Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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7. Kapitel

Im Mai

«Also der Wiener Wald ist schon einzig», seufzt die dicke Ungarin neben mir und preßt ihre Büste ins Wagenfenster. «Und gar im Mai», fügt sie nachdenklich hinzu. Sie hat soeben ihr Töchterchen nach Lausanne ins Pensionat gebracht. Weiche Mulden flitzen vorüber, lichte Baumbestände, dann und wann ein verwahrlostes Landhaus. Am Waldrand verweilen Liebespaare im Kuß – mit abgewandten Gesichtern – oder liegen, aufgestützt dem Zug nachstarrend, an sonniger Halde.

Der amerikanische Gent mit dem Nerokopf mir gegenüber begann soeben seine Korrespondenz zu verstauen. Er hatte andauernd an seinem Klapptisch geschrieben (ich zählte vierzig Briefe), natürlich mit simple script bei dem scheußlichen Schleudern in den Kurven. All right, wir hatten ein Geschäft zusammen begonnen, morgens zwischen zwei und drei, draußen im Gang im schulternden Scheibengetöse des wie besessen vorwärts surrenden Zuges. Gleich anfangs hatte er meine Lektüre bemerkt, eine französische kriminalpsychologische Abhandlung über Schriften. «Ist das Ihr Beruf?» Ich bejahte, machte ihn darauf aufmerksam, daß er wie ein Opernsänger schreibe. Ausgesprochen phonetisch runde Buchstabenformen. Er stutzte: «Sie kennen mich?» Ich schüttelte den Kopf. «Ich bin wirklich Opernsänger gewesen. Mein Name ist Mendoza, Argentinier von Geburt, jetzt Europavertreter der vereinigten Theater- und Konzertagenturen in New York. Ich fahre gegenwärtig nach Bukarest, um einen dortigen Biologen für eine Vortragstournee zu gewinnen.»

Er schreibt weiter, malt seine Buchstaben: ihre Kurven klaffen nach unten. «Sie meinen diesen Brief nicht aufrichtig», bemerke ich obenhin.

Betroffen blickt er auf. Unsere Unterhaltung ist französisch und wird vielleicht von den Mitreisenden verstanden. Er bittet mich auf den Gang hinaus. «Sie haben recht», bricht er draußen los. «Mit dem angefangenen Brief will ich den Adressaten hineinlegen. Ein Geschäft. So und so. Und das sehen Sie alles aus der Schrift?» «Gewiß.» Er zieht ein mit Gummibändern verschnürtes Bündel von Schecks aus der Rocktasche. Hohe Summen. Wechselnde Unterschriften. «Vermögen Sie die Schreiber zu charakterisieren?» «Unterschrift ist mehr Vergangenheit als Gegenwart, Summe des Wesens.» Er lauscht, schließt die Augen, Lächeln fließt über sein fleischiges Gesicht aus.

«Ich bin befriedigt, sehr befriedigt. Ich mache Ihnen ein Angebot. Kommen Sie nach Amerika, halten Sie dort Vorträge. In hundertundsechzig Städten. Unsere Theater sind zugleich Vortragssäle. Ich garantiere Ihnen . . .» (es folgt eine sehr beträchtliche Summe). Ich erbitte mir Bedenkzeit. «Hier meine Pariser Adresse.»

Ich kann mich nicht entscheiden. Sein Angebot gleitet an mir ab. Berufliches lockt mich nicht. Aber eine Luke haben seine Worte doch aufgestoßen, ein Feld blauen Himmels lockt herein – nur einen Augenblick lang, dann schmettert die donnernde Gegenwart die Glanzferne zu. Schönbrunn wogt vorüber, mit blühenden Büschen diesmal, Sonnenwirbel über den Qualmschleiern der Einfahrt. Jäh einsetzend schleudert uns die Bremse durcheinander. Nero – Mendoza schüttelt mir die Hände. – «Ich rechne auf Sie», und verschwindet in einem Strudel von Packträgern. Auch ich stolpre zwischen die hellen Damentoiletten hinab, keile mich in die Sperre. Da steht Mariquita in Weiß, mit einem weichen Goldton über Gesicht und Armen. Und diese Arme schlagen über mir zusammen, eine Welle . . . in der wir geschlossenen Auges versinken.

Ist es nicht wie ein Erwachen, als hätte ich wochenlang unter einem Bann gelegen, oder so, wie wenn man im Traum erwacht zu einem zweiten lichten Traum und sich dabei sagt, bis jetzt hast du ja nur geträumt – angstvoll und hilflos gelähmt unter den Knien des Nachtmahrs, aber jetzt bist du wach, und Atem ist, Luft, und es ist gut zu leben. Was jetzt ist, ist wirklich, ist wahr. Sonne, nicht mehr das flammende Angstrad vor den verschütteten Sinnen der Nacht, Taggestirn schöpferisch gut, keine Höllenspiegelung auf Abgrundseen, Wirklichkeit, Zuversicht. Glück mit solcher Fülle überraschend, daß leiser Zweifel aufs neue anheben möchte, ob so viel Geschenk auf dieser bitteren Erde nicht doch nur Traum sei.

Ich fühle Mariquitas Brust an meiner schlagen. Ihre vollen Arme pressen mich im Nacken. Ist das noch möglich? Hatte ich sie nicht hundert und hundertmal verloren, in der marternden Ewigkeit zwischen Staub und Verzweiflung, in der Ratlosigkeit vor Ruth und den halbgepackten Koffern, während jedes Gefühl zerbröckelte und sinnlos verrieselte wie Sand. So viel also ist noch mein, der ich wie ein Bettler zwischen meinen Einstürzen umhertrieb, so viel!

Diese Frau, unendliche Vollkommenheit leibhafter Welt. Diese Ewigkeit aus den Düften junger Glieder strotzend. Ein lautes Lachen weckt mich. Mariquita hält mich mit den Armen von sich ab und flüstert: «Was hast du? Du bist verrückt?» Aber ihre Augen lachen mit mir.

Das Taxi beutelt uns. Mit gesprungenen Federn streift unser Sitz fast das Pflaster. Wir rollen durch die Mariahilferstraße. Eine Säule der Lebenslust umtost uns. Masse drängt sich vor den Auslagen, in die bunte Frühlingstupfen gesprenkelt sind. Hüte, als Papageien auf Stengeln hockend, Kleidchen wegsprudelnd in den Samt der Draperien wie bunte heitere Bäche, Wäschestücke noch schaumig vom warmen Mädchenleib, der aus ihnen scheinbar eben erst ins Vergnügen wegschlüpfte. Zarte Spuren von Liebenden, die ihren Hüllen ins Verschwiegene entglitten sind. Vorraum des unsichtbaren Festes, das in uns aufflammt, wortlos. Gemeinsames: Himmelpfortgasse. Wir halten. Fliegen die Treppen hinauf, drehn ungeduldig an den Riegeln. Die Tür schlägt hinter uns ins Schloß. –

Später schreckt uns ein Geräusch auf dem Dach. Ich drücke mich an die Wand, schleiche zur Luke. Der Schatten eines Mannes schwankt vor dem Fensterkreuz. Mit einem Ruck reiße ich das Fenster zu. Ein Spion? – Ein Dachdecker? Unbestimmte Drohung flutet durch den grünen Raum. Wer ist draußen? Wer weiß von uns? Sind wir nicht in der Toreinfahrt an der Hausmeisterin vorbeigerannt? Saß sie nicht hinter dem Glas ihres Schiebefensters in der Loge, ein kalkiges Gesicht, wie eine Tote? Aber auf dem Anstand? Mariquita streift ihre Seidenstrümpfe übers Bein. Sie ist ängstlich geworden.

«Du, ich hab zu Hause gesagt, daß du kommst. Auf die Dauer kann man dein Hiersein ja doch nicht verbergen, man kann uns zusammen antreffen, oder jemand kommt einmal hierher, hört von der Hausbesorgerin, daß ich droben bin, und findet die Türe versperrt. Vater will dich eines Tages einladen. Du bist der Bekannte aus München, in dessen Familie ich ja zu Besuch war.»

«Hast du gesagt, daß ich heute ankomme?» «Nein, in diesen Tagen.» Sie hebt die Arme und läßt das Seidenhemd über ihre Schultern hinabgleiten. Mit einem Sprung bin ich bei ihr. «Du?» «Nicht, ich muß mich fertig machen. Irene erwartet mich um halb sieben im kleinen Café in der Gasse drunten. Nein. Nicht mehr.» Ich hebe sie auf, trage sie auf den Diwan hinüber. «Heute brauchen wir zum erstenmal den Ofen nicht. Weißt du noch, wie rußig wir immer wurden?»

«Wie ich immer mit den Füßen dagegen gepoltert bin. Der Lärm! Das war noch fast schlimmer als der Dachdecker –»

«Glaubst du, daß es ein Dachdecker war?»

«Aber geh, selbstverständlich doch.»

«Meinst du?»

«Mariquita, du siehst Gespenster. Hast du viel Koks genommen?»

«Fast nie.»

«Kleines Ehrenwort?»

«Nein, das große, das ganz große. Und du?» Meine Hände geben ihre Schultern frei.

«Weißt du, seit meine Mutter gestorben ist, habe ich fast nie mehr geschnupft. Ich glaube beinahe, ich habe einen Ekel davor. Es hat plötzlich keinen Sinn mehr. Ich weiß nicht warum. Vielleicht will ich jetzt leben. Ich spüre, es hat mir geschadet. Weißt du, in der ersten Nacht, als ich zu Hause in Holland war, da verschlang ich es wie rasend. Eine Glasmauer schob sich zwischen mich und die Welt. Aber dann war es plötzlich aus; es half nicht mehr; übergrell sah ich mich und fühlte den Zerfall. Es allein zu nehmen ist Selbstmord. Früher peitschte es mich aus der Wirklichkeit hinaus, dann kam die Berührung mit dir. Ich spürte dich so wie jetzt, nein, nicht so klar, aber mit einer irrsinnigen Gier, nicht zu befriedigen, nicht zu löschen, Trieb gestaltlos rasend, ohne Wachstum, ohne Erfüllung. Ich lag dann neben dir – tausend Meilen des stumpfsinnigen Raumes trennten uns nicht mehr, ich spürte dich an meinem Leib, in den Poren, aber glatt entgleitend wie Schlangenhaut. Gelähmt mußte ich deine Nähe erdulden, zu dir hinüber konnte ich nicht, umarmen konnte ich dich nicht. So lag ich die Nächte bis zum Morgen, geschüttelt von der Sehnsucht unvermählter Gegenwart. Ohne körperliche Hingabe, ohne mich verströmen zu können, im Banne deines Leibgespenstes, unverschmolzen dich neben mir wittern, vor Kälte zitternd mit ersterbendem Puls. Tagsüber war ich zerbrochen.»

«Und Ruth?» Mariquita preßt sich gegen die Wand.

«Wie meinst du das – und Ruth?»

«Hat sie nichts bemerkt?»

«Ich schlief doch allein.»

«Das wollte ich nicht wissen.» Mit einem Kuß verschließt sie mir den Mund. «Eifersucht?» staunt es in mir. «Unsicherheit mir gegenüber? So wenig Ahnung hat sie also von ihrer Macht.» Mariquita umschlingt mich wie eine Rasende, preßt mich, daß mir der Atem ausgeht. «Ich danke dir, du Lieber.» Wir ringen miteinander. Gewalt gegen Gewalt. Wie stark sie ist in ihrer Schwäche.

«Wie arm», kommt es über meine Lippen, ein Lieblingsausdruck von Mariquita. «Du sagtest?» Ich schüttle den Kopf. Wir verbeißen uns. Meine Schulter blutet. «Böser Affe!» «Ich habe immer nur an dich gedacht, immer nur an dich. Was für eine Angst ich hatte, ich glaubte nicht, daß du wiederkämest. Ich wußte, wie du leidest, wie furchtbar das mit deiner Mutter für dich war. Aber ich konnte nicht schreiben vor Angst; ich fürchtete, mich zu verraten, dir meine Schwäche zu zeigen. Du warst der Stärkere. Ich haßte dich dafür. Du betrogst mich vielleicht. Ich wollte mich rächen. Ich nahm das Gift. Aber es half mir nicht. Ich lief zu Toni, meiner einzigen Freundin, weißt du, die mit dem Atelier für Damenkleider. Tagelang saß ich bei ihr. Ihre beiden Brüder, der eine ist beim Film, der jüngere Ingenieur, wollten mich mitschleppen. Aufs Land, für zwei Tage. Der ältere ist verheiratet und hat eine sehr schöne Geliebte. Der jüngere ist ein guter Mensch, immer so still; wenn er einmal spricht, macht er mir nach fünf Minuten einen Heiratsantrag. Ich bin einmal in einem Kleinauto (im Wagen seines Chefs) mit ihm gefahren. Aber das Ding wollte nicht. Wir mußten es meistens schieben. Ich hab ihm wacker geholfen dabei, er sagte, ich sei ein guter Kamerad. Übrigens ist das alles Blödsinn, jetzt, wo du wieder bei mir bist. – Mein Vater verbietet mir, daß ich mir einen Bubikopf schneiden lasse, oder soll ich es doch?»

Ich lasse ihre schwarzen Strähnen durch meine Finger laufen und erwäge. «Also, Heiratsanträge hat er dir gemacht?»

«Nicht eifersüchtig sein, gelt? Das ist doch alles Blödsinn.»

«Hast du deiner Freundin von mir erzählt?»

«Nur angedeutet. Aber Irene hat alles erraten.»

«Deine Schwester?»

«Ich kann vor ihr nichts verbergen. Aber sie schweigt.»

«Was hat sie denn dazu gesagt?»

«Nichts, aber sie ist ein bißchen unglücklich. Sie sorgt sich um mich. Du, um Gottes willen, wie spät ist es denn?»

«Gleich halb sieben.»

«Herrgott, ich muß zu Irene.» «Ich laß dich nicht gehn.» «So sei doch vernünftig.» Meine Arme halten sie fest. Nach einer Pause. «So komm halt mit. Aber sei vorsichtig, ich bitt dich, duz mich nicht aus Versehn.» «Ja, warum denn nicht?» «Irene ist so schamhaft.» «Du sagtest doch, daß sie weiß . . .?» «Aber nicht so. Nur im allgemeinen, sei vorsichtig, bitte.» «Vielleicht verliebe ich mich in sie, weil sie deine Schwester ist.» Mariquita betrachtet mich unsicher. «Bist du fertig?» Wir schleichen die Treppen hinunter.

Im Café schimmern die Kugelmonde der Auerlichtglocken. Irene erhebt sich vom Marmortischchen, blond, bleich, mit starker Adlernase und grünen Schatten auf den Wangen. Wir begrüßen uns linkisch und fast etwas betreten. Das Gespräch kommt nicht so recht in Fluß. Irenes Augen sind schön. Sie weicht meinem Blick aus; sie ist mißtrauisch, aber sie wagt nicht zu prüfen. Mariquita, künstlich lebhaft, plappert für alle drei. Natürlich unterhalten wir uns über Irenes Musikstudium; sie will Konzertsängerin werden, aber man fühlt, daß sie selbst nicht an dieses Ziel glaubt. Irgendwie steht sie im Schatten der Älteren. Aschenbrödel-Ehrgeiz zittert in ihrer Stimme. Not macht sie geistreich, fast ein wenig spitzig, sie muß entwerten, um sich zu behaupten. Schon hat sie sich innerlich verurteilt; das macht sie hellfühlig. Ich bin ihr zu fremd, zu unüberschaubar. Aber ein gewisses Zutrauen scheint sie mir nicht zu versagen. Wir trennen uns bald. Ich bringe die Schwestern an die Straßenbahn. Am Westbahnhof steige ich aus, hole mein Gepäck und fahre zu Gaby.

Die Hausbesorgerin gibt mir die Schlüssel, ich surre mit dem Lift hinauf. Gaby ist nicht zu Hause. Erschöpft falle ich in Schlaf. Eine Hand berührt mich. Gaby sitzt auf dem Diwan und starrt mir in die Augen. Zibi, der Kater aus Kochinchina, schnurrt auf meinen Füßen. «Grüß Gott.» Ich glotze wohl blöd, denn Gaby fängt an, schallend zu lachen.

«Also gut angekommen in Wien. Was gibt's Neues? Was macht Ruth? Hast du Mariquita schon gesehn? Natürlich.» Sie wird plötzlich ernst. «Also verliebt bin ich auch.» «So.» «Oder grad gewesen. Wahrscheinlich ist es bald vorüber. Aber das Beuschel da spuckt wieder.» «Die Lunge spuckt wieder?» Beim blassen Mondlicht sehe ich, wie bleich sie ist. «Erzähl.» «Er hat eine Frau, die will sich nicht scheiden lassen. Gegen eine Frau kann ich nicht an. Drum Schluß machen. Alles ist so blöd. Ich glaub, er ist hysterisch, du. Er macht mich auch verrückt. Es hat keinen Sinn. – Hast du Koks?» Ich krame ihr eine Prise heraus. «Du nimmst nicht mehr?» «Nein.» «Und wie steht es bei dir? Willst du dich scheiden lassen?» «Ich weiß nicht.» «Und Mariquita? Bring sie bald mal her. Noch eine Prise. So. Gut Nacht.» Sie packt den Kater Zibi auf den Arm und streichelt ihn. «Gut Nacht.» «Schau, was der Zibi für eine Schnauze hat. Wie angerußt. Und was für blaue Augen.» Der viereckige Tierschädel schimmert vor meiner Nase. Seine Schnurrbarthaare kitzeln mich. Mächtig glühen diese rechteckigen Pupillen im Raum.

Das kurzhaarige rauchweiße Tier wölbt seinen Affenrücken. «Die Siamesen sollen diese Katzen brauchen wie Wachthunde», erklärt Gaby. In den Linsenschlitz des Tieres fallen die Bilder wie in einen Abgrund. Nichts scheint zu haften, nichts sich zu unterscheiden. Es geht nicht zwischen fest umrissenen Dingen, es wittert in einem ewig wechselnden Meer strömender Lichtfunken. Die Erscheinungen schmelzen ihm wie den Göttern – stets sich wandelnd spielende Formen. Lichtsäulen, Lichtquellen, Hungerklumpen, Kugeln der Zärtlichkeit. Bewußtsein, aber kein Wissen um sich, nur Gier, Wunsch, Verklärung. Schrecken. Vertraut und vertrauend im Strom, gespült von Geburt zu Tod, ahnend, wissend, aber ohne den Zweifel des Ichs. Zibis Kopf wächst in meinen Traum hinüber. Seine blauen Augen weiten sich zum Himmel, in den zwei breite schwarze Schlitze wie Brauen eingezeichnet sind.

Der Morgen kommt spät und findet mich zerschlagen. Irenes Gesicht geht um. Ein unsinniger Zufall, daß sie gleich heißt wie Koljas Berliner Freundin. Habe ich wirklich gefürchtet, daß Kolja mir Mariquita wegnehmen könnte? Ich bangte, sie an ihn zu verraten. Wünschte ich es vielleicht? Bedürfnis der Selbstquälerei, eine Folge des Gifts oder anderes, Schlimmeres? Vielleicht nur müßiges Spiel der Sehnsucht, die ihren Gegenstand durch alle Flächen des Prismas betrachtet, weil sie von ihm getrennt ist? Was bedeutet diese Zusammenkunft mit Irene? So lebe ich in einer Kette von Angst. Auch Irene fürchte ich, das Aschenbrödel mit dem spitzen Gesicht, die unschöne Schwester. Mariquita verfolgt mit ihrem Heranziehn eine Taktik. Sie will mich an ihre Familie gewöhnen, akklimatisieren. Langsam ins Bürgerliche leiten. Bin ich nicht in diesen Tagen bei ihr zu Hause eingeladen? Zwar wünsche ich es selbst. Manches ist an ihr, was ich nicht verstehe. Abhängigkeiten. Zufälligkeiten. Aber Stellen, an denen wir uns wortlos wundreiben.

Manchmal sind wir uns fremd, trotz aller Umarmungen, vielleicht schnürt auch hier die heimliche Angstkette. Ich möchte sie stärker binden, ich muß das Vertrauen dieser Leute haben, mag ich sie dabei zehnmal hintergehn. Zugleich aber weiß ich – sie bindet mich, sie zieht mich in ihren Kreis, wir treten aus der gesellschaftlichen Unverantwortlichkeit heimlicher Liebe hinaus, aus der reinen Innigkeit unserer Gemeinschaft hinaus auf das Feld darstellender Rücksicht; unsere Beziehung wird anerkannt, droht richtig verstanden zu werden, muß sich verstellen, nach Masken greifen. Abhängigkeit aus Forderungen der Umwelt. Fälschend. Unbefangenheit trübend. Zwangsprägung der Gesellschaft.

Nachmittags treffen wir uns zur gewohnten Stunde. Ich tastend: «Du, Mariquita, ist es nicht besser, wenn die Eltern nichts von meinem Hiersein erfahren?»

«Warum?»

«Ich fürchte für unsere Liebe. Wir wollen uns gehören, uns ganz allein, im elfenbeinernen Turm, ohne einen Laut von draußen. Jedes Geräusch ist unser Feind; die andern, das sind die Feinde, alle.»

«Irene hat beim Abendessen von dir erzählt. Übrigens recht lieb. Du scheinst ihr zu gefallen; mir hat sie nachher gesagt, daß du ihr unheimlich bist.» «Weshalb?» «Sie weiß es selbst nicht. Mein Vater läßt dich auf morgen zum Tee bitten.» «Also, in Gottes Namen.» «Du, sei vorsichtig, und sei lieb zur Mutter, sie ist sehr empfänglich dafür.» «Zeig mir doch ihre Bilder.» Mariquita kramt sie aus der Schublade hervor.

«Weshalb habe ich noch immer keine gute Photo von dir? Alle drei, die du mir schenktest, sind so eigentümlich blaß. Ohne Ausdruck, dich finde ich gar nicht darin. Alles Persönliche ist wie weggespült. Du hast dich förmlich unsichtbar gemacht. Das eine, wo du auf dem Holzstoß sitzt, da irgendwo in den Bergen aufgenommen, hat noch am ehesten etwas von dir. Nicht das Gesicht, aber im Ausdruck der Beine: Gaby muß dich photographieren, aber scharf, wie sie ihre Tiere knipst.»

«Da ist die Mutter.» Sehr hübsch. Mit dem kleinen hysterischen Zug um den Mund. Süß und eitel. Eine Frau, die nichts wagt. Aber innerlich voller Abenteuerwünsche. «Sie hat mal, vor Jahren, einen andern geliebt. Aber Vater merkte es und kam dazwischen; es ist wohl nichts draus geworden. Ihre Koketterie sucht, aber sie weiß nicht, daß sie kokett ist. Schleifen, Bänder, Toiletten, der Ersatz für ein ungelebtes Leben –.»

«Wie gefällt dir Vater?» fragt Mariquita und gibt mir ein anderes Bildchen in die Hand. Ein Mann mit Vollbart, so wie sich die Plüschzeit einen Arzt vorgestellt hat. Fehlt nur das Gerippe, das ihm über die Schulter schaut, und ein nacktes Mädchen von seiner Hand beschützt, während der Knochenmann das blühende Fleisch schon von hinten umarmt. Die Augen blicken intelligent und dabei stumpf über den Kneifer hinweg. Seine Bürgerlichkeit ist etwas aufgelockert durch Nervosität. Er pflegt wohl mit der Linken den Staub von der Weste zu klopfen. Im ganzen ein Mensch, durch lange Arbeit für die Familie etwas verschlissen. Die naive Selbstsucht seiner Angehörigen trägt er mit nicht völlig bewußter, trockner Resignation. Er ist stets im Dienst, in seiner ärztlichen Praxis so gut wie zu Hause. Man hätschelt seine kleinen Schwächen, denn schließlich ist er ja das Arbeitstier. Freude hat er lang schon vergessen. Er ist ebenso unausgelebt wie seine Frau, aber er bemerkt es nicht mehr, weist diesem Umstand keine Bedeutung mehr zu. Das Leben ist ein Malheur, da springt man eben bei. Vielleicht auch eine Pflicht, aber wozu? Das Endresultat ist ja bekannt, die Kette der Illusionen schon fadenscheinig wie sein Arbeitskittel. Seine Familienliebe gipfelt darin, seine Angehörigen in ihrer Lebenstäuschung nicht zu stören. Und dann ist eben ein Umstand vorhanden, den man nicht versteht. Aber immerhin ein Umstand, ein Faktum, vor dem man sich beugt. Kopfschüttelnd, nicht mehr gutgläubig wie die Vorfahren, aber man beugt sich ihm. Man ist Vater und liebt seine Töchter. Sie streben weg, gewiß, sie verheimlichen ihr Leben vor dir; gewiß; aber man sorgt für sie, das gibt Inhalt und Gewicht. Sinn im Kampf. Liebte man denn nicht einst seine Frau? Enttäuschung kann Liebe nicht ersticken. Jeder Kuß schmeckt wie Asche auf den Lippen. Aber man küßt immer und immer wieder. Sehnsucht ist stark wie Traum, durch kein Wissen zu bannen. Hinter der Entsagung liegt der Rausch – unstillbar. In den Kindern wird er aufbrechen, der Verzicht der Eltern lädt sie mit Liebesdurst, aus der Stauung bricht hemmungslose Gier. Persönlichkeit ist geballte Weltmasse; Generation, Familie, Zeitalter verschmolzen; die Wirklichkeit mit ihrem Heute und Jetzt, die aufspritzende Plötzlichkeit jeder Tat und Gebärde ist ein Gewebe, worin Tote, Lebende und Ungeborene zu gleichen Teilen hineingewirkt sind. Schuld und Tugend der Ahnen sprießen aus uns zu einem Neuen, Unbegriffenen, das sich ebensowenig kennt und lenkt – wie ich. Dieses Wissen schafft Gewissen, ungeheuerlich, unfaßbar wie ein Jahrtausend.

«Ist nicht die Symbolik unseres Tuns primitiv, negerhaft, mitschleifend die Nabelschnur vorweltlicher Gebundenheit, rechts und links, oben und unten, licht und schwarz, maßgebend für mich wie für den Troglodyten, solange der Verstand nicht auf seine täuschende Einsicht verzichtet.»

«Du gerätst ins Abstrakte», lächelt Mariquita. «Aber du hast nicht einmal gänzlich unrecht, beiläufig. Meinen Vater kann ich nicht verstehen. Nur habe ich ein Schuldgefühl gegen ihn. Ich hab die Empfindung, seine Güte zu mißbrauchen, das schafft vielleicht Haß. Ich glaube, daß du ihn besser verstehst als wir, daß du dich mit ihm verstehst. Wie bitter muß dein Leben gewesen sein, daß du einen Mann von fünfzig Jahren verstehst.» Sie küßt mich. Der Augenblick überwältigt mich aufs neue. Sie flüstert unvermittelt: «Ich möchte ein Kind von dir.»

«Weshalb?» Die Frage bohrt und bohrt, während wir uns in den Armen liegen. Dankbarkeit dafür, daß ich diese mächtige Kugel begreife, die in ihr aufsteigt, für Augenblicke an den Rand ihres Bewußtseins tritt, mit milder Wärme strahlt, dann wieder im großen Umkreis ihres Wesens verschwindet, aber fortwirkend, bahnbestimmend wie ein Stern, den wir nur aus seiner Wirkung auf andere erschließen können. Bin ich ihr Vater geworden? Machtvorbild ihrer Kindheit, das sie in meiner Hingabe überwindet und besiegt. Ist ihre Liebe jetzt Triumph? Jubelschrei der Freiheit, Rausch des Kongosohns, der das Szepter des Alten ergreift? Oder bin ich würdig wie der Vater, Vorbild und Sicherheit wie er, und gilt der Wunsch, ein Kind von mir zu haben dem Schutz der hegenden Umsicht des Mächtigen? Ich fühle, daß Entscheidung sich ballt, daß Unabwendbares heranreift, daß ich nicht ausweichen darf, ohne alles zu verlieren. Wie hasse ich diese Endgültigkeit! Zwang soll aufs neue auf mich ausgeübt werden, meine Freiheit soll ich wieder hingeben, opfern. Wozu? Damit sie ruhig ist, damit sie sich endgültig bestätigt fühlt, damit ihre Ungewißheit vorüber ist und ihre Freiheit beginnen kann, aufgerichtet auf meinem Dienst. Ich entziehe mich und stehe auf.

Mariquitas gekränkten Blick fühle ich im Rücken. «Du willst von mir fort», höre ich. Ich weiß nicht, ob sie es wirklich gesagt hat. «Ich suche mir eine Prise Koks», lüge ich laut zurück. Wie entschuldigend das klingt. «Ich glaubte, du nimmst nichts mehr?» «Heute doch.» «Dort oben im Schrank.» Ich schnupfe. Kälte läßt mein Gehirn erstarren. Dann kommt die warme Blutwelle und reißt mich fort. Wegschwemmen! «Bring mir auch.» Nebeneinander gelagert sausen wir auseinander wie Sterne, deren Bahn sich tödlich nah gestreift. Die Zeit steht still und lauscht. Leises Knistern in den Wänden. Wir warten auf einen, der die Treppe heraufkommt. Sein Klopfen wird uns wie Donner treffen. Aber nichts zerschlägt die Spannung. Um uns tost der Raum. –

Ich muß um die Mutter werben. Ich trete in einen Blumenladen, halte das Bouquet in der Hand. Wie seltsam, daß es Orchideen sind. Meine Toilette war besonders sorgfältig. – Vorsichtig wie ein Freier klopfe ich jedes Stäubchen vom Rock. Was will ich denn? Was steckt hinter dieser Eitelkeit, sich wie ein Pfau radschlagend zu präsentieren? Brillantring, Krawattennadel, kurz: der wohlhabende junge Mann aus gutem Haus. Ein angenehmer Mensch. Und intelligent – das für den Vater. Wohin soll mir der gute Eindruck, den ich schinde, weiterhelfen? Sollen die Leute denken, daß ich eine gute Partie wäre? Aber sie wissen doch, daß ich verheiratet bin. Glücklich natürlich, denn in das Haus einer schlechten Ehe schickt man doch ein junges Mädchen nicht. Wozu also? Über mein Betragen bin ich selber ratlos. Aber die Witterung sagt mir, daß ich mich so verhalten muß. Korrektheit ist auf jeden Fall die ungefährlichste Maske. Was will ich denn?

Die Straßenbahn, die mich in den Vorort bringt, rüttelt zum Erbarmen. Ich habe mich nicht hingesetzt, um meine Bügelfalten nicht zu beeinträchtigen. An meinem linken Arm pendelnd, baumle ich auf der Plattform. Das Seidenpapier mit den Orchideen raschelt ängstlich an meiner Brust. Die Straße, durch die wir in langen, unregelmäßigen Sprüngen schnellen, ist abscheulich. Vom Gürtel zieht sie sich wie eine Kegelbahn zur Kirche hin. Man hat Lust, mit einem wohlgezielten Kugelwurf die Spielzeugtürme am Ende wegzufegen. Die fliehenden Häuserzeilen liegen rissig im Licht. Gestalten, grau wie abgebröckelte Mörtelklumpen, hatschen über das Steckerlpflaster. – Wien ist ein Klumpen von Kleinstädten, die um den Stephan als ihrem Kristallisationspunkt angeschossen sind; die kleinen, spitzen, knorpeligen Steine seines Straßenbelages drohn dir mit Gehirnerschütterung. – Kreisler und Hausbesorger stehn in den Ladentüren, mit den Augen den Gang einer Dame verschlingend, die dann und wann vorübergeht, selbstverliebte Unbesorgtheit ausstrahlend.

Wien ist die Stadt der Flickschneider und der verwöhnten Frauen. Ihr weicher, liebenswürdiger Egoismus ist Gesetz; die Frauen halten sich für begehrenswert und werden es damit – weit über ihre Jugend hinaus. Diese Stadt ist für die Frau. Voller Luxus und Tand, mit Schlamperei in den Winkeln, wie Boudoir und Schubladen einer mondänen Dame.

An einer Kreuzung steige ich um. Schönbrunn taucht plötzlich aus der Tiefe. Am Horizont funkelt der prunkende Portikus der Gloriette – ein Weg ins Leere. Vorstadtplätze – ausgeweidete öde Flächen, einstöckige Häuser säumen im Wechsel den Weg –. Endlich, ein Straßendreieck – aussteigen. Meine Uhr zeigt vier. Ich bin zu früh, trete in ein Kaffeehaus. Der Mokka regt mich auf. Ich gerate in Schweiß. Weder das tägliche Gemetzel in Ungarn noch der mondäne Welttratsch vermögen mich abzulenken. Selbst der Börsenbericht versagt. Die Frankenspekulation hat Schiffbruch erlitten. Ein bankrotter Spekulant vergiftet sich mit Veronal, ein Oberst a. D. erschießt sich, ein Konzipient geht ins Wasser; Näherinnen und Private nehmen den Gasschlauch in den Mund. Trotz aller Hoffnungen der Verdiener, die nicht arbeiten wollen, ist der französische Franken plötzlich gestiegen; rudelweis werden die Opfer zermalmt. Der Moloch schlingt sie mechanisch und ohne viel Aufhebens hinunter. Sachlich korrekt, selbst ohne Grimasse.

Unterschleife in Staatsbetrieben. Die Betrüger werden gesucht; eine Aufgabe für mich. Keine dieser Sensationen in Fettdruck haftet. Vor meinen Augen rollt ein anderer Film: Interieur, Familie, Mariquitas Mutter, ihr Vater, Irene, sie. Die Scheibe ihrer Umwelt rotiert langsam, stereoskopisch überdeutlich an mir vorüber.

Hier ist sie, ihr Ursprung, ihr Wesen verschmolzen aus Gleichheit, Aneignung und Abneigung zu dieser Sphäre; der Mittelpunkt, aus welchem exzentrisch Protest sie schleudert, die Ladung, die in ihren Explosionen sich ausspritzt; der Kern, wohin sie nach jedem Exzeß automatisch zurückfällt. Die Tage mit mir sind ihr rasende Verschwendung. Beginnt sie zu ermatten? Zieht sie mich deshalb an das Sammelbecken ihrer Kräfte heran?

Und ich, was suche ich dort in ihrem Elternhause? Die wirkliche Breite ihres Wesens, von der mir nur ein schmaler Ausschnitt in unsern Stunden sich darbietet. Nur eine einzige Nacht habe ich mit ihr verbracht – und das in der Entrückung des Geistes und unter dem Angstpochen der andern, verzweifelt Harrenden? Will ich sehen, um mich zu befreien? Illusion durch Milieu bekämpfen? Drohend Bindung spüren, um loszukommen? Die Pest der Alltäglichkeit erleben, um zu fliehen? Ich komme zu keiner Klarheit. Neugier flackert. Ich lege Geld aufs Blech des Wasserbretts, streiche den Häusern entlang, Nummern zählend. Das Eckhaus hier. Zahnarzt. Stimmt schon. Eine Vorstadtpraxis. Zwanzig Prozent der Patienten kommen nach dem ersten Mal nicht wieder, drücken sich um das Honorar. Man muß Vorschuß nehmen in der ungefähren Preishöhe von Material und Arbeit.

Ein weites Hoftor, der Hauseingang kitschig im Loggiastil, Mädchen mit Füllhörnern in der Milchglasscheibe des Treppenhauses. Wie man sich um 1890 die Renaissance vorgestellt hat, Ringpracht, dividiert durch Vorortmiete. Die Küche mit vergittertem Fenster nach dem Gang, daneben die Klingel. Geschirr klappert, Türen gehn. Ich überzeuge mich – die Sprechstunde ist vorüber. Meine Hand ist schwer, Flucht wäre das Beste. Hier heimisch werden – unmöglich. Zögern. Entscheidung, bleischwer, füllt den Raum. Ein Klingelzeichen, und ich bin verfallen.

Zurück! Auf Fußspitzen, schwankend, schleiche ich an der Küche vorüber, schon knarrt die oberste Treppenstufe unter meiner Last. Da stockt mit einemmal das Geräusch in der Küche. Ich fühle, wie mich Augen verfolgen, dann Schritte von innen gegen die Tür. Ihre Flügel öffnen sich, Mariquita erscheint im Rahmen. Ich bin gefangen.

«Ich wußte nicht, ich suchte», stotterte ich, zu ihr in den Vorraum tretend. «Vergiß nicht, Sie zu sagen», raunt sie mir zu, während eine Dame auf mich zukommt, blond, zierlich, weich, in Weiß. «Gnädige Frau.» «Wir freuen uns, Sie endlich kennenzulernen. Sie waren so lieb, meine Tochter in Ihr Haus einzuladen.»

Linkisch aus dem Mantelärmel fahrend, überreiche ich ihr das Bouquet. Man nötigt mich in den Salon. Plüsch durch unechtes Biedermeier gemildert. Japanische Schreibtischchen. Mariquitas Mutter auf dem Sofa, kokette Löckchen in die sorgfältige Frisur zurückstreichend, die kleinen, in tief ausgeschnittenen Halbschuhen steckenden Füße übereinandergeschlagen. Mariquita neben ihr, auch sie in Weiß. Aus den Opanken (einem Geschenk von mir) glitzert der beigefarbene Seidenstrumpf. Toller Drang überfällt mich, diese Füße zu küssen, die stumpfen, kleinen, spielenden Zehen, die unter dem Ziegenleder sich regen, nervös verlangend vor dem Anhauch meiner Nähe. Alle Vernunft muß ich zusammenraffen, um nicht plötzlich diese Füßchen zu packen, auf meine Knie zu legen wie sonst. Ihre Sprache streichelt und lockt. Aber Mariquitas Gesicht ist glatt und wolkenlos wie ein Buddha-Antlitz, aufkeimend aus dem Lotos ihrer bauschigen Gewandblätter.

Sie schauspielert das Kind, liebenswürdig, voller unterwürfigen Eigensinns, Schmeichelkätzchen und Trotzkopf, Illustrationen eines Backfischbuches. Spielt sie denn? Kaum. Diesseits der Komödie aus hegender Umwelt des Elternhauses raunzt das verwöhnte Kind in ihr, das Haustöchterchen, Vaters Töchterchen. Natürliches Theater, Familie.

Ein unschuldiges Teufelchen, äugt sie auf dem Polster. Kapriziös, leicht affektiert die Worte dehnend, eingehüllt in die Sicherheit des Mißverständnisses: Kindchen.

Ist eine Frau nicht so, wie man sie sieht? Ist sie nicht wirklich der verwegene Backfisch, unschuldig in aller Lüsternheit, eigensinnig aus mangelndem Zielwillen, tastend kokett ohne Hingabe, ohne Hörigkeit der Leidenschaft? Schauspielert sie nicht in meinen Armen? Ist ihre Leidenschaft nicht nur Laune? Echtheit hier, im Familienkreis? Unsicherheit überfällt mich. Ihre spielenden Zehen regen mich auf. Ich erzähle drauf los, Gier überschlägt sich in geistreiche Schmeichelei. Huldigungen, ich weiß nicht an wen, die Mutter wärmend, von der Hexe Mariquita belächelt. Sie durchschaut meine Ratlosigkeit, überwacht mich spöttisch. Für einen Augenblick rauscht die Mutter hinaus; ich bohre mich in ihren weichen, bogigen Blick. «Du gefällst Mama.» Ein Sticheln soll es sein, aber der Unterton ist Stolz. Ich bin neben ihr. Presse meine Lippen auf ihren Mund. Sie wehrt ab: «Nicht. Vorsicht.» Sie drängt mich auf meinen Platz zurück.

Die Mutter ist in der Tür; hinter ihr nickt Irene mit dem Teebrett. «Guten Tag, Herr Moenboom.» «Küß die Hand, gnädiges Fräulein.» Die Tasse klirrt in meiner Rechten. Der Vater plötzlich vor mir aus dem Nebenzimmer. Nickt den Frauen zu, schüttelt mir die Hand. «Sehr erfreut.» Höfliche Fragen. «Sind Sie beruflich in Wien?» «Halb und halb.» «Sie kennen sich schon aus?» «Ein bißchen . . . ja, herrliche Stadt.» «Die Lebensluft Schuberts (Hommages aux belles Viennoises).» Pause. Das war doch etwas danebengegriffen. «Sie lieben Musik? Sie haben selbst Klavier gespielt? Orgel sogar? Warum tun Sie es nicht mehr?» «Man muß sich beschränken.» «Ihre Tätigkeit ist außerordentlich interessant. Auch medizinische Resultate sind denkbar.» «Sie bestehen schon.» «Halten Sie hier einen Vortrag?» «Vielleicht. Etwas Briefliches schwebt. Gerade heut früh ist man an mich gelangt. Eine Betrugsaffäre.» Bewegung. «Ich bin zur Verschwiegenheit verpflichtet.» «Natürlich.» Der Vater streicht sich den Bart, Mariquita reicht ihm die Doboschtorte. Er nimmt ihre Linke zwischen seine Tatzen. Im Grunde hat sie leichtes Spiel. Die Art, wie sie die Teetasse ergreift, den kleinen Finger balancierend ausgestreckt, wie sie das Täschchen öffnet und nach dem Taschentuch sucht, jede unscheinbarste Gebärde ist dem Milieu angepaßt.

Welch unendliche Kunst des Instinkts – zu beruhigen, zu vertuschen, harmlos zu erscheinen, jenes Parfüm unverbindlicher Zärtlichkeit um sich zu erwecken, das ihre wollüstige Trägheit fordert. Sie berückt mit der Gabe, sich verwöhnen zu lassen. Ohne daß er es merkt, ist ihr Vater ihr eifersüchtiger Sklave.

Ich wende mich der Mutter zu, streichle ihr Zärtlichkeitsbedürfnis mit Bewunderung, während Irene, sich in ein geschäftiges Mißtrauen flüchtend, auf und ab geht. Mariquita streift mich kaum mit einem Blick; nur die unruhigen Knie verraten mir Spannung.

Die Teestunde schleppt sich unendlich fort. Mit hingeworfenen Fragen drängt mich Mariquita an den Vater hin. Er scheint gefesselt, rückt näher. Sie strahlt über den interessanten und gescheiten Freund. Ich erwärme mich am Interesse des Vaters, frage, gehe auf ihn ein. Meine Anteilnahme ist aufrichtig. Ich nehme die Partei dieses Mannes, dieses Dieners weiblicher Lenkerinnen, verführt zu ewiger Fron. Unwissendes Opfer diplomatischer Genußsucht, atmet er mit einem Male Wertschätzung, Anerkennung des jüngern Mannes. Sein Herz geht auf. Er kommt ins Erzählen. Die Gefangenschaft, Rußland, sein Beruf.

Die Damen haben sich wie zufällig entfernt. «Eine Frage, jetzt, wo wir allein sind. Wie beurteilen Sie die Schrift meiner Tochter?»

Eine Falle? Kaum. Ausbruch. Ratlosigkeit des Eifersüchtigen, des Betrogenen, der keinen Beweis in Händen hat. Sein Bart zittert. Ich wäge ab.

«Eine Künstlerin, Herr Doktor.» Er nickt ungeduldig. «Sie müssen mehr sehn.» Mit einem leichten Unterton von Mißtrauen: hast du ein Interesse daran, sie zu decken?

Mir fällt auf, daß die Handrücken des Mannes stark behaart sind; ich weiß: eifersüchtige Treue. Die Haut der Innenfläche ist spröd und trocken wie bei Leidenschaftlichen. Er scheint in Erwartung. Dreht den Siegelring. Ein Stück Wahrheit ist nötig, um mich nicht zu verraten. «Ein leicht hysteroider Einschlag von mütterlicher Seite», füge ich zögernd hinzu. Die scheinbare Unbefangenheit entspannt ihn. «Unleugbar, mir scheint.» Er lehnt sich im Stuhl zurück. «Wie sprunghaft sie ist. Ich bin oft ratlos ihr gegenüber.» Seine Stirn kraust sich. Befürchtungen. «Sie ist ein gutes Kind», übertäubt er sein inneres Wissen.

«Als Künstlerin ist sie sehr persönlich», lenke ich ab. «Ich verstehe nicht, aus welcher Welt das Kind schöpft.» «Ihre Tochter hat Erfolg, wie ich höre. In dieser Zeit drei Bilder zu verkaufen, ist ungewöhnlich.» «Sie hat mir das Geld zum Aufheben gegeben.» Er betrachtet seine Nägel. Seine Fingerspitzen sind angeätzt. Fragende Leere. Mutter und Tochter rauschen fast gleichzeitig herein und erfüllen den Raum. Ich erhebe mich zum Abschied. Handküsse, die Eltern geleiten mich hinaus. Mariquita will mich bis zur Straßenbahn begleiten.

Schweigend gehn wir nebeneinander. Zu fremd, zu mächtig noch geht diese Welt in mir um. Worte finde ich nicht. Sie ist nervös, betrachtet mich von der Seite. «Die Eltern sind so lieb zu mir», wischt sie hin, trotzig, vielleicht aus schlechtem Gewissen. Dann herausfordernd: «Mama ist sehr entzückt von dir.» «Dein Vater gefällt mir sehr. Ein guter Mensch.» Meine Stimme ist heiser wie im Streit.

«Es ist furchtbar», bricht sie los. «Immer betrügen, wo sie es so gut meinen. Immer lügen. Ich halte es nicht mehr aus.» «Aber Mariquita», wehre ich ab, «es ist doch nicht das erstemal . . . Jener junge Kaufmann hat doch auch bei dir zu Hause verkehrt.» «Ich halte es nicht mehr aus, mein Vater erschießt sich, wenn er wüßte . . .» «Bist du sicher, daß er nichts . . .?» Sie stoppt den Schritt. «Was hat er mit dir gesprochen?» «Nichts, Unsinn.» «Sei aufrichtig, du verheimlichst mir etwas.» «Nichts.» «Doch. Du liebst mich nicht mehr.» «Mariquita!» «So red schon.» «Er ist eifersüchtig auf dich, er mißtraut dir vielleicht, aber er merkt es selber nicht.» «Und?» «Nichts, mein Gott. Innerlich kennt er dich gar nicht so schlecht, aber seine Liebe macht ihn schwach.»

«Er hat dich gewonnen, du ergreifst seine Partei gegen mich.» «Ich verstehe ihn vielleicht.» «So seid ihr Männer. Verbündete gegen die Frau, und wenn ihr euch zehnmal hintergeht.»

«Es ist wohl etwas anderes, was uns zusammenführt.» «Mm . . .?» «Leiden.»

Mariquita lachte grell und verstimmt. Drehorgelklänge überschwemmen uns plötzlich. Schaukeln fliegen. Wir straucheln über zerbeulten Grund. Töne, Lehmklumpen, Blechgefäße, Kinder und Hunde kollern durcheinander. Pülcher, die Sportmütze in der Stirn, ziehn eingehakt mit Mädchen. Rot brennt eine Bluse aus dem Wirbel. «Die Vorstadtwiese?» Mariquita nickt. «Plattenbrüder und Dirnen», sagt sie herausfordernd. «Das und die Judengasse in der Brigittenau sind meine Welt.»

«Zürnst du mir noch?» Sie überhört die Frage. Giftig stechen die kleinen elektrischen Birnen der Budenstraße in den Abend. Zeltbahnen knattern im Wind. Wir gehen nebeneinander, ohne uns zu streifen. Mariquita sagt etwas. Das Brausen verschlingt ihre Stimme.

«Hier.» Ich deute auf eine Bank vor einem blühenden Fliederbusch. Wir setzen uns schweigend. Gelber Wein steht vor uns auf ungehobeltem Tischbrett. Mariquita stürzt einen Becher hinunter. Zäh wie Öl läuft der Wein im schrägen Sonnenstrahl in die scharlachrote Wunde ihres Mundes. Ein ungeheures Mitleid schüttelt mich plötzlich. Ich habe sie gekränkt, sie, die Schutzlose, die Vertrauende, die oft Mißbrauchte. Sie hat meine Hand verloren, wieder fühlt sie sich stehngelassen.

Das Telephongespräch des jungen Kaufmanns fällt mir ein: «Schwein!» Bin ich nicht von ihr abgefallen? Jetzt betäubt sie sich am Wein. Ausgestoßene, Pack, wie das Rudel ängstlich – frech. Wie ich, wie du, wie alle.

Saufen, vergessen. «Kellner, Wein.» Wieder beginnt die Orgel. Verdis Aida. Strahlende Siegesfanfare zerquetscht, als sänge sie einer mit zugekniffener Nase. «Wird in dieser Oper nicht ein Liebespaar lebendig begraben?» fragt Mariquita unvermittelt. «Ich weiß nicht recht, ich glaub schon», zögere ich. «Vielleicht nur die Frau?» Wir starren in den Horizont.

Feuchtigkeit trifft uns mit eins wie Regen. «Ich muß nach Hause», schreckt sie auf. «Willst du nicht hier bleiben?» Ich, bittend: «Mariquita.» Sie hüllt sich selbst ins Cape, meine Hilfe kommt zu spät. Wir gehn zurück. «Nicht bis vors Haus mitgehn.» Sie reicht mir lahm die Hand.

«Morgen im Atelier», überrumple ich mit anscheinender Selbstverständlichkeit. «Es wird schwerlich gehn. Ich muß zu Toni», weicht sie aus. Blaß: «Grüß Gott.» «Wann?» flüstre ich verzweifelt. «Ruf an», sagt sie mit abgewandtem Gesicht – schon im Wegeilen.


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