Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 1. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Der Traum des Mirzah.

Mirzah, der fromme Santom, lebte in dem glücklichen Arabien einsam in seiner Zelle. Seine Seele wurde von Zweifeln geplagt, die er nicht auflösen konnte. Er fand manches im Koran, das ihm kein göttliches Orakel schien, und manches war darinn so dunkel, daß er es eher für ein Geheimniß, als für Offenbarung halten mußte. Der Prophet selbst kam ihm in vielen Auftritten seines Lebens räthselhaft vor. Hätte ich wie er gehandelt, dachte er, so würde der Koran selbst mich als einen Sünder verdammen. Von diesen Gedanken gemartert und bis zur Ohnmacht erschöpft, schlief er einst nach Mitternacht auf seinem Lager ein, das der Schlaf schon lange nicht mehr besucht hatte. Er sah sich im Traum in das Innere des Landes hingerückt, wo, laut einer alten Sage, die Wahrheit vor Zeiten einen Tempel hatte, der von einem Erdbeben zerstört wurde. Auf den Flügeln der Phantasie langte er in einem Augenblicke an dem Fuße des Felsen an, auf dessen Spitze er noch einige Ruinen des verödeten Heiligthums zu entdecken glaubte. Auf jeder Seite dieser ehrwürdigen Pyramide ragte eine zackigte Klippe hervor, aus deren Schoose eine trübe Quelle sich stürzte. Die eine floß gegen Morgen, und war mit einer 119 Menge von Idolen und aufgeschichteten Büchern umgeben, die wie eine Mauer ihr Bett einfaßten. Die andere braußte in mäandrischen Beugungen zwischen zerschmetterten Gesetztafeln und umgerissenen Altären hindurch, an deren Trümmern sie unablässig zu nagen schien. Mirzah staunte lange diese zwo so entgegengesetzten Erscheinungen an. Welch ein Contrast! sagte er, wo kann man mir diese mystischen Bilder erklären! Indem trat ein majestätischer Greis zu ihm: Freundlichkeit und Ernst vermengten sich in seinen Zügen, das Alter hatte keine Furchen durch seine Stirne und über seine Wangen gezogen; sein weißes Haar glich nicht dem erstorbenen Laube des Herbstes, sondern der Blüthe des Apfelbaums, und sein langer Bart war wie frischgesponnene Seide; sein violblaues Gewand deckte seine Hüften, die ein schimmernder Gürtel umspannte. Sey mir gegrüßt! Mirzah, sprach der Greis zu ihm, ich bemerke dein Erstaunen über das, was du siehest, und bin gekommen, deinen Verstand zu erleuchten. Mirzah neigte sich zur Erde und antwortete: Heil dir, ehrwürdiger Vater, daß du mein Lehrer seyn willst! sage mir, was soll ich von den beiden Quellen halten, die der Grundfeste dieses Berges entströmen? »Als der Brunnen der Wahrheit, deren Priester ich war, verschüttet wurde, brachen diese beiden 120 Quellen aus der Tiefe hervor. Die gegen Morgen heißt, die Quelle des Aberglaubens; die gegen Abend, die Quelle des Unglaubens. Wer aus jener trinket, hält das Falsche für wahr; wer aus dieser trinket, hält alles, selbst das Wahre für falsch. Manche füllen ihre Schaalen mit einem Gemische ans beiden Quellen, und werden von unaufhörlichen Zweifeln umhergetrieben.« Ach! Herr, unterbrach ihn Mirzah, dieses ist meine Krankheit, wie kann ich davon genesen? Das Gebiete der Wahrheit, fuhr der Alte fort, liegt zwischen beiden Klippen in der Mitte; ihr Tempel ist zwar gefallen; allein ihr ewiger Altar blieb unerschüttert. Ihr Born ist zwar verstopft, aber nicht versieget: suche ihn, so wirst du ihn finden. Bei diesen Worten erhob der Greis seinen Finger gegen die Spitze des Berges. Mirzah heftete seine Blicke auf die heilige Stätte, und als er sein Gesicht umwandte, um den Alten weiter zu fragen, siehe, so war er verschwunden. Mirzah seufzte, die Höhe schien ihm unersteiglich und dennoch war ihm nicht mehr wohl in der Tiefe. Plötzlich ermannte er sich, und klimmte mit langsamen aber festen Schritten den Felsen hinan. Je höher er hinauf kam, Je leichter ward ihm das Steigen. Mit einem heiligen Schauer betrat er endlich die bemoosten Ruinen, und entdeckte in einem Winkel ein 121 blasses Licht, das aus einer dunkeln Grotte hervorschimmerte. Aufgethürmter Schutt und verwachsene Hecken versperrten ihm den Eingang; allein nichts konnte ihn mehr abschrecken: eine geheime Kraft stärkte seine Arme. Endlich drang er hinein, und fand einen grauen cubischen Altar, auf dem der Wahrheit ewige Lampe brannte. Mit ihrer Hülfe entdeckte er an seinem Fuße die Ueberbleibsel ihrer Quelle, die in dünnen Faden zwischen dem vulkanischen Gesteine hervorrieselte. Mirzah wollte seine Schaale damit füllen; allein, er hörte die Stimme des Alten, die ihm zurief: begnüge dich mit einigen Tropfen, mehr kann der Sterbliche nicht vertragen. Mit zitternder Freude tauchte der Santom seinen Finger in den flüßigen Crystall. Kaum berührte er damit seine Zunge, so war es ihm, als ob eine Hülle von seinen Augen fiele. Die Grotte erschien ihm, als ein prächtiger Dohm, den eine unsichtbare Sonne erleuchtete, und auf der Vorderseite des Altars las er in flammenden Zügen die Worte: Gott, Unsterblichkeit, Tugend. Mirzah fiel auf sein Antlitz; seine Sinne verlohren sich in eine süße Ohnmacht, und als er seine Augen wieder aufschlug, fand er sich, von der Morgensonne bestralet, auf seinem Bette. Gott! Unsterblichkeit! Tugend! rief er, indem er seine Hände gen Himmel hob. Heilige Worte, ihr sollt 122 von nun an mein Koran seyn. Wer diese drei ewigen Wahrheiten predigt, ist ein Prophet, und der menschlichste unter ihnen ist der göttlichste. Jedes Buch, worinn diese drei Wahrheiten stehen, ist eine himmlische Offenbarung; weil kein Sohn der Erde sich je rühmen durfte, sie entdeckt zu haben. Nun wurde Mirzah von keinem Zweifel mehr geplagt, und seine letzten Jahre waren die heitersten seines Lebens. Er las wenig Bücher mehr, allein er übte desto mehr Tugenden. Doch überraschte Beder, sein alter Freund, ihn einst mit einer Pergamentrolle in der Hand, die er, wie er sagte, von einem fremden Pilger gekauft hatte. Seine Augen schwammen in Thränen, und sein Angesicht glänzte vor Wonne. Schwöre mir, Bruder, so sprach der Santom zu ihm, indem er ihm die Hand bot, schwöre mir, daß, wenn ich hingesunken bin in den Schlummer des Todes, du diese Rolle uneröffnet mit mir begraben willst. Beder schwur und hielt Wort. Es war das Evangelium des Johannes. 123

 


 


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