Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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6. Kapitel

Tabu

Die Rückfahrt liegt mir verschüttet. Nur auf Augenblicke glänzt die Donau mit breitem Wasserspiegel in meinen Dämmerzustand. Klosterneuburg und Melk, die Berge von Salzburg. Dann der Chiemsee mit den Abendschatten seiner kreisförmigen Mulde, Tannenwälder noch winterdunkel, Frost in der Luft. Die Nacht.

Kleinlaut presse ich mich in die überfüllte Straßenbahn. Zu Hause läute ich atemlos. Ruth öffnet, reicht mir die Fingerspitzen. Ich frage nach meinem Töchterchen. Es ist während der Umzugstage bei Bekannten auf dem Land. «Was geht das dich an, hab ich nicht alle Last allein?» Seit zehn Tagen schlägt sich Ruth mit Hauswirt, Teufel und Behörden herum. Wir wollen nach Holland übersiedeln – in das Haus meiner Mutter – vorläufig. Erst schien es Befreiung von dem rasenden Druck vieler Notjahre, ein Aufatmen, Luft.

«Ist unser Entschluß nicht veraltet? Jetzt, wozu? Du gehst ja doch so bald als möglich nach Wien zurück.» Ich widerspreche nicht. «Wozu?»

«Ist es nicht egal, wo die Kleine und ich bleiben? Was soll ich in Holland im Haus deiner Mutter? In einer Vergangenheit, die nicht die meine ist, wo doch alles zerbrochen ist. – Also, wann gehst du wieder nach Wien?»

Ich zucke die Achseln. «Machen wir hier fertig», sage ich endlich.

«Es ist doch alles ohne Sinn. Nicht nur die Mutter ist dir gestorben.»

Sie bricht in Schluchzen aus. Ich weine mit. Hilflos. Mit zerfallenen Nerven. Diese Frau liebte ich einmal, nein, ich liebe sie noch. Und Mariquita – mehr als mein Leben. Schluß machen. Aber etwas hält mich zurück.

Nichts ist ausgetragen, nichts ist deutlich. Liegt nicht unter dem Schutt der Zerstörung ein Keim von Klarheit, wachsend unter Trümmern, vielleicht morgen schon sichtbar.

Ruths Züge sind grau vor Kummer. Ein ungeheures Erbarmen packt mich. Sie leidet um mich. Genuß hatte mich überschwemmt, betäubt, mein Gedächtnis überspült. Jetzt bricht das verschmähte Gewissen wie ein Blitz aus mir: ich gewahre, was ich angerichtet. Wo ist Hilfe? Darf ich Mariquita verraten, um Ruth zu trösten? Die eine töten, um die andere zu retten. Besser an mir das Gericht vollziehn, den Urheber aller Leiden wegschaffen.

Leidenschaft ist ruchlos wie das Leben selbst. Blinde Wucht, schmaler Gipfel der Ekstase, abstürzend in das breite Wellental der Qual. Wie beneide ich die Triebarmen, die kein Reiz verwirrt, Blut sanft wegplätschernd an Kanalmauern. Oder die Ichstolzen ohne den Abgrund bewußtloser Übermacht, dünnblütige Götter, auf deren Brust nie beklemmend die Scholle lag; die untadeligen Distanzhalter, für die so wenig zu überwinden ist.

Wie grauenhaft schmerzlich ist dagegen unsre Aufgabe. Unter Zusammenbrüchen dauern, verstrickt in das Netz selbstverwirrter Schuld, ruchlos Besessene, Unterworfene des Schicksals, mit klarem Blick für das Verbrechen, das Leben heißt, aber ohne die Gewalt, es abzuwenden. Was wir zurücklassen, und wo wir mittragen, ist unabwendbar Frevel! Aber Welten blühen hinter unserer Stirn, die wir gebären sollen, und so tragen wir unter Selbstverachtung und, unter dem Klägerblick unserer Mitmenschen, das Los – uns zugeteilt und nur von Liebenden begriffen. Haß wittert uns, Liebe kann uns verzeihn. Aber nur der Weise – selten in tausend Jahren – versteht uns und lobt das Qualgesetz, das uns schuf. Wir sind ausgestoßen wie Irrsinnige oder wie Verbrecher, Mitleid geißelt uns oder der Spott der Vernünftigen.

Hat der Herrgott nicht an uns seinen Geist verschleudert? Leidenschaft ist den Wohlgeratenen eine Unart. Wehe uns, daß wir Gewissen haben! Denn wir sind Werkzeuge. Wir sollen dienen, nicht die Tat bedenken. Wer sich selbst erkennt, erkennt den Verbrecher in sich. Und wenn er weiter gräbt – das Tier. Eine schuldlose Göttlichkeit, deren wir inne waren, ehe sich das Gewissen ans Kreuz schlug. Jetzt nur noch die Wahrheit unserer tiefsten Träume, aber schal und gemein im Licht des Tages.

Frauen sind, die uns verstehn. Aber Schwerter im Herzen sind ihr Lohn.

Durch Ruths Vorwürfe, durch ihre Tränen spüre ich, daß sie mich begreift. Wider ihren Vorteil, wider ihr Glück, wider ihre ganze zerschmetterte Zukunft. Mit Tränen und mit Bitterkeit sträubt sie sich gegen ihr Verstehn, aber sie versteht mich dennoch. Sie haßt sich, daß sie nicht blind sein kann, nicht ichsüchtig, daß sie mit dieser Erkenntnis sich selbst vernichtet. Aber dieses Begreifen ist mächtiger als sie. Unabwendbar wie eine Leidenschaft. Wie ich sie liebe, um dieser Gerechtigkeit willen, die mich entwaffnet! – Aber helfen kann ich nicht. Meine Zärtlichkeit wage ich nicht zu zeigen. Jedes Wort von mir ist ein Betrug. – Jede ausgestreckte Hand – Verrat. Gelähmt sitze ich auf dem Diwan neben Ruth bis in die späte Nacht.

Lähmend graut der neue Tag, mühereich und unerlöst in der erloschenen Ewigkeit die Hölle. Ohne Hoffnung, ohne Mut zum Entschluß. Das Leben ist eine Krankheit, Nichtmehrsein das einzige Heilmittel. Ein Geschwür fressend wie Krebs. Wir ratschlagen ratlos. Gehn dann wieder (jeder taub in sich verknäult) nebeneinander einher, nebeneinander vorbei. Unsere Herzen schreien um Hilfe, aber unsere Arme regen sich nicht.

So verrichten wir das Tagewerk, brüchig, mürb, überzeugungslos. Schließen das Begonnene ab, packen. Was entmutigt mehr als dieses miserable Verstauen vergangenen Lebens: Briefe zerreißen, die man einst mit Herzklopfen erbrochen, Andenken – Götzentand, Plunder fürs Feuer. Getragene Kleider vertragener Jahre, Bücher mit Eintragungen meiner Hand, Wichtigkeiten – Nichtigkeiten. Darum ging es mir damals – darum? Fragen, fremd, fast ein bißchen lächerlich. Oder in ihrer Gläubigkeit rührend. Wohl noch dann und wann heimlich vertraut – wie ein Volkslied, bei dem wir als Kinder weinten. Aber doch übergoldet, überstaubt oder rot von Rost. Ist nicht Altes geweiht? Es auszugraben frevlerisch? Nur die Hand der Schänder wühlt im Sarg, worin der tote Glaube liegt. Bin ich mir nicht selbst weggestorben zu hundert und hundert Malen, habe ich nicht hundertmal Hand an mich gelegt?

Schon mein Gedächtnis ist voll von Toten wie ein Trichter auf dem Schlachtfeld. Ihr Name ist noch gegenwärtig, noch weiß ich die Farbe ihres Haares, ihrer Augen, und wie sie schritten. Aber andere sind, namenlose, vergessen, aufgelöst längst und zerflossen, schon gewandelt im Erdreich, in Pflanze und Tier, auch diese spüre ich noch aus ihrer Urgestalt oder hinter ihren neuen Masken, trotzdem ich sie nicht mehr weiß. Doch ihr Wesen bleibt, ihr Anspruch stößt dunkle Keile in mich. Vorübergehende, unsichtbar, aber ihr Schatten wandelt an der Decke meines Raums. Sie huschen vor das Haus, drohen mit Ungewißheit, immer bereit, einzutreten über die Schwelle, von welcher der Gequälte sie wegwies. Vielleicht daß ein Gestorbener, ehe er den Bannkreis letzter irdischer Bindung verläßt, so zwischen seinen Dingen herumirrt wie ein Mensch zwischen halb gepackten Kisten.

Das Wort Abschied steht wie eine eisblumenbedeckte und an den Rändern verklebte Scheibe vor dem Frost, vor der tödlichen Angst und Erstarrung des Getrenntseins. Ein Hauch meines Mundes schmilzt die Eiskruste überm Glas, die vor dem Grauen füttert, vor dem Nichts, wohin wir schreiend taumeln, im nächsten Augenblick schon, jetzt.

Eine Bekannte bringt unsere Kleine vom Land zurück. Verstört kauert sie neben der Mutter, überschwemmt von unfaßlichem Schrecken – in der Furchtbarkeit unserer Aura. Eine Mauer ist zwischen mir und dem Kind, unsichtbar, aber undurchdringlich. Meine Hand wagt diesen Bann nicht zu durchstoßen. Tabu. Geweihter Bezirk. Undurchläßlich väterlicher Macht – Sonne. Sie ist eine Mondgehegte. Mütterlichen Gezeiten folgend. Vaterloses Kind. Seine seelische Schutzhülle entrechtet mich. Ich bin verurteilt. Ausgestoßen. Der heilige Funken des Spiels zündet nicht hinüber. Der Verlockung begegnet abweisender Ausbruch, Haß. Ich bleibe draußen.

Die Halbgespräche endloser Nächte umkreisen das eine: Entscheidung. Hinter jedem entzweigebissenen Wort die eine Frage: Wann gehst du wieder fort? Zwei- oder dreimal nehme ich das Gift. Die Erregung ist zu furchtbar – leer; die Spannung, das Lauschen, der Donner eines fernen Schrittes sind zu zerstörend. Ekstase bleibt aus. Ruth weist die Dose haßglühend zurück. Keine Selbsttäuschung mehr gemeinsamen Fluges. Allein. Ausgebrannt. Bilder, grau, sandig zerbröckelnd. Schmerz ohne Kern, ohne blühende Schöpferdämmerung. Aus übersättigter Lösung nicht mehr das Wunder anschießend: der Kristall. Gestaltloses Elend. Schlaflos. Übernächtig, nur zerbröckelnd.

Mariquitas Briefe reißen mich nicht aus dem Zerfall. Sie sind wie unverständliche Laute, hinter einer Tür gesprochen. Sie erregen meine Nerven, aber in die Tiefe dringen sie nicht. Ich bin auf einer engen Insel im Strom. Beide Brücken, die nach hüben und die nach drüben, sind eingestürzt. Ich muß mich in die Wellen werfen, schwimmen, wenn ich nicht verhungern will. Aber Feigheit hält mich zurück. Von beiden Ufern höre ich meinen Namen rufen, aber ich bin zu lässig, um auch nur ein Zeichen zu geben. Meine Arme sind Blei, mein Gehirn zerbröckelt im Sand. Ruths Züge sind grau vor Gram. Nachts höre ich ihr unterdrücktes Schluchzen. Die Feindschaft meines Kindes wächst wie ein Schatten, wenn die Kerze niederbrennt. Ruth verzweifelt. Wut bricht aus der Sanften. Sie versucht, mich in die Entscheidung zu stoßen. Eines Abends beginnt sie:

«Morgen reise ich mit dem Kinde nach Holland. Wir sind hier fertig – (zögernd) miteinander. Ich fahre in das Haus deiner toten Mutter. Wozu? Ich weiß es selbst nicht. Was verkrieche ich mich in deiner Vergangenheit, in deiner Familie? Aber ich fühle die Verpflichtung, den Nachlaß deiner Mutter in Ordnung zu bringen. Vielleicht gehe ich nachher zu meinen Eltern oder fort. Ich weiß es selbst noch nicht. Aber ich bin dir ja keine Auskunft schuldig. Einer Scheidung setze ich mich grundsätzlich nicht entgegen. Du reist morgen nach Wien zurück?» Ich nicke.

«Wie lange hast du vor, in Wien zu bleiben?»

«Ich weiß nicht.»

«Willst du sie heiraten?»

«Ich will nicht mehr heiraten. Vielleicht fahren wir zusammen nach Italien», füge ich hinzu.

«Hat sie denn Geld? Sie lebt von dir?»

«Nein», widerspreche ich. «Sie hat drei Bilder verkauft.» (Ich habe die Bilder gekauft, um ihr Geld verschaffen zu können, das sie zu Hause vorweisen kann und für einige Zeit von ihrem Vater unabhängig macht.)

«An dich?»

«Unsinn!»

«Bist du sicher, daß all das für sie mehr war als ein Abenteuer? Ihr erstes ist es übrigens nicht . . .»

«Du redest wie eine Spießerin. Denk an Kolja –.»

«Das war etwas anders. Immer habe ich Rücksicht auf dich genommen. Der brutale Egoismus kennzeichnet diese Frau: keine fünf Minuten im Haus, noch fremd, schon in der ersten Nacht.»

«Hör auf.»

«Du willst sie heiraten. Ihr habt es schon ausgemacht. Belüg mich nicht.»

«Nichts ist ausgemacht . . .»

«Und die Reise nach Italien?»

«Phantasien.»

Etwas wie Licht geht über ihre Züge. «Vielleicht war ich vorhin gehässig. Du marterst meine Nerven. Ich will versuchen, ruhig zu bleiben, in Holland abzuwarten. Vier Wochen und dann . . .»

«Und dann?»

«Gehe ich auf und davon, und du siehst mich nicht wieder.»

«Mit Kolja vielleicht? Mit einem Freund?»

«Mit keinem Mann. Allein.»

«Und das Kind?»

«Lasse ich irgendwo –.» Ich schüttle den Kopf.

«Du glaubst mir nicht, daß ich mich losreißen kann. Hüte dich. Du kannst es zu weit treiben. Ich werde fortgehn.» Sie schluchzt. Plötzlich hebt sie den Kopf:

«Erwartet Mariquita ein Kind?» fragt sie langsam.

«Sie möchte ein Kind von mir», flüstre ich. Pause. Tonlos vor Spannung ihre Stimme:

«Und du?»

«Ich werde schaun.» Ruth wird bleich. Dann beginnt sie leise und stoßweis zu weinen:

«Wie du dich selbst belügst. Weißt du nicht mehr, wie's war, damals als unsere Kleine kam? Wie du sie haßtest, wie sie dir die Luft nahm? Wie du verzweifelt warst, als hätte man deine Hoffnungen mit Keulen totgeschlagen. Dein Leben schien dir vernichtet, nichts wie Armut und Elend. Saurer Windelgeruch und Kindergeschrei. Willst du zwei Frauen und zwei Kinder ernähren, jetzt, wo du endlich den Kopfüber die Not emporstrecken kannst?»

«Damals war ich zu jung.»

«Ja, jetzt bist du im Glück. Du überschätzest deine Nerven. Kindergeschrei wird auch deine neue Liebe nicht aushalten. Kaum witterst du Freiheit, so willst du dich selber zum zweitenmal einsperren.»

«Ich liebe Mariquita», sage ich laut, aber mit einem Beben im Ton.

Unsere Züge gehen fast zur gleichen Zeit ab. Wir fahren zusammen zur Bahn; ich bringe das Kind unter. Ruth reicht mir kaum die Fingerspitzen. Ein jäher Schreck befällt uns beide; ich zögere am Trittbrett. Plötzlich beugt sie sich herab und reißt mich wild in ihre Arme.


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