Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Violante oder die Weltlichkeit

I

Gedankenvolle Kindheit der Violante

»Habt wenig Umgang mit jungen Leuten und mit Personen aus der großen Welt ... sehnt euch nicht danach, vor den Großen dieser Welt zu erscheinen.«

Nachfolge Christi 1, 8. V.

Die Gräfin von Steyer war eine vornehme und zärtliche Seele; ihr ganzes Wesen war durchdrungen von einer unbeschreiblich bezaubernden Anmut. Der Graf, ihr Herr Gemahl, war geistig außerordentlich lebhaft, und die Züge seines Gesichts mußte man in ihrer Regelmäßigkeit bewundern. Aber der erstbeste Grenadier von der Straße verfügte über mehr Zartgefühl und weniger Banalität. Diese Eltern erzogen nun fern von der Welt auf ihrem bäuerlichen Gute von Steyer ihre Tochter Violante, die, schön und voller Leben wie ihr Vater, warmherzig und geheimnisvoll berückend wie ihre Mutter, alle Eigenschaften ihrer Eltern in der vollendeten Harmonie ihres Wesens zu vereinen schien. Aber die wechselnden Wünsche ihres Herzens und ihrer Gedankenwelt begegneten in ihrer Seele keiner gleichstarken Willenskraft, und diese allein hätte sie sicher leiten können, ohne sie zu hemmen. Eine solche Willenskraft hätte verhindert, daß diese Regungen des Herzens und des Kopfes aus ihr nur ein charmantes und zerbrechliches Spielzeug machten. Dieser Mangel machte der Mutter Violantes viel Unruhe, die mit der Zeit hätte gute Früchte tragen können, wenn nicht die Gräfin durch einen Jagdunfall zugleich mit ihrem Gatten zugrunde gegangen wäre und Violante im Alter von fünfzehn Jahren als Waise zurückgelassen hätte. Nun lebte Violante fast allein, unter der zwar wachsamen, aber doch recht schwerfälligen Aufsicht des alten Augustin, der ihr Hofmeister und zugleich der Intendant des Schlosses von Steyer war. Violante, der die Freunde fehlten, machte aus ihren Träumen wundersame Gefährten, denen sie dann ihr ganzes Leben treu zu bleiben versprach. Sie führte sie denn auch spazieren in den Alleen des Parkes, ließ sie durch die Landschaft streifen und hieß sie sich mit den Ellbogen auf die Terrasse stützen, die als Abschluß des Gutes auf das Meer hinausging. Sie wurde von diesen Träumen wie über sich selbst herausgehoben, von ihnen in den geheimen Kreis eingeweiht, und so fühlte sie das Sichtbare in seiner ganzen Fülle und ahnte ein wenig das, was die irdischen Augen nicht sehen. Ihr Frohsinn kannte keine Grenzen, von Zeit zu Zeit schwebte Traurigkeit über sie hin und milderte die helle Freude in süße Wehmut.

II

Sinnenwelt

»Stützet euch ja nicht auf ein Rohr, das der Wind bewegt, noch auch bauet darauf; denn jegliches Fleisch ist wie die Pflanze, und sein Ruhm vergeht wie das Kraut der Felder.«

Nachfolge Christi

Außer Augustin und einigen Dorfkindern sah Violante keine Menschenseele. Nur eine jüngere Schwester ihrer Mutter, die in Jolianges (das Schloß war einige Stunden weit entfernt) wohnte, erschien manchmal, um Violante zu besuchen. Bei solcher Gelegenheit kam eines Tages einer ihrer Freunde mit. Er nannte sich Honoré und war sechzehn Jahre alt. Er hatte nicht das Glück, Violante zu gefallen, aber er kam wieder. Während er mit ihr durch eine Allee des Parkes promenierte, brachte er ihr höchst unanständige Dinge bei, über die sie noch sehr im unklaren gewesen war. Was sie dabei empfand, war sehr gut und angenehm, doch schämte sie sich dessen sofort. Später dann, als die Sonne schon untergegangen war und sie einen weiten Weg hinter sich hatten, nahmen sie auf einer Bank Platz, zweifelsohne nur, um den Widerschein des rosenroten Himmels im gesänftigten Meer zu betrachten. Honoré näherte sich Violante, und damit sie ja nicht unter der Kälte litte, knöpfte er den Umhang auf ihrem Halse mit einer raffinierten Langsamkeit fest und schlug ihr vor, mit seiner Hilfe die Theorien praktisch zu erproben, über die er ihr im Park Unterricht erteilt hatte. Er wollte ganz leise mit ihr sprechen und brachte seine Lippen dem Ohr des Mädchens, das sich nicht zurückzog, immer näher. Violante hörte ein Geräusch im Gebüsch.

»Aber es ist nichts«, sagte zärtlich Honoré.

»Meine Tante ist es«, sagte Violante; es war der Wind. Aber Violante hatte sich schon erhoben. Sehr im rechten Augenblick durch den Wind ernüchtert, wollte sie sich durchaus nicht wieder setzen und sagte Honoré trotz seiner Bitten Adieu.

Sie hatte Gewissensbisse, eine Nervenkrise, konnte zwei Tage lang schwer einschlafen. Ihre Erinnerung war ein glühendes Kopfkissen, das sie unablässig hin und her wendete. Zwei Tage nachher wollte Honoré sie sehen; sie ließ antworten, sie sei spazierengegangen. Honoré glaubte es nicht und wagte nicht wiederzukommen. Im nächsten Sommer dachte sie mit Zärtlichkeit an Honoré zurück, freilich auch mit Betrübnis, denn sie wußte, daß er als Matrose zu Schiff fortgereist war. Wenn die Sonne im Meer untergegangen war, saß sie auf der Bank, zu der er sie damals (es war gerade ein Jahr) hingeführt hatte, und gab sich alle Mühe, die suchenden Lippen Honorés in die Gegenwart zurückzurufen, seine grauen Augen zwischen den halb gesenkten Lidern, seine wie Strahlen umherirrenden Augen, die plötzlich über sie ein heißes, helles, lebensvolles Licht ausschütteten. Und in den milden Nächten, in den weiten, von aller Welt abgeschlossenen Nächten, wenn die Gewißheit, allein zu sein, ihr Verlangen ins Unermeßliche steigerte – da hörte sie Honorés Stimme, die ihr verbotene Dinge ins Ohr flüsterte. Er stand da, der Mittelpunkt des Zauberkreises, quälend und lockend gleich einer teuflischen Versuchung.

Eines Abends sagte sie seufzend beim Diner dem Intendanten, der ihr gegenübersaß:

»Ich bin sehr traurig, mein Augustin. – Niemand hat mich lieb« – fügte sie hinzu.

»Und doch«, erwiderte Augustin, »sind es keine acht Tage – es war, als ich in Jolianges die Bibliothek in Ordnung brachte –, da hörte ich von Ihnen sagen: ›Ach, ist die schön!‹«

»Und wer war es?« fragte Violante sehr betrübt. Ein zartes Lächeln kräuselte unmerkbar die Winkel ihrer Lippen, als versuchte man einen Vorhang zu lüften, um gutes Sonnenlicht hineinzulassen.

»Der junge Mann vom letzten Jahr, Herr Honoré.«

»Ich dachte, er sei auf See«, sagte Violante.

»Er ist zurück«, sagte Augustin.

Violante erhob sich sofort und ging mit sehr unsicheren Schritten in ihr Zimmer, um Honoré zu schreiben, er möge sie besuchen kommen. In dem Augenblick, als sie die Feder ergriff, hatte sie ein Gefühl von Glück, eine Empfindung von ungeahnter Macht. Sie fühlte tief im Innern, daß sie ihr Leben doch ein wenig nach ihrer Laune und ihrem Sinnenglück sich gestalten könne; daß sie dem Räderwerk ihrer beider Geschicke, das sie mechanisch fern voneinander einzuschließen schien, allem zum Trotz einen kleinen Stoß geben könne, daß er nachts erscheinen würde auf der Terrasse, ganz anders als in der schrecklichen Ekstase ihres nie gestillten Wunschtraumes. Daß seine unerwiderten Zärtlichkeiten (ihr ewiger innerer Roman) und die Wirklichkeit Straßen hatten, die sich trafen und auf denen man sich zum Unmöglichen emporschwingen konnte, und daß sie das Unmögliche möglich machen würde durch ihren Glauben.

Am nächsten Tage empfing sie eine Antwort, und sie las sie voll Zittern auf der Bank, wo er den Arm um sie gelegt hatte:

»Gnädiges Fräulein! Ich empfing Ihren Brief eine Stunde vor der Abfahrt meines Schiffes. Wir hatten Landurlaub nur auf acht Tage, und ich komme erst in vier Jahren zurück. Wollen Sie, bitte, nicht ganz vergessen Ihren Ihnen herzlich und aufrichtig ergebenen Honoré.«

Nun, im Angesicht dieser Terrasse, wohin er nie wieder kommen sollte und wo niemand ihre Sehnsucht erfüllen würde, angesichts dieses Meeres, das ihn ihr entführte und ihr dafür zum Entgelt (in der Phantasie dieses jungen Mädchens) ein wenig von seinem großartigen, geheimnisvollen und schaurigen Zauber gab (wie zauberhaft sind die Dinge, die uns nicht gehören, denn sie strahlen so viel vom Himmel wider und landen an so vielen Gestaden) – hier brach Violante in Tränen aus.

»Mein armer Augustin«, sagte sie abends, »mir ist ein großes Unglück widerfahren.« Der erste Wunsch nach Mitteilung entstand in ihr nach der ersten Enttäuschung ihrer Sinnlichkeit, genauso selbstverständlich, wie es gewöhnlich aus der ersten Befriedigung der Liebe entsteht. Noch kannte sie die Liebe nicht, aber kurze Zeit danach begann sie unter ihr zu leiden, und das ist die einzige Art, wie man sie im tiefsten Grunde kennenlernt.

III

Liebesschmerzen

Violante war verliebt, das will sagen, daß ein junger Engländer, der sich Laurence nannte, während einiger Monate der Gegenstand aller Gedanken war, keinen ausgenommen, und das Ziel ihrer wichtigsten Handlungen. Sie war einmal mit ihm auf die Jagd gegangen und konnte es nicht verstehen, warum die Sehnsucht, ihn wiederzusehen, ihre Gedanken beherrschte, sie auf die Straße trieb, wo sie hoffen konnte, ihm zu begegnen, den Schlaf von ihr fernhielt, ihre Ruhe und damit ihr Glück zerstörte. Violante war verliebt, sie wurde verschmäht. Laurence liebte die große Welt, und sie liebte ihn genug, um ihm dorthin zu folgen, aber Laurence hatte keinen Blick für diese Landschönheit von zwanzig Jahren. Sie wurde krank vor Kummer und Eifersucht und wollte Laurence in den Bädern von S. vergessen, aber sie blieb in ihrer Eigenliebe verletzt, weil man ihr so viele Frauen vorgezogen hatte, die nicht besser waren als sie, und war entschlossen, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

»Ich verlasse dich, mein guter Augustin«, sagte sie, »und gehe an den Hof von Österreich.«

»Das wolle Gott nicht«, sagte Augustin, »die Armen unserer Gegend hätten niemanden mehr, der sie tröstet, wenn Sie unter so vielen bösen Menschen weilten. Wollen Sie nicht mehr mit unseren Kindern in den Wäldern spielen? Wer soll die Orgel in der Kirche bedienen? Wir sollen Sie also nicht mehr in den Feldern malen sehen? Sie werden keine Lieder mehr erfinden?«

»Sorge dich nicht, Augustin«, sagte Violante, »wache mir treu über mein schönes Schloß und meine braven Leute von Steyer. Die Welt soll mir nur ein Mittel sein, sie bietet mir zwar banale, aber unbesiegliche Waffen, und wenn ich eines Tages geliebt sein will, muß ich sie besitzen. Mich stachelt eine Neugier und mehr als das, mich treibt eine Lebensnotwendigkeit dazu, ein äußerlich reicheres und weniger abgeklärtes Leben zu führen als hier. Es soll zugleich Ruhe sein und eine Schule für mich. Sobald ich mir meine Stellung geschaffen habe und meine Ferien zu Ende sind, will ich die große Welt verlassen und in die Felder zurückkehren zu unseren guten, einfachen Leuten und, was mir das Liebste ist, zu meinen Liedern. An einem bestimmten Tage, der nicht sehr fern ist, will ich auf der schiefen Ebene haltmachen und in unser Steyer zurückkehren und neben dir leben, mein Lieber.«

»Werden Sie das können?« fragte Augustin.

»Man kann, was man will«, sagte Violante.

»Sie werden aber dann nicht mehr das gleiche wollen«, sagte Augustin.

»Warum?« fragte Violante.

»Weil Sie sich wandeln werden«, sprach Augustin.

IV

Die Weltlust

Die Menschen in der großen Welt waren so mittelmäßig, daß Violante bloß da sein mußte, um sie fast alle in ihr Nichts zurückzustoßen. Die exklusivsten Aristokraten, die ungebärdigsten Künstler folgten ihrer Schleppe und brachten ihr ihre Huldigung entgegen. Wenn jemand Geist hatte, war sie es, sie hatte den feinsten Geschmack, die herrlichste Haltung und alles, was die unerhörte Vollendung ihrer Erscheinung zum Ausdruck brachte. Sie brachte Komödien in Mode, nicht anders als Parfüms und Toiletten. Die Schneiderinnen, die Literaten, die Friseure lagen auf den Knien vor ihr und bettelten um ihre Protektion. Die berühmteste Modistin Österreichs erbat sich den Titel ihrer Lieferantin, der allerberühmteste Prinz Europas erbat sich den Titel eines Geliebten. Sie hielt es für ihre Pflicht, beiden ihre Bitte abschlägig zu bescheiden, die, erfüllt, ihre Eleganz auf immer als das Vollkommenste in seiner Art bestätigt hätte. Unter den vielen jungen Leuten, die sich um den Eintritt in Violantes Salon heiß bewarben, zeichnete sich Laurence durch besonders dringendes Bemühen aus. Einmal hatte er ihr viel Kummer bereitet, man kann es verstehen, daß er ihr jetzt infolgedessen widerlich war. Er zeigte sich als niedriges Subjekt, und dieser Umstand trennte sie stärker als früher seine Geringschätzung. »Ich habe ja kein Recht, entrüstet zu sein«, sagte sie, »was ich an ihm geliebt habe, war eine große Seele. Dabei habe ich doch seine Gemeinheit stets gefühlt, ohne daß ich es mir zu gestehen wagte. Es hinderte mich nicht, ihn zu lieben, aber das Ideal einer hohen Seele stand mir dennoch vor Augen. Ich bildete mir ein, man könnte gemein sein und dabei doch liebenswert. Hat man aber einmal aufgehört, der Herzensstimme zu folgen, dann zieht man natürlich vornehme Naturen vor. Wie sonderbar war diese Leidenschaft für einen minderwertigen Menschen, die ganz vom Gehirn kam und die durch keine Verwirrung der Sinne entschuldigt werden konnte! Platonische Liebe wiegt nicht schwer.« Wir werden sehen, daß Violante wenig später zu der Überzeugung kam, daß die sinnliche Liebe noch leichter wiege.

Augustin kam zu Besuch und wollte sie zurückführen.

»Sie haben ein wahres Königreich erobert. Ist das nicht genug? Warum werden Sie nicht noch einmal die Violante von einst?«

»Ich hätte es schon erobert, Augustin? Nein, ich bin gerade dabei. Laß mir wenigstens noch ein paar Monate Zeit!«

Ein Ereignis, daß Augustin nicht hatte voraussehen können, entband Violante für einige Zeit der Verpflichtung, an die Heimreise zu denken. Sie hatte zwanzig allerhöchste Hoheiten, ebenso viele souveräne Prinzen und einen Mann von Genie zurückgewiesen, die alle um ihre Hand angehalten hatten, nun heiratete sie den Herzog von Böhmen, einen Mann der außerordentlichsten Anmut und Besitzer von fünf Millionen Dukaten. Am Abend der Hochzeit kam die Nachricht, Honoré sei zurückgekommen, und diese Nachricht hätte die Verbindung beinahe zum Scheitern gebracht. Aber ein Übel, das Honore befallen hatte, verunstaltete ihn, und seine Vertraulichkeiten ließen Violante nun schaudern. Sie weinte bittere Tränen über die Vergänglichkeit ihrer Wünsche und Begierden, die einst so feurig hingezogen worden waren zu der Jugendblüte eines Körpers, der jetzt in seiner Herrlichkeit und Kraft auf immer zerstört war. Die Herzogin von Böhmen fuhr fort zu bezaubern, wie es die Violante von Steyer getan. Das unermeßliche Besitztum des Herzogs war gerade gut genug, einen würdigen Rahmen um das einzigartige Kunstwerk zu bilden, das ihre Person darstellte. Aus einem Kunstwerk verwandelte sie sich in einen Luxusartikel, kraft jener nur zu natürlichen Neigung aller Dinge auf Erden, zum Geringeren herabzusinken, sobald der edle Aufschwung nicht ausreicht, ihren Schwerpunkt sozusagen über sich selbst zu erheben. Augustin konnte es nicht fassen, was er über sie hörte. Er schrieb ihr:

»Weshalb spricht die Herzogin ohne Unterlaß von Dingen, die einer Violante von Herzensgrund verhaßt waren?«

»Warum? Weil ich mit meinem eigenartigen Wesen nicht gefallen konnte, mochte es tausendmal über die andern erhaben sein, denn diese Eigenheiten waren denen, die in der großen Welt leben, unverständlich und antipathisch. Aber ich langweile mich, guter Augustin!«

Er kam, um sie zu besuchen, und erklärte ihr, warum sie sich langweile.

»Ihr Interesse für die Musik, für die Betrachtung, für das Wohltun, für die Einsamkeit, für das Leben auf dem Lande, all das ist bei Ihnen ausgeschaltet. Ihr einziges Lebensziel ist der Erfolg, Ihr einziger Halt das Vergnügen. Aber man findet das Glück nur darin, zu tun, was man liebt, und nur dort, wohin es den Menschen aus dem Herzensgrunde zieht.«

»Wie kannst du das wissen, der du doch nie gelebt hast?« fragte Violante.

»Ich habe nachgedacht, und darin besteht das Leben«, antwortete Augustin, »aber ich hoffe, daß auch Sie bald dieses inhaltsleere Leben satt haben werden.«

Violante langweilte sich mehr und mehr, heiter war sie nie mehr. Die tiefe Unsittlichkeit der Welt, die ihr bis jetzt gleichgültig gewesen war, warf ihren Schatten auf sie und verletzte sie schmerzlich, so wie die furchtbare Härte der Jahreszeiten einen Körper niederzwingen kann, dem eine Krankheit die Kraft zum Widerstand geraubt hat. Eines Tages ging sie allein in einer verlassenen Allee spazieren, da stieg aus einem Wagen, den sie nicht beachtet hatte, eine Frau und kam gerade auf sie los. Sie sprach sie an, fragte sie, ob sie Violante von Böhmen sei, und erzählte, sie sei die Freundin ihrer Mutter. Sie habe sich danach gesehnt, die kleine Violante wiederzusehen, die sie einst auf ihren Knien gehalten habe. Sie umarmte Violante sehr aufgeregt, nahm sie um die Taille und begann sie so stürmisch zu küssen, daß Violante, ohne Adieu zu sagen, sich in vollem Laufe retten mußte. Am nächsten Abend begab sich Violante zu einem Fest, das der Herzogin von Misène zu Ehren gegeben wurde. Dort erkannte sie in der Herzogin die furchtbare Dame vom Tage vorher. Eine vornehme alte Dame, die bis dahin hoch in Violantes Achtung gestanden hatte, fragte sie: »Wollen Sie, daß ich Sie der Herzogin von Misène vorstelle?«

»Nein«, sagte Violante.

»Wozu die Angst«, sagte die alte Witwe, »ich bin überzeugt, daß Sie ihr gefallen werden. Sie liebt junge Frauen ganz außerordentlich.«

Als Violante schied, hatte sie zwei tödliche Feindinnen mehr, die Fürstin und die alte Witwe, die sie überall als ein Ungeheuer voll Überheblichkeit und Verderbtheit hinstellten. Violante begriff den Zusammenhang, weinte über sich und über die Bosheit der Frauen. Was die Männer betrifft, war sie über sie schon lange im klaren. Von nun an konnte man sie jeden Abend zu ihrem Mann sagen hören: »Wir wollen übermorgen nach meinem alten Steyer abreisen und es nicht mehr verlassen.«

Dann erlebte sie ein Fest, das sie mehr freute als die früheren; sie bekam eine Toilette, in der sie schöner aussah als je zuvor. Es gibt aber ein tiefes Bedürfnis, in der freien Phantasie zu leben, in seiner eigenen Schöpfung sich auszugeben, allein und kraft des Gedankens sein Leben sich zu zimmern. Dies Bedürfnis wurde nicht befriedigt, sie konnte sich ihm nicht widmen, nicht ergeben, und doch war und blieb dies für sie das Hindernis, in der großen Welt auch nur den Schatten einer wahren Freude zu finden. Aber dieses Bedürfnis war noch keine lebenswichtige Notwendigkeit, deshalb war es nicht stark genug, ihr Leben von Grund aus zu wandeln, noch auch brachte es sie zum radikalen, endgültigen Verzicht auf das weltliche Leben, es führte sie nicht ihrer eigentlichen Bestimmung und ihrem Sinne entgegen. So zeigte sie auch weiterhin das luxuriöse und doch verzweifelte Dasein einer Natur, die, für das Unendliche bestimmt, sich nach und nach im Geringeren, ja im Nichtigen verzehrt. Nichts zeugte nun mehr von ihrer edlen Bestimmung, die ihr täglich ferner entglitt, als nur der Schatten einer tiefen Melancholie.

Ein großes Seelenerlebnis der reinen Nächstenliebe hätte ihr Herz wie eine Flut geläutert, hätte die allzu menschlichen Härten gemildert, die ein weltlich gesinntes Herz versteinern, aber diese Flut wurde durch die tausend Dämme des Egoismus, der Koketterie, des Ehrgeizes ferngehalten. Die Güte gefiel ihr nur als Mode, als Eleganz. Sie wehrte sich nicht gegen gute Taten in Form von Geld, sie ließ sich ihre Nächstenliebe sogar Zeit und Mühe kosten, aber ein Teil ihres Selbst war abgeschlossen, denn er gehörte ihr nicht mehr an. Noch las oder träumte sie morgens in ihrem Bette, aber schon war ihr geistiges Leben verfälscht, denn es haftete nur an der Außenseite der Dinge, und wenn sie sich selbst ansah, geschah es nicht, um tiefer zu werden, sondern um sich sinnlich zu bewundern, mit sich wie vor einem Spiegel zu kokettieren. Und hatte man ihr einen Besuch angekündigt, so fand sie nicht die Willensstärke, um ihrer Träumerei oder ihrem Buche zuliebe ihn abzuweisen. Sie war so weit gekommen, daß sie die Natur nur noch mit verderbten Sinnen genießen konnte, der Zauber der Jahreszeiten war nur noch dazu da, um ihre Eleganz abzustimmen, um sie raffinierter zu durchduften. Der Zauber des Winters lag in der Lust wollüstigen Fröstelns, die Fröhlichkeit der Jagd verdeckte ihren Augen alle Schwermut des Herbstes. Manchmal ging sie allein in den Wald, um die echte Quelle wahrer Freuden wiederzufinden. Aber es waren nur elegante Toiletten, die sie unter dem schattigen Blätterdach spazieren führte. Die Freude an der Eleganz vergiftete die Freude an der Einsamkeit und an dem Träumen.

»Wollen wir morgen abreisen?« fragte der Herzog.

»Übermorgen«, sagte Violante.

Dann hörte der Herzog auf zu fragen. Augustin beklagte sich, Violante schrieb ihm: »Laß mich erst ein wenig älter werden, dann komme ich zurück.«

»Ah«, antwortete Augustin, »was Sie den Menschen hier geben, ist Ihre Jugend. Sie werden nie in Ihr Steyer zurückkommen.«

Sie kam nie zurück. Solange sie jung war, blieb sie in der großen Welt, um die Herrschaft der Eleganz zu üben, deren Königin sie in so jungen Jahren geworden war. Als sie alterte, blieb sie, um sie zu verteidigen. Vergebens. Sie verlor sie. Und noch auf dem Sterbebette hatte sie es nicht aufgegeben, sie wiederzugewinnen. Augustin hatte mit ihrem Ekel gerechnet, aber nicht mit einer Macht, die, wird sie anfangs von der Eitelkeit genährt, allem obsiegt, dem Ekel, der Verachtung, selbst der Langeweile: es ist die Gewohnheit.

[August 1892]


 << zurück weiter >>