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Die Häßliche.

Blanche Seemann war häßlich.

Es gibt verschiedene Arten von Häßlichen. Es gibt jene gewissen Erscheinungen, welche man » les belles laides« nennt, bei welchen der aus den Augen und von den Lippen sprühende Geist und Witz, im Verein mit einem ganz undefinirbaren, eigenthümlichen, pikanten Reize, die körperliche Mißform vergessen macht; und es gibt andere, deren unregelmäßige Züge wir im Einzelnen unleugbar als häßlich bezeichnen müssen und die doch im Ganzen nicht den Eindruck erwecken, es zu sein, weil die große Anmuth ihrer Bewegungen, oder das freundliche, gewinnende Lächeln ihres Mundes, noch unterstützt vielleicht durch ein lebhaftes sprechendes Auge, sie schön erscheinen läßt. In Romanen gibt es auch noch eine dritte Species, jene beliebten Heldinnen, die in den ersten Capiteln dem Leser als häßlich vorgestellt werden, sich in den letzten aber – mittelst welchen geheimnißvollen Zaubermittels, ist mir unbekannt – als wahre Schönheitsideale entpuppen; jene wunderbaren Persönlichkeiten, die beim Anfang der Erzählung rothe Haare haben und zu Ende das herrlichste Goldblond, und deren übriges Aeußere in derselben Zeit eine dem entsprechende Wandlung zu erfahren scheint.

An keine von allen diesen Arten von Häßlichen denke ich. Die ich meine, das sind jene Wesen, die bei einem von der Natur stiefmütterlich bedachten Körper vielleicht Geist besitzen, aber ihn nicht zeigen können; welche vielleicht der edelsten, tiefsten und großmüthigsten Empfindungen fähig sind, ohne daß ihnen ein anmuthiges Lächeln oder sonst ein Mittel zu Gebote stünde, die schönen Eigenschaften ihrer Seele und ihres Herzens dem Auge angenehm zu verrathen; deren Gestalt vielleicht nicht immer schlecht gebaut ist, die aber trotz aller Mühe, die sie sich geben mögen, niemals andere als eckige, ungelenke, unschöne Bewegungen zu Stande bringen. Diese Armen, denen gar nichts verliehen ward, was den Eindruck ihrer Häßlichkeit zu verwischen oder doch zu mildern vermöchte, diese wirklich und allein wirklich Häßlichen sind es, die ich meine.

Zu diesen gehörte Blanche Seemann.

Die Mutter hatte für das zweitgeborene Töchterchen den Namen bestimmt. Bei dem ersten Kinde war sie zu ihrem Leidwesen genöthigt gewesen, der Familientradition nachzugeben, welche das so viel einfacher klingende »Susanne« verlangte. Die Folge lehrte, daß die Familientradition Unrecht hatte: der Name der jüngeren hätte weit besser für die ältere Schwester gepaßt! Ein Wesen, welches Blanche gerufen wird, stellt man sich unwillkürlich zart und graziös vor; allein an Blanche Seemann war schon in der Kindheit nichts Anmuthiges zu bemerken gewesen! Ein schmales, gelbliches Gesichtchen, kleine matte Augen, braunschwarzes, glanzloses Haar und eine unscheinbare verkümmerte Gestalt – so sah sie aus.

Was jugendliche Frische heißt, die fast jedes Gesicht – wenigstens für kurze Zeit verschönt – das hatte Blanche nie gekannt: sie erschien selbst mit sechzehn Jahren alt und reizlos.

Alle ihre Schwestern – sie besaß deren vier – waren hübsch; nur sie nicht. Das machte sie noch häßlicher.

Vater und Mutter liebten auch ihr häßliches Kind. Allein – sie bemitleideten es! Nicht alle Menschen wissen und bedenken, daß Mitleid die bitterste aller Gaben ist, welche geboten werden kann.

»Mein armes Mädchen!« sagte Frau Seemann und strich Blanche traurig, liebkosend über den Scheitel, wenn nach der Rückkehr von einem Balle die anderen Töchter in fröhlichem Geplauder das gehabte Vergnügen besprachen, während die Sitzengebliebene still ihren Putz forträumte.

»Unser armes Mädchen!« stand jedesmal auf den Gesichtern der Eltern geschrieben, wenn sie sich umsahen im Kreise ihrer blühenden Kinder und ihr Auge auf die Einzige fiel, die das anmuthige Bild störte. Still seufzend gedachte die Mutter dabei der unerfüllt gebliebenen Hoffnungen, die sich ihr mit dem Namen Blanche verwoben, still seufzend der Vater an die Zukunft der unbemittelten Tochter, für die auf einen Freier nie gerechnet werden konnte!

Es ist hart, für Andere ein Gegenstand der Enttäuschung zu sein. Es ist hart, den Blick der Eltern nicht mit Freude auf sich ruhen zu sehen. Vater und Mutter bedauerten ihr häßliches Kind, aber – auch sich!

»Wenn sie nur lustiger, nur etwas beweglicher sein wollte, dann wäre es nicht so schlimm!« sagten sie oft im Stillen zu einander. Aber Blanche konnte eben beim besten Willen das Alles nicht sein, und jeder mißlungene Versuch nach dieser Richtung hin machte sie nur noch stiller und unsicherer.

Die hübschen Schwestern waren gutmüthige Geschöpfe, etwas oberflächlich, etwas ungestüm, etwas unüberlegt manchmal, wie die glückliche Jugend es oft ist, aber durchaus nicht bösen Herzens. Wenn in Gesprächen hie und da ein unbedachtes Wort fiel, das die Häßliche verletzen oder an ihr Mißgeschick mahnen konnte, so blickten sicherlich im nächsten Momente alle vier erschrocken nach ihr hin und die betretenen, aufrichtig betrübten Mienen der Schwestern verriethen dann stets deutlich genug, wie gern sie das böse Wort zurückgenommen, den peinlichen Eindruck verwischt hätten. So vergingen die Jahre der Jugend für Blanche. Einen, zwei Winter hindurch begleitete sie die Schwestern auf Bälle, in Gesellschaften. Als sie sah, daß es immer dasselbe blieb, daß Brüdern und Cousins immer wieder die unangenehme Aufgabe zufiel, Tänzer für sie pressen zu müssen, während die Tanzkarten der Schwestern nie ausreichten, die Namen der Bewerber zu fassen; daß die Herren mit spöttischem Lächeln über das »Mauerblümchen« hinwegsahen, und die Mädchen und Frauen es mit bedauernden Blicken betrachteten, in denen deutlich zu lesen stand: »Gott sei Dank, daß wir nicht sind, wie diese!« da blieb sie lieber fort. Wenn der Wagen mit den festlich geschmückten Eltern und Geschwistern davongerollt war, setzte sie sich in dem todtenstillen Zimmer an den Kamin und starrte in die Flammen.

»Ich werde ja einmal alt werden«, dachte sie zuweilen, »und dann wird es gleich sein!«

Ach ja, man wird einmal alt!

Blanche fühlte sich einsam mitten im Kreise ihrer Familie. Zum Theile war es ihre Schuld, wenigstens schien es so; sie zog sich von Tag zu Tag mehr in sich zurück, schloß ihr Inneres immer fester von den Ihrigen ab. Allein, was scheuchte sie zurück? Härte zwar nicht, nicht grausamer Spott, aber – das Mitleid! das Bedauern! das Bewußtsein, daß sie keines Menschen Freude war!

Die Hand des Glücklichen reicht dem Armen oft in freundlichster Gesinnung eine Gabe dar, allein der Arme ist manchmal zu stolz, ein Almosen empfangen zu wollen.

Es war nur Einer, dem gegenüber Blanche nicht die Empfindung hatte, daß seine Güte ein Almosen sei. Er lebte in ihrem Vaterhause; er war darin aufgewachsen; ohne ihr verwandt zu sein. Seine sterbenden Eltern hatten die ihrigen, mit denen sie eng befreundet gewesen, gebeten, dem Knaben bei sich eine Heimat zu bereiten. Die war ihm zu Theil geworden; die ganze Familie hatte ihn lieb, er wurde wie ein Sohn des Hauses betrachtet. Erwin verdiente die Zuneigung, die man ihm schenkte; aus einem liebenswürdigen, munteren Knaben war ein tüchtiger, strebsamer Mann geworden. Geistig begabt, hatte er sich ein warmes Herz und ein freundliches Gemüth bewahrt. Seine Jugendgespielin Blanche erfuhr dies bei vielen Gelegenheiten. Gerade sie, die Häßliche, erfreute sich seiner besonderen Aufmerksamkeit; sein ritterlicher Sinn fühlte die unbewußte Zurücksetzung heraus, welche sie so häufig selbst von Seite ihrer Angehörigen erlitt und instinctiv suchte er die Empfindung derselben in ihr zu mildern. Wenn alle Anderen sie übersahen, zeigte es sich gewöhnlich, daß er ihrer gedachte.

Einige Dankbarkeit mochte zu den herzlichen Rücksichten beitragen, die er für sie hatte; Blanche war es gewesen, die dem lebhaften, übermüthigen Schuljungen manche Rüge, wohl auch mitunter eine Strafe erspart, die manches Loch in seinen Kleidern heimlich ausgebessert, manchen Fleck, ehe ihn der Mutter Auge entdeckte, geschickt vertilgt, die gar oft bei einer schwierigen Aufgabe mitgeholfen, geduldig immer wieder die lateinischen Vocabeln überhört hatte und deren mühsam ersparte Sechser regelmäßig in die Büchse des allezeit geldbedürftigen Kameraden geglitten waren. Blanche auch war es, bei der Erwin stets ein williges Ohr und ein Herz fand, das immer bereit war, auf jede seiner Stimmungen und Ideen einzugehen und jeden seiner Wünsche zu erfüllen, so weit die Erfüllung überhaupt in ihrer Macht lag.

Zu jeder Zeit, in jeder Stunde konnte Erwin auf eine freundliche Miene bei Blanche rechnen; zu jeder Zeit durfte er sicher sein, daß sein Wort ihr als Gesetz und Evangelium gelten werde. Allein Niemand beachtete es, Niemand dachte darüber nach, auch er selbst nicht. Es war ja immer so gewesen, seit Kinderzeiten! Und wem fiel es ein, aufmerksamer zu beobachten, was in dem Innern des häßlichen Mädchens vorging? Manches Herz aber, das scheu in sich zurückgezogen sein bestes Leben dem oberflächlichen Blicke verbirgt, will studirt sein, soll es verstanden werden!

Seit einiger Zeit war Erwin verändert. Nicht, daß er weniger freundlich gewesen wäre; aber er war verschlossen und dabei sichtlich tief niedergedrückt. In unsäglicher Angst beobachtete ihn Blanche, ohne doch eine Frage zu wagen. Sein Vertrauen war stets die beste Freude ihres Lebens gewesen – erzwingen durfte sie es nicht.

Sie wartete. Schweigend wie Alles, trug sie die Pein. Er bemerkte es nicht, mit welchem Bangen ihr rothgeweintes Auge an seinem Auge hing.

Plötzlich kündigte er den Seinen an, daß er als Arzt – dies war sein Beruf – sich einer Naturforscher-Gesellschaft anschließen wolle, die nach Norwegen ging, Niemand, auch nicht der Vater, konnte ihm das Geständniß abringen, was ihn dazu bewog.

Hundertmal des Tages frug Blanche sich in ihrem Herzen: »Wie werde ich das Leben tragen?« … und ebenso oft drängte sich die Frage, die sie doch nimmer auszusprechen wagte, auf ihre Lippen: »Warum gehst Du?«

Endlich, am Vorabende seiner Reise, in der Dämmerstunde, als er eben das Zimmer, in welchem er sich mit Blanche allein befand, verlassen wollte, um noch einige Vorkehrungen zu treffen, stieß der bleiche Mund des häßlichen Mädchens das lang verschlossene Wort dennoch aus. Erwin blieb stehen und sah sie an. Es war ein langer Blick. Wie ein Krampf ging es dabei über seine Züge. Dann ließ er die Thürklinke los, machte einige Schritte zu ihr zurück und indem er mit seinen beiden Händen ihren Kopf faßte und einen Kuß auf ihre Stirn drückte, flüsterte er leise: »Ja, Dir, meine theure, meine liebe Blanche! Dir will ich es sagen, ehe ich gehe – Dir allein! Ich – liebe Alma – sie aber zieht einen Anderen vor!« Seine Finger preßten krampfhaft die ihren und auf seinem Antlitz rang der Stolz mit dem Schmerze. – »Du begreifst, daß ich gehen muß. Du begreifst, daß ich niemals um Liebe betteln, daß ich nimmer um ein Herz kämpfen werde, das sich mir versagt. Du weißt jetzt, warum ich gehe, Blanche!«

Seine Stimme zitterte heftig; er küßte sie noch einmal und eilte dann hastig hinaus, als fürchtete er, daß die Beherrschung ihn verlassen könnte.

Blanche ruhte schweigend, wie leblos fast, im Lehnstuhle.

Ihr gelbliches Gesicht erschien zum ersten Male weiß – weiß wie ein Leichentuch. Sie regte und rührte sich nicht; nur manchmal fuhr sie mit der Hand über die Stelle ihrer Stirne, auf die er sie geküßt.

Nach einer Weile erhob sie sich mühsam. Mechanisch holte sie ihren Hut, ihre Mantille; sie wußte selbst nicht, was sie trieb; sie hatte ein dunkles heftiges Verlangen Alma zu sehen, das Mädchen, das er liebte und – das ihn nicht wieder liebte.

Es war keine Stunde für Besuche. Alma und ihre Stiefmutter zählten zu den intimeren Bekannten des Seemann'schen Hauses und da die beiden Familien sehr nahe bei einander wohnten, kamen die Mädchen oft und zu den verschiedensten Stunden des Tages zusammen. Blanche ging. Als sie vor Alma's Thüre stand, besann sie sich, daß sie mit den Schwestern bereits am Vormittag hier gewesen und daß ihr jetziges Erscheinen also doch eines Vorwandes bedürfe. Ehe sie ihre wirren Gedanken sammeln konnte, stand sie im Zimmer der Freundin. Ueberrascht und sonderbarerweise ebenso verstört wie die Eintretende, erhob sich das liebliche, aber bleich und angegriffen aussehende Mädchen von seinem Sitze am Schreibtisch und begrüßte Blanche. Auf dem Schreibtische lagen mehrere Bücher; Blanche deutete auf eines davon. »Bitte, leihe mir dies, ich kam, Dich darum zu bitten.« Freundlich aber noch immer verwirrt, reichte ihr Alma den Band und forderte sie zugleich auf, Platz zu nehmen. Allein, wie es Blanche hergetrieben, so trieb es sie gleich wieder hinweg. Es war nur so über sie gekommen, sie müsse das Wesen einmal recht genau, recht aufmerksam betrachten, welches Erwin liebte, und jetzt war es ihr wieder, als könne sie in der Nähe desselben Wesens nicht athmen, als müsse der Anblick des schönen Gesichtes neben ihr sie tödten. »Ich muß fort, man wartet auf mich – ich muß nach Hause!« Und fast ungestüm Abschied nehmend, wobei ihre Finger kaum die Hand der Anderen berührten, verließ sie das Gemach.

In athemloser Hast eilte Blanche über die Straße, die Treppe hinauf, in ihr Zimmer. So heftig schleuderte sie dort das mitgebrachte Buch – Alma's Eigenthum – von sich, als habe sie den Moment nicht erwarten können, sich dessen zu entledigen, als sei es glühendes Eisen, das die Hand versengte, die es hielt! Ein kleines weißes Blatt flog heraus, gerade vor die Füße des Mädchens. Das Licht der Hängelampe, welche indessen angezündet worden war, beleuchtete hell die Stelle, auf der das Papier lag und eine von Thränen halb verlöschte Schrift, die auf demselben erkennbar war – flüchtige, vielleicht halb unbewußt hingeworfene Züge.

In dunkler bebender Ahnung beugte sich Blanche und ergriff langsam das Blatt; die Augen schmerzten sie, wie wenn hundert Nadeln hineingebohrt würden, als sie den Blick auf die Worte heftete, welche Alma aufgezeichnet haben mochte, als sie bei ihr eintrat und sie in der Verwirrung sich dabei überrascht zu sehen, gerade in jenem Buche verborgen hatte.

»Er geht. Er liebt mich nicht. Die Stiefmama behält Recht. Und doch habe ich einmal geglaubt, daß er mich liebe; doch habe ich geglaubt, in seinem Auge einst eine tiefe Neigung für mich zu lesen. Aber es war nur eine Selbsttäuschung! Sein späteres Benehmen, die Art, wie er sich gänzlich zurückzog und gleichgiltig dem Nebenbuhler das Feld überließ, beweisen es ja! Er liebt mich nicht! Ginge er denn sonst? O, Herz, halte den Stolz fest, der Dich bisher vor Demüthigung bewahrte. Verrathe dem Manne, der nicht nach Dir verlangt, Dein thränenreiches Geheimniß nicht! Er weiß es nicht, daß Du ihn liebst. Nein, nein, er weiß es nicht! Habe Dank, Stiefmama! Dein Wort hat mich elend gemacht, aber es hat mich vor Schmach bewahrt. Er weiß es nicht, daß ich ihn liebe, Niemand weiß es! Alle meinen, ich liebe den Anderen, den eingebildeten Gecken, den man mir zum Manne geben will. Warum? Ich weiß es nicht, ich frage auch nicht darnach. – Mein Stolz dankt Dir, Stiefmama, wenn auch nicht mein Herz. Dies thörichte, dies einfältige, dies schwache Herz, es liebt ja doch nur ihn, trotz Allem, ihn nur allein! … Ich« – hier brach die Schrift ab.

Blanche hatte gelesen. Wenn in diesem Moment irgend Jemand in ihre Augen gesehen hätte, er würde sie nicht matt gefunden haben! Jedoch, es sah sie Niemand; sie war allein … Eine Secunde stand sie zitternd, der Athem rang sich keuchend aus ihrer Brust. Dann ein Satz zum Kamin – ein Ruck – und das Blatt ist zerrissen; eine zweite Bewegung und die zuckende Hand hebt sich, um es in die lodernden Flammen zu schleudern. Da aber hält das häßliche Mädchen plötzlich inne – ihre Finger öffnen sich langsam, wie von einer höheren Macht bezwungen und die Papierstreifen flattern statt in das Feuer, auf den Boden nieder. Blanche stürzt in die Kniee und schlägt die Hände vor das Gesicht. Nur der Gott, der da oben herrscht über den Wolken, vor dem die Häßlichen und die Schönen gleich sind, sah in dem Augenblicke in das Herz dieses Weibes! Die Menschen haben es nie erfahren, nie geahnt, was in dieser Stunde darin vorging.

Der Kampf währte lange. Fieberschauer durchschüttelte die Kniende; man konnte ihre Zähne aneinander schlagen hören. Endlich erhob sich die schmächtige Gestalt, das fahle Antlitz richtete sich empor. Die Augen waren jetzt noch glanzloser als sonst; sie sahen aus wie erloschen.

Blanche raffte die Papierstücke auf und huschte über den Gang nach Erwin's Zimmer. Es war verschlossen, allein auf ihr leises Pochen kam er selbst und öffnete.

»Du, Blanche?!« …

Sie schob wortlos das zerrissene Blatt in seine Hand und war fort.

Auf dem Rückwege begegnete ihr im Halbdunkel des Ganges eine der Schwestern, die sie frug, ob sie denn heute nicht in's Familienzimmer kommen wolle. Blanche schützte Kopfweh vor, erklärte, sie werde sich zur Ruhe begeben und bat etwas mürrisch, Allen gute Nacht zu sagen.

Die Schwester übernahm den Auftrag und erzählte drüben, Blanche scheine ein wenig Katarrh zu haben, denn ihre Stimme hätte heiser geklungen.

Blanche verriegelte die Thüre ihres Zimmers. Kaum hatte sie es gethan, so hörte sie Erwin die Treppe hinuntereilen. Dann flog unten das Hausthor krachend in's Schloß und darauf war Alles still.

Die Häßliche lag angekleidet auf ihrem Lager, das Gesicht tief in die Polster eingegraben, um die Schreie ihres Herzens nicht über die Lippen zu lassen.

Etwa zwei Stunden mochten vergangen sein, als heftig an ihrer Thür gerüttelt wurde. »Blanche, öffne! ich muß Dich sprechen, Blanche!« rief Erwin's Stimme in jubelndem Tone. Blanche blieb stumm, sie rührte sich nicht.

Erwin ging endlich. Er mußte glauben, die Freundin sei nicht anwesend oder schlafe schon. Seine verhallenden Schritte lenkten sich dem Familienzimmer zu.

Eine seltsame Vision umfing Blanche. Sie glaubte todt zu sein und begraben zu werden. Deutlich sah sie durch den Glasdeckel des Sarges die düster brennenden Lichter, die ihn umstanden, hörte das murmelnde Gebet der Todtenwache und athmete den betäubenden Duft der Blumen, in die sie gebettet war. Leises, fernes Weinen drang zu ihr. Auch um sie weinte man? … Ja. Aber sie wußte, diese Thränen würden bald getrocknet sein. Ihr Tod riß in kein Herz eine tiefe Wunde, in kein Leben eine tiefe Lücke. Die jetzt weinen, werden bald beruhigt der armen Häßlichen gedenken, für die ja Sterben das Beste war … Plötzlich hob man den Sarg und trug ihn hinaus. Die Glocken läuteten, der Priester schwang das Weihrauchfaß, der eintönige Grabgesang erklang. Dann fühlte sie, wie sie hinabgesenkt ward, tiefer und tiefer, wie die ersten Erdschollen auf den Sarg hinabkollerten und hierauf mehr und immer mehr, bis es endlich ganz still und finster wurde und sie nichts mehr vernahm von dem, was oben vorging. Allein das Bewußtsein wollte sie sonderbarer Weise nicht verlassen, sie wußte ganz genau, daß sie todt und begraben war und die viele, viele Erde, die man auf sie gehäuft hatte, drückte schwer auf ihre Brust … furchtbar schwer …

Am anderen Morgen erschien Blanche wie gewöhnlich beim Frühstück. Auf die Frage der Mutter erwiderte sie in unfreundlich zurückweisendem Tone, daß sie sich wieder wohl befände.

Die Schwestern berichteten ihr Erwin's Verlobung, über welche die ganze Familie voll Jubel war, und erzählten, daß er nun nicht nach Norwegen ginge, allein sie sagte ebenso unfreundlich, das wisse sie Alles schon, Erwin habe es ihr bereits mitgetheilt. Die Schwestern ärgerten sich über sie.

Als es Frühling wurde und Erwin's Hochzeit heranrückte, schritt er eines Tages mit Alma am Arme durch den schon dicht belaubten Garten. In dem fast dunklen Hintergrunde einer schattigen Laube saß Blanche mit einem Buche, das sie in der nachlässig herabhängenden Hand hielt, während ihr Blick weit darüber hinausging. Die Herankommenden entdeckten sie nicht und auch sie bemerkte jene erst, als Alma ganz nahe der Laube plötzlich stehen blieb: »Erwin, beantworte mir eine Frage, hast Du nicht einmal – Deine Pflegeschwester Blanche geliebt?!« Blanche sah durch die Zweige der Laube, wie Erwin überrascht einen Schritt zurücktrat. »Die Häßliche?« fragte er erstaunt. »Alma, eifersüchtiges Närrchen!« Beruhigt schmiegte die Braut ihr glühendes Gesichtchen an seine Brust.

Die Schwestern klagten der Mutter in der Folge oft, Blanche werde ganz unausstehlich! Ihre stets mürrische Stimmung verderbe jede Freude und immer habe sie an Allem und Jedem etwas auszusetzen. »Ach, mein Gott!« erwiderte dann Frau Seemann betrübt und tadelnd, »bedenket doch, daß Blanche ein armes, unglückliches Wesen ist, während vor euch die Welt im rosigen Lichte liegt.« – »Nun ja, Mutter,« sagte hierauf wohl die eine oder andere, »sie ist häßlich! Aber können wir dafür? Ist es unsere Schuld? Sind wir deshalb verpflichtet, beständig ihre üble Laune zu ertragen?«

In der Regel gewann zwar die Gutmüthigkeit immer bald wieder die Oberhand in den jungen Herzen; aber das ohnehin nicht sehr feste Band zwischen den schönen und der häßlichen Schwester wurde durch diese Streitigkeiten doch unmerklich mehr und mehr gelockert.

Eine Reihe von Jahren verstrich. Die Eltern starben, die Geschwister und Freundinnen heirateten, Blanche lebte bald bei diesen Verwandten, bald bei jenen, wo man sie eben aufnahm und – brauchte. Rings um sie gab es Liebe und Glück, Hoffen und Streben, Kampf und Sieg, frisches Schaffen und fröhlichen Genuß! Rings um sie erblühte neues, reiches Leben! Aber sie stand mitten darin – eine Fremde! Sie wiegte die Kinder Anderer auf ihren Armen.

Unter Lebenden stand sie – eine Todte!

Man hatte sie nicht sehr lieb. Sie war nicht lustig und hatte so viele, harmlose, aber wunderliche Grillen. Etwas nützlich war sie, das ließ sich nicht leugnen, aber leider nicht angenehm, nicht sympathisch! Man konnte sich nicht recht an sie anschließen, sie war verschlossen, fast rauh – selbst wo sie Gutes that – und so wenig entgegenkommend oder unterhaltend.

Den Kindern erschien die kleine Gestalt mit dem großen Strickbeutel am Arme und der eigenthümlichen Haltung äußerst komisch und sie äfften sie oft nach, wie sie durch die Zimmer huschte; zuweilen auch empfanden sie einen Widerwillen gegen sie, wie man ihn bei Kindern, die an eine schöne Umgebung gewohnt und selbst schön sind, häßlichen Menschen gegenüber oft bemerkt. »Sie ist so garstig! sie ist so garstig!« heulte der kleine Eduard, Erwin's Söhnlein, als man ihm unter Androhung einer Strafe gebot, Tante Blanche beim Gute-Nacht-sagen das nächste Mal zu küssen.

Später zog Blanche sich von den Verwandten zurück und wohnte allein. Ihre Kräfte erlaubten ihr nicht mehr, viel zu leisten.

Sie war jetzt alt, wie sie einst gedacht – aber sie war alt – ohne jung gewesen zu sein!

An ihrem dreiundsechzigsten Geburtstage erfüllte sich die Vision, die sie in der Stunde von Erwin's Verlobung gehabt hatte; man senkte sie in die Gruft. Ein kleines Häuflein Menschen folgte dem düsteren Zuge.

Dies war der Lebenslauf Blanche Seemann's! … Auch ein Martyrium. Aber eines, an dem die Welt lächelnd vorübergeht, und dessen Dornenkrone das gebeugte Haupt seiner Trägerin nicht umgibt mit strahlendem Glorienschein.


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