Südbahnzugs. Wollte ich nicht hinüber nach dem Süden mit . . . Fast wehmütig ist die Stimme der Lokomotive durch die Nacht. Mit weichem Bogen gleitet sie übers Feld. Kann dieses Wesen, das sie ausgesandt, vorwärtsstürmen?

Wohin? Wozu? All unser Tun ist doch nur Flucht. Mehr Mut gehört dazu, es mit sich auf einem Fleck auszuhalten. Nahkampf. Duell mit dem Messer.

Diese Unwahrscheinlichkeit hier ist unendlich entspannend. Ich kämpfe ja gar nicht, höchstens probeweise, sozusagen zum Training. – Aber doch nicht im Ernst. Im Ernst arbeite ich tagsüber im großen Salon, Schriften, Dokumente, Schriften. Und dann der Tee auf dem Rasen, Kugelstoßen, Motorrad, allerlei Sport. Abends gesprächsweise Ausflüge in die Grenzgebiete. Physikalischer Mediumismus. Nachts im Bett lese ich Richets Metapsychologie. Das Buch ist mit der Bescheidenheit geschrieben, welche den auf neuentdecktem Land arbeitenden Franzosen vor den Wegbereitern anderer Nationen auszeichnet. Übrigens kann ich wieder schlafen.

Wirkungen von einer vierten Dimension aus sind erwiesen. Yin-Yang, das Weltseelenpaar, steigt wieder auf, die Serpentine im Kreis. Ist hier ein Weg? Ich glaube an Magie. Magie ist das Gewisse, das Alltäglichste. Nicht Gründen gehorchen wir. Wir gehorchen Einflüssen. Der Spannung eines fremden Willens oder der Ballung des eigenen. Kraftfeld kämpft mit Kraftfeld, nicht Schluß gegen Schluß – eher Kurzschluß gegen Kurzschluß. Eine Aufgabe sehe ich vor mir: mich zur Selbstbemeisterung meines Unterbewußtseins zu bringen. Ich will mich selbst in die Hand bekommen. Nicht, um machtlose Hirnpfeile zu verschießen: aus dem Herzen soll die Kraft aufbäumen – und ins Herz treffen. Auf jeden Fall Selbstüberwältigung. Das Oberbewußtsein, wo Verstand und Wille verkoppelt sind, ist zu dieser Tat zu schwach – man muß unter sich hinuntergleiten lernen. Man muß vom Nacken her angreifen, mit List. Das Ich durch das Selbst übertölpeln. Die Triebe als zweiten, wirksameren Willen gebrauchen lernen. – Ich übe mich.

Der Elfenbeinturm lädt sich mit Spannungen. – Tatsächlich: eine Woche ist vergangen. Ich entnehme es aus einem Gespräch bei Tisch.

Eine Woche – bestürzt vor Freiheitsgefühl betrachte ich diese eine kleine Tatsache – eine Woche ohne Mariquita. Fast ohne einen Gedanken an sie. Tagsüber Arbeiten. Mikroskopieren und lupieren. Nachts diese Übung in der Selbstvertiefung, Selbstbewältigung. Sogar an Ruth denke ich ohne Unruhe. Ich habe ihren Brief gelesen und beantwortet. Ihre Vereinsamung schmerzt mich. Ihren Scheidungsvorschlägen weiche ich aus. Nichts überhasten. Reifen lassen. Bald ist Klarheit zu erhoffen. Keine voreilige Operation. Ich weiß, sie hetzt durch London, betäubt sich mit der Stadt. Zwecklos. Für wen sehen ihre Frauenaugen? Für wen? Es muß unbedingt zu einem Ende kommen.

Vorläufig hält mich meine Arbeit noch hier fest. Nein, das ist nicht das Entscheidende. Ich kann noch nicht fort, weil ich unfertig bin, mitten in der Formation neuer Kräfte, mitten im Training, sie einzuschleifen –, mich selbst brauchen zu lernen. Ungewappnet, an tausend Stellen verwundbar, so will ich nicht mehr zurück. Eine Wachshülle muß um mich gebildet sein, widerstandsfähig aber zart. Man braucht meinem Leib nichts anzumerken. Von innen her will ich mich unverwundbar machen. Nichts befriedigt mich so, wie mit den wirksamen Teilen meines Wesens endlich wieder in Berührung zu kommen. Das ist Gesundung; Begegnung mit mir selbst. Mein ältester und weiß Gott recht unbekannter Freund. Übrigens angeschlossen ans allgemeine Kraftfeld. Erstaunlich wirkungsvoll daher. «Wenn da oder dort eine Birne aufleuchten soll, stehe ich jederzeit gern zur Verfügung.» Dankend angenommen für den Fall . . .

Nach zehn Tagen erkundige ich mich telephonisch bei Gaby. «Keine Briefe?» «Die hab ich dir alle zugeschickt.» «Telephonischer Anruf?» «Von der Kommerzialbank.» «Interessiert jetzt nicht. Sonst?» «Nichts.» «Von Mariquita?» «Kein Ton.» «Danke. Auf bald mal.» «Ja, ausgezeichnet. Dio.» Also die Stadt dort am Horizont, eine Silhouette, zart wie mit Silberstift, unmerklich hinter die Rosenhecken der Schneise hingewischt, hat für mich immer noch kein rechtes Wirklichkeitsgewicht. Dort ist das Spiel der Möglichkeiten, halb Panorama, halb Luftspiegelung. Stelle ich sie mir vor, oder sehe ich sie? Mir scheint, dort begibt sich nichts, wenn ich mich nicht hinbegebe. Ja, kann man einen Zeitabschnitt gewissermaßen in suspenso lassen, einklammern, aus seiner Realitätsebene auf eine andere, eine entscheidungslose, außerwirkliche verschieben? Ist das nicht Wahnsinn, mit einem lebendigen, blutigen Stück Zeit so umspringen zu wollen, es bis auf weiteres – auf Eis zu legen?

Genügt meine Ausschaltung aus dem Verbindungsnetz der Wirklichkeit, damit auch die übrigen Verbindungen abgestoppt sind? Nicht die Zeit –, mich habe ich auf Eis gelegt. – Also eine Maske, wie alle Masken, Furchtlarve, ich mache mir nur weis – ich hätte mich darüber gesetzt, derweilen habe ich mich nur daneben gesetzt. Ich wage mich noch nicht hinein. Dieser hauchzarte Umriß überm Feld erschreckt mich mehr, als finstere Wolkenknäuel es könnten. Ist das also die Wahrheit: ich wage mich nicht hinein. Daher das ganze Theater der innern Kräftigung und Selbstbemeisterung. – Ich glaube, doch nicht ganz. Es wird sich erweisen.

Das Gefühl des Strömens, organisch ausgewogener Gleichgewichtsverteilung des innern ungehemmten Austausches bleibt bestehn. Das ist Wirklichkeit. Nicht nur erholt sich physiologisch betrachtet mein vegetatives System, seitdem ich das Gift aufgegeben habe; Ernährung, Wachstum, Atmung ordnen sich aufs neue. Die Störungen klingen allmählich ab. Auch die seelischen Entsprechungen dieser Funktionen kräftigen sich und kehren aus ihrer Mittelpunktflüchtigkeit in die Gleichgewichtlage zurück. Ich gesunde. Allmählich. Ein neues Wachstum hat begonnen. Gegen den eigenen Mittelpunkt hin. In diesen Keim rann ein Tropfen Haß. Er wird mitwachsen. Ist nicht seinetwegen dieses Wachstum begonnen worden? Er wird mitwachsen. Abwarten. Nicht ins Dunkel leuchten. Nicht stören. Es ist noch zu früh.

Die Spannung steigert sich. Heute sind es vierzehn Tage, daß ich von Wien weg bin. Ja, ist das menschenmöglich? Vorher konnte ich keine Stunde ohne sie sein, oder ich betäubte mich, griff zum Gift. Jetzt bin ich seit zwei Wochen hier, konzentriere mich, weiche nach keiner Richtung aus, rufe nicht einmal das in seiner Wirkung verwandte Ersatzgift an – Kaffee. Überhaupt keinerlei Ersatz. Abwendung, anderen Weg. Zwang, tief zu atmen, Anspannung der Muskeln. Aufstieg.

Wollte ich nicht an jenem Pfingstsamstag ein Ende machen? Am Fenster – ganz ehrlich. Und jetzt. Das ging fast beunruhigend leicht. Ein leises Mißtrauen werde ich nicht los. Meine Nachforschungen hier sind beendet. Die Resultate habe ich vorgelegt. Die menschliche Beziehung zu meinen Gastgebern hat sich sehr erfreulich gestaltet. Aber eine gewisse Sättigung ist nach gegenseitigem Austausch eingetreten. Ich kann fort. Mein Entschluß ist gefaßt.

Die Dame bringt mich im Wagen in die Stadt zurück. Mit heißen Dunstsäulen steht der Sommer über der Landstraße. An den Tümpeln mit den glitschigen Lehmwänden krabbeln nackte Kinderrudel. Auf einem Hügel stoßen wir in die Stankwolke der Außenviertel.

Vage, ruinenhafte Vorfelder, dann Riesenblöcke der Gemeinde Wien; das vormärzliche Profil der Wiedener Hauptstraße. Am Karlsplatz steige ich aus. Schleier flattern. Winken. Verdutzt betrachte ich meine amerikanischen Halbschuhe. Ja, ich hatte vergessen, daß man Füße hat. Im Garten merkt man so was nicht. Aber hier – auf dem Pflaster. (Übrigens enthält das Wort Pflaster den denkbar blödesten Doppelsinn. Man braucht das eine, wenn man auf dem anderen gelaufen ist oder so.) Wenn es so etwas wie eine allmählich eintretende Gehirnerschütterung gäbe, so müßte sie hier langsam die ganze Bevölkerung befallen. Eine schleichende Gehirnzerrüttung. Die Folgen sind nicht auszudenken. Aber beobachten kann man sie. Steckelpflaster, nicht nach dem Psychoanalytiker, bitte, – der schreibt sich doch Stekel.

Schluß mit dem Blödsinn. Ich setze mich in den Vorgarten vom «Museum». Der Kaffee braust mir in den Ohren. Der Tratsch von Wien, Crida, Mißbrauch Minderjähriger, Hochstapler – genau wie überall, aber mit einem bestrickenden Wohllaut vorgetragen, ins Ohr geschmeichelt, gesungen. Im Moritatenstil, aber foin. Für Herrschaften. Und so, daß es auch Budapester lesen können. Müdigkeit – Kaffeehaus. Schon wieder Atempausen. Verzögerungen. Furcht? Wir wollen sehn. Jetzt stehe ich auf, zahle, gehe geradewegs nach Hause. Zu Fuß. Der Handkoffer ist ein bißchen schwer. Zu Fuß also. Will ich Zeit gewinnen?

Wenn eine Entscheidung bevorsteht, vertraue ich mich keinem Vehikel an. Zweifellos ein Atavismus. Wenn schon. Wie verstaubt schon alles ist. Gar nicht mehr grün. Kellerluft in der Herrengasse, feuchtmodriger Dunst schlägt aus den Türbogen. Hinter den Scheiben des Kaffeehauses kleben die Leute wie eingetrocknete Fliegen. Der Klomser wird umgebaut. Auch ums Zentral steht ein Gerüst. Hier habe ich meine Wartestunde im Frühjahr abgesessen. Auch schon Erinnerungen. Trostlosigkeit überfällt mich. So unmöglich ist es, etwas festzuhalten. So ganz unmöglich. Umgetrieben wie ein Toter, der sich noch nicht ganz aus der irdischen Verstrickung, aus dem Spinnennetz der Maja gelöst hat, streiche ich um die Stätte meines heftigsten Lebensdranges. So rasch welkt alles. Wir verdorren so rasch. Ein dünner Schwindel ist in der Luft. Gehe ich nicht wie ein Reisender, der Abschied nimmt?

Das Leben ist eine Krankheit. Ein sieches Sich-Hinschleppen. Das Ziel freilich steht fest. – Nur das Wann dieses Endpunktes nicht. Diese blödsinnige Spannung macht mich schwach. Beim Schottentor setze ich mich in die Anlage. Die Straße zu überqueren, ist für mich heute wirklich lebensgefährlich. Aber was habe ich tatsächlich zu fürchten?

Ein Uhr. Ich muß weiter. Gleich anrufen. Nach Tisch ist sie doch nicht zu Hause. Die Währingerstraße ist eine blendende Steinschlucht. Ich schleppe mich den Häusern entlang. – Ein abscheulicher Sommer. Schweiß bricht mir in Strömen aus. Diese stumpfsinnigen Wollwarengeschäfte reizen mich – Krawatten, Handschuhe, Krawatten. Für Ladenschwengel. Schauderhafte kirschenfarbige Tupfen auf weißem Grund. So richtig für Juni. (Die Kirschen sind ja auch bald reif.) So für Grinzing. Wenn des blinden Spielmanns Geige schluchzt und Mädchenaugen weinselig zu schwimmen anfangen.

Bei der Anatomie schaue ich weg – Formalin, gut gehärtete Gehirne, freilich ganz müssen sie noch eingeliefert werden. Ein Mordfall fällt mir ein. Ein Mann. Sein Schädeldach sprang vor meinen Augen (mitten auf der Straße gegen fünf Uhr nachmittags) wie eine Kappe herunter. Das Gehirn trat aus, buttergelb, traubenförmig wie ein schöner Schwamm. Zwei, drei Pistolenschüsse pfiffen wie Peitschenschläge durch den Straßenlärm. Ich stand dicht neben dem Umsinkenden. Es hätte mich treffen können. Ich dachte nicht einmal daran. Er hatte sich gewehrt, seine Frau hatte auf ihn geschossen. Sie knickte jenseits der Straße ein – mit einem Bauchschuß. Ich war gar nicht so sehr erstaunt. Mächtig groß erschien mir das Gehirn. Das war das Seltsamste. Später habe ich oft genug Maschinengewehrfeuer mitgemacht. In der Revolution. Unversehens fing es an, wenn man auf der Straße ging. Lahm schlugen die Kugeln in die Zäune. Menschen wälzten sich auf dem Asphalt. Man war daran gewöhnt.

Eindruck machte mir nur das Gesicht eines Schankkellners. Ich kam aus dem Gymnasium, trottete über die Brücke nach Hause. Plötzlich schwang sich ein Bursche mit grüner Schürze auf das Geländer – lehmfarben war das Gesicht – ausgehöhlt wie ein Stiefeltritt im Lehm. Ich lief auf ihn zu: Nicht! Einen Augenblick lang hielt er sich an der Laterne fest, dann sank er in die Luft. Vierzig Meter tief stürzte er. Ich sah den Körper aufschlagen. Lief hinunter. Fischer zogen ihn heraus. Seine innern Organe waren zerrissen. Er atmete nicht mehr. Leute kamen aus der Wirtschaft. Man hatte ihm Vorwürfe gemacht. Fünf Mark sollte er unterschlagen haben.

Den Lift benutze ich doch. Oben. Niemand daheim. Verschnaufen. Dann rufe ich an. Mariquita meldet sich am Apparat. «Du, ich habe dich doch gebeten, nicht anzurufen. Ich hätte morgen . . .» «Ich warte nicht länger.» «Schön, es kann auch heut sein . . . Ja, jetzt gleich. Ich hol dich ab. Gehn wir zum Kobenzl. Auf Wiedersehn.» «Auf Wiedersehn.» Keine Frage, wo ich gewesen, was ich all die vierzehn Tage lang getrieben. Ob ich noch atmen kann? Nichts. Ich mach mich zurecht, fülle Zigaretten ins Etui, stecke das Messer in die Tasche. Geld. Dann muß ich mich setzen. Den Hut in den Händen. Kein Gedanke mehr. Mein Gehirn schwingt wie ein zitternder Draht. Die Klingel raschelt ganz schüchtern.

Sie steht unter der Tür. «Tritt doch ein.» «Gehn wir lieber gleich.» Ich muß sie mit Gewalt in den Gang ziehn. Wie ich sie küssen will: «Nicht.» Sie wehrt mich ernsthaft ab. «Bitte, nicht mehr.» «Ja, was heißt das?» Statt aller Antwort nimmt sie das Strohhütchen herunter. «Wie gefällt dir mein Bubikopf?» Sie macht ein paar Schritte bis vor den Spiegel. In kurzen Locken preßt sich das Haar an die vollkommene Form ihres Köpfchens. Der Nacken ist ausrasiert. Ich fahre mit der Hand gegen den Strich. Margot fällt mir ein, die ich wegen ihres ausrasierten Nackens liebte. Früher: in München. Die stacheligen Härchen machen mich rasend. Von hinten versuche ich sie zu umschlingen, sie sträubt sich, dreht mir das Gesicht zu. Etwas Neues ist darin, etwas Ungewohntes. Entschlossenheit oder ein leichter Schimmer von Rot.

«Mariquita, du bist berückender als je.» Ihre bloßen Arme sind bräunlich übertönt. Kirschrot lodert das Seidenfähnchen um Brust und Schenkel. Ihre Finger zupfen nervös an den Stoffkirschen ihres Strohdeckels. «So laß doch, sei vernünftig, Alexander», singt sie und schaut mich nachdenklich dabei an. Fast zärtlich. Oder wie ein Spielzeug. Verstehen kann ich diesen Blick nicht. Aber ich spüre, er ist gefährlicher als Haß. «Es ist doch nett, daß ich gekommen bin, gelt. Wir müssen halt miteinander reden.» «So setz dich doch.» Sie stützt sich auf den Tisch. Ihre Linke wühlt automatisch unter den Papieren. «Suchst du etwas?» «Aber geh doch.» Sie wird plötzlich über und über rot. Fast so kirschenrot wie ihr Seidenfetzen, unter dem sich die Brüste prall und zärtlich abzeichnen. Die Krawatten in der Währingerstraße – ganz dasselbe, die verfluchte Tüpfelwirtschaft.

«So willst du nicht wenigstens . . .» Ihre mausgrauen Handschuhe entgleiten ihr plötzlich. Ich hebe sie auf und murmle vor mich hin: «Abschiedssouper . . . Blöd. Worauf man doch alles kommt.» «Ja, du, jetzt wollen wir aber wirklich aufbrechen . . .» «Warum denn. Bleiben wir hier.» «Nein, im Freien kann man doch viel besser miteinander reden.» Fast gebieterisch schaut sie zu mir hinüber. Ich lehne am Türpfosten. «Wohin willst du denn eigentlich?» «Zum Kobenzl doch.» «Also fahren wir nach Grinzing (meine Grimasse wird übersehn) mit der Linie 38 und dann . . .» «Warum nicht im Auto?» «Nein.» (Das heißt, du hast schon zu viel Geld für mich ausgegeben. Es steht schlimm, wenn sie an so was denkt. Das ist Abrechnung. Sie will ihr Konto nicht weiter belasten, nicht einmal mit Geld.)

«In Gottes Namen.» Unter der Tür streife ich ihre Wange noch einmal flüchtig im Kuß. Sie läßt mich gewähren – aber erwidert ihn nicht. «Wie ist es dir ergangen seither?» taste ich zögernd vor. «Recht gut, danke, und dir?» Ich berichte von meinem Landaufenthalt. Wir steigen in die Linie 38 um. «Das ist ja fein, du wirst ein berühmter Mann.» «Spotte nicht.» «Du bist es ja eigentlich schon. Ich freue mich wirklich von Herzen darüber.» «Mariquita, spar deine Tröstungen. Ich bin kein Kind, dem man ein Zuckerl in den Mund steckt, weil dann – die bittere Pille kommt.» «Aber geh, dir macht's doch nicht viel aus.» «Was, Mariquita, was?» «Wir können doch hier zwischen den Leuten nicht anfangen. Ja, das ist ja das Rudolfinum. Schon.» Der Wagen donnert. Ein Biedermeierdorf, einstöckig, verwunschen. Grinzing. Endstation.

Aussteigen. Hier am Kaffeehaus vorbei. Hinauf. Zwischen Weinbergen, glaub ich. Unterscheiden kann ich nichts mehr. Keine Luft ist mehr da, der Äther gerinnt zu Glas. Das ist viel schrecklicher als im Rausch des weißen Gifts, das ist . . . von Mariquita herüber kommt diese Strahlung, die alles zum Klirren bringt. Sie ist ein Kältepol; dieses Vereisen rückt mich fort. Ich bleibe stehn, würge nach einem Wort. Sie ist zwei Schritte weiter gegangen. Jetzt spürt sie, wie mir der Herzschlag stockt. Langsam kehrt sie sich um, heftet ihren Blick zwischen meine Augen, mitten auf die Stirn.

«Ich bin – verheiratet», kommt es ganz unwirklich dünn zu mir herüber wie durch Glas. «Seit gestern», fügt sie nachdenklich hinzu, scharrt mit der rechten Fußspitze im Kies. – Warum ausgerechnet mit der rechten? Ich bleibe stumm, lasse die Worte in mich hineinsickern. Sie brennen nicht. Sie schmerzen nicht. Sanft dringt der Regen ins Gestein – vor dem sprengenden Frost. Mariquita ist verstummt. Wahrscheinlich wartet sie eine Gegenäußerung ab. Das Licht grellt zwischen den Mauern, aber mich fröstelt. Etwas, tief innen, fängt leise an zu schütteln, hin und her, als wäre durch einen Stoß ein Pendel in Gang geraten. Ich lausche, erwarte den Stich durchs Herz, den erlösenden Stich.

Wir bleiben stehn. Mariquita schützt sich die Augen mit der Hand. Das Pendel schwingt stärker, aber immer noch schmerzlos. Nur schwanke ich ein wenig. Es ist mir nicht mehr möglich, gerade zu stehn. Ich muß die Augen schließen.

«So sag schon ein Wort», höre ich Mariquita begütigend, ganz von ferne. «So red doch, Alexander.» Pause. «Wir wollen jetzt weitergehn.» Sie faßt mich am Arm und führt mich bergauf. Wie lang wir so gestiegen sind. Plötzlich spüre ich Wind. Die Mauern sind vergangen, wir stehen auf einer Graskuppe auf halber Höhe des Berges – weit, überwölkt von Rauchschleiern, glitzert die Stadt. Zur Linken mächtig die Donau – der gelbe Strom. Mir ist, als erwache ich.

Ich lasse mich auf den Rasen fallen. Etwas zog mir die Füße weg. Das Pendel surrt in meiner Brusthöhle. Wo sind Lungen und Herz hingekommen, daß es solche Bahn durchmessen kann und an die Rippen sichelt? Das rauscht wie das Meer. Meine innern Organe sind wohl in Stücke gegangen. «Messer», sage ich und presse die Hände auf die Brust. «Ich versteh nicht», flüstert Mariquita und beugt sich zu mir herab. Ihre Augen sind feucht. Warum weint sie wohl? Sie kauert sich neben mich hin. «Alexander, hast du gehört, was ich vorhin sagte?» fängt sie wieder an, eindringlich wie zu einem Kinde.

«Du weinst ja», kommt eine Stimme aus mir, ganz gepreßt, unkenntlich, wie von einem Fremden. «Du weinst, weil du dich verheiratet hast.»

Mariquita zuckt zurück. «Du spottest.» Ein Blick ohnmächtiger Wut trifft sie. Ich greife in die Revolvertasche nach dem Messer.

«Nicht weiter lästern. Ein Ende machen, rasch ein Ende», brülle ich und versuche mich zu erheben. Aber meine Glieder versagen. Ich muß sitzen bleiben. Mariquita ist von mir weggerutscht.

«Töte mich, wenn du willst, du bist ein Tier», haucht sie kaum hörbar. Aber dann besinnt sie sich auf Eingelerntes.

«Ich will ein Kind. Du hast dich geweigert. Du hast nichts aufgeben wollen.»

«Spießerei», bringe ich heraus.

«Meinetwegen Spießerei.»

«Heiraten, pfui Teufel.» Ich möchte ausspucken, aber meine Kehle ist verschleimt.

«Du lagst wie ein Alb auf mir. Das war keine Liebe, das war Überwältigung.»

«Schände unsere heilige Zeit nicht.»

«Sie ist vergangen. Ich war zu unglücklich. Der junge Mensch hielt um mich an. Du weißt es, schon seit Jahren.»

«Tonis Bruder?» Sie nickt.

«Also mit diesem Geschwür hast du dich angesteckt in den Pfingsttagen.»

«Red nicht so, Alexander, ich hab ihn gern. Er ist so vornehm, so edel, hat nie gefragt . . .»

«Dreimal gabst du ihm einen Korb. Und jetzt erzählst du mir ins Gesicht, du hast ihn gern. Mariquita, es ist genug. Laß die Frozzelei. Sag die Wahrheit. Du hast nicht geheiratet.»

Ich stütze mich auf die Hände. Vorgebeugt starre ich ihr ins Gesicht. Sie ist sehr bleich. Sie hat sehnsüchtige Furcht vor dem Messer. Das hat sie bei mir zu Haus gesucht, auf dem Tisch, unter den Papieren; sie will mich reizen, möchte, daß ich zusteche. Vorsicht, ruhig Blut, da ist eine neue Falle. Beschämt lasse ich die Klinge ins Futteral gleiten, versorge das Ganze im Gürtel. Dann schau ich wieder auf zu ihr.

«Ich sag die Wahrheit, Alexander. Wir sind gestern auf dem Rathaus getraut worden. Toni und ihr Bruder waren Zeugen. Erst nachher hab ichs zu Haus erzählt. Meine Papiere hatte ich dem Vater schon vor vierzehn Tagen aus der Lade genommen.»

Unvermittelt, wie ein Blitz trifft mich mein herzliches Gelächter.

«Du lachst, du glaubst mir nicht. Ich bin zu dir gekommen, um dir das zu sagen, mein Mann wollte erst nicht, und du lachst.»

«Entschuldige, ich werde ernst bleiben. Nur ein wenig Ordnung in meinem Gehirn. Es geht so schnell bei dir, wie gehext. Wie behext. Es geschieht dem Alexander schon recht, wenn ich einen andern heirate. Weil ich dir nicht den Bauch aufschlitzen wollte, hast du ihn dir selbst aufgeschlitzt. Wieviel Tote verlangst du auf dem Schauplatz?»

«Alexander, versprich mir, nichts Törichtes zu unternehmen.»

«Hast du Angst für deinen . . .?» Sie legt mir die Hand auf den Mund.

«Für dich.»

«Jetzt, wo du verheiratet bist . . .»

«Ich will ihm eine gute Frau sein –, wie er es verdient.»

«Liebst du ihn?»

«Wir wollen ein Kind haben. Er liebt mich.»

Ich stehe auf, klopfe mir die Knie rein. Auch Mariquita hat sich aufgerichtet. Unnahbar wie ein junges Mädchen knöpft sie ihre Handschuhe zu.

«Ja, was sagt denn dein Vater?» «Er war recht überrascht, aber er ist gut zu mir. Es war ihm recht. Meine Eltern kennen ihn ja schon seit langem.» «Irene?» «Sie hat mir dazu geraten. Aber warum fragst du?» «Du hast recht, du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Schau, ich muß mich halt eingewöhnen. Aber wo wohnst du denn?» «Zu Hause. Das Atelier ist aufgegeben. Wir bauen dann. Später . . .» «Und zwischen uns . . .»

«Wir wollen die Erinnerung nicht trüben. Leidenschaft, Alexander. Ich habe mich aufgezehrt. Jetzt bin ich müde. Ich brauche Ruhe und Schutz. Mehr kann ich nicht mehr vertragen.» Mariquita bricht in Tränen aus; ich weine mit. Ohne es zu merken, stützen wir uns gegenseitig beim Abstieg.

«Du mußt Ruth wiederfinden», versucht sie mich zu trösten.

«Ich habe alles verloren. Alles. Wie spielend du mich verraten hast. Hingehalten. Betrogen. Deinen Vater wie mich. Daß ich das nicht früher begriff! Mich, wie deinen Vater.»

«Schilt mich aus, ich mußte so tun. Ich mußte mich retten. Vater und du. Du hast recht. Den andern fürchte ich nicht. Er ist in meiner Macht. Er wird mich auf Händen tragen.»

«Also deine Erniedrigung ist gerächt, dein verletzter Schöpferwille ist gerächt. Simson liegt im Staub. Du hast ihn mit deiner Schönheit wie mit glühenden Eisen geblendet.» Wir weinen und halten uns umschlungen.

«Ich hatte dich lieb, Alexander.»

«An der Grausamkeit deiner Rache kann ich es spüren. Ich will nicht weniger grausam sein als du.»

«Alexander, ich flehe dich an.»

«Ich habe dich nicht verraten. Ich nicht.» Wir stolpern halb blind vor Tränen.

Vor der ersten Schenke am Ortseingang hält ein Taxi. Hinein. Mariquita sucht sich zu fassen. Ich beiße in meine Fäuste, daß Blut rinnt.

«Versprich mir.»

«Nichts», schneide ich ab.

«Alexander!» Todesangst in ihren Augen, dann werden sie hart.

«Willst du dir, oder willst du mir . . .?»

«Ich habe nicht verraten.»

Das Taxi hält vor meinem Haus. Abgewandten Gesichtes reiche ich ihr die Hand; schmettre dann die Wagentüre ins Schloß, stolpre die Treppe hinauf. Meine Pistole ist in der Lade. Im Gang pralle ich auf Gaby, sie sieht mich an, begleitet mich zum Tisch, packt mich bei der Hand. Wir ringen. Sie ist stark wie ein Bär. Die Spannung verläßt mich. Ich knicke unter dem Griff. Fieber – bewußtlos. Ohne Tränen. Dann und wann nur klirrt das Pendel an die Rippenbögen.

Nachts stehe ich auf, will zum Tisch. Gaby beschleicht mich wie ein Indianer, überwältigt mich von hinten, schleppt mich ans Bett zurück. Ein paar Tage lang wiederholen sich die Kämpfe. Dann verblaßt mein Selbstvernichtungsdrang, klingt allmählich ab, geht in träumerische Schwermut über. Innerlich sehe ich klar. Aber um mich scheint Dämmerung. Umgekehrt wie bei dem Landaufenthalt letzthin. Zwangsläufig rollen die Bilder unserer Abschiedsszene am Kobenzl vor mir ab.

Jetzt sehe ich sogar das elegante Hotel mit seiner Restaurationsterrasse im Hintergrund; bei unserer Unterredung war es unbemerkt geblieben. Überhaupt beobachte ich mich sehr scharf. Aber den Ablauf meiner Vorstellungen beeinflussen kann ich nicht. Ich bin dazu verurteilt, meine Krise stets wiederholt im Film anstarren zu müssen. Bei diesem Verfahren ist keine Projektionsfläche nötig.

Die Netzhaut genügt oder vielleicht schon mein Herz. Zwischen die gleitenden Bilderfolgen spritzen flammend mit faseriger Schrift die Titel: Verheiratet. Sie wachsen gleichsam akustisch gegen mich an, wie ein Feuerwerk, das einen überschüttet. Die Lettern knattern in meinem Hirn, platzen wie Petarden; oder sind es die Adern, geschwellt vom Überdruck? Man kann mich jetzt für Stunden allein lassen. (Ein Arzt hat es bestätigt.) Ich bleibe dösig auf der Bettkante hocken. Pistole und Messer sind verschwunden. Aber ich denke gar nicht mehr an so was. Dafür male ich jetzt manchmal mit Wasserfarben: eine blaue Serpentine, eingeschrieben einem blauen Kreis. Das kühlt. Eine fast verklärte Heiterkeit strahlt vom geschmeidigen Fluß dieser Figur aus. Es ist keine Furchtschlange mehr, eher die abgründige Klugheit eines besessenen Tiers.

Von dieser Schlangenform freilich komme ich nicht weg. Sie paßt doch auch. Sie ist doch das richtige. Gaby will mich gelegentlich davon abbringen. Sie hat unrecht. Sie meint, ich sei besessen. Ich bin näher an der Wirklichkeit als sie. Wenn man mit der Lupe arbeitet, verengert sich das Gesichtsfeld. Das mikroskopische Sehen ist mir aufgegangen. Taten und Herzen in mindestens fünfzehnfacher Vergrößerung. Wer schärfer sieht, sieht weniger, aber in dem Wenigen mehr. Das Tüpfelchen auf dem i! Unter der Lupe nimmt es Hunderte von Formen an: flaschenförmig, elliptisch, rhombisch, tropfenartig, rübchenförmig zugespitzt, was weiß ich; erstklassige, unbeachtete, nicht zu fälschende Identifikationsmerkmale eines Individuums.

So beobachte ich nun und vergrößere, was mir mein unaufhörlich abrollender Film bietet: Verrat, Überlistung.

Weshalb mich das gewundert hat? War ich nicht zweideutig die ganze Zeit? «Mariquita halten und Ruth nicht lassen.» Konnte sie mich anders überwältigen als durch Verrat? – Sie liebte mich. War das ein Grund für sie, mich nicht zu verraten, wo ihre Selbsterhaltung auf dem Spiele stand? Drohend hing ich über ihr in der Vaterwolke. Der Götterregen befruchtete sie nicht. Da empörte sich Danae. Unerträglich ist der Vergewaltiger, der nicht befruchtet. Sie entzog sich, wie sie konnte. Durch Selbstverstümmelung: heiraten. Den Verrat kann ich ihr nicht verzeihn.

Wenn sie ihn nochmals beginge. Jupiter statt Amphitryon empfinge. Wäre er gesühnt. – Mehr als gesühnt: ein himmlisches Gelächter.

Aber nun ist sie ernsthaft geworden. Ihre Kriegslist lügt sie um in Wahrheit. Sie macht ernst mit der Gattenliebe (das heißt, sie droht mir mit ihrem Ernst. Wohnt sie nicht zu Hause? Ist sie nur verheiratet oder hat sie einen Gatten?) Sie ist im Begriff, aus ihrem Racheakt Nutzen zu ziehn. Das setzt sie herab. Mich herab. Dafür will ich sie strafen. Das steht fest. Gut überdacht sein muß nur das Wie.

In ihre Familie treten und die Wahrheit sagen? Das scheidet aus. Das wäre erpresserisch. Vielleicht hätte sie es verdient, aber der Vater tut mir leid. Er liebt sie ja. Ich kann ihn zu gut verstehn. Ihn möchte ich nicht kränken. Den Gatten stellen und ihn zusammenhauen? Ohne Worte. Ohne Kommentar. Für meine Spannung sicher erfrischend. Aber er ist kaum viel mehr als ein Strohwisch, eine engbrüstige Puppe. Ein guter Junge – vielleicht nach dem Martyrium lüstern. Weshalb soll ich ungerecht sein, wenn es so wenig Freude macht?

Bleibt sie. Bleibt Mariquita. Der Moment, sie zu erschlagen, ist versäumt. Auch käme das ihrem Wunsch zu sehr entgegen. Nicht umsonst hat sie beständig Plattenbrüder aus dem 16. Bezirk gemalt. Heimlich hat sie auf einen Messerstich gehofft. Brutalität hätte sie in unsere Liebe zurückgetrieben. Der Mensch ist eben bei bestimmten Gelegenheiten ein Aas. Verzeihung, ich bin am Zustandekommen dieser Rasse ziemlich unschuldig. Ich habe keine Lust, lebenslänglich ins Zuchthaus zu wandern. Nicht einmal für ein paar Jahre. Danke. Diese Falle wird umgangen. Keine physische Gewalt – was bleibt noch . . .

Auf Rache verzichten und abziehn. Abziehn gewiß, sobald mein Zustand es erlaubt. Aber das Ziel steht fest. Nicht verzichten. Eine andere Freundin nehmen. Unsinn. Ich bringe ja nicht drei Worte heraus. Oder ein Mädchen von der Straße aufpicken und mit ihr schänden, was das Heiligste und Köstlichste unserer Stunden war? Das wäre Strafe für mich selbst. Unnütze Beschmutzung. – Wahrscheinlich bin ich eifersüchtig. Ich weiß doch, daß der Gatte ein Lappen ist, aber sie wird mit ihm zusammensein, vielleicht nicht gleich, aber bald. Weshalb habe ich sie das nicht gefragt. Zu ekelhaft. Das darf nicht . . . Ob meine Übungen in der Selbstbemeisterung meiner unbewußten Kräfte wirklich so ganz vergeblich gewesen sind? Den Überfall am Kobenzl haben sie nicht aufhalten können. Vielleicht doch dämpfen. Wie ein unsichtbarer Helm. So daß nur Betäubung eintrat, nicht Tod. Vielleicht hatte Mariquita instinktiv auf die Radikalwirkung gehofft.

Also, meine neu erworbenen Energien müssen irgendwo vorhanden sein. Sie tauchen aus der Verschüttung wieder auf. Werden verfügbar! Unvermittelt fange ich an zu handeln. Ich hole Mariquitas Photographie und durchbohre eine bestimmte Stelle blitzschnell dreimal mit einer goldenen Nadel. Dann lege ich das Bildchen in den Kasten zurück. Die Strafe ist magisch ausgefallen. Kindisch – kann man sich harmloser rächen? Frühere Zeiten kannten für ähnliches Tun den Scheiterhaufen. Aber unsere Vorfahren waren doch Idioten. Weshalb hätten wir es sonst so herrlich weit gebracht?

Nadelstiche können nicht nur kränken. Mich wenigstens machen sie gesund. Ich kann schon ein bißchen ausgehn, das Herz rebelliert nicht mehr bei jedem Schritt. Wenn die Schwindelanfälle vorüber sind, darf ich dann auch reisen. Gaby muß sich mit Ruth verständigt haben. Sie kehrt von London zurück; wir wollen uns auf halbem Weg entgegenkommen. Innerlich und äußerlich. Das Engadin ist der Treffpunkt. Diskussionsloses Aneinandergewöhnen ist Vorbedingung. Ich bin wirklich noch nicht verhandlungsfähig. Ruth schreibt lieb und besorgt. Nichts Aufregendes. Nachrichten von meinem Töchterchen fließen ein. Sie beherrscht sich. Versucht mich zu schonen. Künstliche Windstille. Auf Sturm wird meinerseits vorläufig verzichtet – feierlich. Bedarf gedeckt. Wird allerseits zugestanden. Wahrscheinlich genese ich. Der Film rollt seltener.

An der Währingerstraße kann ich mich schon wieder über die rotgetupften Krawatten ärgern. Kaffee rühre ich nicht an. Man kann Zeitungen auch lesen, wenn man Lindenblütentee dazu trinkt. Ich will nicht sagen, daß sie ebenso leicht eingehn. Aber immerhin.

Auf Samstag ist meine Abreise festgesetzt. Ich muß Gaby wirklich beschenken. Sie war unglaublich kameradschaftlich zu mir – die ganze Zeit über. Es sind doch fast wieder drei Wochen her seit dem Nachmittag am Kobenzl. Gaby verdient nicht nur Lob, sondern Besseres. Wie hat sie mich betreut. Nicht aus den Augen gelassen. Dabei gehn ihre eigenen Sachen schlecht. Bei den Finanzen kann man aufhelfen. Aber bei Herzensangelegenheiten? Wahrscheinlich ist auch da das Schlimmste vorüber. Die Illusion verliert ihre Farben. Es riecht nach Herbst, mitten im Sommer.

Am Sonntag reise ich, treffe Ruth in St. Moritz. In der Früh erliege ich fast der Versuchung, in Mariquitas elterliche Wohnung hinauszufahren. Offizieller Abschiedsbesuch – was wäre dabei. Ich habe mein Wort nicht gegeben, ich bin zu nichts verpflichtet. Was will ich draußen? Mariquita läßt sich ja doch verleugnen. Oder ist auch wirklich fort – auf der Hochzeitsreise. Weshalb nicht schreiben? Nein, was will ich draußen? Antwort: Erfahren, ob mein Zaubermittelchen genützt hat, ob Mariquita wirklich krank ist. Berechtigt. Zugestanden.

Ich erlaube mir anzurufen. Der Vater ist am Apparat. Ausgezeichnet. «Ja, Herr Doktor, ich möchte nachträglich noch gratulieren. Die Verheiratung Ihrer Tochter war eine große Überraschung für mich.» «Auch für uns, Herr Moenboom, auch für uns.» «So, wußten Sie es nicht?» «Keine Ahnung. Heimlich. Fait accompli, wie es ihre Art ist. Wirklich ein wenig Hysteroides in diesem Charakter.» «Ja, eigentümlich. Und wie geht es ihr gesundheitlich?» «Danke. Das Fieber hat etwas nachgelassen.» «Das Fieber?» «Die Krankheit ist mir im Grunde rätselhaft. Natürlich stark nervös gefärbt, aber mit Unterleibschmerzen, die schwer zu lokalisieren sind.» «Meine herzlichsten Wünsche zur baldigen Besserung. Ich muß leider plötzlich verreisen. Ja, mein Beruf bringt das so mit sich. Deshalb ist es mir leider ganz unmöglich, mich persönlich bei Ihrer werten Familie zu verabschieden.» «Hoffentlich sehen wir Sie bald wieder in Wien, lieber Herr Moenboom.» «Ich hoffe sehr, aber es ist alles unbestimmt.» Abschiedsphrasen. Ich knalle den Hörer in die Gabel.

Etwas habe ich doch gelernt – am Land draußen.


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