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Philipp's Ferien.

I.

Philipp hatte beschlossen sich in den bevorstehenden Ferien zu verlieben. Er war siebzehn Jahre alt; bis vor Kurzem interessirte ihn ein tüchtiges Butterbrod mit saftigem Schinken darauf mehr als alle Mädchen der Welt, jetzt aber schämte er sich dessen, obwol ihm besagte Butterbrode, die den Schülern in der Zwischenstunde verabreicht wurden, immer noch vortrefflich schmeckten. Er hatte im letzten Jahre viel gelesen; die Klassiker, aber auch einige neue Romane, durch Kameraden in die Anstalt eingeschwärzt; die Sehnsucht, selbst der Held einer möglichst romantischen Geschichte zu werden, ließ ihm keine Ruhe. So lange er sich jedoch innerhalb der Anstaltsmauern befand, war dazu gar keine Aussicht vorhanden. Im ganzen Hause gab es, da der Direktor ein Junggeselle und die Bedienung durchgehends männlich war, blos in der Küche einige Vertreterinnen des schönen Geschlechtes, darunter ein junges Mädchen, Bettka, die Magd. Allein diese, die Wochentags den Besen in der schwieligen Hand führte und Sonntags, ihre gelben Zöpfe mit Speck eingefettet, in grasgrünem Rock und himmelblauem Leibchen an der Seite ihres Vaters, des Hausknechtes, zur Kirche ging, gemahnte allzuwenig an eine Thekla oder Amalie – und natürlich waren das Philipps Frauenideale – als daß es ihm in den Sinn kommen konnte, sich für sie zu begeistern. Von der Außenwelt aber sahen die Zöglinge des Institutes sich fast immer klösterlich abgeschlossen. Die ordnungsmäßigen, gemeinschaftlichen Spaziergänge, auf denen sie von ihren Lehrern begleitet wurden, führten sie fast immer in die Einsamkeit der Natur, niemals in die Straßen des Städtchens. Besuche von Freunden und Verwandten waren auch nicht allzuhäufig, da die Familien der Knaben, mit wenigen Ausnahmen, nicht in der Nähe lebten. Dennoch hatte es sich ereignet, daß Philipp, an der Thür des Besuchszimmers vorübergehend, eine schlanke, junge Dame erblickte, die gerade hineintrat; da er jedoch in dem Zimmer nichts zu suchen hatte, ihr daher nicht dahin folgen durfte, sondern sich vielmehr gezwungen sah, seinen Weg nach der Schulstube fortzusetzen, konnte er ihr Bild nur im Fluge erhaschen. Nichts destoweniger bemühte er sich seither beharrlich an die wahrscheinlich blauen Augen im Antlitz der holden Erscheinung zu denken; seine Ehrlichkeit zwang ihn jedoch sich schon nach acht Tagen einzugestehen, daß dies, wohl in Folge der Unsicherheit jener Thatsache, eigentlich eine langweilige Beschäftigung sei, weshalb er sie wieder aufgab.

So blieb denn durchaus nichts anderes übrig, als sich bis zu den Ferien zu gedulden. Daheim, auf dem stillen Landsitz der Großeltern wäre freilich auch wenig Chance gewesen, wenn nicht unlängst eine Veränderung daselbst stattgefunden hätte. Im letzten Briefe schrieb die Großmutter von einem neuen Pastor mit mehreren Töchtern. Eine dieser Töchter, das stand sofort in Philipp fest, sollte seine Flamme werden. Wer eignete sich besser dazu als eine Predigerstochter! Er dachte an Friederike von Sesenheim, an die Töchter des Vicars of Wakefield und sein Herz klopfte. Mit allen denkbaren Reizen stattete er im Geiste die Unbekannte aus, die bestimmt war, seine ersten Huldigungen zu empfangen, und schon jetzt suchte er in freien Stunden eifrig nach Reimen wie: Hold – Gold, Herrliche – Gefährliche, Thränen – Sehnen, u. s. w., die seinerzeit zu Gedichten an die Angebetete verwendet werden konnten. Die Zeit schlich ihm unendlich langsam dahin; besonders die letzten, heißen Wochen des Schuljahres wollten gar kein Ende nehmen. Endlich schlug sie dennoch, die ersehnte Stunde der Freiheit! Es war dies alljährlich ein großer Moment für die jungen Leute; heuer aber durchstürmte doppelt freudige Erregung die Brust des erwartungsvollen Philipp.

Eine kurze Eisenbahnreise, zum ersten Male allein zurückgelegt, darauf ein Stündchen Fahrt im Wagen der Großeltern, brachten ihn zu seinem Ziele. Da tauchten sie schon vor ihm auf, die ersten Dächer des heimatlichen Dörfchens! Und hier war das kleine Kirchlein, mit dem niedern Thurme – und nebenan das Pfarrhaus! Philipp beugte sich weit aus dem Wagen um nach den Fenstern zu spähen; es ließ sich jedoch niemand daran blicken. Im nächsten Moment rollte das Gefährt über eine kleine Brücke und dann in die Einfahrt des herrschaftlichen Schlößchens. Ein freundlicher Greis und eine liebe schöne Greisin winkten von der Treppe.

»Da bist du ja, Philippchen!«

Die ersten Umarmungen waren kaum vorüber, das Schulzeugniß, das heuer nicht ohne Ursache nur so so, ausgefallen war, kaum noch besichtigt, und die kleine Gesellschaft setzte sich soeben erst zu dem zierlichen Kaffeetische auf der Veranda, an welchem der Enkel erwartet worden war, da platzte Philipp auch schon heraus.

»Ich muß wohl den neuen Predigers einen Besuch machen,« (ich muß, sagte der Heuchler, während er darauf brannte!), »nicht wahr, Großmama?«

»Natürlich,« antwortete statt der Angeredeten, die gerade den Kaffee einschänkte, der Großvater, über das Zeugniß hinweg, das er mit der Brille auf der Nase studirte; »tüchtige Leute, das!«

Philipp wurde vor Freude dunkelroth. Der Großvater bemerkte es nicht, denn er blickte bereits wieder in das Zeugniß; auch die Großmutter hatte nicht Acht darauf.

»Wann soll ich denn hingehen?« fragte Philipp gute zehn Minuten später unter starkem Herzklopfen.

»Wohin?«

»Zu – zu Pastors.«

Die Großmutter sah ihn verwundert an. »Ei, wann Du willst! Morgen – übermorgen; es hat keine Eile.«

»Also heute nicht mehr!« dachte Philipp innerlich seufzend. Freilich, es war schon sechs Uhr; – und ein erster Besuch – im Grunde hätte es sich gar nicht geschickt.

Vor Schlafengehen las er »Die Räuber« und »Fiesko« nochmals durch, um recht fest darin zu sein, denn von Schiller würde natürlich zuerst gesprochen werden.

Am anderen Morgen beim Erwachen überfiel ihn ein Schreckensgedanke. Wenn Großvater oder Großmutter ihn am Ende gar in die Pfarre begleiten wollten! Es war zwar etwas unbehaglich und erforderte eine große Bekämpfung jugendlicher Schüchternheit sich in einem fremden Hause allein einzuführen; aber weit lieber wollte er diesen Muth haben, als seinem niegesehenen Ideal unter den Augen der Großeltern entgegenzutreten, denn sicher würde die Furcht sich ihnen gegenüber zu verrathen, ihn doppelt linkisch machen. Und eine Ungeschicklichkeit in solchem Momente, das wäre geradezu tragisch, das könnte er sich nie verzeihen. Um der gefürchteten Gefahr mit Gewißheit zu entgehen, schlich Philipp gegen Mittag aus dem Schlosse, ohne ein Wort von seiner Absicht verlauten zu lassen, gerade wie in der Anstalt, wenn die jungen Leute sich Abends auf den Gang hinausstahlen, um bei offenem Fenster eine Cigarre zu rauchen.

In unbeschreiblicher Aufregung legte er den kurzen Weg zurück und näherte sich von der Gartenseite dem Pfarrhause. Eine Fliederlaube winkte ihm entgegen, die einigermaßen an Sesenheim gemahnen konnte. In der Laube saß, Zeitung lesend, ein hagerer, gebeugter Mann mit schneeweißen Haaren; er erhob sich als er Philipp's Schritte vernahm, legte die Zeitung fort und gab sich als Pastor zu erkennen, indem er den herrschaftlichen Besuch mit sichtlicher Freude begrüßte. Philipp blickte ihn während dieser Begrüßung etwas verwirrt an.

»Mein Gott! er ist fast so alt wie Großpapa«, flog es ihm durch den Sinn. Doch hatte er kaum Zeit es zu denken, denn der Greis faßte ihn sofort beim Arme und führte ihn in's Haus, wo in einer großen Stube seine Töchter nähend um einen Tisch saßen.

An Auswahl fehlte es nicht; es waren ihrer vier. Die Aelteste zählte ungefähr fünfundvierzig, die Jüngste achtunddreißig Lenze. Eine Täuschung hierüber war selbst einem ungeübten Auge nicht möglich.

Philipp verlor jegliche Fassung. Er stand neben dem Pfarrer und ließ seine Blicke förmlich hilflos von einer der Schwestern zur anderen gleiten. Gute, ehrliche Gesichter hatten alle vier; man las ihnen die Bravheit förmlich von der Stirne; aber junge und poetische Erscheinungen waren es nicht, gegen dieses Factum half alles Anstarren nichts! Philipp besann sich endlich, daß er sich auffallend benahm; wie mit Blut übergossen ließ er sich auf den Stuhl nieder, den der Pfarrherr eigenhändig für ihn herbeigezogen, und stammelte eine undeutliche Phrase um die Conversation zu eröffnen.

Es sei sehr heiß, vielleicht werde es regnen.

Die Pfarrtöchter äußerten auf's Bereitwilligste ihre individuellen Meinungen in dieser Frage und gingen hierauf zu andern Gesprächsgegenständen über. Sie erkundigten sich, ob der junge Herr Freude an der Landwirthschaft habe, erzählten von ihrem Kuhstall, von einer besonders empfehlenswerthen Art Käse zu bereiten und klagten, daß die Knechte und Mägde in der Gegend leider wenig taugten. Philipp wurde es immer heißer. Sobald es anständiger Weise möglich war, empfahl er sich und entfloh.

»Du bist ja im Pfarrhause gewesen«, sagte die Großmutter während des Mittagessens; »ich sah Dich vom Fenster aus hingehen. Wie gefiel es Dir dort?«

»Gu–ut,« stotterte Philipp verlegen und verbrannte sich mit dem ersten Löffel Suppe, den er hastig hinabschlang, den ganzen Gaumen.

Das fehlte noch, daß Großmama sein jämmerliches Abenteuer errieth! – Darin täuschte er sich übrigens. Die Frage der alten Frau war ganz harmlos gemeint, denn obwohl ihr das Benehmen des Enkels einigermaßen verwunderlich däuchte, hätte sie schon aus dem einfachen Grunde niemals des Räthsels richtige Lösung gefunden, weil ihren fünfundsiebzig Jahren der siebzehnjährige Philipp wie ein eben aus dem Ei geschlüpftes Küchlein erschien. Sie sah in dem großen, ziemlich hoch aufgeschossenen Jungen noch immer ein bloßes Kind und es wäre ihr nicht im Traume beigefallen, daß er sich mit Romangedanken tragen könnte.

II.

Seit der krassen Enttäuschung, die er im Pfarrhause erlebt, wurde Philipp melancholisch. Er fühlte sich mit sich und dem Schicksal zerfallen, beehrte seine eigene Person zehnmal des Tages mit dem beliebten Studentenausdrucke: »Kameel« und haderte mit der Weltordnung, weil sie nicht allen Pastorstöchtern die Reize einer Friederike Brion verlieh, und ihm ein Glück mißgönnte, das Goethe zu Theil geworden war, der es nach seiner Ansicht gar nicht verdient hatte, da er es nicht genug zu schätzen wußte.

Die Umgebung, in der er sich befand, war wenig geeignet, ihn aufzuheitern. Das ziemlich weltfern gelegene Schlößchen glich einem Greisenasyl; jedes Bewohners Scheitel glänzte silbern. Die Dienerschaft bestand aus lauter Zeitgenossen der Herrschaft; gegenseitig treu zu einanderhaltend, waren die einen neben den andern durch ein langes Leben geschritten, das sich seit Jahren mit der stillen Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes abspann. An jedem Morgen, den Gott werden ließ, begab sich der Großvater nach dem Frühstück auf die Veranda, oder, wenn das Wetter schlecht war, in den Salon; der weißhaarige Kammerdiener Wenzel reichte ihm die Zeitung und eine Pfeife, und die Großmutter setzte sich mit Strickstrumpf und Brille neben ihn. So konnte man die Beiden in der Regel fast den ganzen Tag über sehen. Mitunter hielt die Großmutter im Stricken inne und blickte ein Weilchen voll ruhiger Befriedigung nach dem Garten hinaus, wo die Rosen in diesem Jahre besonders schön blühten. Was den Großvater betraf, so sank bald seine Linke, welche die Zeitung, bald seine Rechte, welche die Pfeife hielt, langsam nieder, sein kahler Kopf mit dem wärmenden Käppchen neigte sich vornüber und kurz darauf unterbrach ein lautes Schnarchen die herrschende Stille. Nach einiger Zeit hob der alte Herr den Kopf wieder, rieb sich die Augen, brachte die Pfeife in Ordnung, und nahm seine Lecture von Neuem auf. Oft entsann er sich der Stelle nicht mehr, an welcher er stehen geblieben, dann begann er unverdrossen die ganze Seite von oben an nochmals durchzulesen, und schlief nicht selten neuerdings ein, ehe er jene Stelle wieder erreichte. Auf diese Art wurde er nicht vor dem Abend mit der Zeitung fertig, obwohl er blos eine einzige las, und auf dieselbe Art schadete ihm die Pfeife nicht, trotzdem er nie ohne sie zu sehen war, und der Arzt ihm vieles Rauchen strenge verboten hatte.

Die einzigen Abwechslungen dieses beschaulichen Daseins bildeten die Mahlzeiten. Pünktlich um ein Uhr erschien Wenzel mit leisen Schritten im Speisezimmer und deckte geräuschlos den Tisch; um sechs Uhr des Nachmittages kam er wieder, deckte aber diesmal, wenn das Wetter es erlaubte, regelmäßig auf der Veranda.

Philipp, dessen Eltern früh gestorben waren, hatte alle seine Ferien in dem Schlößchen zugebracht und kannte daher seit vielen Jahren das Leben in demselben; noch nie aber hatte es ihn so bedrückt wie dieses Mal. Sonst durfte er mitunter einen Freund einladen, der ihm die Zeit vertreiben half; des Großvaters zunehmendes Ruhebedürfniß, verbunden mit einiger Kränklichkeit, die sein hohes Alter mit sich brachte, verboten ihm das in diesem Sommer. Aus der Nachbarschaft war die einzige Familie weggezogen, mit welcher die Großeltern noch einen, freilich spärlichen Verkehr unterhalten hatten. Die Spaziergänge mit Botanisirtrommel, Schmetterlingnetz und Angel, die der Knabe früher häufig in Gesellschaft des Inspectors oder auch allein unternommen, konnten dem Jüngling jetzt kein Vergnügen mehr bereiten. So saß er denn meistens, ein Buch in der Hand, in welchem er nicht las, träumerisch in irgend einer Ecke, fühlte sich höchst unglücklich, und wußte absolut nicht, was er während dieser so heiß ersehnten Ferien mit sich anfangen sollte.

An's Verlieben dachte er nicht mehr; dazu war ihm die Lust vorläufig gründlich vergangen. Er schämte sich zu sehr seiner Albernheit.

Eine kleine Reise, ein Besuch bei einem Kameraden wären ihm das Erwünschteste gewesen; allein daran war nicht zu denken. Die Großeltern liebten ihn zärtlich und freuten sich das ganze Jahr hindurch auf sein Kommen. Die Interessen ihres Alters und seiner Jugend lagen freilich zu weit auseinander, als daß ein gegenseitiges Verstehen recht möglich gewesen wäre; den beiden greisen Leuten genügte es jedoch völlig, ihren Enkel bei sich zu haben, die räumliche Trennung aufgehoben zu sehen, und sie dachten nicht daran, daß ihm, an dessen dankbarer Anhänglichkeit zu zweifeln sie keine Ursache hatten, dies nicht die gleiche Befriedigung zu gewähren vermöchte. Mitunter überkam es Philipp, als lebe er ein Märchen und nicht die Wirklichkeit. Besonders an Nachmittagen, wenn es recht heiß und recht still war, wenn nur die Bienen vor den Fenstern leise summten, der nickende Großvater hie und da ein Aufschnarchen vernehmen ließ und die Großmutter mit sorglicher Behutsamkeit strickte, damit ihr keine Nadel entglitte, deren Niederfallen den Schlummernden erwecken könnte.

Der breite Streifen hellen Sonnenlichtes, der durch die Thür der Veranda auf das Parkett des im übrigen verdunkelten Salons fiel und den seine schläfrigen Augen immerfort anstarren mußten, wirkte auf den Jüngling wie die Hand eines Magnetiseurs; es war ihm als sei er in einem verzauberten Schlosse, über dem ein Bann läge, wie über dem Schlosse Dornröschens, und als sei er mitverzaubert, sei plötzlich kein junger Mensch mehr, sondern auch alt, alt wie Alles um ihn her, wie selbst der Mops, der auf weichem Polster vor dem Ofen schlummerte, wie die Möbel, die das Zimmer füllten und die seit fast einem Jahrhundert an ihren Plätzen standen. Dieses Gefühl steigerte sich einstmals, nachdem er stundenlang unbeweglich gesessen, so heftig in ihm, daß ihn ein förmliches Grauen befiel und er ohne den erschrockenen Blick der Großmutter zu beachten, jäh emporsprang und hinauslief, um es gewaltsam abzuschütteln. Dem erstbesten Einfalle folgend, eilte er auf seine Stube, hing dort eine kleine Jagdflinte um, die ihm der Großvater geschenkt, und ging trotz der sengenden Hitze auf's offene Feld hinaus, um Krähen zu schießen.

Der Schnitt war bereits vorüber und die Ernte auch schon zum größten Theile eingeführt. Die Sonne brannte auf die Stoppeln nieder und hüllte die ganze Gegend in einen goldenen Schleier; weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ganze Schwärme von Krähen, deren es hier sehr viele gab, saßen vergnügt auf den Feldern. Philipp hatte jedoch entschiedenes Mißgeschick; sobald er sich den schwarzen Gästen auf Schußweite näherte, flogen sie, wie einem Kommandowort gehorchend, sämmtlich auf, und da er noch zu ungeübt war, um sie im Fluge zu treffen, so blieb ihm das Nachsehen. Aergerlich darüber und von der Hitze ermüdet, ließ er die vergebliche Jagd sein, und wandte sich dem nahen Walde zu, den er in früheren Jahren nach allen Richtungen durchstreift, aber heuer noch gar nicht betreten hatte. Hier war es köstlich kühl und lauschig. Der Fuß ging weich auf grünem Moosboden und durch die dichten Buchenkronen stahl sich nur hie und da ein goldiger Strahl der draußen wogenden Sonnenflut. Auch hier, wie im Schlosse, webte es gleich einem Märchen – aber hier war es ein Märchen voll süßer Ahnungen, holder Geheimnisse, wonnevoller Versprechungen. Philipps Verstimmung hinderte ihn jedoch, etwas zu empfinden; gleichgiltig und gelangweilt, schlenderte er, das noch geladene Gewehr über der Schulter, unter den Bäumen hin. In der übeln Laune, die ihn beherrschte, verdroß ihn alles und jedes. Die Stille, die Einsamkeit, die ihn auch hier umgaben, der Friede, der über der Natur lag. Seine aufgeregte Seele verlangte heftig nach Menschen, nach Lärm und Getümmel des Lebens. Was sollte ihm der Friede? Er hatte ja den Kampf noch nicht kennen gelernt. Von dem unklaren Wunsche erfaßt, die ihn bedrückende Ruhe wenigstens momentan zu unterbrechen, hob er gedankenlos seine Flinte und schoß in das grüne Laubdach hinein, das sein Haupt überwölbte. Dreierlei ereignete sich. Es gab einen vom Echo verstärkten Knall, ein Singvogel fiel mit zerschmettertem Flügel vor Philipps Füße nieder, und zugleich erscholl in seiner nächsten Nähe, ein lauter Schrei.

Philipp stand einen Augenblick betroffen; dann hob er hastig den verwundeten Vogel vom Boden auf und wandte sich der Stelle zu, von welcher der Schrei gedrungen war. Er mußte sich durch einiges Gestrüpp kämpfen, dann sah er sich auf einer kleinen Lichtung, wo im Schatten einer mächtigen Buche ein Rollsessel stand, in dem ein schmächtiges Kind von etwa vierzehn Jahren ruhte, das ein Paar zarter, schmaler Hände fest vor das Antlitz gepreßt hielt. Als es Philipps Schritte vernahm, ließ es langsam die eine Hand sinken und blickte scheu, auch jetzt noch bebende Angst in den sehr blassen Zügen, nach dem Nahenden. Mit einem Male aber richtete es sich auf, Schrecken, Furcht und Schüchternheit waren völlig verschwunden.

»Das arme Thierchen! ach! das arme Thierchen. Geben Sie es her; schnell geben Sie es her, vielleicht ist ihm zu helfen!«

Verwirrt, ohne ein Wort zu sprechen, gehorchte Philipp. Der geängstete Vogel suchte aufzuflattern als er ihn der Kleinen in den Schoß legte, sank jedoch kraftlos zusammen.

»Holen Sie Wasser! Wenn Sie hier geradeaus gehen, finden Sie nach zwanzig Schritten ein Bächlein. Bitte tauchen Sie Ihr Tuch hinein.«

Auch jetzt gehorchte Philipp stumm und noch immer verwirrt. Das Unheil, das er angerichtet hatte, machte ihn bestürzt. Der Buchfink, das sah er auf den ersten Blick, der würde wohl nicht aufkommen. Zudem aber hatte er durch seine Unbesonnenheit das kranke Kind furchtbar erschreckt.

Als er mit dem nassen Tuch zurückkehrte, suchte er ihr stammelnd sein Bedauern darüber auszusprechen und daß er hoffe, es werde ihr nicht schaden. Sie hörte ihm erst nicht zu, beschäftigt wie sie war, dem verwundeten Thierchen kalte Compressen aufzulegen; erst nachdem sie dies eine Weile fortgesetzt hatte und der kleine Patient in ihrer Hand ruhiger wurde, antwortete sie leichthin:

»Ach, das thut nichts! Jedenfalls können Sie nichts dafür; ich bin dummerweise so schreckhaft, seit ich krank bin. Aber warum haben Sie geschossen«, setzte sie, plötzlich voll zu ihm aufblickend, in fast streng vorwurfsvollem Tone hinzu. »Dieser herzige Sänger.«

»Ich wollte ihm nichts thun,« betheuerte Philipp eiligst; »glauben Sie mir, ich wollte ihm nichts zu Leide thun; ich schieße niemals Singvögel. Es war Zufall. Aber freilich«, schloß er zerknirscht, die Augen niederschlagend, »ich hätte nicht so unüberlegt sein sollen; ich weiß selbst kaum warum ich geschossen habe, so ganz ohne Zweck, nur in die Luft hinein!«

»Ach, das kommt vor,« sagte die Kleine sanft; »das kommt oft vor, daß man etwas thut, was man nachträglich gern nicht gethan haben möchte.«

Philipp sah sie an. »Ihnen kommt das gewiß nicht vor«, trat es ihm unbewußt auf die Lippen.

Sie erröthete und beugte sich wieder über den Vogel. »O doch! ich bin gar nicht besser, als alle Andern. Sehen Sie her,« fuhr sie hastig fort, um ihm nicht Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, »unser armer Patient liegt ganz still, das kühle Naß thut ihm wohl, ich hoffe wir retten ihn.«

»Meinen Sie nicht, daß ich das Tuch nochmals befeuchten soll?« fragte Philipp eifrig.

Sie nickte. »Nehmen Sie dieses hier,« sagte sie, ihr eigenes hervorziehend, »damit wir den Umschlag wechseln können.«

Philipp lief sofort zu dem Bächlein und lief wieder zurück um rascher anzukommen. Während das Mädchen mit ihren feinen Fingern den kleinen Verwundeten sorgsam in die frische Compresse hüllte, setzte er sich auf einen Baumstamm neben sie und sah ihr zu.

»Sind Sie oft allein hier?« fragte er dabei.

»An jedem schönen Tage«, erzählte sie. »Ich soll nämlich im Walde den bösen Husten verlieren; deshalb hat man mich aus der Stadt zur Tante Försterin gegeben. Die ist so gut und führt mich jeden Morgen hieher, um Mittagszeit holt sie mich heim und rollt mich nach dem Essen wieder heraus. Das Forsthaus ist nicht weit von hier, aber es liegt am Rande der Landstraße und da ist die Luft nicht so heilsam, sagt der Doctor, wie tiefer im Wald.«

»Und Sie fürchten sich nicht in dieser Einsamkeit.«

Die Kleine schüttelte den Kopf. »Bis jetzt hatte ich keine Angst. Was soll mir auch geschehen? Wilde Thiere gibt es hier nicht und Menschen sehe ich nie. Sie sind der Erste, der in dieses Dickicht gedrungen ist, die Anderen gehen alle auf den gebahnten Wegen. Viele sind ihrer ohnehin nicht, höchstens einige Holzhauer oder Feldarbeiter, die mich vom Forsthause her kennen und von denen keine Gefahr droht. Das Volk ist gutartig in dieser Gegend, sagt mein Onkel. Tante war allerdings im Anfang ein wenig besorgt; aber schließlich was ließ sich thun? sie und alle Leute im Hause sind beschäftigt, da kann keines den ganzen Tag bei mir bleiben.«

»Es muß aber sehr langweilig sein, so viele Stunden allein hier zu sitzen«, meinte Philipp theilnahmsvoll.

»O nein!« rief die Kleine lebhaft. »Im Walde ist's nie langweilig! Der Wald ist ja voll Leben, immerfort ereignet sich etwas. Ich sehe den geschäftigen Ameisen zu, oder den Vögeln in den Zweigen, den lustigen Eichhörnchen, den Käfern und Eidechsen. Da gibt es sehr viel Abwechslung. Oder manchmal sitze ich auch nur still mit geschlossenen Augen und lausche. Sie glauben nicht, wie viele verschiedene Stimmen, heitere und traurige, der Wald hat! Bald dringen sie von oben, bald von unten, bald von überall zugleich. Mitunter, wenn es recht ruhig ist, besonders um Mittagszeit, wenn nicht einmal ein Blatt sich bewegt, dann vernimmt man nur eine, die ist mir die liebste von allen! Die ist so, als spräche der liebe Gott selber. Ich denke mir dann immer: Darum sind jetzt alle Andern still, die ganze Welt horcht.«

Philipp hörte der Kleinen voller Verwunderung zu.

»Das ist mir ganz neu«, sagte er endlich, als sie schwieg; »daran habe ich nie gedacht. Wie Sie alles beobachten!«

»Das kommt so, wenn man allein ist. Gesunden fehlt die Zeit dazu; ich habe nichts zu thun.«

»Eigentlich habe ich gegenwärtig auch nichts zu thun«, gestand Philipp. »Ich bin der Enkel aus dem Schloß und befinde mich auf Ferien. Dürfte ich Sie wohl manchmal hier besuchen?«

»Warum nicht«, sagte sie freundlich; »das wird sehr schön sein. Sie haben gewiß viele Bücher, aus denen Sie mir erzählen können? Ich liebe die Bücher sehr.«

»Ich will Ihnen morgen eines mitbringen«, versprach Philipp lebhaft. »Paul und Virginie, kennen Sie das?«

»Nein; ich kenne sehr wenige Bücher und lese immer dieselben wieder.«

»Um so besser«, sagte Philipp; »ich werde Ihnen dieses vorlesen. Es ist sehr hübsch; es wird Ihnen gewiß gefallen. – Sie aber müssen mir dafür noch mehr vom Walde erzählen.«

»Alles was ich weiß«, nickte sie lächelnd.

Das kleine Buchfinkchen unterbrach die Unterhaltung; abermals versuchte es mit dem einen Flügel zu flattern und sich zugleich von der beengenden Umhüllung des Tuches zu befreien. Gleich darauf lag es wieder still, wie ergeben in sein Schicksal, das es nicht ändern konnte. Dies stumme Leiden der armen Creatur schien der kleinen Kranken nahe zu gehen. Auch Philipp wurde schweigsam; er schämte sich von Neuem. Es war ja die reine Büberei, was er gethan. –

Bald nachher hieß es, Abschied nehmen, da es beinahe sechs Uhr war und Philipp die Großeltern mit dem Abendimbiß nicht warten lassen durfte. Ehe er ging wurde die morgige Zusammenkunft nochmals besprochen. »Kommen Sie erst Nachmittags«, bat die Kleine; am »Morgen huste ich viel und darf nicht reden.«

Als Philipp bereits eine Strecke zurückgelegt hatte, kehrte er nochmals um. »Ich weiß nicht wie Sie heißen«, sagte er; »sicherlich tragen Sie einen hübschen Namen.«

»Er ist sehr kurz«, erwiderte die Kleine; »man nennt mich Illa. Finden Sie das nicht eher häßlich?«

»Bewahre!« rief Philipp eifrig; »es ist ein sehr schöner Name.« Und dann sprach er ihn lächelnd nach: »Illa.«

III.

Am nächsten Nachmittag fand Philipp sich pünktlich im Walde ein. Sein erster Blick suchte den Vogel im Schooße des Mädchens – er war nicht da.

Illa that als bemerkte sie den Blick nicht und sprach gleich von Anderem.

»Sie haben doch das Buch mitgebracht?« fragte sie nach der ersten Begrüßung.

Er nickte, zog es aus der Tasche und begann zu lesen.

Im Anfang war sein Vortrag nicht frei von Uebertreibung, von knabenhaftem Pathos, am wenigsten passend zu Form und Inhalt der Erzählung; er suchte schön zu lesen. Illa sah ihn mit verwunderten Augen an; plötzlich fühlte er den Widerspruch und las nun wirklich hübsch, einfach, schlicht, voll warmer Innigkeit.

Illa war entzückt. Ihre blassen Wangen färbten sich und ihre Augen leuchteten.

Tag um Tag trafen sich die beiden Kinder. Philipp litt nicht mehr an Langeweile und Gemüthsverstimmung. Jeden Morgen suchte sein erster Blick den Himmel; zu seiner Freude lachte ihm dieser alle Mal in ungetrübter Bläue entgegen; es gab anhaltend schönes Wetter und das war Alles, was Philipp jetzt ersehnte.

Er wurde bald ebenso vertraut mit dem Walde, mit dem Leben und Weben in der Natur, wie Illa selbst. Ein ungeahnter Reichthum erschloß sich ihm; todte Bücherweisheit, als Ballast umhergeschleppt, bekam urplötzlich Leben. Das Kind lernte viel von ihm, er aber noch mehr von ihr. »Sie sehen Alles mit Liebe an«, trat es ihm einmal unwillkürlich auf die Lippen. Er meinte einen Ausfluß jener göttlichen Liebe, die das Kleinste umfaßt wie das Größte.

Auch mit Illa's persönlichen Schicksalen wurde er natürlich bekannt. Sie erzählte ihm, daß sie keine Eltern mehr hatte.

»Ich habe auch keine«, sagte Philipp.

Da faßte sie seine beiden Hände; »O, Sie Armer, Sie Armer!« rief sie fast heftig.

»Ich habe gute Großeltern«, beeilte sich Philipp gerührt zu sagen.

Sie nickte lebhaft.

»Meine Verwandten sind auch gut. Sehr gut! Die im Forsthause, wie die in der Stadt. Aber« – sie schwieg plötzlich, erröthete, während Thränen in ihre großen blauen Augen traten, und blickte halb abgewendet, sehnsuchtsvoll in den Wald hinein.

»Ich meine, Vater und Mutter vergißt man nicht«, sagte sie nach einer Weile leise.

Philipp wurde still. Er dachte jetzt eigentlich zum ersten Male lebhafter der Verstorbenen. Bisher waren ihre Namen ihm nicht viel mehr gewesen, als ein wehmütiger Klang. Da er sie verlor, stand er im zartesten Kindesalter; später war es ihm durch die Sorgfalt der Großeltern immer gut gegangen; in oberflächlichem Leichtsinn hatte er seinen Verlust niemals tief empfunden.

Das geschah erst jetzt. Ohne es zu wissen, ergriff er Illa's Hand und behielt sie in der seinen. So saßen sie lange schweigend.

Dann bat die Kleine Philipp sanft, ihr vorzulesen. Er hatte diesmal ein Theaterstück mit, Raimund's Verschwender. Illa preßte die Hände gegen ihre Brust. »Nein, wie das schön ist!« rief sie unaufhörlich; »Wie das schön ist! Bitte, noch einmal das Hobellied!« –

Leider näherten sich Philipps Ferien allmälig ihrem Ende. Noch waren genau acht Tage davon übrig. Den Kalender vor sich, zählte er sie mit Illa, und zählte wieder, aber es wollten ihrer nicht mehr werden. Nun machten die Beiden Pläne für den künftigen Sommer.

»Ich komme gewiß wieder hierher«, sagte die Kleine, »der Husten wird bis dahin wohl nicht gut.«

»Sie müssen wiederkommen, auch wenn er gut wird, wie ich hoffe. Sie müssen so lange bitten, bis man es Ihnen erlaubt. Gleich am ersten Tag der nächsten Ferien werde ich Sie hier suchen.«

Ganz erfüllt von diesem Gedanken kam Philipp heute nach Hause. Als er in den Salon treten wollte, hörte er drinnen die schrillen Stimmen der Pastorstöchter. Schrecken erfaßte ihn; seit seinem ersten Besuche im Pfarrhause machte er jedesmal einen Umweg, um nicht dort vorbeigehen, der unglücklichen Sesenheimer Laube auch nicht von Ferne ansichtig werden zu müssen; nun kam die Pfarre in das Schloß gewandelt! Eben hatte er seinen Entschluß gefaßt und wollte hinwegschleichen, da eilte ein junger Mann aus dem Salon, ging an ihm vorbei, ließ aber artiger Weise, in der berechtigten Meinung, daß Philipp im Begriff sei einzutreten, die Thür für ihn offen.

»Oh, da ist der junge Herr«, rief eine jener schon früher vernommenen Stimmen.

Nun gab es keine Rettung mehr. Philipp stolperte in den Salon, schloß die Thür und verbeugte sich, ohne aufzublicken, nach rechts und nach links.

»Ihr Enkel scheint sehr schüchtern zu sein, Frau Baronin.«

Philipp zuckte zusammen. Das war eine fremde, ihm ganz unbekannte Stimme; zwar auch etwas scharf, aber von frischem, jugendlichem Klange. Was diese Stimme sagte, ärgerte ihn – hauptsächlich des spöttischen Tones wegen – vollends aber verdroß ihn die freundlich entschuldigende Antwort der Großmutter:

»Er ist noch gar jung, unser Philipp!«

Mit einem Ruck richtete er sich in die Höhe, ganz zornroth im Gesicht, und blickte nun zum ersten Mal um sich.

In der Fensterecke plauderte der Großvater mit dem Pastor. Vor der Großmutter saßen in feierlicher Stille die vier Pfarrtöchter, sämmtlich mit den gleichen frischgewaschenen und stark gesteiften Perkailkleidern angethan und von sittsam niedergebogenen braunen Strohhüten beschattet, was ihnen eine merkwürdige Aehnlichkeit mit Riesen-Pilzen gab. In der Mitte des Zimmers aber stand, in blüthenweißer, duftiger Toilette und hellem, mit Feldblumen geschmücktem Hütchen, eine schlanke, schöne Blondine von etwa zweiundzwanzig Jahren, die sich vornüber gebeugt an der Lehne eines Sessels hielt, den sie beständig hin und her schaukelte. Sie lachte im ganzen Gesicht als sie Philipps Unwillen bemerkte, ließ plötzlich den Sessel fahren und trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Nichts für ungut, Baron Philipp, – so heißen Sie ja wohl; Sie schlichen gar so gedrückt herein! Aber ich weiß schon was es gewesen sein wird!« raunte sie ihm, ein Zeitungsblatt vom Tisch aufnehmend, hinter demselben noch zu, und schielte dabei über den Rand des Blattes hinweg, kichernd nach den Pilzen.

Inzwischen erhob sich ahnungslos die älteste der Pfarrdamen.

»Erlauben Sie, Herr Baron Philipp«, sagte sie würdevoll, »unsere Cousine, Fräulein Therese Felsner.«

Philipp verbeugte sich.

»O, wir sind schon bekannt!« rief Therese und blinzelte Philipp lustig zu. »Aber da kommt gerade noch Jemand, den du vorstellen kannst, Mimi.«

Es war der junge Mann von vorhin, der mit einem Buche zurückkehrte, das er diensteifrig für den greisen Baron aus der Bücherei geholt hatte.

Fräulein Mimi, die soeben in die aufrauschenden Fluthen ihres Perkailkleides zurückgesunken war, tauchte nochmals daraus auf.

»Mein Vetter, Herr Hugo Felsner, Theresens Bruder«, sagte sie mit derselben Feierlichkeit, wie vorhin.

Die jungen Leute begrüßten einander, wobei Herr Hugo Felsner, der bereits Jurist im ersten Jahrgang war, sich deutlich anmerken ließ, daß er trotz seiner geringeren gesellschaftlichen Stellung gewaltig auf den Gymnasiasten herabsah. Er reichte ihm, zum Entsetzen seiner Cousine, nur so ganz gnädig die Fingerspitzen.

»Ein Lümmel«, dachte Philipp ärgerlich, zwang sich aber verbindlich zu fragen:

»Werden Sie sich ein Weilchen in unserer Gegend aufhalten?«

»Nun – so – etwa vierzehn Tage«, erwiderte Herr Hugo mit einem Blick nach seiner Schwester.

»Er meint, wenn ich es so lange aushalte!« lachte Therese, die von Neuem mit dem Stuhle schaukelte. »Ich war in meinem Leben nicht auf dem Dorfe, bin ein Stadtkind durch und durch. Heuer wollte ich mir die Landidylle meiner Cousinen ein Mal ansehen; nun frägt sich's, wie lange sie mir gefällt!«

»Ich hoffe, es wird Ihnen die ganze Zeit über hier gefallen«, bemerkte Philipp höflich.

Therese sah ihn nachdenklich an, dann huschte ein verstohlenes Lächeln über ihr Gesicht und gleich darauf rief sie ungenirt mitten in das ernsthafte Gespräch hinein, das ihre Verwandten mit der Herrin des Hauses führten:

»Nicht wahr, Frau Baronin, ihr Enkel darf jetzt mir und Hugo den Garten zeigen?«

Fräulein Mimi und ihre Schwestern, die eben in devotester Haltung der Mittheilung eines neuen Kirschenkuchenreceptes lauschten, welche die Gutsherrin so gnädig war, ihnen zu machen, fuhren sprachlos vor Schrecken herum.

»Aber Therese!« murmelte endlich eine von ihnen, und zugleich blickten alle, um Vergebung flehend, nach der Baronin.

Das kecke und unabhängige Stadtfräulein gerieth jedoch nicht im Mindesten aus der Fassung. »Nicht wahr, wir dürfen, Frau Baronin?« wiederholte sie schmeichelnd.

»Natürlich«, sagte die alte Dame gütig, »Philipp wird sich ein Vergnügen daraus machen, Sie umherzuführen.«

Unten im Freien trieb Therese sofort allerlei übermüthige Scherze. Sie zog ihre Handschuhe aus, – wodurch sehr hübsche Hände zum Vorschein kamen – warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf. Als einer davon an einem Baumaste hängen blieb, mußten Philipp und Hugo hinaufklettern und ihn holen, während sie, unten stehend, sich vor Lachen ausschütten wollte, über die lange vergeblichen Anstrengungen, deren es dazu bedurfte. Da man in eine Allee kam, begann sie zu laufen, indem sie die beiden jungen Leute aufforderte, sie zu haschen, wobei sie sich zuletzt athemlos in Hugo's Arme warf. Als dieser sie ihrer Ausgelassenheit halber schalt, hieß sie ihn einen angehenden Schulmeister und schickte ihn fort; sie wolle mit dem jungen Baron allein gehen, der sei noch kein solcher Pedant. Damit hing sie sich an Philipps Arm, zog ihn fort und bat ihn, sie zu einem Sitzplatze zu führen, sie sei todtmüde. Kaum aber saßen sie eine kleine Weile, so sprang sie schon wieder auf und begehrte weiter zu gehen. Inzwischen gesellte sich Hugo wieder zu ihnen und gemeinsam wandelte man endlich zum Schlosse zurück. Von der Terrasse wehten den Nahenden bereits die Perkailkleider entgegen; der Pastor und die Seinen harrten in größter Ungeduld der jungen Leute, um die ungebührlich lang ausgedehnte Staatsvisite beenden zu können.

Philipp war es seltsam zu Muthe, nachdem die Gäste abgesegelt waren. Eigentlich mißfiel ihm Theresens Wesen; er verhehlte sich nicht, daß sie keine guten Manieren besaß, aber es hatte etwas so Aufregendes in ihrer ganzen Art gelegen, daß er darüber zu keinem klaren Eindrucke kommen konnte. Immerfort hörte er das laute Lachen des schönen Mädchens, sah er den durchdringenden, herausfordernden Blick ihrer hellen Augen, empfand nimmer noch den Druck, mit dem ihr weicher Arm in dem seinen geruht hatte. Eine nie gekannte Verwirrung beherrschte ihn.

Am nächsten Morgen – er wußte selbst nicht warum – war ihm zum ersten Male der Gedanke an den nachmittägigen Waldspaziergang nicht ganz lieb; er hätte heute nichts dagegen gehabt, wenn der Himmel etwas drohend drein geblickt haben würde. Illa vergeblich warten zu lassen, kam ihm jedoch nicht entfernt in den Sinn; vielmehr legte er noch kurz vor Tisch ein Buch bereit um es ihr zu bringen. Allein als man bei der Suppe saß, traf ein feierliches Schreiben des Pastors an den Großvater ein, worin die ergebenste Bitte stand, Herr Baron Philipp möchte dem Pfarrhofe die Ehre erweisen, heute den Kaffee daselbst zu trinken.

Die Einladung war in keinem Falle auszuschlagen. Freilich hätte Philipp Zeit gehabt, ehe er sich auf den Weg begab, um derselben zu folgen, für einen Augenblick in den Wald zu laufen um Illa zu verständigen. Allein erstens fand er es draußen ganz besonders heiß und zweitens sagte er sich: »es macht ja nichts, wenn ich einen Tag fortbleibe; ich werde ihr morgen die Sache erklären«. Dabei vergaß er ganz, daß dieser Tag einer von den achten war, die er mit Illa gestern so ängstlich gezählt hatte.

Im Pfarrhofe ging es bereits lustig her, als Philipp dort erschien. Er glaubte das stille, ernste Haus gar nicht wieder zu erkennen. Die große Stube, in der damals die Töchter genäht hatten, war aufgeräumt – nur ein Klavier hatte man in der Ecke stehen gelassen – und mit Tannenzweigen geschmückt. Der Kaffeetisch prangte im Garten; eine weit zahlreichere Gesellschaft als Philipp erwartete, umgab ihn. Da war der Schullehrer mit seiner noch ziemlich jungen Frau; der Verwalter eines benachbarten, von der Herrschaft nicht bewohnten Gutes, in Begleitung einer leider etwas buckligen Tochter; ferner ein Jüngling mit grünlichen Augen und enorm großen Füßen, der als Volontär auf dem erwähnten Gute lebte. Philipp hätte nicht für möglich gehalten, daß man in der Gegend so viele Honoratioren zusammenbringen und am wenigsten, daß sie so schnell zur Hand sein könnten. Allein für Theresens Unterhaltungsbedürfniß gab es offenbar keine Hindernisse; sie setzte in dieser Beziehung wohl allezeit und überall durch, was sie wollte, so gut oder so schlecht es ging. Den Pfarrdamen wirbelten die Köpfe; sie flatterten durch die Unordnung, die ihr junger Gast in ihrem Hause anrichtete, wie Fledermäuse, die man bei Tag aus ihren Verstecken aufgescheucht hat, an Widerstand aber dachten sie nicht oder hatten ihn bereits aufgegeben. Was den greisen Pastor betraf, der saß in seiner Studirstube verschanzt und hatte, ehe er sich dahin zurückzog als Gesetz proclamirt, daß er dort in Ruhe gelassen werden müsse. Der Lärm der Tanzweisen, die der Schullehrer nach dem Kaffee in der großen Stube aufspielte, drang freilich selbst bis in dieses Heiligthum, indessen dämpften die geschlossenen Thüren immerhin den frivolen Klang.

»Sie können doch tanzen?« sagte Therese fragend zu Philipp, der bisher müssig gestanden und mit stiller Verwunderung zugesehen hatte, wie der großfüßige Volontär sich abmühte die bucklige Verwalterstochter durch die Stube zu schwenken; jetzt fuhr er auf, verbeugte sich hastig und bat Fräulein Felsner um den Walzer. Ein sehr guter Tänzer war er nicht, da ihm die Uebung fehlte; dies wissend, nahm er sich sehr in Acht und concentrirte Anfangs seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bewegungen seiner Füsse, wie im Institut während der Tanzstunde. Plötzlich lachte das schöne Mädchen, das er diesmal statt eines Kameraden im Arm hielt, laut auf, ohne ihm eine Erklärung dieses Lachens zu geben. –

Er wurde roth und kam aus dem Tact. Mit einem Male wird er sich ihrer Nähe bewußt, er fühlte ihren heißen Athem in seinem Gesicht und sah ihre blitzenden Augen dicht vor den seinen. Die Verwirrung von gestern überkam ihn im verstärkten Maße, ein nie gekannter Schwindel wollte ihn erfassen; da verstummte die Musik, der Tanz war zu Ende.

Wenige Minuten später saß Philipp allein draußen in der Sesenheimer Laube, in der es bereits stark dunkelte. Er wußte kaum wie er dahin gekommen war; ein unklares Gefühl, daß er sich sammeln, zu sich selber kommen müsse, hatte ihn hinausgetrieben.

»Sie behandelt mich wie einen Knaben!« dachte er zornig, während es zum ersten Male heiß in seinem jungen Herzen und Kopfe stürmte. Dann erwachte doch wieder die Stimme der Eitelkeit, die das kokette Mädchen in ihm zu wecken gewußt hatte. »Wenn sie einen Knaben in mir sähe, würde sie sich wohl mit mir abgeben?! – Es ist freilich Niemand sonst da außer diesem schrecklichen Volontär; aber trotzdem: würde sie, die Verwöhnte, sich mit einem Knaben abgeben?«

Die kühle Nachtluft, die über seine Stirne hinstrich, that ihm wohl; beruhigter kehrte er in die Tanzstube zurück. Therese stand dort in einer Ecke und scherzte mit dem Volontär, der sichtlich in ehrfurchtsvoller Bewunderung erstarb. Sie bemerkte sofort Philipps Eintritt und wendete sich ihm mit einem Lächeln zu. Das Blut schoß ihm auf's Neue zu Kopfe; langsam, verwirrt näherte er sich. Der Volontär glotzte Therese an, glotzte Philipp an; es war als dämmerte in seinem Hirn dunkel etwas auf; indessen bereitete er, geschickt oder ungeschickt genug, der Situation ein vorläufiges Ende, indem er, ehe Philipp herangekommen war, Fräulein Felsner zu der eben beginnenden Polka aufforderte.

Beim nächsten Tanz flog das schöne Mädchen mit Philipp dahin; es war nicht der letzte, den er an diesem Abende mit ihr tanzte.

IV.

Wo blieb jeder Gedanke an Illa? Seit dem improvisirten Balle im Pfarrhofe hatte Philipp keinen mehr für sie. Es war als existirte die Kleine nicht. All sein Denken hieß jetzt »Therese.«

Wie er früher täglich in den Wald gewandert war, so wanderte er nun täglich in die Pfarre. Die zärtlichste Freundschaft für Herrn Hugo Felsner schien ihn erfaßt zu haben. Immerfort, auf Spaziergängen, Landpartien, im Pfarrgarten waren die drei beisammen: Hugo, Therese, Philipp. Therese trieb es toll mit Philipp; ihr Bruder, dem zu bangen anfing, machte ihr Vorstellungen. »Bedenke, ein pures Kind!« Aber sie lachte: »Soll ich in diesem Nest umkommen vor Langweile? Das »Kind« – wenn er Dich hörte! – reist ohnehin gar bald ab!«

Die Pfarrdamen merkten nichts. Sie waren seit dem »heidenmäßigen Tanzspektakel« sämmtlich krank, zum ersten Male in ihrem Leben von hartnäckiger Migräne befallen. Drei von ihnen lagen zu Bett, die vierte ging mit eingebundenem Kopf umher und pflegte die andern. Der Pfarrer saß hinter seinen Büchern.

Eines Morgens streifte Philipp schon sehr früh in der Nähe der Pfarre umher, obwohl er unter deren Dach noch Alles schlummernd wähnte. Versunken in knabenhaft leidenschaftliche Schwärmereien ging er gesenkten Blickes einen Hohlweg entlang, der hinter dem Pfarrgarten hinlief; zufällig schaute er auf und sah nun am Ende des Hohlweges eine helle, weibliche Gestalt, die sich soeben aus den Armen eines Mannes löste. Der Mann verschwand um eine Ecke; Therese, denn sie war es, wandte sich in den Hohlweg zurück.

Als sie dabei Philipps ansichtig wurde, der wie angewurzelt stand, schlug eine heiße, selbst aus der Entfernung wahrnehmbare Glut in ihrem Antlitz auf, die jedoch mehr dem Zorne als der Verlegenheit zu entstammen schien. Schon im nächsten Momente faßte sich das routinirte Mädchen. Wie viel Philipp gesehen hatte, wußte sie nicht. Daß er den Mann nicht kannte, dessen war sie sicher. Mit scheinbarer Unbefangenheit kam sie auf ihn zu, fand es »sehr gescheidt«, daß er »an diesem herrlichen Morgen« auch schon aus den Federn sei, und »allerliebst« daß sie einander zufällig getroffen. Nie war sie Philipp gegenüber so zuthunlich, einschmeichelnd, kokett, aufreizend gewesen wie heute; bisher hatte sie mit ihm gespielt in Ermanglung eines besseren Zeitvertreibs; jetzt wünschte sie ihn zu gewinnen, ihn völlig zu unterjochen bis er Schwarz von Weiß nicht mehr würde unterscheiden können.

Allein es kam anders. Mit Philipp war eine merkwürdige Veränderung vorgegangen. Er wunderte sich selbst, daß er ihr so kalt in's Gesicht schaute. »Wie schön Du bist«, dachte er dabei; »wie schön – und wie schlecht!« Er kannte sie auf einmal, kannte sie weit über seine Erfahrung und seine Knabenweisheit hinaus. Sein Gefühl, das unverdorbene Gefühl der Jugend führte ihn. Keine Spur von Eifersucht auf den Mann, den er gesehen, regte sich in ihm; er wußte ganz genau, daß sie den, obwohl es kein Knabe war, ebenso betrog wie ihn, und daß auch er es einmal erkennen würde.

Das Alles war für ihn versunken; ein ganz anderer Name klang unversehens in seinem Ohr, während er neben Theresen der Pfarre zuschritt, ein in den letzten Tagen vergessener Name: Illa. Er konnte sich selbst keine Rechenschaft darüber geben, wie so plötzlich die Gestalt der Kleinen vor seiner Seele stand.

Das schöne Mädchen an seiner Seite schäumte innerlich vor Zorn. Wahrhaftig, dieser unreife Junge, erst so verliebt in sie, widerstand ihr! machte all' ihre Geschicklichkeit zu Schanden! – Sie hatten das Pfarrhaus erreicht, weiter begleiten konnte sie ihn füglich nicht. Mit mühsamer Beherrschung sich zu einem Lächeln zwingend, bot sie Philipp die Hand: »Auf Wiedersehen am Nachmittag; wir wollen ja heute auf den Zeiselsberg.«

»Ich bin leider verhindert«, sagte Philipp ruhig, »ich habe keine Zeit.«

Sie biß sich auf die Lippen. Bah, er trotzt, das Kind! dachte sie dann. »Also auf ein anderes Mal!« rief sie gleichgiltig, ließ ihn stehen und trat in's Haus.

Langsam, mit schweren Gliedern ging Philipp heim. Beim Frühstück erschrak die Großmutter über sein Aussehen. Mit ihrer kühlen welken Hand betastete sie ihm liebevoll besorgt Kopf und Hände.

»Fehlt Dir etwas, Philippchen? Bist Du krank?«

»Nein, Großmama.« Und er zwang sich zu essen und zu trinken.

In den nächsten Tagen verließ er sein Zimmer fast nicht; er habe zu lernen, sich vorzubereiten für den nahen Schulbeginn.

Hugo Felsner brachte eine Einladung zum Mittagessen in der Pfarre; die Hausdamen seien wieder hergestellt; Philipp lehnte aus den erwähnten Gründen dankend ab. Er machte dem Pastor und seinen Töchtern einen kurzen Abschiedsbesuch, wählte aber dazu eine Stunde, zu welcher er Theresen ausgegangen wußte.

Es lag wie ein Bleigewicht auf seiner Jugend. An Illa dachte er viel während dieser Zeit, suchte sie aber nicht auf. Scham hielt ihn ab.

So kam der letzte Tag vor seiner Abreise. Er war beschäftigt, seinen Koffer zu packen. Der alte Wenzel half ihm dabei, so daß Kleider und Wäsche bald untergebracht waren und nur noch Bücher und Kleinigkeiten übrig blieben, die er allein besorgen wollte. Wie er so Buch um Buch vom eichenen Wandbrettchen herablangte und auf einen Stuhl schichtete, schlug er gedankenlos den Deckel des einen und anderen auf. Das Titelblatt eines dünnen Bändchens fesselte seinen Blick.

»Der Verschwender.«

Er erinnerte sich, wie gut das Stück Illa gefallen hatte, wie entzückt sie über das Hobellied gewesen. Das Buch in der Hand behaltend, setzte er sich auf den Rand des Koffers und begann darin zu blättern. Alle die freundlichen, erquicklichen Stunden, die er mit dem kleinen Mädchen im Walde verlebt, stiegen in frischen Farben vor seinem Geiste auf; ein lebhaftes Verlangen erfaßte ihn, Illa das Buch zum Andenken zu schenken. Sollte er es ihr schicken? Dann mußte er dazu schreiben; er war aber nicht gewöhnt, schriftlich mit ihr zu verkehren. Sollte er es ihr bringen? – Philipp blickte nach dem Fenster, es war auch heute schönes Wetter; sicher saß sie an ihrem Platze! – Er fühlte, daß er sie so sehr gern noch einmal gesehen hätte, erst in diesem Augenblicke fühlte er: wie gerne! … aber was sollte er ihr sagen?

Grübelnd und schwankend saß er eine Weile. Plötzlich erhob er sich, ließ das Buch in seine Tasche gleiten, nahm seinen Hut und gieng hinaus. Ob er sie ansprechen, ihr das Buch geben oder bloß von Weitem verstohlen nach ihr blicken würde – er wußte es selbst nicht, während er auf den Wald zuschritt.

Die Blätter raschelten herbstlich auf seinem Wege; – bisher hatte er gar nicht bemerkt, daß der Sommer vorbei war!

Illa befand sich an der gewohnten Stelle, durch das gelichtete Gesträuch schon aus der Entfernung sichtbar. Die Arme unter dem Kopfe verschlungen, den Blick nach dem Himmel gerichtet, so ruhte sie in ihrem Rollsessel.

Philipp blieb zögernd stehen, als er sie erblickte. Sie bemerkte ihn nicht, ihre Gedanken mußten anderswo sein. Da er sie so betrachtete, empfand er einen plötzlichen Schrecken. Sie kam ihm merkwürdig verändert vor – viel älter, als wäre er Jahre, nicht acht Tage ferngeblieben. Sie sah gar nicht mehr aus wie ein Kind; ihr zartes, feines Gesicht war länger und durchsichtiger geworden, die Augen erschienen noch größer als früher, der Ausdruck, die ganze Haltung der lieblichen Gestalt gemahnten an eine Erwachsene.

Aber dies war es nicht allein! …

Geheimnißvolle Gewalten mußten das kranke Kind berührt haben, während der Zeit, da er, von andern Gedanken beherrscht, es vernachlässigt hatte. –

In seiner Betroffenheit schritt Philipp weiter vor. Mit einem Male zuckte Illa zusammen, richtete sich empor und horchte, wobei eine tiefe Röthe ihr Antlitz überflog. Im nächsten Moment hatte sie ihn entdeckt.

Es waren nur wenige Sekunden, die sie unbeweglich verharrte, während die Röthe ihrer Wangen langsam wieder verblich; gleich darauf streckte sie ihm herzlich wie immer und ganz so als hätten sie sich erst gestern getrennt, die kleine Hand entgegen.

»Das ist schön, daß Sie da sind. – Sie reisen nun wohl bald?« sagte sie in ihrer freundlichen, stillen Weise.

»Morgen«, antwortete Philipp tonlos, ohne sie anzusehen. Dann setzte er sich auf seinen alten Platz, den Baumstamm.

Wie gewöhnlich war es sehr still im Wald. Man hörte jedes welke Blatt, das irgendwo zu Boden fiel.

Philipp kam alles wie ein Traum vor.

»Man thut oft etwas, das man nachher gern nicht gethan haben möchte«, dachte er immerfort.

Illa bemühte sich von verschiedenen Dingen zu reden. Von der Anstalt, in die er zurückkehrte, daß er sich freuen werde, seine Kameraden wieder zu sehen, und Anderes. Aber er gab keine Antworten; die Kehle war ihm wie zugeschnürt und er verstand nicht, was Illa sprach. Da verstummte auch sie.

Plötzlich erinnerte er sich des Buches. Er zog es aus der Tasche und bot es ihr. »Ich habe Ihnen da etwas gebracht – ein Andenken – wollen Sie es nehmen?« sagte er stockend.

Die Röthe von vorhin stieg wieder für einen Augenblick in ihre Wangen. »Ich danke Ihnen« erwiderte sie herzlich in sichtlicher Freude, nur mit leiserer Stimme, als sie früher sprach; »ich will oft darin lesen, es ist schön!«

Wieder herrschte Stille. Philipp starrte vor sich hin. Wie von geheimer Macht getrieben, blickte er nach einer Weile auf. In Illa's Augen standen große glänzende Perlen, – die ersten Frauenthränen, die um seinetwillen flossen!

Er sprang auf, warf sich vor dem jungen Mädchen nieder, barg sein Haupt in ihrem Schooße und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.

In diesem heißen, stürmischen Weinen löste sich der Krampf, der sein Herz zusammengepreßt hielt, löste sich all' die innere, reuvermischte Bedrängniß seiner jungen Seele, auch das schreckensvolle Leid, das bei Illa's Anblick ihn heute jäh durchzuckt!

Er fühlte wie er ruhiger wurde, je länger seine Thränen strömten, wie die hochgespannte Aufregung seines Gemüthes sich allmälig zu tiefer, stiller Wehmuth besänftigte.

Illa erbebte, als sie ihn so ganz aufgelöst sah. Leise beugte sie sich herab und legte ihr Gesicht auf sein Haar.

»Sie müssen ein tüchtiger Mann werden, Philipp, damit ich stolz darauf sein kann, Sie gekannt zu haben«, flüsterte sie in fast mütterlichem Tone.

Er erhob sich, trocknete sein Antlitz und sah sie an. Zu reden vermochte er nicht. Sie fühlten auch Beide, daß nichts mehr zu reden war. Schweigend reichten sie einander die Hände nach einer Weile.

»Leben Sie wohl, Philipp«, sagte Illa; »ich will recht oft an Sie denken, und an die fröhlichen Stunden, die ich mit Ihnen verlebt habe.«

Auch jetzt fand er kein Wort; die Thränen drohten ihm auf's Neue zu entstürzen. Er küßte blos stumm die schmale Kinderhand, mit einer Ehrfurcht, als wär's in der That die einer Mutter, und wandte sich dann zum Gehen.

Ehe er in das Gebüsch drang, das sie seinen Augen entziehen mußte, blickte er noch einmal zurück.

Illa hatte sich in ihrem Stuhle halb aufgerichtet und winkte ihm mit der Hand zu. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die Baumkronen schräg auf sie und umleuchteten ihr freundlich lächelndes Antlitz, mit dem Zuge der Verklärung darauf.

Philipp fühlte, daß er einen jener Augenblicke erlebte, die man nie wieder vergißt.

Er wußte, daß, wie alt er auch werden mochte, er sie immer so vor sich sehen würde, sein Leben lang: ein Bild der reinsten Zärtlichkeit – und Ergebung.

*

Am Abend, dem letzten Abende, den er in dem märchenstillen Schlößchen verlebte – ein Jahr später war es noch stiller, denn da schliefen die greisen Besitzer friedlich unten in der Gruft, bei ihren vorausgegangenen Kindern – erzählte er der Großmutter von Illa und bat, daß sie ihr nachfragen und gut für sie sein möchte.

Die Großmutter versprach's gern; aber am meisten beschäftigte sie doch der Gedanke an Philipp selbst.

»Die Ferien schlugen ihm heuer nicht so gut an, wie sonst«, klagte sie dem Gatten, »er sah besser aus, da er kam, als da er geht!«

Der alte Herr mühte sich tapfer den Schlaf zu besiegen, der ihn eben beschleichen wollte, schob die herabgerutschte Brille zurecht und musterte nun liebevoll den Enkel.

»Er ist gewachsen, Mariechen! davon kommt's«, beschwichtigte er freundlich. –

Der nächste Morgen brachte den ersten, dichten Herbstnebel. Wie ein niedergerollter Vorhang deckte er die Welt, die Philipp hinter sich zurückließ, als er im selben Wagen der ihn vor Wochen geholt, nun wieder zur Bahn fuhr.

Diesmal öffnete sich, als die herrschaftliche Equipage am Pfarrhause vorbeirollte, ein Fenster desselben und ein noch unfrisirter Kopf erschien darunter. Da der Abreisende nicht herüberblickte, wurde der Fensterflügel im nächsten Moment heftig wieder zugeworfen.

In der Anstalt gab Philipp sich völlig seinen Studien hin. Die Lehrer, die Kameraden, bemerkten es wohl, daß er als ein anderer zurückgekehrt sei. Das Leben hatte ihn gestreift; wenn auch dessen heiße, gefahrbringende Wogen ihn erst viel später voll umrauschen sollten.

Der erste Schnee des Jahres fiel in leisen weichen Flocken vom Himmel nieder, als für Philipp ein längerer Brief der Großmutter eintraf. Das Schreiben wollte der alten Frau nicht mehr recht von der Hand gehen, darum beschränkte sie sich meistens auf wenige, zärtliche Worte. Heute aber waren es vier Seiten. Sie brachten zweierlei Botschaft: daß das liebe Kind, die Illa, wie lange vorauszusehen gewesen, am 20. Oktober in ein besseres Leben hinübergeschlummert sei, sanft und schmerzlos, und daß, wie im Forsthause große Trauer, so in der Pfarre tiefe Bestürzung herrsche, denn Therese habe Schande gebracht über ihre Verwandten, indem sie kürzlich mit einem Circusreiter durchging. Ihre braven Cousinen könnten sich gar nicht darüber beruhigen, ein solches Wesen unter ihrem anständigen Dache beherbergt, und es in das Schloß gebracht zu haben!

Dieser zweite Theil des Briefes ward von Philipp kaum beachtet; aber auf den ersten starrte er so lange und in so völliger Versunkenheit nieder, daß ihn endlich ein Kamerad auf die Schulter schlug:

»Was hast Du, Philipp?!«

»Ich dachte an meine Ferien!«


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