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Zu spät.

Anselm Bredler zählte fünfzig Jahre. Schön war er nicht; eher häßlich. Und doch nicht häßlich! Denn auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck unendlicher Milde und Herzensgüte, der es verschönte. Betrachtete man übrigens seine Züge genauer, was wohl selten Jemand einfiel, so sagte man sich mit Ueberraschung, daß sie auch an sich nicht häßlich waren, ja in der Jugend sogar recht hübsch gewesen sein mußten.

In der Jugend! War denn dies Gesicht jemals jung gewesen? Nicht jeder Mensch hat eine Jugend.

Die Bewohner des Stadttheiles, in welchem Anselm's Bureau lag, erinnerten sich nicht, ihn je anders gesehen zu haben, als er jetzt aussah, und doch waren es nun beinahe dreißig Jahre her, daß er Tag für Tag an ihnen vorüberging, um in seine Amtsstube zu gelangen.

Es gibt solche Persönlichkeiten. Sie machen einen gleichsam verstaubten Eindruck; man wird unwillkürlich an Dinge erinnert, die lange nicht an die frische Luft gekommen sind.

Anselm war der Sohn eines vermögenslosen kleinen Beamten. Seine Eltern starben früh und nach ihrem Tode nahm ein Oheim – der einzige Verwandte, den er hatte – den Verwaisten in sein Haus. Dort verlebte er eine mühselige Kindheit. Der Onkel, der selbst nichts besaß als eine magere Lehrerstelle, ließ es den Knaben fühlen, daß er ihm eine Last war, und wies ihn bei jeder Gelegenheit darauf hin, daß er trachten müsse, sich möglichst bald sein Brod selbst zu verdienen. So kam es, daß Anselm bald nur einen Gedanken, nur ein Streben kannte: sich aus eigener Kraft zu erhalten.

Als Student unterrichtete er jüngere Kinder und saß dann die halben Nächte bei elender Beleuchtung auf, um Zeit zu seinen eigenen Studien zu gewinnen. Später trat er in den Staatsdienst. Er diente von der Pike auf, er war ein armer Teufel, er hatte keine Freunde, keine Protection; man kann sich daher denken, wie langsam er es vorwärts brachte! Jahre und Jahre hindurch arbeitete er mit unermüdlichem Fleiße und vollster Hingebung für eine Besoldung, die ihn gerade nur vor dem Verhungern schützte. Er wußte, daß nur wenn er sich ungewöhnlich hervorthat, wenn er durch seinen Eifer im Dienst und seine Brauchbarkeit alle Anderen übertraf, auf ein Fortkommen für ihn zu hoffen war. Er widmete daher alle seine Kräfte, alle seine Gedanken diesem Zwecke.

Ueber diesem harten, unausgesetzten Kampfe um die materielle Existenz verfloß sein Leben. Er fand nicht Zeit, andere Dinge zu cultiviren, sich mit Anderem zu beschäftigen. Er hatte nicht Zeit, »jung« zu sein.

Als seine seltene Pflichttreue und große Verwendbarkeit ihm endlich Anerkennung und mehrfache Beförderung errangen, und er sich in Folge dessen mit der Zeit in einer hübschen, angesehenen Stellung und einer Lage sah, die ihm zum ersten Mal in seinem Leben ein Ausruhen erlaubt hätte, befand er sich schon in vorgerückten Jahren, war er bereits derart an seine regelmäßige Bureauthätigkeit gewöhnt, hatte er sich gänzlich in den Gedanken eingelebt, sich blos als ein Rad an der großen Maschine, Staat genannt, zu betrachten, und war mit seinem ganzen Denken und Fühlen so eingerostet in dem Kreis, in welchem er sich so lange ausschließlich bewegt hatte, daß er gar nicht daran dachte, eine Aenderung in seiner Lebensweise eintreten zu lassen. Er hatte das Wesen, dem er seine besten Kräfte geopfert, den Staat, lieb gewonnen, er fühlte sich als zu ihm gehörig, als ein Glied desselben, und es kam ihm daher nicht entfernt in den Sinn, ihm untreu zu werden, nun er nicht mehr gezwungen war, zu dienen.

Nach wie vor widmete er sich vielmehr gänzlich seinem Berufe. Aber auch im Uebrigen lebte er ganz so fort, wie bisher; er behielt die Einfachheit bei, die ihm durch lange Gewöhnung zur zweiten Natur geworden war.

Nur in einer Beziehung gestattete er sich jetzt einen Luxus.

Er hatte immer die Blumen geliebt. Als Kind schon war seine einzige Passion gewesen, zu »gärtnern«.

In zerbrochene Scherben hatte er damals von der Wiese geholte Märzveilchenstöcke und Gänseblümchen gepflanzt und war überglücklich gewesen, als ein Nachbar ihm einmal einen Geraniumstrauch geschenkt.

Auch später blieb die Blumenpflege seine einzige Nebenbeschäftigung; Reseda, Nelken, Veilchen, hie und da wohl auch eine Rose, waren die einzigen nicht »unumgänglich nothwendigen« Dinge, für die er sich erlaubte ein wenig Geld auszugeben, denen er sich vergönnte, ein Viertelstündchen seines fleißigen Tages zu schenken. Niemals fehlte es in seinem kahlen Zimmer, seiner armseligen Schreibstube gänzlich an diesen lieblichen Kindern der Natur. Jetzt nun, seit er nicht mehr genöthigt war, ängstlich jeden Groschen zu berechnen, konnte er endlich einer stets gehegten Sehnsucht genügen, er konnte sich Haarlemer Hyazinthen- und Tulpenzwiebel, Tazetten, Krokus etc. kommen lassen, und seitdem sah es in seinen Wohnräumen und seiner Kanzlei auch des Winters aus wie in einem Blumengarten.

Täglich wanderte er, wie gesagt, auch jetzt denselben Weg in sein Bureau im Ministerialgebäude. Alt und Jung in der ganzen Straße war so gewöhnt, den pünktlichen Beamten stets zu derselben Stunde, in seinem immer gleichen, grauen Anzug – er trug nur, wenn er dem Minister pflichtschuldigst seine Neujahrsgratulation darbrachte, oder bei sonstigen, selten vorkommenden, offiziellen Gelegenheiten einen andern – mit einem Aktenbündel unter dem linken Arme erscheinen und um die Ecke biegen zu sehen, daß es sie Alle sicherlich gestört hätte, wenn er einmal ausgeblieben wäre oder sich in seiner Kleidung oder Haltung verändert gezeigt hätte.

Dem Kastanienbrater an der Ecke, der Obstfrau unter dem Thor eines Hauses, den Dienstmännern auf ihrem Standplatze und der Straßenjugend diente er als lebendige Uhr; wenn der »Herr Rath« des Morgens in's Ministerium ging, wußten sie mit vollster Genauigkeit, daß es gleich die achte Stunde schlagen würde. Seine Rückkehr hingegen war weniger bestimmt, sie hing davon ab, wann er seine Geschäfte beendet hatte; niemals jedoch, mochte es auch noch so spät sein, verließ er sein Amt, ohne noch eine Arbeit mitzunehmen, die er daheim, nach seinem im Gasthaus eingenommenen Mittagessen, erledigte; ja oft, in besonders dringenden Fällen, kam es vor, daß er am Nachmittage nochmals in das Bureau zurückkehrte.

Eines Tages lag unter den vielen Postsachen, die Anselm an jedem Morgen auf seinem Schreibtische erwarteten, ein kleines blaues Couvert, mit einer kleinen, feinen Schrift beschrieben. Er wußte nicht, warum er zuerst danach griff; es war bloßer Zufall. Er erhielt oft Damenbriefe; Briefe von Witwen, die um eine Pension, von Waisen, die um eine Unterstützung, von armen Müttern, die um Erziehungsbeiträge oder Stiftplätze für ihre Kinder ansuchten, und die sich alle den Beamten, in dessen Ressort diese Angelegenheiten gehörten, geneigt zu machen trachteten. Es gab da viel Gutes zu thun und er hatte auch schon Vieles gethan, ganz im Stillen, ohne daß Jemand davon wußte oder sprach. Er hatte es gethan, weil er es für eine Pflicht seiner Stellung hielt, zu helfen, wo geholfen werden konnte, und weil er stets ein sehr pflichtgetreuer Mensch gewesen; sein Herz war daran nur insofern betheiligt, als es, immer voll Menschenfreundlichkeit und Mitleid, im Allgemeinen das Verlangen fühlte, Leid und Kummer zu lindern, soweit in seiner Macht lag. Ein persönliches Interesse aber hatte ihn dabei bisher nie geleitet; er kannte die Leute nicht, für die er sich verwendete, sah sie oft nicht einmal, und sie standen ihm sein Lebenlang fern. Er nahm sich ihrer an, wenn er glaubte, daß sie es verdienten, und war ihre Sache erledigt, dann hatte er sie auch vergessen.

Als er den blauen Brief öffnete, dachte er, das werde wohl auch ein solches Bittschreiben sein. Es war auch eines. Die vaterlose Waise eines Beamten suchte die Hilfe des Staates nach, damit ihre blinde Mutter, die vor einiger Zeit den Fuß gebrochen hatte, in das Bad reisen könne, welches der Arzt als zur Heilung des letzteren Uebels für unumgänglich nothwendig bezeichnet, und sie flehte Bredler an, durch seinen vielvermögenden Einfluß die Erfüllung ihrer Bitte herbeizuführen.

Anselm kannte diese Bittstellerin so wenig wie alle die übrigen; aber während er las, fühlte er zum ersten Male seine persönliche Theilnahme angeregt. Das Schreiben war so ganz anders als alle die zu empfangen er gewöhnt war; es wehte ihn daraus an wie der Hauch einer frischen, guten, kindlichen und dabei doch starken und verständigen Seele. Es war ihm, als stiege der Duft einer reinen, süßen Blume aus dem Blättchen mit den warmen, klaren, herzigen Worten. Er überlas es zweimal und betrachtete mit ungewöhnlicher Sympathie die kleine kritzliche Schrift. Es rührte ihn ganz besonders das feste, zweifellose Vertrauen in seine Güte und Herzensfreundlichkeit, das eine ganz Fremde ihm da entgegenbrachte, und der Entschluß entstand sofort in ihm, daß dieses unschuldvolle Vertrauen des jungen Mädchens um keinen Preis getäuscht werden solle. Allsogleich erhob er sich, um nach dem Gesuch zu sehen; er hatte es bald gefunden und trug das Actenbündel zu seinem Tische. Zuerst durchging er die Bittschrift; er glaubte darin denselben Stil zu entdecken und es war auch dieselbe Schrift, wie in dem Briefe; das Mädchen mußte es selbst geschrieben haben, ein Beweis, daß sie wohl sehr einsam und freundlos sei! Dann betrachtete er die beigelegten Zeugnisse. Es erwies sich Alles in Ordnung; Arzt und Behörde bestätigten in dringendster Weise die gänzliche Mittellosigkeit und die Nothwendigkeit der Badekur. Anselm legte dies Paket Acten abseits von den anderen und zeichnete in Bezug darauf in sein Notizbuch die Anmerkung: »Wichtig«, ehe er zum Lesen der übrigen Postsachen überging.

Kurze Zeit darauf befand sich die blinde Witwe im Besitze der erbetenen Unterstützung. Das betreffende Gesuch war von dem Referenten der Angelegenheit dem Minister derart warm empfohlen worden, daß dieser sich veranlaßt gesehen, es zu gewähren.

An Anselm Bredler kam ein blauer Brief voll des innigsten Dankes. Er erfreute ihn sehr. Die Worte, die darin standen, waren so lieb und warm empfunden und ungekünstelt; sie verriethen wieder so deutlich das hingebende Kind, das Wesen mit dem treuen, tiefen Gemüth und der unverdorbenen, unschuldvollen Seele, daß in Anselm auf's Neue die lebhafteste Theilnahme für die unbekannte Schreiberin erwachte. Er antwortete ihr und frug sie, ob er nicht sonst noch irgend etwas für sie thun könne: er sei ein alter Mann und es würde ihn freuen, wenn er in der schwierigen Lage, in der sie sich befinde, mit der Erfahrung seiner Jahre ihrer Jugend an die Hand gehen dürfte; die Kindesliebe, die sich in ihren Zeilen ausgesprochen, ihr energisches Handeln für die hilflose Mutter, das traurige Schicksal derselben habe ihn tief bewegt und es wäre ihm eine wahre Befriedigung, wenn es in seiner Macht stände, dazu beizutragen, das Loos einer so braven, edlen Tochter freundlicher zu gestalten. Vielleicht, so meinte er, würde sein des Lebens und der Welt kundigeres Auge eher einen Weg dazu entdecken, als das ihre, wenn sie das freundliche Vertrauen, das sie schon in ihn gesetzt und das er auf das Höchste zu schätzen wisse, noch dahin zu erweitern sich entschließen könne, um ihn über alle Umstände und Verhältnisse ihres Lebens genau zu unterrichten, damit er sich ein Urtheil zu bilden und die richtigen Mittel zu erwägen vermöge.

Dieses unerwartete Schreiben des Beamten rief bei der blinden Witwe Erhardt und ihrer Tochter die froheste Ueberraschung hervor. Der hilfsbereite Freund, der den schwergeprüften Frauen da so unverhofft entgegentrat, erschien ihnen wie ein Bote des Himmels. Aus jedem seiner Worte sprach Ehrenhaftigkeit und ein edler Charakter; sie zögerten daher auch nicht, ihm mit der rückhaltlosen Offenheit zu begegnen, um die er gebeten. Sie hatten ja übrigens auch nichts zu verbergen! Es gab kein Geheimniß in ihrem einfachen, trauererfüllten Leben.

So entspann sich eine Correspondenz zwischen zwei Menschen, die sich nie gesehen hatten und die auf ganz verschiedenen Altersstufen standen.

Die Briefe des jungen Mädchens wurden dem alternden Manne bald unentbehrlich. Ihr gemüthvolles, verständiges Geplauder that ihm wohl, erheiterte und erfrischte ihn; es bereitete ihm, nach seinem eigenen Ausdruck, stets einen »guten Tag«. Wenn er durch Verdrießlichkeiten im Amte, durch zahlreiche lästige Besuche, die ihn in seinen Arbeiten störten, oder durch allzu große Ueberhäufung mit letzteren einmal mißmuthig war und der Postbote brachte ihm dann ein blaues Couvert, so genügte der bloße Anblick desselben, um seine Verstimmung sofort zu verscheuchen, frohere Laune und Zufriedenheit in seine Brust wieder einkehren zu lassen.

Mela schrieb einen guten Stil; jedoch nicht dies war es, was ihre Briefe dem ernsten Manne so angenehm machte, sondern es entzückten ihn immer wieder von Neuem die inneren Eigenschaften der Schreiberin, die sich in diesen Blättern, ihr unbewußt spiegelten. Er freute sich der schönen Natur, die sich da vor ihm entfaltete, mit der stillen, tiefen Befriedigung, die einen guten Menschen erfüllt, wenn er in Anderen das »Gute« findet. Wie ein köstliches Geschenk aber empfand er das immer mehr sich entwickelnde, hingebende, wahrhafte Vertrauen und die kindliche Anhänglichkeit, die Mela in ihrer grenzenlosen Dankbarkeit ihm schenkte. Es war, als ob das warmfühlende Mädchen instinctiv erriethe, daß sie dem einsamen Manne auf keine Weise besser lohnen könne, als eben durch diese Art, mit der sie ihm begegnete. Die Empfindung, zu wissen, daß es auf dieser Welt ein Wesen gab, welches ihn betrachtete wie einen rettenden Engel; welchem er der einzige Freund war, und das sich auf ihn stützte, wie ein Kind sich auf die Hand des Vaters stützt; ein Wesen, das herzlich seiner gedachte, das Antheil an seinem Ergehen nahm; das sich um sein Wohl und Wehe, sein Leben und Treiben bekümmerte, diese Empfindung war neu für Anselm, und da es Mela war, welche sie ihn kennen lehrte, so hatte er Recht, wenn er ihr schrieb, daß nicht er ihr Wohlthäter, sondern sie seine Wohlthäterin geworden sei.

Unausgesetzt gab Bredler, seinem Versprechen gemäß, sich alle erdenkliche Mühe, der wahrhaft trostlosen materiellen Lage der beiden Frauen abzuhelfen. Lange wollte sich aber durchaus kein Weg dazu finden lassen, weil der Umstand, daß Mela die Mutter nicht verlassen konnte, ein großes Hinderniß bildete. Endlich erfuhr Anselm im Laufe des Briefwechsels zufällig, daß das junge Mädchen durch die Güte einer reichen Dame, welche als einstige Pensionsfreundin ihrer Mutter derselben bis zu ihrem nur zu früh erfolgten Tode eine Gönnerin geblieben war, und die auch Mela's ganze Erziehung bestritten, sie zeichnen und malen auf Porzellan gelehrt hatte, worin die erwähnte Dame selbst sehr geschickt gewesen sei; leider aber – fügte Mela bei – böte sich ihr gar keine Möglichkeit zur Verwerthung dieses kleinen Talentes, welches sonst wohl einträglicher sein dürfte, als ihre bisherige Nadelarbeit.

Diese Stelle in einem der blauen Briefe – es war eine Eigenthümlichkeit seiner jungen Correspondentin, daß sie immer auf blaues Papier schrieb – gab Anselm eine Idee: was in Mela's kleinem Wohnort nicht möglich war, konnte in der Residenz möglich sein. Er bat das Mädchen, ihm eine Probe ihrer Kunstfertigkeit zu senden, und legte dieselbe hierauf dem Chef der ersten Porzellanfabrik vor. Dieser, ein alter, in der industriellen Welt wohl angesehener Herr, betrachtete das kleine bemalte Schälchen von allen Seiten, fand die Arbeit sehr gut und besonders – was eine Hauptsache sei – sehr geschmackvoll, und erklärte sich zum Schlusse gern bereit, die Dame zu beschäftigen, hinlänglich und auf die Dauer zu beschäftigen, wenn sie in die Hauptstadt ziehen wolle. Anselm erkundigte sich, ob die Arbeit außerhalb der Fabrik ausgeführt werden dürfe und wie hoch sich der Ertrag belaufen würde, und da sämmtliche Antworten völlig befriedigend lauteten, kehrte er eilig heim und schrieb freudeerfüllt augenblicklich an Mela.

Schon wenige Wochen später vollzog sich die Uebersiedlung des jungen Mädchens und ihrer Mutter.

Eines Abends stand Anselm in seinem grauen Anzug auf dem Bahnhofe und erwartete seine niegesehenen Freundinnen. Er wollte sie empfangen und in ihr neues Heim führen. Er selbst hatte ihnen dieses Heim bereitet. In allen freien Stunden war er unermüdlich durch die Stadt gegangen, um eine passende Wohnung zu finden. Es war nicht ganz leicht. Endlich gelang es ihm, weit draußen, wo der Zins billig, und die Luft um Vieles besser ist, als in den glänzenden inneren Stadttheilen, ein kleines, in einem Garten liegendes, fliederumranktes Häuschen zu entdecken, das nur von einem alten Gärtner mit seiner eben so alten Frau und deren Enkelin bewohnt wurde, und in welchem gerade zwei nette helle Stübchen leer standen. Diese Stübchen miethete Anselm, als Frau Erhardt's Bevollmächtigter; er kannte die Gärtnersleute und es war ihm lieb, die beiden einsamen Frauen bei ordentlichen Menschen untergebracht zu wissen. Auch traf es sich gut, daß die Enkeltochter, ein frisches, freundliches junges Mädchen, ihre Bedienung besorgen konnte; weiters dachte Bredler, das Gärtchen werde eine wahre Wohlthat für die Blinde sein.

Er ließ die beiden Zimmer säubern und herrichten, die Wände frisch malen, gute Oefen setzen; und er war es auch, der die vorangesandten Möbel der Frau Erhardt in Empfang nahm und nach bestem Ermessen ihre Aufstellung ordnete und überwachte. Zum Schluß aber, als Alles fertig und bereit war, schaffte er seine schönsten Blumen hinaus und stellte sie an die Fenster.

Alle diese Beschäftigungen machten ihn unendlich glücklich. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er für Jemand zu sorgen hatte!

Die Obstfrau aus seiner Straße, die ihn schon seit so langer Zeit kannte, blickte ihm erstaunt nach, wenn sie ihn täglich zu ungewohnten Stunden an sich vorbeieilen sah, und meinte kopfschüttelnd: der »Herr Rath« komme ihr ganz anders vor als sonst.

Und nun befand er sich auf dem Bahnhofe und blickte nach den Rauchwolken, welche die herannahende Locomotive voraussandte.

Der Zug brauste in die Halle und gleich darauf strömten die Passagiere aus den Waggons. Bredler spähte umher und dachte eben besorgt, ob Mela und er sich wohl nach den ausgetauschten Photographien erkennen würden, und ob es überhaupt möglich sei, sich in diesem Gewühl zu finden, als plötzlich eine schlanke, zierliche Mädchengestalt, die eine blinde Frau am Arme führte, vor ihm auftauchte und, rasch auf ihn zutretend, ihm lächelnd eine kleine Hand entgegenstreckte, – die Hand, welche die blauen Briefe geschrieben hatte!

Anselm stand im ersten Augenblicke stumm vor Ueberraschung und mußte sich gewaltsam fassen, um die freundliche Begrüßung zu erwidern, die Sorge für das Gepäck zu übernehmen und die Damen zu einem Wagen zu geleiten. Als endlich Alles besorgt war und alle Drei wohlverwahrt in dem dahinrollenden Fiaker saßen, da blickte er immer wieder mit unverminderter, obwohl unterdrückter Ueberraschung auf Mela, die sich ihm gegenüber befand und unbefangen, wenngleich ein wenig erregt über die Erlebnisse der Reise und den Abschied von der alten Heimat, berichtete, dazwischen liebevolle Fragen in Betreff ihres Befindens an die sichtlich erschöpfte und angegriffene Mutter richtend.

Er hatte sie sich nicht so jung gedacht und – nicht halb so schön! Was das Erstere betrifft, so hatte ihm allerdings aus ihren ersten Briefen und wohl auch später noch etwas Kindliches zu sprechen geschienen; aber daneben war ihm so viel tiefer Ernst, so viel Verständigkeit und Reife entgegengetreten, das Mädchen war so ganz auf seine Ideen eingegangen, hatte ihn stets so gut verstanden, hatte an allen seinen Interessen Antheil genommen wie eine gleichalterige Freundin, daß ihm darüber der Unterschied der Jahre ganz aus den Augen gekommen war; und wußte er gleichwohl, daß sie noch jung sei, so hatte sich doch die Annahme in ihm festgesetzt daß sie nicht mehr in der ersten Jugend stehen könne. Er hatte oft gelesen, daß es weibliche Wesen gebe, die sich einen kindlichen Zug selbst bis in das höchste Alter zu bewahren wissen, und zu der Gattung dieser lieblichen Frauen glaubte er Mela zählen zu sollen. Ihre Photographie bestärkte ihn in dieser Annahme; dieses von einem schlechten Photographen verfertigte Bild gab nicht entfernt die Frische und den Liebreiz in der Erscheinung des jungen Mädchens wieder, und nur der gewinnende, zum Herzen sprechende Ausdruck ihrer Augen war darauf annähernd getroffen. Daher auch der Irrthum Anselm's über das Aeußere seiner kleinen Freundin. Er konnte sich nicht enthalten, sie lächelnd zu fragen, ob sie denn gar nicht eitel sei, da sie ihm ein solches Bild gesandt? Sie lächelte auch und erröthete dabei.

»O ja doch!« sagte sie ehrlich; »aber ich besaß kein anderes, und in N. existirt kein besserer Photograph, und ich wollte doch Ihren Wunsch erfüllen. Ich habe Ihnen ja gestanden, daß ich mich nicht sehr ähnlich finde!«

Er betrachtete sie mit einem eigenthümlichen Gemisch von Empfindungen; er wußte selbst nicht, warum sich etwas Schmerzliches hinein mengte! Vielleicht, weil er sich dieß junge, blühende Geschöpf fremder, ferner stehen fühlte, als die reifere, erfahrenere Jungfrau, die ihm in Gedanken vorgeschwebt. Wohl hatte er sie oft in seinen Briefen seine liebe Tochter genannt; jedoch die ältere Tochter vermag dem Vater zugleich auch Freundin, Vertraute zu sein, – dies hier war ein Kind!

Aber er täuschte sich! Er sah bald, daß sein beim ersten Anblick gefaßtes Urtheil ein voreiliges gewesen. Wohl war Mela ein Kind, zählte sie doch erst achtzehn Jahre; aber sie war ein Kind der Sorge und des Kummers, ein Kind das schon seit Jahren die einzige Stütze einer hilflosen Mutter war, das sich früh genöthigt gesehen, selbstständig zu denken und zu handeln, in dem, da es auf sich selbst angewiesen war, Charakter und Geist sich frühzeitiger entwickelt hatten, als sonst der Fall ist. Den frischen Jugendmuth, den heitern, hoffnungsvollen Blick in die Welt aber, den angeborenen Frohsinn ihrer Natur, hatte alles Traurige ihres Schicksals Mela nicht rauben können, und daher kam die seltene Mischung, die ihr Wesen ausmachte.

Anselm konnte klug und ernst mit ihr reden, er konnte Alles, was ihn beschäftigte, mit ihr besprechen und sicher sein, stets Verständniß und Theilnahme bei ihr zu finden; dann aber konnte sie auch wieder so heiter plaudern und scherzen, so kindlich hell lachen, ja solch' tolles, neckisches Zeug treiben, daß er und selbst die arme Blinde gewaltsam in ihre Fröhlichkeit mit hineingerissen, gleichsam davon angesteckt wurden.

Für den einsamen Beamten begann mit dem Abende, an welchem er die beiden Frauen in ihre zwei kleinen Stübchen geführt, ein neues Leben. Täglich pilgerte er nun, nach Beendigung seiner Tagesaufgabe, hinaus in das Fliederhäuschen. Kein Wetter, höchstens einmal dringende Geschäfte, die ihn auch außer den Amtsstunden in Anspruch nahmen, hinderten ihn, den weiten Weg zu machen. Er lernte dort zuerst kennen, was ihm sein Lebenlang fremd geblieben war: häusliches Behagen. Es war alles so licht und nett und freundlich in der bescheidenen Wohnung der Wittwe; gerade so wie die, welche es mit weiblich sorgsamer Hand in Stand hielt. Die blinde Frau saß in ihrem Lehnstuhl am Fenster, auf dessen Gesimse die Blumen dufteten und neben welchem das Tischchen mit dem Kanarienvogel stand; ein blendend weißes Häubchen umgab das blasse, ergebene Gesicht der Leidenden, über welches immer ein dankbares Lächeln glitt, wenn der treue Freund eintrat. Mela, stets frisch, rosig und heiter, sprang ihm gewöhnlich schon im Gärtchen entgegen, wenn sie ihn kommen gesehen, und hing sich vertraulich an seinen Arm, um ihn zur Mutter zu führen. – Ihr Leben war doch gewiß einfach und sie sahen sich alle Tage; aber trotzdem hatte sie ihm stets eine Menge zu erzählen! Was sie unter Tags gethan, was sie sich Alles gedacht und ersonnen, was sie für Kindereien getrieben und so weiter, und dabei war sie emsig damit beschäftigt den Tisch zu decken und eine kleine Erfrischung aufzutragen, die Anselm besser mundete als ihm noch je etwas gemundet hatte.

Dann gingen sie, war das Wetter gut, alle Drei in's Gärtchen hinaus und saßen unter den Fliederbüschen, bis der Mond hoch am Himmel stand und die Blinde mahnte, daß es Zeit sei, die Ruhe zu suchen.

Die gänzliche Veränderung seines Lebens wirkte auf Anselm wie helles Tageslicht auf eine lang im Schatten gestandene Pflanze. Er wurde ein ganz Anderer. Dem fünfzigjährigen Manne schien es, als habe der Flieder kein Jahr so süß geduftet, die Sonne nie so leuchtend geschienen und die Rosen nie so schön geblüht. Die ganze Natur war ihm verwandelt, denn er sah sie zum ersten Male mit Augen an, die der Aktenstaub nicht mehr trübte. Er war noch derselbe pünktliche Beamte, er hatte sogar seine Pedanterie nicht abgelegt – Mela neckte ihn oft damit – aber er war sich zum ersten Male bewußt, daß er noch etwas Anderes sei, als ein Beamter, als ein Rad an der rastlos treibenden Maschine, – er war sich bewußt vielmehr er fühlte zum ersten Male, daß er auch ein Mensch wie alle Anderen sei, daß er, gleich ihnen, ein für Lust und Leid empfängliches Herz in der Brust trage, daß er, gleich ihnen, sein Theil an Freude und Schmuck des menschlichen Daseins verlange und zu verlangen berechtigt sei! Wenn er jetzt heimkam in seine stille Wohnung, dachte er oft, wie anders es wäre, wenn er in seiner Jugend ein Weib da herein geführt hätte, hätte führen dürfen; wie er jetzt eine Tochter haben könnte gleich Mela, die ihn lieben und kindlich für ihn sorgen würde, wie Mela es so gut verstand; wie er sich dann bei der Arbeit im Bureau stets auf die Heimkehr freuen würde, da er wußte, daß ihn an der Schwelle seines Daheim ein liebes, fröhliches Gesicht empfangen würde, wie das draußen im Fliederhäuschen.

Er suchte sich oft in eine süße Täuschung hineinzuwiegen, indem er Mela »seine Tochter« nannte, wie er es schon in den Briefen häufig gethan; sie schien es gern zu hören, und doch konnte ihr dabei manchmal, mitten im fröhlichen Lachen, plötzlich eine Thräne in's Auge treten. Sie hatte nie einen Vater besessen! So weit ihre Erinnerung reichte, umfaßte sie nur ein Grab. Und ihr Vater war auf eine so furchtbare Weise um's Leben gekommen! Blühend hatte er das Haus verlassen, um einen Geschäftsgang zu machen; durchgehende Pferde waren ihm, um eine Ecke herum, entgegengestürmt und hatten ihn zu Boden gerissen, ehe er ihnen ausweichen konnte, und als verunstaltete Leiche brachte man ihn zu seiner Frau und seinem zwei Monate alten Kinde zurück. Damals war es, wo die Mutter, die ihn leidenschaftlich geliebt, so viele Thränen vergoß, daß darüber ihre ohnedem schwachen Augen erblindeten, und dieser Art schon als Kind stützelos, berufen, einer Andern Stütze zu werden, hatte Mela den Vater doppelt schwer entbehrt.

Darum rührte es sie tief, daß nun ein Fremder die verwaiste Stelle auszufüllen suchte, und diese Empfindung war es, die ihre Augen feuchtete. –

Der Sommer verfloß und der Winter kam. Jetzt war es schon dunkel, wenn Bredler zu seinen Freundinnen wandelte, und man saß nicht mehr im Garten, sondern um den runden Tisch, auf dem die Lampe brannte und der in der Ofenecke stand, wo es so gut warm war. Und dann schmolzen Schnee und Eis wieder und es wurde abermals Frühling, und der Flieder blühte auf's Neue, – zum zweiten Male seit Mela's Einzug in das kleine Haus.

Es gieng den beiden Frauen jetzt bedeutend besser. Das junge Mädchen erwarb so viel, daß sie sich vor der Noth, die früher oft an ihre Thür gepocht hatte, geschützt sahen; ja daß die Blinde so manche lang entbehrte Erquickung und Bequemlichkeit genießen konnte. Dabei war Mela's Beschäftigung eine wenig anstrengende und zierliche, und erlaubte ihr, neben dem Lehnstuhle der alten Frau sitzend und mit ihr plaudernd zu arbeiten. Sie erhielt die Teller, Tassen etc. aus der Fabrik zugesandt, und der Ueberbringer nahm die fertigen gleich wieder in die Fabrik zurück, wo sie gebrannt wurden. Von dort wandelten sie dann in die Kaufläden. Oftmals, wenn Mela einen Spaziergang machte oder Geschäfte besorgte, blieb sie lächelnd vor einem Schaufenster stehen, hinter dessen Glastafeln ihre Arbeit prangte.

Doch fehlte es auch jetzt nicht an Schatten in der kleinen Haushaltung. Die Mutter litt im Winter viele Schmerzen in dem verletzten Fuße, den sie noch immer nicht gut gebrauchen konnte, und der Arzt verlangte, sie solle nochmals das Bad besuchen, in welchem sie schon einmal gewesen war. Dazu reichte der Inhalt der kleinen Casse doch nicht aus, mochte Mela auch noch so fleißig sein und noch so sehr sparen. Diesmal aber brauchte das Mädchen sich nicht mit dem Gesuche zu bemühen, zu welchem wieder Zuflucht genommen werden mußte. Anselm besorgte alles selbst und brachte bald die Bewilligung der nöthigen Summe und überdies noch Fahrkarten zu halben Preisen, die er erwirkt hatte. Mela war unaussprechlich selig und dankbar; sie hätte ihm in ihrer überwallenden Freude am liebsten die Hände geküßt, und fiel ihr förmlich schwer, es sich zu versagen. Fest aber gelobte sie sich, ihrem Wohlthäter, dem sie so Vieles verdankte, ihrerseits alles Liebe und Angenehme zu erweisen, das nur in ihrer Macht stünde, ihn in jeder Weise zu erheitern und zu erfreuen, und so suchte sie ihm mit doppelter Anhänglichkeit und doppeltem Vertrauen zu begegnen, da sie wußte, daß dieses ihm der liebste Lohn und Dank sei, und zeigte sich unerschöpflich in freundlichen Aufmerksamkeiten für ihn.

Die einfachen Reisevorbereitungen waren bald getroffen, und bald auch hielt Anselm einen der wohlbekannten blauen Briefe in der Hand, dem rasch mehrere folgten. Er liebte diese Briefe noch ebenso wie einst, aber sie befriedigten ihn nicht mehr in gleichem Maße, woran jedoch Mela keine Schuld trug. Er fühlte eine unendliche Leere um sich, seit das Fliederhäuschen verlassen stand. Die Abende waren eine unerträgliche Zeit für ihn geworden und er wußte sie nicht besser auszufüllen, als indem er auch jetzt täglich hinauswanderte; es war ihm lieb, wenigstens den Ort zu sehen, wo er so viele angenehme Stunden, die angenehmsten seines Lebens, verlebt hatte, und er sagte sich, daß er nachsehen müsse, ob die Zimmer vorschriftsmäßig gelüftet würden, ob die Enkelin des Gärtners Mela's Blumen sorgsam pflegte und ob in Garten und Haus Alles beim Alten sei.

Gewöhnlich setzte er sich dann ein wenig auf Mela's Lieblingsplätzchen, horchte dem Gesang der Vögel und sah Schmetterlingen zu, wie sie von Blume zu Blume flatterten. Es wurde ihm aber sehr bang um die Seele, wenn er so allein dasaß, und da ging er lieber bald wieder. Auf dem Heimwege durchzuckte es ihn manchmal wie ein Todesschreck: wenn sie gar nicht mehr wiederkäme! Aber dann lachte er sich selbst aus ob seiner Gespensterfurcht: »Wo sollte sie denn hingehen, wenn nicht hieher zurück, wo doch ihr Heim war, das er ihr so treulich hütete!«

Mela's Briefe brachten gute Nachrichten; die Mutter erhole sich sichtlich und empfinde schon bedeutend weniger Schmerzen, und sie selbst sei frisch und gesund, schrieb das Mädchen; sie gedächten Beide sehr oft des lieben Freundes und sprächen viel von ihm.

Einmal berichtete sie – es war ihre Gewohnheit, Anselm jede Kleinigkeit zu erzählen, die vorfiel – von einem Abenteuer, das gottlob gut abgelaufen war. »Die Mutter,« so lautete der treue Bericht, »saß vorgestern Abend mit mir im Park an einer einsamen Stelle unweit des Curhauses, und fand, daß es plötzlich kühl werde. Da sie gleichwohl nicht Lust hatte, schon in's Zimmer zurückzukehren, erbot ich mich, ihr einen Shawl zu holen, indem ich glaubte, daß ich sie für die wenigen Minuten, deren ich bedurfte, um in unsere Wohnung zu gelangen und mit dem Shawl zurückzukommen, wohl allein lassen könnte. Sie war derselben Meinung und so entfernte ich mich ganz beruhigt. Als ich wiederkehrte, fand ich einen jungen Herrn neben ihr auf der Bank sitzen und in ihrem bleichen Gesichte die Spuren vergossener Thränen. Auf meine erschrockene Frage theilte mir die Aermste mit, eine Schaar gottloser Gassenjungen habe sich während meiner Abwesenheit um sie versammelt, sie ihrer Blindheit halber verhöhnt und verlacht, sie am Kleide gerissen und ihr die Krücke weggenommen, mit der sie anfangs vergeblich versucht, sie zu verscheuchen. Da sei der fremde Herr des Weges gekommen, habe die Rangen auseinander gejagt, sich zu ihrem Schutze zu ihr gesetzt und ihr, die das Gefühl ihrer Hilflosigkeit in Weinen ausbrechen gemacht, freundlich tröstend zugesprochen. So hatte ich die Beiden gefunden. Ich habe dem Fremden recht herzlich gedankt, daß er meinem Mütterchen beigestanden; es treten mir die Thränen in die Augen, wenn ich an die Angst und Aufregung denke, die meine liebe Blinde in jenen Momenten erlitt, in welchen sie so verlassen war!«

»Der junge Herr heißt Robert S. und ist Ingenieur; er ist nicht als Kranker hier, sondern weil er bei dem Bau der neuen Eisenbahn beschäftigt ist, die in der Nähe des Bades angelegt wird. Er hat uns gestern auf der Promenade angesprochen, um nach Mamas Befinden zu fragen, und es ist möglich, daß wir ihn noch einige Male sehen, da man hier, wie in allen kleinen Orten, eigentlich Jedermann auf Schritt und Schritt begegnet.«

Anselm las die Stellen, welche von dem jungen Fremden handelten, öfter durch als die anderen Theile des Schreibens. Einen Augenblick wollte ihn dabei die alte Angst überfallen: »Wenn sie nicht wieder käme!« Doch er schüttelte, sich beruhigend, den Kopf: »Thorheit! Sie ist ja noch ein Kind! Noch nicht zwanzig Jahre.« Zwanzig Jahre! Zwanzig Jahre kamen Anselm so wenig vor, daß ihm in der That schien, als trügen Mela's Füßchen noch die Kinderschuhe.

Unwillkürlich trat er dann an seinen Schreibtisch und kramte unter halbvergessenen Papieren seinen Taufschein hervor. Er starrte unbewußt lange darauf nieder und fuhr sich dabei mehrmals mit der Hand über die Stirn. Sein vergangenes Leben stieg vor ihm auf. Er dachte, wie sonderbar es sei, daß er niemals jung gewesen; niemals »zwanzig Jahre« alt! –

Mela erwähnte ihre neue Bekanntschaft nicht mehr und als sie nach einigen Wochen mit der fast ganz hergestellten Mutter heimkehrte, war sie in Allem und Jedem die Alte; nur vielleicht noch weicher, noch schmiegsamer, noch aufmerksamer gegen die Blinde und ihn, und noch schöner erblüht.

Anselm genoß das ihm wiedergeschenkte Glück in vollen Zügen; er fühlte sich innerlich freudiger, zufriedener, wunschloser denn je, und voll stiller Dankbarkeit gegen das Geschick, welches ihm diesen späten Sonnenstrahl aufbewahrt.

Die alte Tagesordnung wurde wieder aufgenommen und die Zeit strich gleichmäßig und friedlich dahin.

Die Obstfrau äußerte gegen ihren alten Vertrauten, den Kastanienbrater, der »Herr Rath« werde wahrhaftig jung; so gut wie jetzt habe er noch gar nie ausgesehen.

Das »Verstaubte« in Anselm's Physiognomie war gänzlich verschwunden. –

Von dem jungen Ingenieur wurde wenig gesprochen. Die Blinde wiederholte die Geschichte, welche Mela geschrieben, und lobte den freundlichen Beschützer. Mela mischte sich nicht in das Gespräch; sie deckte gerade den Tisch und ging dabei hin und wieder. Als sie dann doch hineingezogen wurde, sprach sie nur von dem Schreck, den sie gefühlt, da sie die Mutter verweint erblickte.

Anselm fand, daß keine Veranlassung vorliege, weiter zu fragen. –

Als der Herbst herannahte und im Gärtchen die Georginen und Astern in vollster Blüte prangten, theilte die Witwe ihm eines Abends mit, Ingenieur S. sei in Geschäften für einige wenige Tage in die Residenz gekommen und habe sie am Vormittag besucht. Es war schon zu dämmerig, um Mela's Züge deutlich wahrzunehmen, doch schien sich in ihrem ganzen Wesen nichts Ungewöhnliches kundzugeben, und jedenfalls begegnete sie dem Freunde völlig in der alten Weise. Anselm bekämpfte die Unruhe, die mächtig in ihm aufsteigen wollte, indem er sich erinnerte, wie ganz unverändert Mela von der Reise wiedergekehrt sei, und wie sie seitdem den jungen Mann kaum erwähnt, kaum seinen Namen genannt! Dennoch wollte ihn ein eigenthümliches, nie gekanntes Gefühl von diesem Augenblicke an nicht verlassen.

Der nächste Tag war einer der wenigen im Jahre, an denen unaufschiebbare Amtsgeschäfte es Bredler unmöglich machten, seine Freundinnen zu besuchen, und auch den nächstfolgenden konnte er noch nicht abkommen. Am dritten aber schritt er endlich wieder zu gewohnter Stunde dem kleinen Häuschen zu.

Mela hatte ihm am Nachmittag ein Briefchen gesandt, um nachzufragen, wie es ihm gehe, sowie, wann er denn wieder kommen würde, und darin erwähnt, daß Robert S. abgereist sei und am Morgen von ihnen Abschied genommen habe.

Als Anselm eintrat, begrüßte ihn das junge Mädchen mit lauten Aeußerungen der Freude, ihn nach ungewohnt langer Abwesenheit wiederzusehen. Er bemerkte sofort eine Veränderung in ihrem Wesen. Ihre Blicke strahlten, ihre Wangen waren geröthet, und sie erschien den ganzen Abend über auffallend weich, zärtlich und sichtlich bewegt.

Eine eigenthümliche Aufregung ergriff den sonst so ruhigen Mann.

Er war ohnedem schon diese Tage her nervös gewesen; die Ueberbürdung mit Arbeit, der Zwang, sich ganz und gar mit amtlichen Dingen beschäftigen zu müssen, während seine Gedanken nach anderer Richtung strebten, mochten dazu beigetragen haben, sein inneres Gleichgewicht zu stören. Er wußte selbst nicht, welch' ein Sturm sich plötzlich in ihm erhob; er konnte sich nicht Rechenschaft ablegen über die Gedanken, die in seinem Kopfe einen wilden Reigen aufführten; er fühlte nur, daß er sich selbst nicht mehr kannte, daß er ein Anderer sei, als bisher! Es war ihm, als leuchte man plötzlich mit einer grellen Fackel in sein Herz hinein und zöge ein dort längst verborgenes Geheimniß an's Licht.

Er konnte der hochgehenden Wogen nicht Herr werden und hatte die größte Mühe, sich soweit zu beherrschen, um äußerlich ruhig zu erscheinen.

Das Gespräch flackerte den ganzen Abend unruhig hin und her. Die Blinde hob manchmal erstaunt den Kopf, wenn sie bemerkte, daß in dem sonst so wohl zusammenklingenden Trio heute ihre Stimme allein sich in der gewohnten Tonart bewegte.

Bredler verweilte länger als gewöhnlich, und als er, die Müdigkeit auf dem Antlitz der Leidenden gewahr werdend, sich endlich zum Aufbruch entschloß, blieb er, schon unter der Thüre, noch stehen und hielt Mela's zum Abschiede gereichte Hand lange in der seinen. Es schien dabei, als wolle Jedes von ihnen etwas sagen, und doch blieben Beide stumm. Sie waren Beide aufgeregt; die Folge davon war, daß Keines die Aufregung des Andern gewahrte.

Endlich riß Anselm sich los und ging. Als er ein kleines Stück entfernt war, lief sie ihm nach.

Im Gärtchen holte sie ihn ein. Er hörte ihren leichten Schritt und wandte sich wie im Traume um. Im Mondlicht stand sie vor ihm; ihr Gesichtchen war ganz roth und sie sah sehr verwirrt aus. Das Herz schlug ihm zum Zerspringen. Dennoch beherrschte er sich:

»Wünschen Sie noch etwas, liebe Mela?« Er konnte doch nicht verhindern, daß seine Stimme zitterte. Jedoch sie bemerkte es nicht; die ihre bebte nicht weniger:

»Ich – ich – ich möchte Ihnen gerne etwas sagen! …« und in ihrer hilflosen Befangenheit that sie, was sie noch nie gethan, sie lehnte ihr Köpfchen an seine Schulter und verbarg ihr Gesicht an seinem Rocke.

Da kam es über den tieferregten, unter der Berührung wie von einem elektrischen Strahl getroffen, erbebenden Mann wie ein berückender, betäubender, unfaßbarer, alle Himmelsseligkeiten überwiegender Traum! Er wußte nicht, wie ihm geschah, er verlor alles klare Bewußtsein; es schwindelte vor seinen Augen, als erblickten sie nie geahnten Glanz, und es war ihm, als brausten unzählige Engelchöre durch die Luft ringsum.

Mechanisch beugte er sich zu dem kleinen Köpfchen herab, und halb unbewußt sagten seine Lippen:

»Nun? …« Wie weich und zitternd das klang! …

Mela antwortete nicht gleich; sie kämpfte mit ihrer Bewegung.

Endlich hob sie das Antlitz ein wenig, um es seinem Ohre näher zu bringen:

»Ich liebe Robert und Robert liebt mich! …«

Lachten nicht alle Geister der Hölle aus den dunklen Büschen des Gartens? …

Anselm schrie nicht auf. Er blieb ganz ruhig. Er war ja fünfzig Jahre alt … Nur reden konnte er nicht gleich. Eine Weile herrschte das lautlose Schweigen der Nacht.

Das junge Mädchen fürchtete, der Freund könne verletzt sein, weil sie ihm bisher aus ihrer Neigung ein Geheimniß gemacht:

»Ich konnte nicht früher davon reden, wahrhaftig nicht!« sagte sie deßhalb weich und bittend. »Nicht einmal mit der Mutter; es war mir unmöglich! Und dann – ich war mir auch eigentlich selbst nicht klar, bis heute – bis Robert davon sprach, als – als er mich zum Weibe begehrte!« Sie verbarg abermals ihr purpurüberströmtes Antlitz, um es jedoch sogleich wieder zu heben und Anselm mit ihren ehrlichen Augen anzusehen: »Da aber beschloß ich gleich, daß Sie der Erste sein sollten, der es erführe. Und das ist auch! Sogar Mama weiß es noch nicht; sie fühlte sich heute Morgens unwohl und konnte Robert nicht sprechen; er wird ihr schreiben, da er nicht länger bleiben konnte. Ich aber wollt' es ihr nicht heute mittheilen, denn – es ist der Todestag meines Vaters!«

Leise Wehmuth verschleierte die Stimme der Sprechenden. Ueberwältigt von der Macht ihrer Empfindungen warf sie sich plötzlich an seine Brust und schlang ihre Arme um seinen Hals: »Du bist mir ein Vater gewesen, ein treuer, fürsorgender Vater! Du hast über die Verwaiste alle Liebe und Güte eines zärtlichen Vaters ausgegossen … so segne denn heute mich und den Mann, den ich liebe, damit wir des väterlichen Segens nicht entbehren!« Sie brach in Schluchzen aus.

Er war blaß wie ein Todter. Er schloß die Arme nicht um sie, die da an seinem Herzen lag; er wußte, daß er es nicht konnte, ohne sich zu verrathen. Er legte bloß leise die Hand auf ihren Scheitel: »Gott segne euch! …« Er wunderte sich selbst, wie ruhig er es sagte; bloß daß die eigene Stimme ihm dabei ganz fremd erschien; so als höre er einen Andern reden.

Mela trocknete ihre Thränen. Sie beugte sich und – diesmal versagte sie es sich nicht – preßte ihre Lippen auf seine Hand.

Auch dieses noch! Vielleicht war es schlimmer als alles Bisherige: das Kind küßt dem »Vater« die Hand.

Jedoch er beherrschte sich auch jetzt, obwohl er im ersten Moment zusammenzuckte, als habe glühendes Eisen ihn berührt.

Wenn er sich verrathen hätte? … Wie lächerlich!

Die Mutter rief vom Fenster nach Mela, indem sie die Befürchtung aussprach, daß die Nachtluft ihr schädlich werden könne, und mit einem innigen Gutenachtgruß huschte das Mädchen davon.

Anselm Bredler ging seiner Wohnung zu.

Er lernte bald darauf Mela's Bräutigam kennen, der die Geliebte während des Brautstandes mehrmals besuchte, und bei der Trauung, die nach einiger Zeit stattfand, fungirte er als Beistand. Dann kam eine Stunde, in der Mela wieder an seinem Halse lag und schluchzend von ihrem lieben Vater und Wohlthäter Abschied nahm; und hierauf versperrte Anselm die zwei kleinen ausgeräumten Zimmer und übergab die Schlüssel den Gärtnersleuten. Die blinde Mutter nahmen die Kinder natürlich mit sich; sie sollte bei ihnen ein frohes, sorgenloses Alter verleben.

Es dauerte nicht lange und in das kleine Haus mit dem Garten, in welchem der viele Flieder wuchs, zogen fremde Menschen ein.

Anselm ging nie wieder hinaus, er vermied, wo es thunlich war, den ganzen Stadttheil, in dem es lag.

Er war immer fleißig; fleißiger noch als je in seinem fleißigen Leben!

Die Personen, die mit ihm zu thun hatten, fanden, daß er, obwohl niemals sehr gesprächig, doch auffallend wortkarg geworden sei, und die Obstfrau, die nach wie vor ihre Aepfel feil hielt, sagte mitleidig bedauernd: nachdem der »Herr Rath« eine Zeitlang so gut ausgesehen habe, altere er jetzt erschreckend schnell.

Er lebte noch abgeschlossener als einstens, und die Menschen gewöhnten sich, ihn als ein »Original« zu betrachten. Seine ehemalige Passion für die Blumen hatte er ganz aufgegeben; er zog keine mehr. Es genügte ihm nicht mehr, Pflanzen zu pflegen und zu lieben; er fand hinfort keine Freude an ihrem Dufte und an der Pracht ihrer Blüthen.

Damit schwand der einzige Schmuck, der einzige freundliche Strahl aus seiner Behausung.

Selbst die blauen Briefe erfreuten ihn nicht mehr, welche die dankbare und treue Mela ihm regelmäßig schrieb. Es kostete ihn immer Ueberwindung, einen davon zu öffnen; er wußte, daß er dann tagelang auf's Neue zu kämpfen hatte. Winterstürme sind immer die schlimmsten. –

Seine Antworten waren nur kurz und erzwungen; er schützte stets Ueberhäufung mit Arbeit vor. Ob in Mela niemals eine Ahnung aufdämmerte, woher es kam, daß der alte Freund seit dem Abende, an welchem sie ihm ihre Verlobung mitgetheilt, nicht mehr die gewohnte unbefangene Herzlichkeit für sie habe?! Schwerlich! Die junge Frau wurde durch ihr neues Leben, durch die Pflichten desselben, durch ihren sich bald vergrößernden Familienkreis in Anspruch genommen, und – sie war glücklich; Glückliche aber haben kein scharfes Auge für das, was in Anderen vorgeht. Das Glück ist in gewisser Art immer egoistisch.

Mela und Robert richteten vereint mehrmals die Bitte an Anselm, sein Amt aufzugeben und zu ihnen zu ziehen, wo er wie ein geliebter Vater gepflegt und gehegt werden würde. Er schlug es jedesmal ab, indem er erklärte, ohne seine gewohnte Thätigkeit nicht leben zu können. Sie drangen hierauf in ihn, wenigsten für einige Zeit Urlaub zu nehmen und sie zu besuchen; aber auch dieses wußte er immer wieder hinauszuschieben, bis der Plan endlich in Vergessenheit gerieth. –

Manchmal wollte es Anselm trotz allen Fleißes und Eifers mit der Arbeit doch nicht so recht gelingen; es schien ihm wie ein Druck auf seinem Kopfe zu liegen, der ihm die Gedanken verwirrte. Dann ließ er die Hand mit der Feder sinken und seine Augen starrten in's Leere. Die jungen Konzipisten an ihren Pulten im Nebenzimmer sahen einander an und deuteten durch die offene Thür verstohlen nach dem »Sonderling«.


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