Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 1. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Die verlorene Ziege.

In einem grasreichen Thale der Alpen, das von zackigten Gletschern, wie mit einer saphirnen Krone, umgeben war, weidete die junge Emma ihre Ziegen. Sie ließ die Thiere sorglos umher irren, und beschäftigte sich auf dem Abhang eines Hügels Erdbeeren zu pflücken, womit sie ihre Mutter, wenn sie ihr die Mittagskost brächte, bewirthen wollte. Das Körbchen war gefüllt und sie wandte sich heiter nach der kleinen Heerde. Aber mit Schrecken bemerkte sie, daß ihr eine von den sechs Ziegen fehlte. Sie suchte sie umsonst auf den schlangigten Pfaden des Thales, und am Bache hinter dem Hügel. Sie muß sich in den Wald verlaufen haben, sagte sie zu sich selbst, und eilte nach dem Walde.

Aengstlich wand sie sich durch das Dickigt und rief dem Thiere, und horchte, ob sein Geblöcke ihr nicht seinen Aufenthalt anzeigte. Auf einmal erschien ihr im dunkeln Gebüsch ein stattlicher Pilgersmann, dessen freundlicher Blick seinem Gruße zuvor kam. Kannst du mir, liebliche Hirtinn, keine Quelle zeigen? sprach der Waller; ich irre schon zwo Stunden in diesem Wald umher, und verschmachte vor Durst. Ehrwürdiger Vater, erwiederte das Mädchen, hier ist keine 114 Quelle, aber folgt mir zu meiner Heerde, da will ich mit Milch von meinen Ziegen Euch laben.

Der Pilger folgte ihr mit mattem Schritte, und Emma vergaß, daß sie eine Ziege verloren hatte, und dachte nur an die Erquickung des Fremden. Er sprach wenig, aber sein Auge segnete das Mädchen, und so oft ers ansah, füllte es sich mit Thränen. Nun erreichten sie den blumigten Rasenplatz, auf dem die kleine Heerde weidete, und siehe, die verlorene Ziege hatte von selbst den Rückweg gefunden. Mit emsiger Freude melkt Emma das volle Euter des Thieres in ihren hölzernen Becher, und reicht ihn dem Gaste. Dann langt sie aus ihrer Hirtentasche ein Stück Roggenbrod hervor, und übergiebt es ihm samt dem Körbchen mit Erdbeeren. Ich kann ja, denkt sie, für die Mutter wieder andere sammeln.

Wie heissest du, holdes Mädchen? fragte der Pilger, indem er mit der duftenden Frucht sich labte. Du bist nicht aus diesem Lande. – Emma ist mein Name. Allein woher wisset Ihr, daß ich hier fremd bin? – O, ich weiß noch mehr, erwiederte er mit wonnestrahlendem Blicke; weise mir deine Hand, so will ich dir die gute Wahrheit sagen.

Neugierig reichte ihm Emma die Hand; der Pilger besah sie einige Augenblicke, dann sagte er mit feierlicher Stimme: eine Burg war deine Wiege, 115 dein Vater . . . . ach! eine schwarze Wolke umschleiert seinen Helm, und deine traurende Mutter, ein Weib, wie es disseits des Himmels wenige giebt, wenn ich recht lese, so heisset sie Bertha . . . . .

Emma erblaßte; sie zog ihre zitternde Hand zurück, und starrte den Pilger an. Fürchte dich nicht, mein Kind, sagte dieser, indem er ihr die Wange streichelte. Führe mich zu deiner Mutter, ich will ihr Kunde bringen von einem schwäbischen Ritter, den der Kaiser ächtete weil er aus dem Tournier zu Worms . . . Um Gotteswillen, unterbrach ihn Emma tieferschüttert, nennet keinem Menschen den Namen des Ritters! Ich sehe wohl, Ihr wisset alles. O, sagt mir, wo ist er? wo lebt er? – Du sollst alles erfahren; führe mich zu deiner Mutter. – Dort kömmt sie eben aus dem Hohlwege hervor, rief Emma freudig, indem sie sich nach der Gegend wandte, wo ihre Hütte lag.

Der Pilger erblickte sie; seine Seele schien seinen Körper zu verlassen, und der Kommenden entgegen zu fliegen. So stand er in stummer Entzückung, indeß Bertha den Hügel erstieg; sie trug einen Breitopf in der Hand, und einen frischgebackenen Kuchen in der aufgeschlagenen Schürze. Noch war die Blüthe der Schönheit nicht ganz auf ihrem edeln Anlitz verwelkt; aber der Gram hatte ihren Blick umwölkt, und seine Furchen über ihre Stirne gezogen.

116 So wie sie sich näherte, trat ihr der Pilger mit blitzendem Auge und langsamen Schritten entgegen. Nun stürzt er auf sie zu: Meine Bertha, meine Bertha! rief er, und faßte sie mit bebender Freude in seine Arme. Arnulph, mein Arnulph! mehr sagte sie nicht; ohnmächtig lag sie am Busen des Gatten. Emma, die wechselsweis ihren Vater und ihre Mutter mit Küssen und Thränen bedeckte, half ihm die Ohnmächtige ins Leben zurück rufen. Mächtig ist der Ruf der Natur und der Liebe: Bertha erwachte, und nach einer Viertelstunde, der seligsten ihres Lebens, konnte sie, auf ihren Gatten und ihre Tochter gelehnt, heimkehren in ihre freundliche Hütte.

Unterweges erzählte Arnulph, wie er lange, von den Freunden des Erschlagenen verfolgt, fremde Reiche durchirrt, und endlich auf einem venetianischen Schiffe das ferne Lusitanien erreicht habe; wie er sich im Kriege gegen die Ungläubigen hervorgethan, vom Könige bemerkt und zum Feldhauptmann ernannt, dreimal als Sieger gekrönt, und mit reichen Gütern belohnt worden sey. Die Mohren, so fuhr er fort, waren gänzlich aus dem Lande verjagt, und nun konnte keine menschliche Gewalt mich mehr abhalten, mein Weib und meine Tochter aufzusuchen. Auf Deutschlands Gränzen versteckte ich mich in ein Pilgersgewand, und wagte mich in die Burg 117 meines Freundes Bertram, dem Ihr Eure Rettung zu danken hattet. Von ihm erfuhr ich Alles, was er von Eurer verborgenen Freistätte wußte; sein treuer Diener, der Euch in diesen Winkel der Erde begleitete, war todt, sonst wäre es mir nicht so schwer geworden, Euch zu finden. Doch die unsichtbare Hand des versöhnten Himmels leitete mich, als ichs am wenigsten dachte, meiner Emma entgegen. Ungeachtet ich sie als ein sechsjähriges Kind verließ, erkannte ich in ihr beim ersten Anblicke die Züge ihrer Mutter. Hier umarmte er Beide, und ein neuer Wonnesturm benahm ihm die Sprache.

Drei himmlische Tage lebten die Glücklichen in der einsamen Hütte, dann machten sie sich auf, und zogen über den Gotthardt nach Welschland. In Genua giengen sie zu Schiffe, günstige Winde beflügelten ihre Segel, und nach zween Monden stiegen sie in Lissabon ans Land. Arnulph stellte sein Weib und seine Tochter vor den König und die Königinn. Emanuel der Große versuchte Alles, um sie bei Hofe zu behalten, allein sie zogen das friedliche Landleben auf einem paradiesischen Rittersitze am Tajo vor, wo sie gar bald ihr Unglück, aber nie die Unglücklichen vergaßen. 118

 


 


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