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Trauriger Landaufenthalt der Madame de Breyves

»An welcher Liebe, Ariadne, meine Schwester, verblutest Du Dich – doch an dem Gestade, wo man Dich verlassen hat?«

I

Françoise de Breyves schwankte an diesem Abend lange, ob sie zu der Soiree der Prinzessin Elisabeth von A. oder in die Oper oder in die Komödie von Livray gehen sollte.

Sie weilte bei Freunden zum Diner, man war schon seit einer Stunde vom Tisch aufgestanden, und sie mußte einen Entschluß fassen.

Ihre Freundin Geneviève, die mit ihr heimkehren sollte, bestand auf die Soiree bei Madame von A., während Frau von Breyves, ohne genau zu wissen warum, einen der beiden anderen Vorschläge vorgezogen hätte, oder selbst einen dritten, nämlich den, nach Hause zurückzukehren und schlafen zu gehen. Als man ihren Wagen meldete, hatte sie noch keinen Entschluß gefaßt.

»Wirklich«, sagte Geneviève, »du bist gar nicht nett; ich glaube, daß Reszke singen wird, und das würde mir Spaß machen. Man könnte meinen, es sei ein folgenschwerer Entschluß für dich, zu Elisabeth zu gehen. Übrigens will ich dir sagen, daß du in diesem Jahr noch bei keiner von ihren großen Gesellschaften warst, und das ist angesichts eurer vertrauten Beziehungen gar nicht lieb von dir.«

Françoise war nach dem Tode ihres Mannes mit zwanzig Jahren Witwe geworden – es war vier Jahre her –, und nun war sie unzertrennlich von ihrer Geneviève und liebte es sehr, ihr eine Freude zu bereiten. Nun widerstand sie nicht länger ihrer Bitte, nahm von den Gastgebern, von den anderen Gästen Abschied, die untröstlich waren, die Gesellschaft einer der begehrtesten Frauen von Paris so wenig genossen zu haben, und sagte zu ihrem Leibjäger:

»Zur Prinzessin von A.«

II

Die Soiree bei der Prinzessin war sehr langweilig. Plötzlich richtete Madame de Breyves an Geneviève die Frage:

»Wer ist denn der junge Mann, der dich zum Büfett geführt hat?«

»Es ist Herr von Laléande, den ich übrigens gar nicht näher kenne. Willst du, daß ich ihn dir vorstelle? Er hat mich darum gebeten, ich habe nur so obenhin geantwortet, denn er ist äußerst unbedeutend und langweilig, und da er dich sehr hübsch findet, würde er sich wie eine Klette an dich heften.«

»Nein, das gibt es nicht!« sagte Françoise. »Er ist übrigens nicht gerade der Schönste, recht banal, trotz seiner wirklich schönen Augen.«

»Du hast recht«, sagte Geneviéve. »Und dann wirst du ihm oft begegnen, und es könnte dir lästig werden, wenn du mit ihm bekannt wärest.« Sie fügte scherzend hinzu: »Wenn du also jetzt seine nähere Bekanntschaft ablehnst, verlierst du eine fabelhafte Gelegenheit.«

»Ja, eine fabelhafte Gelegenheit«, sagte Françoise und dachte bereits an etwas anderes.

»Übrigens, trotz alledem«, sagte Geneviève, die es zweifellos schon bereute, eine so ungetreue Botin gewesen zu sein und ohne Notwendigkeit den jungen Mann eines Vergnügens beraubt zu haben, »es ist eine der letzten Soireen der Saison, es ist weiter keine große Angelegenheit, ihn kennenzulernen, und es wäre sogar liebenswürdiger.«

»Einverstanden, wenn er hier vorbeikommt.«

Er kam nicht vorbei. Er stand am anderen Ende des Salons ihnen gerade gegenüber.

»Wir müssen gehen«, sagte Geneviève bald.

»Noch einen Augenblick«, sagte Françoise.

Und aus Laune, vor allem aus Koketterie gegen diesen jungen Mann, der sie wirklich sehr hübsch finden mußte, begann sie, ihren Blick ein wenig länger auf ihn zu heften, dann blickte sie fort und sah ihn von neuem an. In diesem Blick legte sie mit Absicht, sie wußte nicht warum, viel Zärtlichkeit, grundlos oder rein zum Vergnügen, aus dem Vergnügen heraus, wohlzutun, oder ein wenig aus Stolz und ein wenig deshalb, weil es unnütz war, so wie es Leuten Spaß macht, ihren Namen in einen Baum zu schnitzen, damit ihn ein Spaziergänger erblicke, den sie nie sehen werden, oder einfach so, wie man eine Flasche ins Meer wirft. Die Zeit verging, es war bereits spät. Herr von Laléande wandte seine Schritte zur Tür, die offen blieb, nachdem er gegangen war, und Madame de Breyves sah, wie er im Vorraum seinen Garderobenschein vorwies.

»Du hast recht, es ist Zeit, zu gehen«, sagte sie zu Geneviève.

Sie erhoben sich. Aber durch einen Zufall hatte ein Freund irgend etwas ihrer Geneviève zu sagen, nun sah sich Françoise allein in der Garderobe. Anwesend war bloß Herr von Laléande, der seinen Stock nicht finden konnte. Françoise belustigte es noch ein letztes Mal, ihn anzusehen. Er kam an ihr vorbei, streifte zart ihren Ellenbogen mit dem seinen und flüsterte, als er ihr ganz nahe war, während er tat, als ob er weitersuchte, und seine Augen glänzten:

»Kommen Sie zu mir, Rue Royale 5.«

Sie war so wenig darauf vorbereitet, und andererseits schien Herr von Laléande jetzt so vertieft in das Suchen seines Stockes, daß sie in der Folgezeit niemals ganz genau wußte, ob das nicht eine Halluzination gewesen war. Vor allem empfand sie eine außerordentliche Angst. In diesem Augenblick kam der Fürst von A. vorbei, sie rief ihn zu sich, wollte eine Verabredung mit ihm treffen, am nächsten Tag einen Spaziergang mit ihm zu unternehmen, und schwätzte ohne Unterlaß. Während dieser Konversation hatte sich Herr von Laléande entfernt. Geneviève erschien unmittelbar darauf, und die beiden Freundinnen gingen. Madame de Breyves erzählte nichts, sie blieb verletzt und geschmeichelt, aber nicht eigentlich sehr ergriffen. In den nächsten zwei Tagen dachte sie hin und wieder daran zurück, schließlich zweifelte sie an der Wirklichkeit der Worte des Herrn von Laléande, und sie versuchte sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, konnte es eigentlich nicht, glaubte, sie hätte die Worte nur wie im Traum gehört, und die Berührung ihres Ellenbogens sei nur zufälliges Ungeschick gewesen. Weiterhin dachte sie nicht spontan an Herrn von Laléande, und wenn sie zufällig seinen Namen nennen hörte, mußte sie sich eilig seiner Züge entsinnen und hatte ganz und gar diese Halluzination mit Fragezeichen in der Garderobe vergessen.

Sie sah ihn wieder in der letzten Soiree dieses Jahres, es war Ende Juni, sie wagte nicht darum zu bitten, man möge ihn ihr vorstellen, und doch, obwohl sie ihn fast häßlich fand und wußte, er sei alles eher als intelligent, hätte sie ihn ganz gern kennengelernt. Sie kam zu Geneviève und sagte ihr:

»Du kannst mir trotz allem Herrn von Laléande vorstellen. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen. Aber sage nicht, daß ich darum gebeten habe. Das würde mich zu sehr verpflichten.«

»Sofort, wenn wir ihn zu Gesicht bekommen, er ist augenblicklich nicht hier.«

»Nun gut, suche ihn.«

»Er ist vielleicht schon fort.«

»Aber nein«, sagte sehr schnell Françoise, »er kann doch nicht fort sein, es ist noch früh. Ach, schon Mitternacht! Sieh mal, meine kleine Geneviève, das ist ja doch nicht schwierig. An dem Abend damals, da wolltest du. Heute bitte ich dich, es ist wichtig für mich.«

Geneviève betrachtete sie leicht erstaunt und ging auf die Suche nach Herrn von Laléande. Er war fort.

»Du siehst, ich hatte recht«, sagte Geneviève, als sie zu Françoise zurückkam.

»Ich langweile mich hier zu Tode«, sagte Françoise, »ich habe Kopfschmerzen, ich bitte dich, laß uns sofort gehen.«

III

Françoise versäumte kein einziges Mal mehr die Oper, sie nahm mit einer geheimen Hoffnung alle Einladungen zu Diners an. Vierzehn Tage vergingen so, sie hatte Herrn von Laléande nicht wiedergesehen, oft erwachte sie nachts und dachte an die Möglichkeiten, ihn wieder zu treffen. Sie mochte sich immerhin wiederholen, er sei langweilig und nicht der Schönste, sie blieb doch mehr von ihm eingenommen als von allen Menschen, wenn sie noch so geistvoll und bezaubernd waren. Die Saison näherte sich ihrem Ende, es konnte sich keine Gelegenheit mehr bieten, ihn wiederzusehen, so war sie denn entschlossen, eine solche Gelegenheit zu schaffen, und suchte nur nach einem Wege.

Eines Abends sagte sie zu Geneviève:

»Hast du mir nicht einmal erzählt, daß du einen Herrn von Laléande kennst?«

»Jacques de Laléande? Ja und nein, er ist mir vorgestellt worden, hat aber nie Karten bei mir abgegeben, und ich stehe durchaus in keiner Verbindung mit ihm.«

»Nun will ich dir sagen, ich habe ein kleines Interesse, sogar ein nicht ganz kleines, und zwar aus Gründen, die nicht mich persönlich betreffen, und man wird es mir sicher nicht erlauben, dich vor Monatsfrist in diese Einzelheiten einzuweihen« (in diesem Zeitraum wollte sie mit ihm über eine Ausrede einig werden, um sich nicht zu verraten, und es bezauberte sie dieser Gedanke, mit ihm durch ein Geheimnis verbunden zu sein), »ein Interesse, seine Bekanntschaft zu machen und mich mit ihm zu treffen. Ich bitte dich, versuche, mir einen Weg zu bahnen, denn die Saison ist zu Ende, und ich sehe sonst keine Möglichkeit, mir ihn vorstellen zu lassen.«

Es gibt strenge Bräuche der Freundschaft, die sehr läuternd wirken, wenn sie aufrichtig eingehalten werden. Sie schützten in diesem Falle Geneviève ebenso wie Françoise vor der niedrigen Neugier, welche der Mehrzahl der Menschen ein scheußliches Vergnügen bereitet. So hatte denn Geneviève nicht einen einzigen Augenblick den Wunsch noch überhaupt einen Gedanken, ihre Freundin auszufragen. Sie machte sich mit ihrem ganzen Herzen an das Suchen, ihr einziger Schmerz war, nicht zu finden.

»Es trifft sich so schlecht, daß Frau von A. verreist ist. Wir hätten da noch Herrn von Grumello, aber nach alledem, was soll uns das nützen, was soll man ihm sagen? Ach, ich habe eine Idee! Herr von Laléande spielt Cello, schlecht genug, aber er spielt es. Herr von Grumello bewundert ihn, und dann ist er solch ein Dummkopf und wird froh sein, dir eine Freude zu bereiten. Die einzige Schwierigkeit ist die, daß du ihn dir bis jetzt immer vom Leibe gehalten hast und daß du nicht gern Leute von dir stößt, wenn du Dienste von ihnen genossen hast, die Schwierigkeit ist die, daß du dich nicht gern dazu verpflichten wirst, ihn im nächsten Jahre einzuladen.«

Aber schon rief Françoise rot vor Freude aus:

»Das ist mir ja ganz gleich. Wenn es sein muß, lade ich alle zweifelhaften Existenzen von Paris ein. Ach ja, mach schnell, meine kleine Geneviève! Du bist wirklich nett!«

Geneviève schrieb:

»Mein sehr verehrter Herr,

Sie wissen, wie gern ich jede Gelegenheit ergreife, meiner Freundin, Françoise von Breyves, ein Vergnügen zu bereiten. Sie kennen sie sicher bereits aus der Gesellschaft. Sie hat mir des öfteren, wenn wir von Violoncello sprachen, ihr Bedauern ausgedrückt, nie Herrn von Laléande gehört zu haben, der als Ihr guter Freund gilt. Möchten Sie ihn dahin bringen, daß er einmal für sie und für mich spielt? Jetzt, da man sich freier bewegt, macht ihm das sicher nicht viel Mühe. Es wäre wirklich reizend von Ihnen. In herzlichstem Gedenken

Ihre Alériouvre Buivres.«

»Tragen Sie diesen Brief sofort zu Herrn von Grumello«, sagte Françoise zu einem Diener, »warten Sie nicht auf Antwort, aber sehen Sie zu, daß er vor Ihren Augen übergeben wird.«

Am nächsten Tag ließ Geneviève Frau de Breyves folgende Antwort des Herrn von Grumello bringen:

»Sehr verehrte gnädige Frau,

es hätte mir mehr Vergnügen, als Sie sich denken können, bereitet, Ihnen und Frau von Breyves, die ich ein wenig kenne und für die ich die lebhafteste und ergebenste Sympathie empfinde, einen Wunsch zu erfüllen. Nun bin ich ganz verzweifelt, daß ein unglücklicher Zufall Herrn de Laleande gerade vor zwei Tagen nach Biarritz verreisen ließ, wo er, leider, auch mehrere Monate verbringen wird.

Nehmen Sie, gnädige Frau, usw. usw.
Grumello«

Françoise stürzte sich tief erblaßt zur Tür, um sie zu versperren, und es war höchste Zeit. Schon brach sich hemmungsloses Schluchzen wie eine Woge an ihren Lippen, und die Tränen flossen. Bis dahin hatte sie sich ganz ihrer Phantasie hingegeben, um sich einen Roman des Wiedersehens und Sichkennenlernens zu erfinden, sie hatte so fest darauf gebaut, diesen Roman zu verwirklichen, sobald sie nur wollte. Sie hatte ihr ganzes Leben aus dieser Begierde und aus dieser Hoffnung gesogen, vielleicht ohne sich Rechenschaft darüber zu geben; aber durch tausend unbeschreiblich feine Würzelchen, die bis in ihre unbewußten Augenblicke Glück oder Melancholie geträufelt hatten, war neuer Saft in ihre Adern gedrungen. Noch wußte sie nicht, woher diese Begierde kam; aber schon hatte sie feste Wurzel in ihr gefaßt. War es denn jetzt möglich, sie herauszureißen und alles wieder in den Abgrund des Unmöglichen zurückzuschleudern? Sie fühlte sich zerrissen und zerpflückt. Alles in ihr machte sie schrecklich leiden, alles war mit einem Male entwurzelt. Im hellsten Licht stand ihre Hoffnung plötzlich da als eitel Trug. Und an der Tiefe ihres Kummers erkannte sie die Wirklichkeit ihrer Liebe.

IV

Françoise zog sich mit jedem Tag mehr und mehr von allen Freuden des Lebens zurück. Sie konnte auch den stärksten Freuden, die sie sonst im innigen Verein mit ihrer Mutter oder mit Geneviève ausgekostet hatte, den Entzückungen ihrer musikalischen Stunden, ihrer Spaziergänge, ihrer Lektüre nur noch ein Herz darbieten, das von eifersüchtigem Kummer erfüllt war und nie mehr frei wurde. Unermeßliches Leid kam ihr aus der Unmöglichkeit, nach Biarritz zu gehen; aber wäre das auch möglich gewesen, so war sie doch felsenfest entschlossen, es nicht zu tun und sich nicht durch einen unsinnigen Schritt das ganze Prestige zu nehmen, das sie sonst in den Augen des Herrn von Laléande haben konnte. Sie war ein armes kleines Opfer der Qual, ohne daß sie wußte warum. Sie schauerte bei dem Gedanken, dieses Übel könne vielleicht noch Monate dauern, bevor das Heilmittel kam – und bis dahin keine Stunde ruhigen Schlafes und freier, aufgelöster Träumerei. Es beunruhigte sie, nicht zu wissen, ob er nicht doch früher nach Paris zurückkehrte, ohne daß sie es erfuhr. Die, Furcht, ein zweites Mal das Glück aus so großer Nähe zu verpassen, machte sie tollkühn; sie sandte einen Diener zum Concierge des Herrn von Laléande, um sich zu erkundigen. Er wußte nichts. Nun begriff sie, es sollte noch lange kein Hoffnungssegel auf dem glatten Horizont dieses kummervollen Meeres erscheinen, das Meer sollte sich ins Unbegrenzte erweitern (und nach diesem grenzenlosen Horizont schien ihr die Welt völlig zu Ende zu sein); aber sie fühlte dann nur noch heißer die Lust in sich zu tollen Unternehmungen. Sie wußte selbst nicht, zu welchen, vielleicht, ihm zu schreiben? Sie wurde ihr eigener Arzt und gestattete sich zur Beruhigung den Versuch, ihn wissen zu lassen, daß sie ihn hatte sehen wollen. Sie schrieb folgendes an Grumello:

»Sehr verehrter Herr,

Madame de Buivres macht mir Mitteilung von Ihrem freundlichen Gedenken. Ich bin ganz gerührt und dankbar! Nur ein Umstand macht mich unruhig: ob mich Herr von Laléande nicht indiskret gefunden hat? Wenn Sie es nicht wissen, fragen Sie ihn danach und antworten Sie mir, sobald Sie es wissen, ganz aufrichtig. Ich bin sehr gespannt darauf, und Sie machen mir eine Freude. Nochmals Dank, mein Herr. Mit der Versicherung meiner freundschaftlichen Gesinnung

Voragynes Breyves.«

Eine Stunde später brachte ihr ein Diener folgenden Brief:

»Beunruhigen Sie sich nicht, gnädige Frau, Herr von Laléande hat nicht gewußt, daß Sie ihn hören wollten. Ich habe ihn dieser Tage gefragt, ob er zu mir kommen könnte, um zu spielen, habe ihm aber nicht gesagt, auf wen diese Bitte zurückging. Er hat mir aus Biarritz geantwortet, er käme nicht vor Januar wieder. Danken Sie mir bitte nicht. Ich kenne keine größere Freude als die, Ihnen eine zu bereiten, usw.

Grumello.«

Es war nichts mehr zu machen. Sie tat auch nichts weiter, verdüsterte sich nur mehr und mehr. Dann litt sie unter Gewissensbissen, weil sie sich selbst und ihrer Mutter so grundlos das Leben schwermachte. Sie wollte einige Tage auf ihrem Gute bleiben und reiste dann nach Trouville ab. Hier hörte sie viel von den eleganten Ambitionen des Herrn von Laléande reden, und als ein Fürst sie ganz harmlos fragte: »Was könnte ich tun, um Ihnen eine Freude zu machen?« da wurde sie beinahe fröhlich, indem sie sich seine Verblüffung vorstellte, wenn sie ihm aufrichtig hätte antworten wollen. Sie sammelte die ganze sinnverwirrende Bitterkeit, um sie besser auszukosten, die Bitterkeit, die in der Ironie dieses Gegensatzes enthalten war: auf der einen Seite all die großen, schweren Anstrengungen, die man stets gemacht hatte, um ihr zu gefallen, und auf der andern Seite diese kinderleichte und dabei doch unmögliche Kleinigkeit, die ihr die Ruhe, ihr Glück und das Glück der Ihrigen hätte wiedergeben können. Wenn sie sich einmal ein wenig wohl fühlte, so war es nur im Kreise ihrer Dienstboten, die ihr eine unbegrenzte Ehrerbietung entgegenbrachten, die ihr dienten, ohne eine Bemerkung zu wagen, denn sie fühlten, wie traurig sie war. Ihr verehrendes und kummervolles Schweigen sprach ihr von Herrn von Laléande, sie hörte es mit Wollust, sie ließ sehr langsam das Déjeuner auftragen, um den Augenblick hinauszuzögern, da ihre Freundinnen kamen und sie sich unter ihnen bewegen mußte, denn sie wollte möglichst lange auf ihrer Zunge den Geschmack der bittersüßen Traurigkeit ihrer Umgebung behalten, deren Ursache er war. Es wäre ihr lieb gewesen, noch andere Wesen von ihm beherrscht zu wissen, es hätte sie erleichtert, zu fühlen, wie das, was ihr Herz ganz ausfüllte, auch ein wenig Raum außerhalb dieses Herzens faßte. Warum hatte sie nicht kraftvolle Naturen zu ihren Füßen, die an demselben Übel wie sie selbst dahinsiechten? In manchen Augenblicken der letzten Verzweiflung wollte sie ihm schreiben oder ihm schreiben lassen, sich entwürdigen, »es ging ihr nichts darüber«, und doch war es besser, besser gerade im Interesse ihrer Liebe, ihre stolze Stellung in der großen Welt zu wahren, denn diese Stellung konnte ihr eines Tages Autorität über ihn verschaffen, wenn dieser Tag überhaupt kam. Und wenn eine kurze Intimität mit ihm den Zauber zerriß, den er über sie geübt hatte – – (sie wollte und konnte es nicht glauben noch auch es sich in der Phantasie einen Augenblick lang vorstellen; aber ihre nur zu scharfsichtige Klugheit nahm diese grausame Schicksalsfügung wahr, trotz aller Verdunkelungsversuche ihres Herzens) – dann mußte sie ohne den geringsten Halt auf Erden zurückbleiben – nachher. Und selbst, wenn einmal eine andere Liebe noch auf diesem Boden wuchs, sollte sie dann auch die letzte Hilfsquelle verloren haben, die ihr wenigstens noch heute zur Verfügung stand, die gesellschaftliche Macht, die ihr bei einer Rückkehr nach Paris ein vertrautes Zusammensein mit Herrn von Laléande leicht ermöglichen konnte? Sie versuchte, ihre eigenen Empfindungen von sich zu scheiden und sie anzusehen wie einen fremden Gegenstand, den man prüft, und sagte zu sich: »Ich weiß, daß er mittelmäßig ist, und wußte es immer. Das ist mein Urteil über ihn, und es gibt keine andere Möglichkeit. Wohl ist seitdem alles ins Kreisen geraten, aber nichts kann dieses Urteil trüben, Mag es wenig sein, so ist es doch nur dies Wenige, wofür ich lebe. Ich lebe für Jacques de Laléande.« Kaum hatte sie seinen Namen ausgesprochen, als sie, durch eine diesmal unbewußte Gedankenverbindung und ohne Analyse, ihn vor sich sah, und in ihrem Innern empfand sie so viel Glück und so viel Leid, daß ihr bewußt wurde, daß die Kleinheit seiner Persönlichkeit kaum etwas ausmachte. Denn er war es, der die Saiten des Leids und der tiefsten Freude in ihr tönen ließ, während alles andere stumm war. Und mochte sie immer noch denken, daß bei näherem Sichkennenlernen all dies verblassen mußte, so gab sie doch dieser Luftspiegelung die ganze Wirklichkeit ihres Schmerzes und ihrer Wollust. Eine musikalische Folge aus den »Meistersingern«, die sie in der Soirée bei der Prinzessin von A. gehört hatte, besaß die eigene Kraft, ihr Herrn von Laléande mit der höchsten Deutlichkeit hervorzuzaubern (»Dem Vogel, der heut sang, dem war der Schnabel hold gewachsen«). Ohne es zu wollen, hatte sie daraus ein richtiges Leitmotiv für Herrn von Laléande gemacht, und als sie es einmal in Trouville im Konzert hörte, brach sie in Tränen aus. Von Zeit zu Zeit, nicht allzu oft, um sich nicht abzustumpfen, schloß sie sich in ihr Zimmer ein, wohin sie sich das Klavier hatte bringen lassen, sie begann diese Melodie zu spielen, schloß die Augen, um ihn besser zu sehen – das war der einzige Rausch der Freude, dem ein entzaubertes Ende folgen mußte, das Opium, ohne das sie nicht leben konnte. Manchmal hielt sie mitten im Spielen inne, um zuzuhören, wie ihr Leid dahinfloß, so wie man sich niederbeugt, um die zarte, nie verlöschende Klage einer Quelle zu belauschen, und sie sah die grausame Wahl vor sich: hier ihre künftige Schande und infolgedessen die Verzweiflung der Ihren, dort (wenn sie nicht nachgab) ihre ewige Traurigkeit. Sie verfluchte sich, allzu klug in ihrer Liebe Freud' und Leid gemischt zu haben, so daß sie sich von ihr weder wie von einem unerträglichen Gifte befreien noch auch in ihr Heilung finden konnte. Sie verfluchte vor allem ihre Augen, aber vielleicht noch mehr ihren abscheulichen Hang zur Koketterie und zur Neugier, der sie dazu gebracht hatte, diese Augen wie Blumen als Versuchungen vor diesem jungen Manne zu entfalten – nur dieser Hang hatte sie den Blicken des Herrn von Laléande ausgesetzt, die gleich Pfeilen treffsicher waren und deren unbesiegbarer Süße man viel schwerer widerstehen konnte als den Injektionen von Morphium. Sie verfluchte auch ihre Einbildungskraft, denn diese Einbildungskraft hatte die Liebe so zärtlich genährt, daß sich Françoise manchmal fragte, ob nicht bloß diese Einbildungskraft die Mutter dieser Liebe sei, die ihrerseits die Mutter quälte und sie tyrannisierte. Sie verfluchte auch ihre Feinheit, die sich so erfindungsreich, so gut und so schlecht tausend Romane ausgedacht hatte, um ihn wiederzusehen, und was hatte sie mehr an den Heros gefesselt als die immer wiederkehrende Enttäuschung des ewigen Nein? Und sie verfluchte ihre Güte und die Zärtlichkeit ihres Herzens, die, wenn sie sich einmal hingab, die Wonnen einer sträflichen Liebe mit Scham und mit Gewissensbissen vergiften mußten – und sie verfluchte ihren ungestümen Herrscherwillen, der so tollkühn sich aufbäumte, um Hindernisse zu überspringen, wenn ihre Begierde sie an die Grenze des Unmöglichen geführt hatte, der aber so schwach, so weich, so gebrochen war, nicht allein, wenn es hieß: »Du darfst nicht gehorchen«, sondern auch dann, wenn ein andres Gefühl die Zügel ergreifen wollte. Sie verfluchte endlich auch ihre Denkkraft unter allen ihren göttlichen Verkleidungen, diese höchste Gabe, die sie empfangen hatte und der sie (da man ihren echten Namen nicht weiß) alle Namen gegeben hatte als da sind: die Intuition des Dichters, die Ekstase des Gläubigen, das tiefe Gefühl der Natur und der Musik – denn dieses Denken war es gewesen, das vor ihre Liebe Gipfel gesetzt hatte und unbegrenzte Horizonte, dieser Verstand hatte ihre Liebe in das übernatürliche Licht seines Zaubers getaucht und hatte zum Entgelt, dieser Liebe ein wenig von seinem Eigentum geliehen, ihr Denken hatte Anteil an dieser Liebe genommen und sich solidarisch, mit ihr erklärt; sein allerreinstes und sein tief innerstes Leben hatte es mit dieser Liebe vereinigt. Dieses Denken hatte der Liebe, wie man einen Kirchenschatz einer Madonna weiht, alle die kostbaren Kleinode ihres Empfindens und Fühlens hingegeben. Sie hörte ihr Herz klagen in den Abendgesellschaften und auf dem Meere, dessen Melancholie die Schwester ihres Schmerzes wurde, des Schmerzes darüber, daß sie ihn nicht einmal hatte sehen können; sie verfluchte dieses unbeschreibbare Gefühl des Geheimnisvollen aller Dinge, wohin unser Geist sich stürzt, in ein Strahlengewitter der Schönheit, gleich der Sonne, die im Meere untersinkt. Denn dies Gefühl des Geheimnisvollen hatte ihre Liebe vertieft und der Wirklichkeit entrückt, ausgebreitet, grenzenlos gemacht – und doch hatte es ihr keine von den tausend Qualen erspart, denn (so sagt Baudelaire, wenn er von den Spätnachmittagen im Herbste spricht) »es gibt Empfindungen, deren Weite ihre brennende Intensität nicht ausschließt, und es gibt auf der ganzen Welt keine schärfere Spitze als die des Grenzenlosen«.

V

Und so verzehrte er sich vom grauenden
Morgen an auf dem Algengestrüpp
des Gestades, denn er bewahrte im
Grunde des Herzens wie einen Pfeil in
der Leber die brennende Wunde der
großen Kypris.

Theokrit: Der Zyklop

Ich habe in Trouville Madame de Breyves wiedergetroffen, die ich einst als glückliche Frau gekannt habe. Nichts kann sie heilen. Wenn sie Herrn von Laléande wegen seiner Schönheit oder wegen seines Geistes liebte, könnte man immer noch, um sie zu zerstreuen, einen geistreicheren oder schöneren Menschen suchen. Wäre es seine Güte oder seine Liebe zu ihr, die sie an ihn kettete, da könnte ein anderer versuchen, sie mit höherer Treue zu lieben. Aber Herr von Laléande ist weder schön noch klug, er hat nie Gelegenheit gehabt, ihr zu beweisen, ob er zärtlich sei oder hart, flatterhaft oder treu. So ist er es denn, den sie liebt, nicht seine Verdienste oder seine bezaubernden Eigenschaften, die man in ebenso hohem Grade auch bei andern finden könnte. Er ist es, den sie liebt – seiner Unvollkommenheit, seiner Mittelmäßigkeit zum Trotz. Ihre Bestimmung ist es, ihn zu lieben trotz allem. Dieses »ER«, war es ihr klar bewußt? Wußte sie, daß nur er einen solchen Zauber von Verzweiflung und von Glückseligkeit auszustrahlen die Kraft hatte, so überwältigend, daß ihr ganzes übriges Leben und die anderen Dinge dieser Welt verschwanden? Das schönste Gesicht, die eigenartigste Klugheit hätten nicht dieses unnachahmliche, geheimnisvolle Etwas besessen, das so einzig ist, daß niemals eine menschliche Erscheinung einen Doppelgänger wiederfindet im grenzenlosen Raum und in der Unermeßlichkeit der Zeit. Wäre nicht Geneviève de Buivres dagewesen, die sie in ihrer Unschuld zu Madame von A. geführt hatte, dann hätte sich dies alles nie begeben. Aber die Tatsachen greifen wie Glieder einer Kette ineinander, und zwischen ihnen bleibt ein Opfer eines Leidens ohne Heilmittel, denn hier versagt die Vernunft. Herr von Laléande, der zur Zeit auf dem Strand von Biarritz zweifellos sein Durchschnittsleben in seiner holden Gedankenlosigkeit spazierenführt, wäre sicherlich sehr erstaunt, wenn er von dieser anderen Existenz wüßte, einer Existenz von so wundersamer Kraft, daß sie sich alles andere untergeordnet, alles übrige vernichtet hat, was außer ihr noch in der Seele der Madame de Breyves gelebt hat, und diese Existenz ist ebenso von Dauer wie sein persönliches Dasein und kennzeichnet sich ebenso nach außen durch Handlungen, sie unterscheidet sich bloß durch ein viel schärferes Bewußtsein, das seltener aussetzt und über größeren Reichtum verfügt. Wie erstaunt wäre er doch, wüßte er, daß ihn Madame de Breyves, wo sie geht und steht, zum Leben aufruft (während er doch in seiner körperlichen Erscheinungsform kaum Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit ist), nun aber erscheint er mitten unter den genialsten Menschen, in den exklusivsten Salons, in Landschaften, die tief in sich selbst befriedet sind, und diese vielgeliebte und vielbewunderte Frau hat keinen Hauch von Zärtlichkeit, von Aufmerksamkeit für etwas anderes übrig als bloß für die Erinnerung an diesen Eindringling. Vor ihm verblaßt alles, als habe diese Erinnerung allein die unwiederbringliche Wirklichkeit eines lebenden Menschen und als seien die anwesenden Personen eitel Schatten, Gedankenbild und Erinnerung.

Ob nun Madame de Breyves mit einem Dichter spazierengeht oder bei einer Erzherzogin frühstückt, ob sie nun allein ist und liest oder ob sie mit ihrem besten Freund sich unterhält, ob sie zu Pferde sitzt oder ob sie schläft: der Name, das Bild von Herrn Laléande schwebt über ihr, köstlich und grausam, unentrinnbar, so wie der Himmel über unseren Häuptern. Sie, die Biarritz verabscheut, ist so weit gekommen, bei allem, was an diese Stadt erinnert, einen schmerzlichen und aufreizenden Zauber zu empfinden. Sie interessiert sich für die Leute, die dort sind, die ihn vielleicht einmal sehen werden, ohne es zu wissen, die vielleicht mit ihm leben werden, ohne daraus Genuß zu ziehen. Für diese Menschen ist sie voller Wohlwollen, sie wagt nicht, ihnen Aufträge zu geben, stellt bloß unaufhörlich Fragen an sie, und das einzige, worüber sie staunt, ist der Umstand, daß die Menschen aus dem Umkreis ihres Geheimnisses so viel hören, ohne daß es jemand entdeckt. Eine große Photographie von Biarritz ist der einzige Schmuck ihres Zimmers. Man sieht da verschiedene Spaziergänger, deren Züge man nicht unterscheiden kann; einem von ihnen leiht sie das Gesicht von Herrn von Laléande. Wenn sie wüßte, welche schlechten Musikstücke er liebte und spielt, dann würden die verachteten Romanzen zweifellos auf ihrem Klavier und bald auch in ihrem Herzen den Platz der Sonaten von Beethoven und den Rang der Dramen von Wagner einnehmen – durch eine sentimentale Erniedrigung ihres Geschmacks und kraft des Zaubers, den der Mann, von dem aller Schmerz und alle Freude kommt, über diese Musik ausstreut.

Sie hat einen Menschen bloß zwei- oder dreimal gesehen und jedesmal nur kurze Zeit, er hat einen so kleinen Platz in den äußeren Begebenheiten ihres Lebens inne, und doch hat sein Bild ihr ganzes Denken und ihr ganzes Herz ausgesaugt bis auf den letzten Rest, und dieses Bild trübt sich nun vor den ermüdeten Augen ihrer Erinnerung. Sie sieht ihn nicht mehr klar, sie kann sich seiner Züge, seiner Silhouette nicht mehr entsinnen, kaum mehr seiner Augen. Und doch ist dieses Bild alles, was sie noch von ihm besitzt, und es ist ihr fürchterlichster Gedanke, sie könnte es verlieren. Wohl quält sie ihre Begierde, aber sie ist ihr ein und alles im jetzigen Augenblick, sie ist ihre letzte Zuflucht, wohin sie sich ganz geborgen hat, und sie ist in diese Begierde verstrickt, wie man es ist in ein Gespräch, ja in das ganze Leben, mag es gut sein oder schlecht. Es ist ein fürchterlicher Gedanke, daß diese Begierde sich verflüchtigen könnte und nichts übrigbliebe als ein unangenehmes Nachgefühl eines traumhaften Leidens, ohne daß sie wüßte, von wem es kommt, wer es verursacht, und das Fürchterlichste wäre, ihn nicht einmal in Gedanken zu sehen, ihn nicht einmal in Gedanken liebkosen zu können. Aber jetzt ist das Bild des Herrn von Laléande zurückgekommen nach dieser plötzlichen Verwirrung des inneren Gesichts, Ihr Kummer kann wieder beginnen, das ist fast eine Freude.

Wie wird Madame de Breyves die Rückkehr nach Paris ertragen? Wenn er erst im Januar zurückkommt, was wird sie von jetzt bis dahin tun? Was wird sie, was wird er nachher tun?

Zwanzigmal wollte ich nach Biarritz reisen und Herrn von Laléande zurückführen. Die Folgen wären vielleicht fürchterlich geworden, aber ich kam nicht so weit, sie zu prüfen, sie gestattete es nicht. Aber es bringt mich zur Verzweiflung, zu sehen, wie ihre kleinen Schläfen bis zum Zerspringen von innen her von den gnadenlosen Hämmern dieser unerklärlichen Liebe geschlagen werden. Diese Liebe durchdringt ihr ganzes Leben mit dem Rhythmus der Angst. Oft stellt sie sich vor, er werde nach Trouville kommen, sich ihr nähern, ihr sagen, er liebe sie. Sie sieht ihn, ihre Augen leuchten. Er spricht zu ihr mit dieser weißen Traumstimme, die uns verhindert, an sie zu glauben, und zugleich zwingt, ihr zuzuhören. Es ist ER. Er sagt ihr diese Worte, die uns in Ekstase bringen, obgleich wir sie nur im Traume hören, wenn wir in ihnen mit der äußersten Zärtlichkeit das göttliche Lächeln gespiegelt sehen, unter dem die Geschicke zweier glaubender Menschen sich vereinigen. Aber sofort erweckt sie der klare Gedanke, daß die Wirklichkeit und ihre Begierde parallel laufen und. daß es ihnen ebenso unmöglich ist, sich zu vereinigen, wie einem Körper die Vereinigung mit dem Schatten, den er geworfen hat. So erinnerte sie sich der Minuten in der Garderobe, da sein Ellbogen ihren Ellbogen streifte, da er ihr diesen Körper anbot, den sie jetzt an den ihren hätte pressen können, wenn sie gewollt hätte, wenn sie gewußt hätte, was sie jetzt weiß – und der sich jetzt vielleicht auf ewig von ihr getrennt hat, und sie fühlt, wie die Schreie der Verzweiflung und der Revolte mitten durch sie hindurchgehen wie die, die man auf sinkenden Schiffen hört. Manchmal kommt es vor, daß sie beim Spaziergang über den Strand oder in den Wäldern eine sanfte Freude des Nachdenkens oder der Träumerei über sich kommen läßt oder wenigstens einen guten Duft, ein Stück Gesang, das die Brise herbeiträgt und verschleiert – wenn solch ein Augenblick sie milde umspielt und sie eine Sekunde lang ihr Unglück vergessen läßt –, dann fühlt sie plötzlich einen gewaltigen Schlag im Herzen, eine schmerzensreiche Wunde – und nun erscheint über den Wogen oder über den Blättern an dem verschwimmenden Horizont des Waldes oder des Meeres das undeutliche Bild ihres unsichtbaren und allgegenwärtigen Überwinders, wie es quer durch die Wolken entflieht, leuchtendenden Auges, nicht anders als an dem Tage, als es sich anbot, wie ER entschwindet, den Köcher noch in der Hand, aus dem er ihr eben den Pfeil zugesandt.

[Juli 1893]


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