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Sarolta.

Es war Abend. Am Fenster eines von der Welt ziemlich weitab liegenden ungarischen Landhauses stand eine junge Frau. Eleganz und Comfort umgaben sie. Das Zimmer, in dem sie sich aufhielt, war hoch und freundlich; Bilder in prachtvollen Rahmen schmückten die nach moderner Art dunkel tapezierten Wände, weiche Divans standen da und dort; in der Mitte befand sich ein runder Tisch, von dem eine schwere Decke bis zu dem mit Teppichen belegten Boden niederhing. Im Kamin loderte ein helles Feuer, von großen Holzblöcken genährt, und die über dem Tisch angebrachte Lampe warf einen traulichen Schein über den ganzen Raum.

Die junge Frau war allein. Sie lehnte die Stirne gegen die Scheiben und blickte unverwandt in das Dunkel, das draußen herrschte. Ein heftiger Sturm umheulte das Haus und der Regen schlug in schweren Tropfen an die Fenster.

That der Aufruhr in der Natur der Hinausblickenden wohl, weil sie so beharrlich in ihrer Stellung blieb, anstatt sich etwa gemüthlich mit einem Buche oder einer Handarbeit vor dem Kamin niederzulassen? Vielleicht! Es gibt Stunden, in denen uns Ruhe und Frieden um uns zur Verzweiflung bringen können, das sind jene, in welchen es an Ruhe und Frieden in uns fehlt. Dann muthet der äußere Sturm uns an wie ein Freund, der unserem eigenstem, stumm in sich verschlossenen Wesen Ausdruck gibt.

Einmal, während sie so dastand, erhob die junge Frau das Haupt, und mit einem abwesenden, nach innen gekehrten Blick horchte sie in das Haus hinein. War's das Getrippel kleiner Kinderfüßchen, von dem die Einsame in ihrer Selbstversunkenheit träumte? Es erscholl nicht!

Die schöne blaße Stirne der Frau senkte sich wieder gegen die Scheiben; auf's Neue verharrte sie unbeweglich.

Als nach längerer Zeit thatsächlich ein Geräusch vernehmbar wurde, der Klang der Hausglocke, hörte sie es nicht. Wenige Minuten später hob ein Diener die Portiere des Gemaches. Erst bei dem Rauschen des Vorhanges wendete die junge Frau sich langsam um.

»Was gibt es?« fragte sie müde, wie erwachend.

Der Diener präsentirte ihr auf silbernem Teller eine Karte.

»Ein Besuch – jetzt?!« sagte sie erstaunt, nahm gleichwohl mechanisch die Karte und warf einen Blick darauf.

»Rittmeister von Seilen, den ein ihm zugestoßener Unfall zu der Bitte zwingt, sich trotz der ungewöhnlichen Stunde vorstellen zu dürfen.«

Etwas wie leise Ueberraschung zeigte sich im Antlitz der jungen Frau. Rittmeister Seilen! Sollte das …

»Ersuchen Sie den Herrn, einzutreten!« sagte sie inzwischen laut zu dem Diener.

Kurz darauf verbeugte sich ein Officier vor ihr. Es war der, den sie kannte, vielmehr gekannt hatte, da sie ein junges Mädchen und er noch nicht Rittmeister, sondern erst Oberlieutenant war.

»Baronin werden sich meiner nicht mehr erinnern.«

Eine schwache Röthe überflog ihre Wangen, indem sie ihn begrüßte. Dieser Mann ahnte nicht, daß sie einst eine Zeit hindurch ziemlich viel an ihn gedacht hatte, in kindischer Weise, wie sie sich längst sagte.

»Doch!« beantwortete sie leichthin seine Phrase. Dann, nach einem Sitz weisend, während sie selbst vor einem kleinen Tischchen Platz nahm: »Es hat sich etwas ereignet?« fragte sie in demselben kühlen Tone.

Er beeilte sich sein Abenteuer zu erzählen und seine Entschuldigungen vorzubringen. Einen halbjährigen Urlaub genießend, befand er sich auf einer originellen Vergnügungsreise. Anstatt nämlich wie andere Leute die Eisenbahn zu benützen, zog er es vor, mit seinen Pferden durch das Land zu kutschiren, »denn nur dies heißt reisen«, meinte er. Nun hatten ihm die Pferde – »sonst die vortrefflichsten Thiere!« – heute einen bösen Streich gespielt. Vor einem in der Dunkelheit daherbrausenden Eilzug gegen ihre Gewohnheit scheuend, stürmten sie mit einem unerwarteten Satz in den Dammgraben, neben welchem die Landstraße hinlief. Nur wie durch ein Wunder waren in Folge rechtzeitigen Abspringens er und sein Kutscher unversehrt geblieben; der leichte Wagen ging fast ganz in Trümmer und das eine Pferd, das sich in die Stränge verwickelte, verletzte sich am Fuße. In dem glücklicher Weise ganz nahen Dorfe fand man eine nothdürftige Unterkunft für die Rosse und den Kutscher; für den Herrn aber erklärte der Wirth absolut kein Plätzchen auftreiben zu können. Was die Eisenbahn betraf, so ging die Nacht hindurch kein Zug mehr, der an der Haltestelle – eine Station besaß der Ort nicht – stehen geblieben wäre. In dieser fatalen Lage erkundigte sich der Rittmeister nach der Gutsherrschaft, vernahm bekannte Namen und entschloß sich, auf die berühmte ungarische Gastfreundschaft sündigend, einen Ueberfall zu wagen. Erst im Hause erfuhr er, daß der Baron sich auf der Jagd befände, aber heute noch zurückerwartet werde. Da habe er nun die Kühnheit gehabt, sich bei der Baronin melden zu lassen, obschon die »oberflächliche Bekanntschaft, deren er sich einst erfreuen durfte«, ihm freilich keine Befugniß dazu gab. Er könne nur hoffen, daß sie Gnade für Recht ergehen lassen wolle, und so weiter.

Während Herr von Seilen dies Alles mit weltmännischer Gewandtheit vorbrachte, dachte er an ganz Anderes. Er war voll geheimen Erstaunens. »Wie schön sie ist! Beim Jupiter, das hätte ich mir nie träumen lassen, daß sie so schön werden könnte!« Ein schmächtiges, unscheinbares, bleichsüchtiges Geschöpfchen, so stand sie in seiner Erinnerung; jetzt sah er sich einer hohen, schlanken, immer noch etwas blassen, aber reizumflossenen Frauengestalt gegenüber. Wie prächtig kleidete sie das hochgehende braune Sammtgewand mit dem Abschluß gelblicher Spitzen an den Aermeln, die auf die kleinen weißen Hände niederfielen; wie anmuthig schmiegte sich die blonde Locke, die sich hinter dem einen Ohr hervorstahl, an den schneeigen, gleichfalls von den gelblichen Spitzen umschlossenen Hals. Vor Allem aber diese müden, verschleierten, großen Augen!

Als Seilen mit seinem Berichte und seinen Entschuldigungen zu Ende war, drückte die Baronin auf die Glocke.

»Mein Mann dürfte sehr bald anlangen«, sagte sie dabei, indem sie auf's Neue leise erröthete; »er wird Sie gewiß willkommen heißen. Sie hätten keine Skrupel zu hegen gebraucht; in solchem Falle – selbst wenn es sich um einen Unbekannten handelt –«.

Der Diener trat ein. Sie ertheilte ihm die Weisung, ein Zimmer für den Herrn Rittmeister in Bereitschaft setzen und dessen Gepäck aus dem Wirthshause holen zu lassen.

Noch während der Gast im Begriffe stand, seinen Dank auszusprechen, vernahm man das Heranrollen eines Wagens. Alsbald füllte heftiger Lärm das Haus. Peitschen knallten, Hunde bellten. Alles aber übertönte die schallende, seltsamer Weise jeden Augenblick von der tiefsten Tonlage zur höchsten Fistel überspringende Stimme und das laute, meckernde Gelächter eines Mannes.

Der Baron war da.

Seine Frau ging ihm entgegen.

»Na, Sarolta!« schrie er, sie erblickend, mit jener curiosen, beständig wechselnden Stimme, »ein Hundewetter, was? Gib uns gleich zu essen! Lajos, Aladar und Imre sind mitgekommen; machen Toilette. Hahaha, sind naß wie die Pudels, wie die begossenen Pudels! Und schmutzig! Aladar blieb auf der Jagd jeden Moment im Koth stecken; ein wahnsinnig ungeschickter Kerl!«

»Der ist der ganze Alte!« dachte im Salon, wo man jedes Wort vernahm, der Rittmeister. Gleich nachher ging die Thüre auf, eine corpulente Gestalt in Jagdkleidung, ebenfalls ziemlich durchnäßt, trat herein, die dem Gast beide Hände entgegenstreckte.

»Alter Kamerad, das ist ja famos, daß Du da bist!« brüllte diese Gestalt und schüttelte jenem die Rechte, daß sie ihm fast herabfiel. »Hab' Dich meiner Treu beinahe vergessen, so lange sahen wir uns nicht. Hier, meine Frau! Hübsch, nicht wahr? Hahaha, werde nur nicht roth, Sarikam? So viel wie mein Saroltchen. Ja so, Seilen, Du kennst sie schon.«

»Wie viele Flaschen mag er getrunken haben?« dachte der Rittmeister.

Sarolta's Antlitz flammte.

Der Baron war jedoch nicht betrunken – das kam äußerst selten vor – sondern nur ein klein wenig angeheitert. Im Uebrigen war seine Art so.

Beim Souper trat das noch mehr hervor. Es ging da sehr lustig zu. Die drei Herren, die er mitgebracht, zeigten sich so ziemlich des Hausherrn würdig. Jagdgeschichten, oft recht derber Art, Pferde und Hunde lieferten den alleinigen Gesprächsstoff. Man lachte, überschrie einander und toastete ein um's anderemal. Still waren nur der Rittmeister und die Hausfrau. Sarolta blickte meistens auf ihren Teller, Seilen hingegen ließ seine Augen fortwährend in verstohlenem Forschen umherwandern von einem zum andern. Als man vom Tische aufstand, wußte er denn auch Alles, was ihn interessirte.

»Morgen willst Du fort«, sagte der Baron nach dem Souper zu ihm, indem er vergnügt den Arm um seine Schultern schlang. »Barátom Mein Freund., daraus wird nichts. Schicke Deinen verwetterten Kasten mit den Pferden zum Teufel oder wohin er sonst gehört, und fahr' später einmal mit der Bahn. Oder, wenn Du willst, kannst Du die Pferde auch hier behalten und Dir einen anderen Wagen kommen lassen; in meinem Stall ist Platz. Eile hast Du ja doch keine.«

»Das nicht, aber wer weiß, ob die Baronin …« sagte der Rittmeister zögernd.

»Nun, natürlich!« rief der Baron. »Sarolta, thue Deine Pflicht! Wer in meinem Hause einkehrt, darf nicht gleich wieder Reißaus nehmen!«

Die junge Frau neigte leise das Haupt gegen den Gast und so war die Sache entschieden. Seilen erklärte sich seinem Mißgeschick sehr verpflichtet zu fühlen. Er sagte das jedoch in einem lediglich höflichen, phrasenhaften Ton und sah dabei die Baronin nicht an.

Andern Tags regnete es nicht mehr, obschon der Himmel noch voll grauer Wolken hing. Die Gartenwege waren kothig; Berge von nassen braunen Blättern, die der Sturm in der Nacht von den Bäumen gefegt hatte, thürmten sich da und dort.

Nach dem Gabelfrühstück – die Herren spielten Billard – schürzte Sarolta ihr Kleid, hüllte sich warm ein und ging hinunter. Sie liebte es, im Freien zu sein und die melancholische Herbststimmung, die setzt über der Natur lag, sagte ihr mehr zu als jede andere.

Ein Weilchen war sie auf den klebrigen Wegen – Kies gab es nur in nächster Nähe des Hauses – umhergewandert, hatte hie und da stehen bleibend, mit der Spitze des Regenschirmes gedankenlos in den feuchten Blätterbergen gewühlt, als am Ende einer Allee der Rittmeister auftauchte. Er ging ihr unbefangen entgegen, begrüßte sie mit einigen höflichen Worten und äußerte auf ihre Anfrage, daß er kein besonderer Freund des Billards sei, hingegen ein großer Freund der Natur.

»Uns Soldaten ist die frische Luft bei jedem Wetter Bedürfniß – Ihnen, Baronin, wie es scheint, auch?«

Sie bejahte das, lenkte aber zugleich in unauffälliger Weise dem Hause zu. Er sah – worüber er sich ohnehin schon im Klaren befand – daß er vorsichtig sein mußte. Aber er war geschickt. Im Nu hatte er sie in ein Gespräch verwickelt, über welchem sie die Gegenwart vergaß. Es gehörte übrigens keine große Kunst dazu, er brauchte nur zu dem nächstliegenden Gegenstand zu greifen, dem kleinen Städtchen, in dem sie ihre Mädchentage verlebt hatte und wo er sie kennen gelernt. Wie viele gemeinsame Erinnerungen die gleichwohl nicht tieferer Art waren und eben darum unbefangen berührt werden konnten! Auf denselben Bällen hatten beide getanzt, obschon nur wenige Touren miteinander; bei dieser und jener Dilettantenvorstellung waren sie Zuschauer gewesen, bei einer davon hatte Seilen selbst gespielt. Er kannte alle ihre Freundinnen von damals, alle Familien, in denen sie verkehrt hatte. Immer lebhafter wurde das Geplauder; Sarolta bemerkte ganz und gar nicht, daß sie sich vom Hause wieder entfernten. Eine liebenswürdige, ihr sonst fremde Heiterkeit überkam sie; ihre Wangen rötheten sich, sie lachte. Das Aufleben einer harmlosen, freundlichen Vergangenheit nahm sie ganz gefangen; es war ihr, als träume sie. War denn wirklich sie das sorglose junge Mädchen gewesen, dessen Bild ihr mit einem Male wieder vor Augen stand?! Sie hatte es ganz vergessen, ganz verlernt, sich dahin zurückzudenken! Es war so lange her, daß sie vermählt war, schon mehr als fünf Jahre! Ihre Heirat hatte sich vollzogen, wie die vieler Mädchen sich vollzieht. Der Baron sah sie auf einem Ball; sie gefiel ihm. Ihr Vater war sehr verschuldet, der Bewerber reich; man sagte ihr, sie müsse sich für ihre Familie opfern, und sie opferte sich. Seither lebte sie hier auf dem Gute in einem ihr völlig fremden Kreise, in dem sie nicht heimisch zu werden vermochte. Die Männer desselben mißfielen ihr, und die Frauen erzählten ihr, sobald sie mit ihnen näher bekannt wurde, so viel von ihren einstigen Herzenserlebnissen, ihrem späteren Brautglück, ihren Ehen, ihren Kindern und ihren Dienstboten, worauf sie nichts zu antworten wußte. Sie besorgte ihr Hauswesen, stickte fleißig Teppiche und Canapépolster, zu denen sie die Muster aus Pest kommen ließ, spielte Clavier und las hie und da einen englischen Roman, wie es der Erziehung entsprach, die sie erhalten hatte. Aber der Tag war so lang! und wie lang erst das Leben, das sich aus diesen Tagen zusammensetzte! Ihre Jugendzeit schien ein Jahrhundert hinter ihr zu liegen. Und jetzt plötzlich wachte die Jugend wieder auf in ihrem Bewußtsein und rief ihr zu: »Weißt Du noch? Du bist nicht immer so gewesen wie jetzt, so müde, so stumpf, so freud- und wunschlos, wie Dich Deine Ehe gemacht hat.«

Es war beinahe Dinerzeit, als der Rittmeister und die Baronin das Haus wieder betraten. Im Billardzimmer rollten noch immer die Kugeln; der gemeinsame Spaziergang fand keine Beachtung, obwohl das lange Ausbleiben des neuen Gastes eine flüchtige Bemerkung hervorgerufen hatte.

»Wo ist denn der Seilen?« hieß es da.

»Na, wahrscheinlich bei seinem Pferde! Dürfte lahm bleiben, der Rappe! Schad' um das Thier!«

In den nächstfolgenden Tagen ging Sarolta nicht in den Garten, obschon das Wetter gut war. Erst nach einiger Zeit versuchte sie es wieder. Der Rittmeister folgte ihr nicht, weder an diesem Tage noch an einem anderen. Auch sonst trachtete er in keiner Weise darnach, in ihrer Nähe oder mit ihr allein zu sein. Er hielt in Allem mit den übrigen Herren, obwohl, wer ein Auge dafür hatte, ihm leicht anmerken konnte, daß ihr Treiben und Wesen ihm nichtsdestoweniger nicht sympathisch sei. An Gelegenheiten, mit der Frau des Hauses zu verkehren, fehlte es ihm bei der Ungezwungenheit des Landlebens dennoch nicht, nur daß die Gelegenheiten sich immer von selbst ergaben oder doch zu ergeben schienen.

Sarolta faßte Vertrauen und wurde unbefangen. Sie wußte selbst nicht, warum sie es nicht von Anfang an gewesen. Ein unerklärliches – wenigstens aus dem Benehmen des Gastes, das vom ersten Momente an durchaus respectvoll und zurückhaltend war, völlig unerklärliches – Gefühl hatte sie einige Tage hindurch gepeinigt. Sie kannte Seilen eigentlich wenig, trotzdem sie einst als halberwachsenes Mädchen im Stillen für ihn geschwärmt hatte. Er erschien ihr damals aus der Ferne als der ernsteste und gehaltvollste und er war unstreitig der ritterlichste und distinguirteste Officier der Garnison jenes Städtchens. So ungefähr, wie er zu jener Zeit aussah, hatte sie sich den Helden ihrer jugendlichen Träume vorgestellt. Aber er beachtete sie nicht und so kam sie in keinen näheren geselligen Verkehr mit ihm; zudem wurde er bald nach einem weit entfernten Orte versetzt. Eine Weile hindurch dachte sie noch manchmal an ihn als an ihr geheimes Ideal, dann verflog diese flüchtige, von Niemand, selbst ihren besten Freundinnen, nicht geahnte Mädchenschwärmerei, wie so viele, auch ernstere Schwärmereien verfliegen. Einige Jahre später heiratete sie.

Und nun, da sie ihn nach so langer Zeit wiedergesehen, hatte er sie zuerst beinahe antipathisch berührt. War es, weil sie sich ihres Gatten vor ihm schämte? Sie fühlte deutlich: wenn er, dem ihre Stellung diesem Gatten gegenüber, ihr dumpfes Leid, ihre Vereinsamung inmitten der Umgebung, in der er sie fand, ja keinen Augenblick verborgen bleiben konnten, noch verborgen geblieben waren, wenn er nur einen Moment lang nach der leisesten Vertraulichkeit gestrebt hätte, jene Antipathie wäre nie mehr aus ihrem Herzen gewichen; kalt und streng würde sie ihn allezeit von sich ferne gehalten haben; allein es gab keinen solchen Moment. Alles Gute, womit ihre Phantasie einst in dem warmen Idealitätsbedürfniß der Jugend sein nebelhaftes Charakterbild geschmückt, er schien es jetzt zu bestätigen. Sein ganzes Verhalten war das eines ehrerbietigen, unbefangenen Mannes, der ihre Lage verstand, sie respectirte. Sie fühlte Dankbarkeit für ihn und hatte die Empfindung, daß sie ihm im Stillen ein Unrecht abbitten müsse.

Seilen dehnte seinen ersten Besuch in dem Landhause nicht allzulange aus. Nach einigen Wochen kam er jedoch wieder, um nach seinem kranken Pferde zu sehen, das im Stalle des Barons geblieben war. Diesmal hielt er sich länger auf. Es war hier ein so köstlicher Reitboden und die Luft that ihm merkwürdig gut. Zudem sind die Gäste im Winter, der inzwischen eingetreten war, seltener auf dem Lande, und der Baron, den das Stadtleben beengte, der aber doch nicht gern ohne Gesellschaft sein mochte, hielt die wenigen, die er auftreiben konnte, um so zäher fest. Der Rittmeister war zwar nicht ganz nach seinem Geschmack; »dieser böhmische Duckmäuser kann nie so recht lustig sein!« sagte er mitunter von ihm, womit er in der Hauptsache meinte, daß jener nie so viel trank wie er; aber immerhin ließ sich mit ihm »etwas anfangen«. Er ritt famos, war ein guter Jäger und spielte jedes Spiel bis zur Vollkommenheit.

Während dieses zweiten Aufenthaltes geschah es, daß Seilen die Baronin fragte, ob sie nie ein Pferd bestiegen hätte. Es war niemals geschehen, aber die Frage rief sofort einige Lust dazu in ihr wach. Da ihr Mann nichts dagegen hatte, wurde ein alter Damensattel aus der Rumpelkammer geholt und dem frömmsten Rosse des Stalles aufgelegt. Der Baron hob seine Frau hinauf und führte das Thier im Verein mit dem Rittmeister. Sarolta empfand ein nie geahntes Vergnügen; sie kam sich vor wie ein beschenktes Kind, konnte gar nicht genug haben, in der schneebedeckten Gartenallee hin und her zu traben, und bat ihren Mann lebhaft, sie reiten lernen zu lassen.

»Na, warum nicht«, sagte der Baron; »ich will Dir ein Damenpferd kaufen. Seilen mag es aussuchen, der versteht's.«

So fuhr denn der Rittmeister zu einem bekannten Pferdehändler und kehrte mit einem reizenden Apfelschimmel zurück. »Magnifique!« rief der Baron schmunzelnd, »ich sage ja, der versteht's!«

Die ersten Lectionen gab er selbst seiner Frau; allein die Sache langweilte ihn bald, zudem waren einige neue Gäste angelangt, die ihn in Anspruch nahmen. »Ich bitte Dich, plag' Du Dich einmal mit ihr«, sagte er zu Seilen; »ich kann heute nicht!«

Ein nächstes Mal konnte er wieder nicht und schließlich blieb Seilen der einzige Lehrer.

Sobald jedoch Sarolta so weit war, daß sie aus dem Hofe und Garten hinaus in's Freie reiten konnte, befand sie sich nie allein mit dem Rittmeister. Gewöhnlich begleiteten sie außer ihrem Gatten auch die übrigen anwesenden Herren. Allen machte es Vergnügen, mit der schönen Frau zu reiten, die zu Pferde wunderbar gut aussah. Ihr eigener Mann fühlte sich von ihrer Anmuth überrascht und in seiner Eitelkeit sehr geschmeichelt. Nicht nur, daß ihre tadellose Gestalt voll zur Geltung kam, sondern die freudige Belebtheit ihrer Züge, ihre frischgerötheten Wangen, der glänzende Blick, die sich an ihr bemerkbar machten, wenn sie durch die Winterlandschaft dahinsprengte, erhöhten ihren Reiz. Sie war in diesen Stunden eine andere; man sah es ihr an; sie war glücklich! In der That fühlte Sarolta sich frei und froh wie nie früher.

Im Gegensatz zu ihr zeigte Seilen, der als ihr Lehrer neben ihr ritt, bei solchen Gelegenheiten meist eine verschlossene, fast finstere Miene. Sie, die ihm für den Genuß, zu dem er die Anregung gegeben und den seine Mühe ihr verschafft hatte, nicht genug danken konnte, begegnete ihm gerade in diesen Stunden voll heiterer, ja fast vertraulicher Freundlichkeit, nichtsdestoweniger blieb er in der Regel wortkarg. Mitunter gab er plötzlich seinem Pferde die Sporen und flog, den Platz an ihrer Seite verlassend, der Gesellschaft eine weite Strecke voran, worauf er nach einer Weile im Schritte zurückkehrte, ein eigenthümliches Lächeln auf den Lippen.

Gegen Weihnachten schied er zum zweiten Male von dem Landhause mit dem Versprechen, im Fasching wiederzukehren. Sarolta erschrak ein wenig, als er ihr Lebewohl sagte, denn der Ausdruck, mit dem er sie dabei ansah, berührte sie seltsam. Sie suchte es sich nach seiner Abreise wieder auszureden, aber der Eindruck wollte sich nicht verwischen lassen. Eine unklare Unruhe befiel sie. Mit Eifer trachtete sie darnach, sich durch die Beschäftigungen für die Weihnachtsbescherung, zu der sie sämmtliche Kinder des Dorfes einlud, sowie durch zahlreiche Handarbeiten für alle möglichen Tanten, Onkels und Cousinen zu zerstreuen, jedoch es half ihr nichts. Selbst das Reiten gewährte ihr nicht mehr dasselbe Vergnügen; oft war sie fast froh, wenn die Möglichkeit dazu durch schlechtes Wetter vereitelt wurde.

Sie wußte nicht, daß das Alles die verkappte Sehnsucht nach Seilen war. Aber daß er ihr abging, mehr als während seiner ersten Abwesenheit, das gestand sie sich. »Ich gewöhnte mich daran, einen Menschen in der Nähe zu haben, mit dem ich meine Sprache reden kann«, dachte sie seufzend. Dann erinnerte sie sich, wie gut er immer gegen sie gewesen, zart, rücksichtsvoll, voll Ehrerbietung, zugleich voll Aufmerksamkeit wie ein Bruder, und es schien ihr vollends begreiflich, daß sie ihn schwer entbehrte. »Nun kommt er noch einmal, dann geht er wieder zu seinem Regiment und ich werde keinen Freund mehr haben!« glitt es ihr oft schmerzlich durch den Sinn. »Ich werde wieder ganz allein sein!« Sie wollte sich mindestens auf jene kurze Zeit des Beisammenseins freuen, die ja nahe bevorstand, aber da fiel ihr plötzlich sein Abschiedsblick ein – und sie wußte selbst nicht – darüber zerrann ihr die Freude. Die Unruhe faßte sie auf's Neue. Sehr oft stand sie jetzt wieder des Abends am Fenster, blickte in die Dunkelheit hinaus und wartete gedankenverloren auf das Getrippel kleiner Füße – das nicht erscholl!

Wenn sie Kinder hätte, nur eines! Das würde immer bei ihr bleiben. Vom Morgen bis zum Abend hätte sie es allzeit vor Augen. Es würde mit ihr lachen und mit ihr weinen, und sie mit ihm. Sie sah sich im Geiste es pflegen und betreuen; jeden kleinsten Dienst leistete sie ihm selbst, denn Niemand dürfte ihm nahe kommen, es dürfte Niemand lieben als sie. Und wie würde es sie lieben! O wie sehr! Beinahe so, wie sie es lieben würde. Sein ganzes kleines Herzchen würde ihr gehören, wie ihr ganzes volles Herz, dem bisher nie jemand nachgefragt hatte, ihm – ihrem Söhnchen, ihrer Tochter! Wie glücklich wäre sie, wie unaussprechlich glücklich! Aber das waren alles Träume! Wenn sie aus ihnen erwachte, lehnte sie einsam am Fenster, und Alles um sie war still. Dann überlief sie ein Frösteln; sie schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Thränen aus.

So verging ihr die Zeit in der unerquicklichsten Weise. Der Fasching kam. Seit dem Dreikönigstage zuckte Sarolta leise zusammen, so oft ein Telegramm gebracht wurde. Er sagte sich jedoch nicht durch ein solches an, sondern plötzlich war er da. Im heftigsten Schneegestöber legte er den Weg von der Haltestelle zu Fuße zurück und trat völlig unerwarteter Weise in den Salon, wo die Gesellschaft sich beim schwarzen Kaffee befand.

»Seilen!« schrie der Baron, der ihn zuerst erblickte. Sarolta, die mit dem Rücken gegen die Thür saß, wandte langsam schwer das Haupt und begegnete seinen aus der Ferne auf sie gerichteten Augen. Ihr Antlitz wurde leichenblaß. Keiner sah es außer ihm, da Aller Aufmerksamkeit ihm zugewendet war. Er erwiderte flüchtig die stürmischen Begrüßungen und Fragen, womit die Herren auf ihn eindrangen, bahnte sich dann den Weg zur Hausfrau, die sich inzwischen erhoben hatte, und küßte ihr ritterlich die kleine, eiskalte Hand.

Mit einer gemurmelten Begrüßungsphrase sank Sarolta wieder in ihren Fauteuil zurück. Sie wußte jetzt, daß sie recht gehabt, sich auf sein Kommen nicht zu freuen. Mit dem unbefangenen Verkehr zwischen ihnen, der ihr so viel geboten hatte, war es von diesem Momente vorbei. Sie suchte wohl Unbefangenheit zu heucheln, aber es gelang ihr nicht; ihr Benehmen Seilen gegenüber wurde sehr wechselnd. In ihrem ganzen inneren Wesen ging eine Wandlung vor; war sie während seiner Abwesenheit unruhig und aufgeregt gewesen, so lag jetzt eine grenzenlose Schwermuth über ihr. Instinctiv mied sie ihn jetzt; es gab Augenblicke, in welchen sie die dunkle Empfindung hatte, ihn zu hassen. Und dennoch fand sie nicht die Kraft in ihrer Seele, ihn wieder fort zu wünschen. Er hatte sie so fest an sich gekettet! Ohne ihn leben?! … Wieder die langen – langen – trostlosen Tage! … Immerfort – das ganze Leben hindurch!

»Ich bilde mir das Alles nur ein«, sagte sie sich. »Auf einen Blick hin will ich ihn verurtheilen? Ich war in jenem Augenblick sehr aufgeregt; mein Mißtrauen hat mich schon einmal verleitet, ihm Unrecht zu thun, es ist auch jetzt wieder im Spiel.«

Allein die Traurigkeit wollte nicht von ihr weichen. Es war ihr oft, als müßte das Herz ihr brechen. Eine innere Stimme sagte ihr, daß sie nicht mehr schuldlos sei. Und doch war nie ein Wort von Liebe zwischen ihnen gesprochen worden, und er benahm sich nicht anders denn früher, und sie wünschte nicht, daß er sich je anders benehmen möchte. Gänzliche Verstörung bemächtigte sich ihrer mehr und mehr. Wenn sie allein war, weinte sie Stunden lang, ohne klar zu wissen warum. Saß sie unter den Andern und wähnte sich unbemerkt, so schweiften ihre Augen rastlos umher, als suchte sie nach etwas, woran sie sich klammern könnte. Aber sie fand nichts. Häufig blieb ihr unstäter Blick auf ihrem Mann haften; sie sah ihn lange an, dann schauerte sie zusammen und wenn irgend möglich, stand sie auf und ging leise hinaus.

Die Gesellschaft, ihr Gatte lebten indessen gedankenlos ihren Vergnügungen. Aeußerlich schien ja Alles im gewöhnlichen Geleise. Sarolta verbarg ihre gerötheten Augen; der Rittmeister aber war merkwürdig auf seiner Hut. Er zeigte sich ganz vernarrt in den guten Reitboden und in ein neues Pferd, das er mitgebracht hatte. Den größten Theil des Tages verlebte er auf Ritten oder im Stalle. Sarolta ritt nicht; da sie den Sport schon vorher vernachlässigt hatte – »Weiberlaunen dauern nicht lang!« sagte der Baron – fiel es nicht auf.

Eines Abends schlug Seilen den Herren ein Wettreiten vor. Man sollte die Ausdauer und Leistungsfähigkeit der verschiedenen Thiere prüfen. Die Idee wurde mit Acclamation begrüßt; das war einmal eine Abwechslung! Seilen ging sofort daran, einige Anordnungen zu treffen. »Ist doch ein capitaler Kerl, dieser Rittmeister!« rief der Baron vergnügt; »hat immer gute Einfälle!«

Es wurde beschlossen, bei gutem Wetter nach dem Frühstück um zwölf Uhr abzureiten; gegen fünf mit dem Dunkelwerden dachte man wieder zu Hause zu sein. Das Ziel war ein benachbartes Gut.

Als am anderen Morgen zur bestimmten Stunde die Reiter sich im Hof versammelten, erschien der Veranstalter der Partie schon ganz gerüstet – aber hinkend oben auf der Freitreppe. »Ich habe mir den Fuß übertreten«, sagte er; »ich kann nicht reiten. Ihr müßt mich zu Hause lassen.«

»Zum Kukuk!« schrie der Baron, der schon im Sattel saß; »was hast Du getrieben? Gerade um Deinen Fuchs war's mir zu thun!«

»Vielleicht nimmt ihn ein Anderer?« fragte der Rittmeister und sah sich im Kreise um.

»Ich!« rief ein junger Edelmann, der auf sein eigenes Pferd nur geringe Hoffnungen setzen durfte.

Die Calvacade war nun in Ordnung. »Adieu Seilen! – Zu schade, daß Du nicht mit kannst! – Lege Dir Eis auf! – Laß den Doctor holen!« – riefen die Herren durcheinander.

Droben im Salon blickte Sarolta vom Fenster dem Abreiten zu. Sie war aber zu spät herangetreten und konnte die einzelnen Reiter nicht mehr unterscheiden. Nur die Farben der Pferde ließen sich noch wahrnehmen; als einer der ersten sprengte der ihr wohlbekannte Fuchs dahin. Plötzlich hörte sie die Thüre knarren; als sie sich umwandte, stand der, den sie dort auf dem Fuchs glaubte, im Zimmer. Es war ihr, als ginge die Welt unter. Völlig hilflos, gelähmt, lehnte sie am Fenster.

Kein Wort, kein Schrei trat über ihre Lippen; der Athem versagte ihr, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Tiefste Stille herrschte ringsum; die Dienerschaft war weit entfernt im anderen Flügel.

In dieser Stille kam er lautlos dahergeschritten über den Teppich. Ohne Maske jetzt, ganz er selbst, berauscht im Gefühle des Triumphes. Sie starrte ihn an, konnte die weit geöffneten Augen nicht von ihm wenden, von ihm, der das Ideal ihrer Jugend gewesen – und der in ihr nichts sah, als eine leichte Beute! Jetzt war er bei ihr. »Sarolta!« sagte er und wollte seinen Arm um sie schlingen.

Da vollzog es sich in ihr wie ein gräßliches Erwachen. Eisiger Frost schüttelte ihren Körper. »Fort!« rang es sich keuchend aus ihrer Brust, und mit einer einzigen Bewegung war sie frei. Bestürzt wich Seilen zurück. Langsam, schleppenden Schrittes ging sie durch's Zimmer, ohne daß der ihr nachblickende Mann zur Besinnung gekommen wäre. Auf der Schwelle zu ihrem Cabinet sah sie noch einmal nach ihm zurück – mit einem leeren, gebrochenen Blick; dann fiel die kleine Tapetenthür hinter ihr in's Schloß. Bei diesem Klange schreckte Seilen aus seiner Betäubung empor. Zitternd vor Leidenschaft und Zorn stürzte er ihr nach, rüttelte wie ein Wahnsinniger an der Thür, allein diese ging nicht auf – der Schlüssel war umgedreht.

Ein wilder Fluch hallte durch das Zimmer; jäh stampfte der Rittmeister den Boden. Dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn und brach in ein gellendes, unheimliches Gelächter aus. Welch' ein Spieler! In letzter Stunde hatte er sein Spiel verloren! –

Als die Calvacade pünktlich um fünf Uhr zurückkehrte, empfing sie die Meldung, die Frau Baronin sei erkrankt und Rittmeister Seilen plötzlich abgereist. Der Baron, ohnehin nicht in rosigster Laune, denn Seilen's Fuchs hatte alle seine Pferde geschlagen, ließ ein Donnerwetter los. »Was krank, sie soll nicht krank sein! Ich kann keine kranke Frau brauchen! – Und dem Rittmeister, dem will ich seine Manier eintränken! Kommt und geht wie ein Gespenst, ohne daß man's vorher weiß.«

»Hier ist ein Brief von ihm«, sagte einer der Herren. Unwirsch riß der Hausherr das Blatt auf. »Weil sein Fuß ärztliche Behandlung erfordert, um bis zu Ablauf des Urlaubs wieder hergestellt zu sein. – Na, als ob wir keinen Doctor auftreiben könnten, um so eine Lapalie zu curiren! Wegen der Frau muß jetzt ohnehin nach einem geschickt werden. Einspannen, Janesi, den gelben Wagen. Für so einen Quacksalber ist er gut genug!«

Das gelbe Steuerwägelchen fuhr von da an zwei ganze Wochen hindurch täglich nach dem nahen Marktflecken, um den Quacksalber zu holen, der den Kopf schüttelte, von »Nerven« sprach, wieder den Kopf schüttelte und schließlich alle Tage eine andere Medicin verschrieb. So wenig vertrauenerweckend diese Art der ärztlichen Behandlung war, schien sie doch von Erfolg begleitet, denn nach Ablauf der zweiten Woche konnte Sarolta wieder das Bett verlassen. Freilich hatte die kurze Zeit sie so verändert, daß Jedermann erschrack. »Das sind die Folgen des Fiebers«, erklärte der ländliche Aeskulap; »nur viel essen und viel schlafen, dann gibt es sich wieder.«

Während er demzufolge darauf wartete, daß es »sich wieder gebe«, gewöhnte der Baron sich allmälig an das jetzige Aussehen seiner Frau, so daß es ihm schließlich nicht mehr auffiel, oder doch nur selten einmal. »Es kann ihr nichts Arges fehlen«, dachte er in solchen Momenten; »sie klagt nicht.« Die Schnepfenzeit war angebrochen; er fuhr viel auf die Jagd in der Umgegend, und wenn er zu Hause wieder eintraf, war er gewöhnlich in sehr heiterer Stimmung, so wie an jenem ersten Abende, und wie damals brachte er stets Gäste mit.

Der Sommer kam und ging. Die Herbststürme begannen wieder zu brausen und die Blätter von den Bäumen zu fegen. Eines Tages fand der heimkehrende Baron abermals den Doctor im Hause, der ihn dringend um eine Unterredung bat und ihm dann mit bleichen Lippen etwas zuflüsterte. Wenig fehlte, daß der Baron den Mann in dem Augenblicke prügelte. »Sind Sie verrückt?« brüllte er ihn an. »Sterben? Zum Teufel, was Ihnen einfällt! Sie ist ja jung. Leben soll sie! Leben muß sie!«

An diesem Tage wurde nach Pest und Wien um die berühmtesten Aerzte telegraphirt. Sie kamen, sahen – und zuckten mitleidig die Schultern.

»Viel zu spät!« sagten sie.


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