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Neuntes Kapitel.

Karoline hörte mit flüchtiger Überraschung die Erzählung an, welche ihre Bedienerin des andern Morgens von dem Eisenbahnunglücke gab. Sie hatte keine Muße zur Neugierde und zu dem gutherzigen Mitgefühl für fremdes Unglück. Wie brennender Durst tobte in ihr seit der Heimkehr vom Friedhöfe die Sehnsucht nach dem verlorenen Geliebten, dessen Bild in qualvoller Unfaßbarkeit vor ihrer Seele stand, männlich kraftvoll, mit dem herrischen Lächeln befriedigten Selbstgefühls, das aus dem Dickichte des wallenden Bartes hervorzuleuchten pflegte, wenn ihre Liebe ihn beglückte. Sie lechzte nach seinem Kusse, süße Schauer trieben sie in seine Arme, und es war, als risse ihre Brust entzwei, wenn der grausame Verstand sagte: »Vorbei! Verloren!« Ja, es war der Durst in seiner ganzen Qual und noch dazu das Gefühl, daß es kein mitleidiges Ende gab, daß ihr Schicksal war, zu dürsten, ohne zu verdursten. Es beschlich sie nicht die Todessehnsucht empfindsamer Verliebter, nicht der Gedanke, nicht mehr leben zu können, stieg in ihr auf. Der Schauder vor dem Tode, der sie gestern vom Grabe der Mutter gescheucht hatte, war nicht bloß zufällig erzeugte Stimmung, er blieb in ihr haften und ließ nur die ungestillte Begierde walten, die leben wollte und im Ungestüm ihres Willens allen Schmerzen starken Widerstand bot, der an ein Ermatten nicht dachte. Das »Vorbei! Verloren!« war nur ein stets sich wiederholender Faustschlag, der die vorwärtsstürmende Sehnsucht zurückstieß, damit sie mit desto wilderer Wut aufs neue entbrannte.

So rang sie mit ihrem Schicksale, als gegen Mittag ein Extrablatt der »Neuesten Nachrichten« in ihren Laden gereicht wurde. Es enthielt ausführliche Mitteilungen über das Unglück und insbesondere auch die amtliche Feststellung der Toten und Verwundeten nach Namen, Stand und Wohnung. Ihr Blick eilte zerstreut über das Blatt. Erst die Schilderung des Geschehnisses flüchtig überfliegend, dann die Liste der Toten und Verwundeten streifend. Da blieb ihr Auge sich vergrößernd haften, heiße Röte jagte über ihr Gesicht. Sie hatte Fräulein Rieders Namen gelesen. Ein gräßlicher Gedanke jagte die Buchstaben in trübem, verschleiertem Lichte an ihr vorüber. Jetzt ließ sie das Blatt mit einem lauten Schrei zu Boden fallen und sank selbst in schwerem Falle auf die Theke, vor der sie saß. Bertram war einer der ersten in der Reihe der Schwerverwundeten. Nur eine kurze Weile lag sie, das Gesicht in die Arme gelegt. Dann hob sie das Blatt wieder vom Boden und las die Liste weiter. Sie bohrte ihre Blicke auf dasselbe und suchte mit fiebernder Gier einen Namen, der ihr fehlte, obwohl dastehen mußte. Oder war er wunderbar gerettet, oder – – – was that Fräulein Rieder ohne Lilienfelder in der Gesellschaft, wer konnte ihr Ritter gewesen sein – – – –? Sie stand auf, rannte in wilder Hast im Laden umher, griff sich bald an die Stirne, bald suchte sie mit einem Drucke auf die Brust den keuchenden Atem zu beschwichtigen. Die Thränen standen ihr im Auge, aber ihr Lauf wurde gehemmt durch den Widerstreit, der zwischen Schmerz und bitterem Abscheu hin und her schwankenden Gefühle, der ihre Wangen bleichte und sie in einen Zustand schwindelnden, fröstelnden Unwohlseins versetzte. Nicht lange gab sie sich aber dieser ohnmachtartigen Schwäche hin. Es trieb sie hinaus auf die Straße. Sie wollte Gewißheit haben, ob sie dem Treulosen doch die Fülle des Mitgefühls widmen durfte, oder ob das Abscheuliche, das Gemeine mit giftigem Hauche die Stimme des Herzens ersticken würde. Mit bleischweren Füßen und doch eilig vorwärtsstrebend, wandte sie sich nach Lilienfelders Wechselstube. Als sie dort eintrat, sah sie den Banquier im Gespräch mit Frau Nöttle. Er war freudig erregt, seine Augen glänzten, sein ganzer Körper war in lebhafter Bewegung. Karoline achtete der Anwesenheit der Freundin nicht, sondern eilte auf Lilienfelder zu mit den hastig, heiser hervorgestammelten Worten: »Waren Sie dabei? Sagen Sie mir alles, verschweigen Sie mir nichts!«

Das Gesicht des Gefragten wurde ernster, er besann sich eine kurze Weile und sah Karoline, die mit gierigen Blicken an seinen Lippen hing, nachdenklich an.

»Ich war nicht bei dem schrecklichen Unglücke!« sagte er dann.

»Nicht!« rief Karoline entsetzt. »Und …«

»Beruhigen Sie sich!« unterbrach sie Lilienfelder, ihren Arm sanft berührend. »Ich hatte wohl, wie Bertram, um dessentwillen Sie ja fragen, den Ausflug mitgemacht, aber ein – – Zufall – – – – dringende Geschäftssache – – veranlaßte mich, mit einem früheren Zuge nach der Stadt zurückzukehren. Das hat mich gerettet.«

Karoline hatte die Stockung seiner Rede und die begleitende unsichere Miene wohl bemerkt. Mit gesteigerter Heftigkeit fragte sie: »Und – – und jenes Fräulein? Warum ist es nicht mit Ihnen gefahren?« Jetzt begriff auch Frau Nöttle, die bisher stumme Zeugin gewesen war, den Zusammenhang. Kurz vor Karolinens Eintritt hatte ihr der Banquier ganz genau die Umstände erzählt, denen er seine Rettung verdankte, und sie ahnte jetzt, daß es sich dabei um Karolinens Geliebten, dessen Name ihr nie bekannt geworden war, handle. Mit einer mitleidsvollen Bewegung trat sie tröstend auf die Freundin zu. Diese teilte ihre argwöhnischen Blicke zwischen ihr und Lilienfelder, der stotternd sagte:

»Das unglückliche Mädchen hat sich so gut unterhalten, daß ich es bei der Gesellschaft zurückließ.«

Karoline sah ihn zweifelnd an und wandte sich dann an Frau Nöttle, in deren Mienen sie deutlich las daß sie unterrichtet war: »Du, Du weißt auch davon! So sag' doch Du mir die Wahrheit!«

Frau Nöttle war von dem verzweifelten Tone, in welchem Karoline bat, erschüttert. Sie zauderte und warf einen fragenden Blick auf den Banquier. Dieser winkte ihr zu schweigen und sagte dann: »Frau Nöttle, – eine Freundin von Ihnen, wie ich sehe – hat erst vor wenigen Minuten von mir den Sachverhalt erfahren, und weiß nicht mehr, als was ich Ihnen erzählte.«

»So ist es«!« sagte diese übereifrig. »Ich erfahre auch erst setzt, daß es sich um einen Mann handelt, der Dir teuer war! Armes Mädchen!«

»Ja!« sagte Karoline. »Um ihn handelt es sich!«

»Ist er tot?« fragte Frau Nöttle.

»Unter den Schwerverwundeten!« erwiderte Karoline, sich auf die Freundin stützend. »Er hat meinem Herzen wehe gethan, sehr wehe, aber jeder Vorwurf schweigt vor solchem Unglück, wenn ich nur wüßte – – – –«

Frau Nöttle, welche von dem vorhergegangenen Bruche des Verhältnisses nichts wußte, deutete Karolinens Worte dahin, als habe dieselbe schon früher einen Grund zur Eifersucht gehabt, und tröstete sie mit den Worten: »Sie ist tot, die Dir sein Herz entfremdet hat, sie hat es schwer büßen müssen! Er aber – – –«

Hastig riß sich Karoline von ihr los. Ihr starrer Blick ging von der Freundin zu dem erschrockenen Lilienfelder, dann sank sie in schwerem Falle lautlos zu Boden.

Mit Hülfe eines Comptoiristen, welcher hinter einem Verschlaggitter stummer Zeuge der Scene gewesen war und jetzt herbeistürzte, trug Lilienfelder die Besinnungslose in ein Seitenkabinett. Dort wurde sie auf ein kleines Sofa gelegt. Frau Nöttle blieb bei ihr, öffnete ihr das Kleid und netzte sie mit rasch herbeigebrachtem Essig. Bald schlug sie die Augen auf, richtete sich in sitzender Lage und starrte dann vor sich hin. Frau Nöttle bat um Vergebung ihrer Unvorsichtigkeit und suchte sie mit innigen Worten zu trösten. Sie wehrte der Freundin mit stummer Gebärde. Nach einer Weile schloß sie das geöffnete Kleid, stand auf und sagte mit schwacher Stimme: »Ich danke Dir für Deine Hülfe! Nun ist mir wieder gut, und ich kann gehen!«

Frau Nöttle machte Einwendungen, und als diese nicht fruchteten, bot sie ihr Geleit an. Auch dieses wurde abgelehnt. Karoline trat auf das Comptoir hinaus, entschuldigte sich bei Lilienfelder wegen der Störung, wies auch dessen Begleitung zurück und ging, nachdem sie Frau Nöttle die Hand gereicht hatte, bleich, mit schwermütiger Miene ihres Weges.

Frau Nöttle wechselte über das Geschehene noch einige Worte mit dem Banquier und fragte ihn schließlich, was denn dieser Herr Bertram für ein Mensch sei. Erst jetzt erfuhr sie, daß das Verhältnis bereits abgebrochen war, und Lilienfelder war auch nicht selbstlos genug, um den ungetreuen Freund besonders zu loben. Aus seiner zurückhaltenden Darlegung gewann Frau Nöttle das Bild eines Mannes, der mit den Gefühlen ihrer Freundin frevelhaftes Spiel getrieben hatte. Als sie darüber ihrer Entrüstung Ausdruck gab, lächelte Lilienfelder spöttisch und sah sie mit einem Blicke an, vor dem sie errötete. Sie hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen, und verabschiedete sich mit erzwungener Freundlichkeit von dem Banquier. Freundlich mußte sie erscheinen, denn Lilienfelder hatte sie zu Dank verpflichtet. Sie war gekommen, eine Teilzahlung jener Wiedererstattung für die von ihrem Schwager verlorene Summe zu leisten. Lilienfelder war so beglückt über seine Rettung aus naher Gefahr gewesen, daß ihm bei der Erzählung derselben die Thränen in den Augen gestanden und er gesagt hatte:

»Ein glücklicher Zufall hat mir das Leben gerettet, ein unglücklicher Zufall hat damals Ihren Schwager die Summe verlieren lassen. Sie haben ja ohnehin schon zwei Dritteile abbezahlt, machen wir einen Strich durch den Rest und lassen Sie uns das Unglück und das Glück ausgleichen, ich habe noch immer genug Vorteil dabei.«

Ihre Einwendungen hatte er zurückgewiesen und zuletzt bemerkt: »Lassen Sie mir doch den Spaß! Ich will heute einmal übermütig sein. Soll ein Jude sich nicht auch freuen, wenn er das große Los gewonnen hat? Ich habe aber mehr als das große Los gewonnen, und Sie sollen auch was davon haben.«

Frau Nöttle war dieses Anteiles an Lilienfelders Glück sehr froh. Sie war damit einer schweren Sorge ledig geworden. Der Banquier erschien ihr als ein herzensguter Mensch. Von diesem günstigen Urteile brachte sie aber jenes Lächeln und der frivole Blick ab, der sie in ihm einen jener Menschen erkennen ließ, die eine ehrbare Frau verabscheut, weil sie die Ehre der Frauen gar nicht begreifen und der Name des Weibes von ihnen nur mit Unlauterkeit gedacht wird. Ein solcher war auch Karolinens Geliebter, in solche Hände hatte die Unglückliche ihr Schicksal gegeben. Wohl gedachte sie der strengen Meinung ihres Gatten, aber die Lage der Freundin war zu traurig, als daß man sie hätte einsam, ohne Kraft und Stütze lassen können. Sie büßte jetzt schwer, was sie gesündigt hatte, und durfte nicht der Verzweiflung überantwortet werden. Frau Nöttle war ohnehin genötigt, dem Gatten Geständnisse zu machen. Wie es seine Art war, hätte er Lilienfelders Geschenk nimmermehr angenommen, so lange noch der Verdacht der Unehrlichkeit an seinem Bruder haftete, der den Ersatz der Summe ihm als strenge Pflicht erscheinen ließ. Sie mußte ihm also von Karolinens Zeugenschaft bei dem Verluste des Geldbriefes erzählen, und daran war auch das Geständnis von dem Darlehen zu knüpfen. Sie war dessen froh, denn es hatte sie schon die kurze Zeit bedrückt, ein Geheimnis vor dem Gatten zu haben. Mischte sie so mit angenehmer Aussicht das, was ihn wohl erzürnen mochte, dann fiel der Verweis nicht allzu schlimm aus, und dann war er wohl auch zu finden für ein Wort zu Gunsten der Beklagenswerten. So that sie, als sie nach Hause kam. Herr Nöttle hörte sie aufmerksam an, mit einer Miene, deren Ernst nicht aufgehellt wurde durch das Angenehme, was sie mitteilte. Verschüchtert, ängstlichen Blickes brachte sie ihren Bericht zu Ende. Er aber sagte dann: »Du hast mir die Freude mit viel Bitterkeit gemischt, mein liebes Weibchen! Heimlichkeiten sind immer vom Übel in der Ehe, und die Unwahrhaftigkeit ist ein böser Gast im Hause. Deine Heimlichkeit aber ist noch dazu keine von den harmloseren. Du kanntest meine Meinung, und nie hättest Du aus solchen Händen Freundschaftsdienste annehmen sollen. Das war sehr unrecht von Dir.

Die junge Frau war, obwohl ihr Gatte nicht zu den Aufbrausenden gehörte, doch auf eine sehr lebhafte Scene gefaßt gewesen, die sie auch dem lehrhaften, väterlich verweisenden Tone vorgezogen hätte. Dieser ärgerte sie, und schmollend sich abwendend, sagte sie: »Daß ich Dir's zwei Tage verheimlichte, nun wohl, das war nicht recht. Was ich aber that: daß ich mit gutem Herzen nahm, was mir von gutem Herzen gegeben wurde, darin wird niemand, außer Dir, ein Unrecht sehen, und auch darin nicht, daß ich mein bekümmertes Herz einer Frage nicht kalt oder heuchlerisch verschloß.«

Das kleine Kind, das in derselben Stube in einem Korbwägelchen ruhte, fing jetzt zu schreien an. Frau Nöttle trat an den Wagen, und während sie ihr Töchterchen umbettete, fuhr sie grollend fort: »Jetzt freilich ist Karolinens gutgemeintes Darlehen überflüssig geworden. Das konnte ich aber nicht voraussehen, und wenn Du nun ihre Freundlichkeit mit grausamer Schroffheit lohnst, gerade in einem Augenblicke, wo sie des Mitgefühls am bedürftigsten ist, dann kann ich darin keine Tugend erkennen. Dank hat sie immerhin verdient, und die Dankbarkeit, so meine ich, darf nie und gegen niemand beiseite gesetzt werden. Käme es auf mich an, ich würde mir gerade jetzt die Gelegenheit nicht entgehen lassen.«

Das heftige Geschrei des Kindes machte sie verstummen. Sie öffnete ihr Kleid, als ihr Gatte hastig an sie herantrat und mit besorgter Miene, ihre Hand fassend, sagte: »Was thust Du? Nicht jetzt, nicht so reiche dem Kinde die Brust!«

Die junge Frau sah ihm in das Gesicht und lächelte. »Ich bin ja gar nicht böse, und dem Kinde geschieht kein Schaden!« sagte sie mit einem zärtlichen Blicke. Dann nahm sie das Kind auf und bot ihm die weiße Brust, welche dieses gierig erfaßte, während der Vater mit ängstlicher Zweifelsmiene zur Seite stand. Allmählich wich die Besorgnis aus dessen Zügen, und mit liebevoller Neugier sah er dem Bilde zu, dessen Anblick ihn täglich aufs neue beglückte. Frau Nöttle hob den auf den Busen gesenkten Blick zu ihm empor und sagte, während eine verklärte Innigkeit auf ihrem Gesichte lag: »So viel Liebe wohnt in Dir, Ludwig, Du hast es in diesen schweren Tagen gezeigt, daß man's wahrhaftig nicht begreift, wie ein so goldenes Herz in manchen Dingen so hart sein kann.«

Er aber winkte ihr nur mit stummer Gebärde zu. Erst als sie nach einer Weile das schlafende Kind von der Brust hob und in den Wagen legte, sagte er: »Du wunderst Dich, daß ich allen Vorrat von Liebe da aufhäufe, wo er hingehört, bei meinem Weibe und meinem Kinde, und nichts von Allerweltsempfindsamkeit verspüre, die nicht nur Euch Frauen treibt, sondern heutigen Tages als Mode in der Luft liegt.«

»Das halte ich für edel und gut«, versetzte Frau Nöttle, »daß alle für einen stehen, und finde nur, daß gerade in solchen Fällen, wie dem eines armen, betrogenen Mädchens, zu wenig in diesem Sinne gehandelt wird.«

»Ei, ei, Du empfindsame Fortschrittlerin!« fuhr ihr Gatte fort, »was Du »zu wenig« nennst, das eben ist der Rest einer gesunden, richtigen Auffassung, es ist noch der Gedanke an die Familie und ihr Recht. Du weißt und sollst nicht wissen, wieviel Scharfsinn heutigen Tages aufgewandt wird, um die Ehe als die thörichtste aller menschlichen Einrichtungen zu erweisen. Wenn wir Gemeinschaft machen mit denen, die das verlachen, was uns heilig ist, wofür denn ist die Ehe da, warum denn, wenn wir nicht unser besseres Vorrecht betonen, übernehmen wir die Pflichten der Ehe? Sollen wir die Lasttiere der Gesellschaft sein, während sich andere nach Lust und Laune ergötzen und statt des berechtigten Stolzes auf unsere Pflichterfüllung und unser damit erworbenes heiliges Recht eine Duldsamkeit an den Tag legen, die nur bewiese, daß wir Narren waren, die sich das Leben erschwerten, wo sie es leichter hätten haben können? Man braucht mit seiner Ehrbarkeit nicht zu prunken, aber in der Ehe des Niedrigsten liegt etwas von einer Würde, die man nicht selbst erniedrigen darf, indem man der Verhöhnung der Ehe freundschaftliche Duldung erweist.«

Des anderen Tages ging er zu Karoline, ihr das geborgte Geld zurückzuerstatten.

Er traf die Gesuchte in ihrem Laden, bleich, mit müdem, wehmutsvollem Ausdruck im Gesichte. Nur eine flüchtige, rasch schwindende Röte tauchte in ihren Wangen auf, als sie seiner ansichtig wurde. Der Anblick des tiefen Leidens, das aus ihrem Wesen sprach, machte ihn befangen. In zögernder Rede dankte er für das Darlehen, das er zurückerstattete.

Sie sah ihn forschend an und sagte: »Sie bedürfen der Summe wirklich nicht mehr?«

»Nein!« erwiderte er. »Wirklich nicht, und – –«

Sie unterbrach ihn, das Geld an sich nehmend, mit den Worten: »Es freut mich zu hören, daß Ihr Schicksal so rasch sich gewendet hat. Ein Zufall war es, der mir die Gelegenheit gab, Ihrer Frau behülflich zu sein. Ich that es gerne, denn es mag wohl nichts Schlimmeres geben, als wenn braven Menschen ein wohlverdientes Glück durch die schnöde Geldfrage verkümmert wird. Und Ihre Frau ist nicht nur brav, sie ist ein Engel voll schöner Empfindungen.«

Herr Nöttle war von diesen Worten überrascht. Er mußte nun aber sofort das, was er für nötig hielt, anbringen und sagte: »Ich danke Ihnen für dieses Lob meiner Frau. Es ist auch meine Sorge, sie rein zu halten von allem, was ihre Empfindungen trüben könnte.«

Karoline sah ihm ruhig ins Gesicht und erwiderte:

»Da thun Sie wohl daran, Herr Nöttle, obwohl ich überzeugt bin, daß Fanny selbst allem Unedlen mit dem Zartgefühle, das sie ziert, aus dem Wege geht.«

Nun war er in Verlegenheit, das gewünschte Ziel zu erreichen, ohne zu beleidigen, wo er weniger als je beleidigen wollte. Ihn erfaßte ein warmes Mitgefühl für das unglückliche Mädchen, das vor ihm stand, und zum erstenmal tauchte in ihm der Gedanke auf, sein kleines Frauchen könnte am Ende doch in dem reinen Ziele des Herzens dem Rechten näher kommen, als die eigene gedankenblasse, weltentrückte Sittenstrenge. Er schämte sich aber dieser weicheren Regung, und nachdem er eine kleine Weile das Mädchen zweifelnden Blickes gemustert hatte, entfernte er sich mit etwas rauh klingender Höflichkeit.

Karoline lächelte bitter vor sich hin, als er gegangen war. Sie hatte ihn wohl durchschaut. Wenn sie aber vor kurzem noch solche Sittenstrenge, die sich gegen die Duldsamkeit weiterer Regungen wehrte, mit aufwallendem Grolle als Ungerechtigkeit beurteilt hatte, war ihr heute anders zu Mut. Der Mann gefiel ihr, und sie achtete seine Art. Gräßlich waren die Stunden gewesen, seit sie aus Lilienfelders Wechselstube nach Hause gekommen war. Sehnsucht und Mitleid waren ihr vergällt von dem abscheulichen Gedanken an jene Dirne, und wenn Bertrams blutiger Körper vor ihrem geistigen Auge schwebte, erbarmungswürdig, Teilnahme flehend, traten ekelerregende Bilder dazwischen, die ihren Haß, ihren wilden Haß entflammten und den Bemitleidenswerten als einen erscheinen ließen, an dem das Schicksal wohlverdiente Rache geübt hatte. Um eines solchen Weibes willen war sie verlassen worden, bei dieser schamlosen Metze hatte er Ersatz für ihre Liebe gefunden! Für ihre Liebe! Er hatte die Liebe nicht verstanden, wenn er aus ihren Armen zu jener eilen konnte, er war ein Wüstling, der sie verdorben, zu Grunde gerichtet hatte, und wo sie sich hingab mit der ganzen Fülle ihrer Weibesnatur, war sie ihm nichts gewesen als ein Begierden entflammender, Begierden sättigender Körper. Oft, oft hatte sie es dunkel geahnt und immer wieder die Gespenster verscheucht. Jetzt wußte sie es. Sie hatte sich weggeworfen, erniedrigt bis in den Schmutz! Aber jene Abscheuliche war tot, zerfleischt war jener wollustatmende Leib voll frecher Schönheit, und Bertram lag vielleicht im Sterben; die schmerzverzerrten Lippen stammelten vielleicht reuig ihren Namen, die schuldbewußte Seele begehrte nach Vergebung vor dem Ende. Und wenn er nicht starb? Wenn das furchtbare Geschick ihn läuterte durch Reue zur besseren Erkenntnis? Wenn er dann einsam, ein Krüppel etwa, durchs Leben gehen sollte, ohne hilfbereit sorgende Hand? Sie haben es einmal nicht, die Männer, das tiefe, die Liebe ganz erfassende Herz, und er, er war alt geworden unter gedankenloser Selbstsucht des Junggesellentums, war alt geworden in jener zügellosen Willkür der Begierde, die überall so schnell bereite Dienerinnen findet. Jene Unselige, sie hatte etwas Entflammendes, etwas, was Frauen die Röte in die Wangen trieb, was die Blicke der Männer wie eine Versuchung bannte. Und weil es die Frauen haben, das liebreiche, liebestiefe Herz, so haben sie auch die Vergebung, die über den Jammer, den Abscheu, den Haß hinaus die Liebe stets wieder aufglühen läßt. Sie wollte vergeben.

In diesem Gefühle fühlte sie sich gehoben, geläutert, ihr Schmerz wurde linde Wehmut, frei von dem wilden Lebensdrange, zum erstenmal kam über sie der Gedanke der Buße, und indem sie all die herbe Kränkung ertränken wollte in den Thränen verzeihender Liebe, glaubte sie nicht nur den Geliebten zu entlasten von schwerer Schuld, sondern auch eigene Sünde zu sühnen, und was in ihrer Liebe an unreiner Lust gewesen war, zu tilgen, sich zu erheben zur selben Liebeshoheit, die ihre Freundin ihr so bewundernswert gezeigt hatte. So war ihre Seele gestimmt, als Herr Nöttle zu ihr kam. Kurze Zeit nach seinem Weggange ging sie bange, klopfenden Herzens und doch einen frommen Frieden in der Brust nach Bertrams Wohnung. Dort erst erfuhr sie von Frau Baumann, die mit lebhaften Klagen ihr das Herz nur noch schwerer machte, daß der Geliebte im städtischen Krankenhause lag. Sie setzte ihren Weg dorthin fort, und je näher sie dem Ziele kam, desto schmerzlicher wurde ihr zu Mute, desto mehr wurde ihr der Weg zum Leidensweg. Als sie dann, eingetreten in das Haus der Schmerzen und des Todes, eine barmherzige Schwester auf sich zutreten sah, die mit leiser, einförmiger Stimme nach ihrem Begehr fragte, da krampfte sich ihr Herz zusammen, und ihre flüsternde Stimme zitterte. Die Nonne wies sie nach einem nahen Wartezimmer, wo andere Leute saßen mit verhärmten Zügen und rotgeweinten Augen, die sich in leiser Zwiesprache ihren Kummer klagten, oder vor sich hinstarrten. Der Raum war so nackt, so kahl mit seinen hellgetünchten Wänden, die nur ein Kruzifix als Schmuck zeigten, und die Menschen, die da auf Rohrstühlen reihenweise saßen sie schienen alle zu ihrem Leid noch einen Schauer vor dem Ort zu empfinden. Verschiedene wurden abgerufen, neue kamen, Karoline saß immer wartend da, bald vor sich hinstarrend, bald mit dem Blicke über die kahlen Wände gleitend, bald nach dem Fenster schauend, durch dessen hohe Scheiben der blaue, sonnenheitere Himmel herniederblickte.

Endlich wurde sie abberufen. Dieselbe Krankenschwester, die sie hergewiesen hatte, geleitete sie durch den langen Korridor, mit unhörbaren Schritten neben ihr gehend, während der Rosenkranz an ihrer Seite leise klingelte und das schwarze Gewand dumpf raschelte. Karoline sank der Mut immer mehr, und es umflüsterte sie wie Todesahnung. Da kam ihnen eine andere Nonne entgegen.

»Hier ist die Dame, die nach Herrn Bertram fragt«, sagte ihre bisherige Begleiterin und kehrte um.

Die Nonne, eine ältere Person mit vollem, rosigem Gesicht unter der breiten, weißen Schleierhaube, richtete ihre braunen Augen prüfend auf Karoline und fragte dann zögernden Tones: Sind Sie eine Verwandte des Kranken, nach dem Sie fragen?«

»Das nicht!« erwiderte Karoline, und heiße Röte stieg in ihren Wangen auf. »Aber – – –«

Sie konnte jetzt nicht lügen und warf nur einen flehentlichen Blick auf die Krankenschwester.

Diese senkte die Augen und sagte: »Dann kann ich Ihnen auch nicht den Eintritt zu ihm gestatten.«

Ein leiser Klageruf kam von Karolinens Lippen, die Thränen traten ihr aus den Augen, und sie stammelte: »Ist er – – sehr – – krank?«

Die Nonne warf einen kurzen Blick auf sie und sagte dann, wieder die Augen senkend: »Es ist noch Rettung möglich.«

Karoline durchschauerte es.

»Wie ist er verwundet?« fragte sie mit stockender thränenerstickter Stimme.

»Ein Bein wurde ihm schon an der Unglücksstätte abgenommen. Aber er hat auch noch eine schwere Kopfwunde; die ist's vor allem, welche seinen Zustand gefährlich macht!« lautete die Antwort.

»Ich – – darf – – ihn nicht sehen?«

»Nur Verwandten darf der Zutritt gestattet werden.«

»Aber – – wenn er – – – stirbt, darf ich doch vorher – –«

Die Nonne schlug die Augen noch einmal auf und sah ihr voll ins Gesicht.

»Beten Sie für ihn!« antwortete sie mahnend. Dann setzte sie freundlicher hinzu: »Lassen Sie Ihre Adresse hier. Falls er zum Bewußtsein kommt und Ihrer begehrt, sollen Sie gerufen werden. Auch können Sie täglich Bericht über sein Befinden einholen.«

»Er ist bewußtlos? Stirbt am Ende, ohne zur Besinnung gekommen zu sein?« fragte Karoline angstvoll.

»Davor möge ihn der allgütige Gott bewahren!« erwiderte die Nonne. »Beten Sie für ihn!«

Dann nickte sie leise mit dem Kopfe und wandte sich zum Gehen.

Karoline blieb in starrem Schmerz stehen und sah flehenden Blickes der Nonne nach, bis diese um eine Ecke des Korridors verschwand. Dann ging sie weinend ihres Weges. Jener Schwester, die sie empfangen und geleitet hatte, gab sie ihre Adresse mit der Weisung, daß sie für alles, was zu Bertrams bester Pflege nötig werden könnte, aufkomme.

Alltäglich machte sie nunmehr den Weg zum Krankenhause. Es war ein richtiger Leidensweg. Sie hörte aus den Berichten, die man ihr gab, recht wohl heraus, daß Bertram zwischen Leben und Tod schwebe. Sie wagte aber nicht mehr die Bitte, ihn sehen zu dürfen, sondern ging schweigend heimwärts, nachdem sie der Nonne, die ihr berichtete, einen klagenden Blick zugeworfen hatte, den diese nicht zu verstehen schien. Ihr Los wurde kaum leichter, als ihr die Nachricht kam, daß der Leidende bedeutende Fortschritte zur Besserung mache. Die Sehnsucht, ihn zu sprechen, wuchs dadurch nur noch mehr, aber als sie im Drange ihres Herzens endlich doch die langunterdrückte Bitte wagte, erhielt sie wiederum eine abschlägige Antwort, und die Nonne gab derselben noch einen besonders herben Beigeschmack durch die hinzugefügte Bemerkung: »Wir wissen nicht, wie Ihr Anblick auf den Kranken wirken würde. Er hat eine schwere Prüfung durchgemacht, und sein Sinn ist wohl auch jetzt noch nicht auf irdische Dinge gelenkt.«

Karoline beugte beschämt ihr Haupt und ging. Aus den Worten der Nonne, aus dem abweisenden Tone, in dem sie gesprochen wurden, klang es ihr wie: Solange er dem Tode nahe war, duldeten wir Deine Nachfrage; jetzt, da er gesundet, wollen wir ihn dir nicht wieder überliefern. Geh' und laß ab von ihm!«

Was wußte eine Nonne vom Leben, was wußte diese Nonne von ihr und dem, was sie Bertram künftig sein wollte? Und doch traf das Wort Karoline wie eine Züchtigung, gegen die sie sich nicht aufzulehnen wagte, die sie demütig hinnahm mit dem Gedanken: »Auch das noch will ich tragen, um der erhofften Zukunft wert zu werden.«

Indessen hatte Bertram sich keineswegs so vom Irdischen und von Karoline abgewandt, wie die weltfremde Nonne glaubte. Er war ein geduldiger, sanfter Kranker, ergeben in das Schicksal seiner Verkrüppelung und seinen frommen Wärterinnen dankbar. Diese wußten, daß er Protestant, Ketzer, war. Ohne ihn mit frommem Übereifer zu quälen, schmeichelten sie sich doch, das ergebungsvolle Wesen desselben gewahrend, mit allerlei Hoffnungen. Aus solcher Empfindung heraus hatte die Nonne zu Karoline gesprochen. In Wahrheit aber hatten Bertrams Gedankengänge, als sein Gehirn sich langsam lichtete und aus zerrissenen, dunklen, sich wirr durchkreuzenden Gestaltungen zu klareren Formen des Denkens befähigt wurde, sich nach ganz anderer Richtung gewandt. Als er einmal soweit war, klar zu denken, war zwar die Gefahr des Todes von ihm gewichen, aber er versetzte sich zurück in jene Zeit, da er bewußtlos dem Grabe nahe war und zur weißen Decke emporstarrend, vergegenwärtigte er sich schauernd jene Unglücksstunde und das, was ihr vorhergegangen war. Dann zog er, weiter zurückgreifend in die Vergangenheit, die Rechnung seines Lebens, und als gälte es noch, sich mit dem Ende abzufinden, grübelte er über den Zweck des Daseins, über Glück und Genuß und über alles das, was mit dem Tode endet, und was man seinem echten Werte nach schätzt, wenn es sich darum handelt, unbekannte Bahnen in das Land des ewigen Rätsels zu gehen. Da fand er denn, daß sein Leben doch recht arm gewesen war, daß aus der Reihe der Einzelheiten, die wie Glück, Genuß aussahen, sich keine Summe ergab, die ein Vermögen bildete. Er konnte nicht scheiden mit dem Gedanken, daß er des Lebens Inhalt voll erfaßt habe. Er sagte sich vielmehr, daß ihm die besten Früchte des Daseins entgangen waren. Wenn er starb, hinterließ er nichts, dessen Zukunft er sich noch in der Scheidestunde hätte hoffnungsvoll ausmalen können, nichts, was ihm des Dankes wert erschienen wäre, nichts leuchtete aus der Vergangenheit entgegen, was ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen gebracht hätte, keine süßen Erinnerungen milderten die Schrecken der Todesstunde. Es betrübte ihn tief, so ins Leere zu sehen, eine stattliche Zifferreihe von Jahren ausgefüllt zu sehen mit einer Summe von Nichtigkeiten, die in ernster Stunde so jämmerlich armselig erschienen. Da, mitten in solchen bitteren Betrachtungen, erschien ihm Karolinens Bild. In den wirren Träumen des von der schweren Kopfwunde betäubten Gehirns war sie schon stets aufgetaucht, bald als quälendes, schreckendes Gespenst, das ihn in der wüsten Buhlschaft mit jener Unseligen, die an seiner Seite den Tod gefunden hatte, überraschte, bald aber, und dies am häufigsten, als das unglückliche, um Hülfe rufende Wesen, das vor seinen Augen unter die Räder der Lokomotive geriet, ohne daß er es hätte retten können. Ein anderes Mal hatte er selbst den zermalmenden Stoß gespürt, und sie war von seinem Arm gerissen worden, wieder einmal war es die Rieder, die hohnlachend Karoline unter den Zug schleuderte, dann hatte er zu ihr fliehen wollen, die abseits mit traurig mahnendem Blicke stand, die Rieder aber hatte ihn so lange zurückgedrängt, bis der Zug über ihn wegfuhr. Wie sie aber der Gegenstand seiner sinnlosen Phantasieen war, so blieb sie auch der stets wiederkehrende Inhalt seiner klaren Gedanken. Das Verhältnis zu Karoline allein war es, was er in seinem Rückblicke als eine kurze Episode von tieferem Inhalte fand und doch, wie er sich sagte, nicht tief genug. Er hatte nicht ausgenutzt, was ihm geboten war, nur naschhaft geschlürft, wo er mit vollen Zügen hätte trinken können. Wie, wenn er ein Weib gehabt hätte von Karolinens Art, Kinder dazu, die schon ziemlich herangewachsen sein konnten? Das Sterben wäre da scheinbar härter gewesen, aber die Rückschau hätte ein anderes Ergebnis gehabt von allerlei anmutig beglückenden und ernst erhebenden Einzelheiten, deren Summe das Leben wohl verlohnt haben würde, und er wäre gegangen, wissend, daß er hinter sich läßt, was ihn liebt und ehrt und sein Andenken wahrt. Ein armer Mann, so dachte er jetzt, ist doch der Junggeselle, der in feiger Angst vor des Lebens Sorgen auch dessen tiefere Freuden meidet und glaubt, Wunder was ihm seine Freiheit biete, um hinterher zu erkennen, daß solche Freiheit Armut ist. Ein heißer Lebensdrang, ein ungestümes Begehren, noch von dem Versäumten ein Stückchen sich retten zu können, erfaßte ihn. Aber dann glitt die Hand unter die Decke, an den langsam heilenden, dicht verbundenen Stumpf des abgenommenen Beines, und mit bitterem Schmerz sagte er sich, der Krüppel habe kein Anrecht auf das, was der Gesunde leichtsinnig verscherzt hatte. Und doch, war es seine Schuld, daß die gute Absicht, die er bei der Rückfahrt von jenem Ausfluge gefaßt hatte, auf ein solch grausames Hindernis stieß? Giebt es eine Vergeltung, und ist es eine gerechte Vergeltung, zu verhindern, daß aus Unrecht Gutes werde? So aber konnte er nicht vor Karoline hintreten und sein Unrecht gut machen. Das war eine wohlfeile Besserung, die den Krüppel seinen eigenen Vorteil finden ließ.

Die Nonnen glaubten ein gutes Werk an ihrem Pflegling gethan zu haben, als es ihnen endlich gelungen war, durch die Art, mit welcher sie Karolinens Erkundigungen beantworteten, diese zurückzuscheuchen. Nicht aus verletztem Stolz blieb sie fort. Sie fühlte sich selber vor dem abweisenden, scheuen Blick der Nonnen wie eine Verworfene und hatte nicht den Mut, mit ihrer Liebe gegen deren fromme Macht zu kämpfen. Er, den sie liebte, war ihr entrissen, sie konnte nicht zu ihm dringen. So wollte sie in zehrender Sehnsucht warten, bis er sie selber riefe oder zu ihr käme. Dabei bangte ihr freilich vor der Macht der Nonnen, und sie argwöhnte, sein Sehnsuchtsruf würde ihr von diesen verheimlicht werden. Sie that den Nonnen unrecht. Wohl stutzte die Pflegerin und legte ihr Gesicht in ernste Falten, als Bertram eines Tages sagte: »Eine Dame lebt hier in der Stadt, die von meinem Schicksal nichts wissen wird und doch vielleicht einigen Anteil nehmen würde. Ich möchte ihr Nachricht zukommen lassen!« Allein, sie gab der Wahrheit die Ehre und erzählte von Karolinens häufigen Nachfragen und schließlichem Ausbleiben. Mit sanfter Miene und in überzeugungsvoll bittendem Tone sprach sie dann: »Steht Ihnen schon der Sinn nach Weltlichem, Herr Bertram? Die schwere Prüfung, die Sie erfuhren, so hofften wir, habe auf Sie gewirkt, daß Sie der bösen Lust der Welt entsagen und in sich gehen würden.«

Bertram lächelte gutmütig und erwiderte dann: »Ihre Hoffnung erfüllt sich. Jener Dame habe ich schweres Unrecht zugefügt, das ich gut machen möchte. Zu viel des Dankes bin ich Ihnen schuldig, als daß ich Ihnen zürnen möchte. Es thut mir aber doch leid, daß ich nicht früher Kunde bekommen habe von der Teilnahme derselben.«

Errötend sagte die noch jugendliche Wärterin darauf: »Die Dame sagte selbst, sie sei nicht verwandt mit Ihnen, und da meinte, da – –«

Sie senkte, ohne den Satz zu vollenden, die Augen.

Bertram erwiderte: »Ich verstehe! Ihr frommen Schwestern seid samt aller Weltflucht von argwöhnischer Klugheit. Nun wohl! Die Dame ist kein Sendbote des Teufels, der mich wieder haben will, sondern ein braves Geschöpf, das für alles, was von Schuld an ihr ist, mich verantwortlich machen kann. Sie zu sprechen, ist nicht nur mein Wunsch, es ist der erste Schritt zu dem besseren Wege, den Ihr, fromme Schwestern, mir wünscht.«

Die junge Nonne hatte, während er sprach, ihre Augen gespannt auf ihn geheftet. Einen kurzen Augenblick kam ein Lächeln freundlicher Teilnahme auf ihre Lippen. Dann sagte sie mit der gewohnten Einförmigkeit des leisen Tones: »Ihrem ausdrücklichen Wunsche hätten wir ohnehin nicht Widerstand leisten dürfen. Doch, wenn es sich so verhält, so erfüllt der Herr auch auf diesem Wege unser Gebet, und wir freuen uns, daß er Ihren Sinn zum guten erleuchtet hat. Ich werde sogleich der hochwürdigen Frau Oberin und dem Herrn Doktor Meldung machen.«

»Der Herr Doktor wird keine Schwierigkeit machen!« setzte sie dann in ganz veränderter, munter klingender Weise hinzu und ging.

Noch ehe es Abend war, kniete Karoline bald schluchzend, bald unter Thränen lächelnd, vor Bertrams Lager und hielt seine Hand in der ihrigen.

Im tiefen Winter war es, als Frau Nöttle mit einem Ausrufe der Überraschung ihre Freundin und den Handelsagenten Bertram in dem standesamtlichen Verzeichnisse der Verheirateten, jener Rubrik der »Neuesten Nachrichten«, welche sie täglich zuerst prüfte, las. Ihre erste Herzensfreude wagte sie dem Gatten nicht zu offenbaren. Sie teilte ihm die Nachricht zurückhaltenden Tones mit und sah ihn dann fragend an. Er aber versetzte ruhig: »Das ist eine erfreuliche Nachricht. Du wirst doch jetzt in den nächsten Tagen die Neuvermählte aufsuchen?«

»Ist das Dein Ernst?« fragte die junge Frau verwundert.

»Natürlich!« erwiderte er. »Du hast sonst Deine Freundin so gern verteidigt, als sie im Unrecht war. Bist Du ihrer jetzt satt, da sie ihr Unrecht gutgemacht hat?«

»Das findest Du?« entgegnete Frau Nöttle erstaunt. In Deinen Augen ist sie jetzt wieder ehrlich?«

Das Urteil darüber magst Du fällen, wenn Du sie in ihrer Stellung als Frau geprüft hast«, sagte er darauf. Zunächst hat sie sich der Ordnung, dem notwendigen Gesetze gebeugt und damit zugestanden, daß Ihr früheres Leben ein gesetzwidriges, schuldbares war. That sie es nur der Form halber, um so schlimmer für sie. In anderem Falle, den wir hoffen wollen, hat sie aber ein volles Anrecht auf unsere Verzeihung erworben. Sie trägt jetzt den ehrlichen Namen, der Schein spricht zu ihren Gunsten. Das weitere überlasse ich Deinem gesunden Sinne. Zu falschem Mitleid und zu gefährlichen Besserungsversuchen ist kein Anlaß mehr, der Mißbrauch der Frauenwürde stößt aber von selbst jede ehrliche Frau noch mehr ab als die Mädchenschuld. Ich sehe also keine Gefahr mehr für Dich, wohl aber ist es recht und billig, demjenigen, der selber zur Erkenntnis des Guten kommt, die versöhnliche Hand zu reichen und ihm zu zeigen, daß man seinen Schritt zu ehren weiß.«

Frau Nöttle beeilte sich, der Meinung ihres Gatten Folge zu geben. Hochbeglückt begrüßte sie Karoline, die ihr Geschäft nach einer anderen Straße verlegt und neben demselben ein einfach behagliches, eheliches Heim begründet hatte. Auch Bertram lernte Frau Nöttle kennen, und sie gewann eine gute Meinung von ihm. Der Stelzfuß, den er jetzt trug, hinderte ihn nicht in der Fortführung seiner Geschäfte, im Gegenteil wandte man dem Verunglückten, der sein Schicksal mit guter Laune trug, und gerne von dem Glücke, das er durch das Unglück gefunden, hatte, warmherzig erzählte, noch mehr Aufträge zu, als früher. Nebenbei aber fand er Muse genug, das Geschäft seiner Gattin kräftig zu fördern.

Die beiden Frauen fanden sich bald wieder in der alten Freundschaft zusammen. Karoline offenbarte ihr Glück in der Gestalt einer sanft lächelnden Demut, die von der frischen Herzensbegeisterung ihrer Freundin wesentlich verschieden war. Eines Tages verkündete sie dieser das süßeste Geheimnis jeder Frauenliebe. Sie that es, die Hand auf die Brust gelegt, mit einem innigen Blick, und setzte, wie aufatmend, hinzu: »Nun erst bin ich wieder völlig rein.«

 


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