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Siebentes Kapitel.

Karoline war eines Vormittags in ihrem Geschäfte thätig, als Frau Nöttle in den Laden trat. Die ehemalige Freundin gewahrend, blieb diese überrascht an der Thür stehen, besann sich aber doch darauf, daß sie nicht mehr wohl zurücktreten könne.

»Ich – – ich – – wußte – –« stammelte sie, an die Theke vortretend.

»Du hast die Firma nicht gelesen!« sagte Karoline mit heiterem Lächeln. »Sonst hättest Du ein anderes Geschäft gesucht. Nun, ein paar Bögelchen Papier wirst Du doch von mir ohne Schaden nehmen können!«

»Aber, ich bitte Dich! ich meinte nur … ich wußte ja gar nicht, daß Du ein solches Geschäft hast!«

»Womit kann ich Dir dienen?«

Auf diese Frage wurde Frau Nöttle nochmals feuerrot und sah mit suchenden Blicken in der Nähe umher, bis sie endlich hastig hervorstieß: »Ein Wechselformular – – hätte ich gern gehabt!«

»Ein Wechselformular?« fragte Karoline und überzeugte sich während ihres verwunderten Blickes, daß in den Zügen der Freundin eine Veränderung lag, eine von der früheren Jugendlust sehr verschiedene Melancholie, welche den Glanz der frischen Rehaugen ermattet und auf die fahler gewordenen Wangen einen schweren Schatten, wie eine Schicksalsnarbe, geworfen hatte. Sie holte eine schwarze Pappschachtel herbei, und diese öffnend, fragte sie: »Soll es Sola oder Prima sein?«

»Ich weiß es nicht!« antwortete Fran Nöttle. »So will ich von jeder Sorte nehmen. Was kostet das?«

»Drei Stück zehn Pfennige!« sagte Karoline. »Ich packe Dir einen zweiten Primawechsel bei. Oder brauchst Du mehr?«

»Nein! Nein!« erwiderte Frau Nöttle, lebhaft abwehrend, und suchte ihr Portemonnaie vor.

»Sonst geht es Dir gut, wenn ich fragen darf?« sagte Karoline, die in ein Papier gewickelten Formulare der ehemaligen Freundin vorlegend, und sah ihr forschend ins Gesicht.

Frau Nöttle sah zu Boden und zögernd erwiderte sie: »Wir hatten viele Sorgen in der letzten Zeit. Ich habe eine schwere Niederkunft gehabt – ein Mädchen – und dann – – es giebt eben überall etwas! – Hier!« Sie legte ein Markstück auf die Theke. Karoline sah, daß ihre Augen feucht geworden waren. Jetzt fiel ihr jene Geschichte von Lilienfelders Commis, der einen Geldbrief verloren hatte, ein. Während sie wechselte, erzählte sie Frau Nöttle, daß sie zufällig Zeuge des Geschehnisses gewesen und wie sie erfahren habe, wer der Verlierer sei.

»Ich habe an Euch gedacht«, setzte sie treuherzig hinzu, »und mich besonnen, ob ich Euch dienlich sein könnte. – Aber«, schloß sie betrübt, »ich fand keinen Weg dazu. – Ihr hättet ja doch von mir nichts wissen wollen.«

»Du, Du hast es selbst gesehen, daß der Schwager den Brief verlor?« rief Frau Nöttle lebhaft.

Karoline bejahte und erzählte noch ausführlicher, wie die Scene gewesen war.

»Ich danke Dir, Du erweist mir eine große Wohlthat!« sagte Frau Nöttle und schüttelte die Hand der ehemaligen Freundin mit innigem Drucke. »Obwohl Banquier Lilienfelder selber keinen Zweifel in den Hergang setzte und mein Schwager die lebhaftesten Versicherungen gab, daß er die Wahrheit rede, quälte meinen armen Mann doch immer der Zweifel, ob nicht die Erzählung Vorwand sei und sein Bruder eine Unehrlichkeit begangen habe. Das schwere Opfer, das er brachte, indem er für den Schaden aufkam, er wird es jetzt besser tragen, da ich ihm einen bösen Zweifel, der seinen Kummer vermehrt hat, nehmen kann.«

Dabei zerdrückte die junge Frau eine Thräne, die über die Wange sich herabstahl. Karoline sah wieder forschend in deren Züge und sagte dann bewegt:

»Ich habe kein Anrecht auf Dein Vertrauen. Aber Deine Reden – – dieser Wechsel – – Mit bösen Worten, die mich gereuten, habe ich Dich einmal beleidigt und Dir ein häßliches Andenken an mich zurückgelassen. Gerne möchte ich diese Schuld tilgen, nicht um die alte Freundschaft wiederzugewinnen – – ich begreife es jetzt, daß Du Dich nicht mehr zu mir finden würdest – – – nur um zu zeigen, daß ich doch so bösartig nicht bin, als ich Dir damals scheinen mußte. Rede, sprich Dich aus! Vielleicht – – mir ahnt, als könnt' ich Euch vor einem großen Unheil bewahren!«

Frau Nöttle weinte jetzt bitterlich. Dann sagte sie während die Thränen immer noch die Stimme brachen: »Wenn Du uns auch helfen könntest, ich dürft's nicht nehmen. Wir haben Dich schroff von uns gewiesen in unserem Tugendstolz, und schlecht würde es uns stehen, da Hülfe anzunehmen, wo wir, hätte es so sein wollen, noch Schlimmeres hätten anrichten können mit unserer Zurückweisung als das, was uns jetzt bedrückt. Auch würde mein Mann, möchte es zum Ärgsten kommen, nie – –«

Sie stockte und sah mit einem um Verzeihung bittenden Blick auf Karoline.

Diese lächelte bitter und erwiderte: »Ich verstehe! Dein Mann, er haßt mich wie die – – Sünde! Aber je mehr Du sprichst, desto mehr verrätst Du, daß es schlecht um Euch steht. Komm hier in meine Stube und erzähle!«

Mit diesen Worten trat sie vor die Theke und schob die zögernde Frau in das anstoßende Wohnzimmer, dabei sprechend: »Ich kann Dich, nach dem, was Du angedeutet hast, nicht teilnahmlos wieder ziehen lassen. Wir Sünder haben doch noch ein Herz, und wenn auch Dein Herr Gemahl sich und Dich und Euer Kind seinem Tugendstolz zu opfern bereit ist, so war es vielleicht doch eine gute Schicksalsfügung, die Dich hierher geleitete.«

Frau Nöttle ließ sich auf das Sofa nieder und gehorchte Karolinens Weisung, zu erzählen.

»Wir hatten vorsorglich eine kleine Summe – zweihundert Mark waren es – zurückgelegt für das Kindbett, die Taufe, und wenn es nötig wäre, eine Amme. Da kam jenes Unglück des Schwagers, der verzweifelt bat, ihm zu helfen. Schweren Herzens, aber ungesäumt, trug mein Mann unsern Schatz zu Herrn Lilienfelder und versprach weitere Abzahlung. Mit banger Sorge sahen wir meiner Stunde entgegen. War es der bittere Schmerz, den mir der Verlust unserer Ersparnisse bereitet hatte, oder war es aus anderer Ursache, ich kam recht schwer nieder, hatte ärztliche Hülfe notwendig und lange Pflege. Nur einmal Herrn Lilienfelder um Nachsicht zu bitten, erschien meinem Manne unmöglich, nicht aus falschem Stolz, sondern weil er in der pünktlichen Zahlung eine Ehrenpflicht sah, um so mehr, als jener böse Verdacht in ihm lebte. So konnte es nicht ausbleiben, daß Schulden entstanden, und wie sehr wir uns mühten, wie heldenhaft mein Mann sich das Bier und die Cigarre vom Munde sparte, um mich nicht entbehren zu lassen, die Rechnung kam doch nie zustande. Nun ist's soweit gekommen, daß uns schon der Metzger, den wir doch nicht ganz entbehren können, weil ich kräftig essen soll, und auch mein Mann sein Stückchen Fleisch sich nicht alle Tage durch Mehlspeisen ersetzen lassen kann, verklagt hat, und auch andere werden dringlich. Mein Mann hat zu wenig Zeit nach Geld zu suchen; da bin ich zu einem Herrn gegangen, der hier in der Nähe wohnt und sich mit Geldverleihen abgiebt. Er will uns auf Wechsel borgen.«

»Und Euch vollends ins Verderben bringen!« fiel Karoline ein. »Wie heißt der Mann?«

»Ein Herr Zimmermann ist es. Doch leiht er nicht selbst, sondern er beschafft nur das Geld.«

»Ich habe von dem Menschen schon gehört. Entweder nimmt er Euch nun unter nichtigen Vorwänden etliche Thaler als Gebühren ab oder im besten Falle verschafft er Euch das Geld zu fürchterlichen Wucherzinsen. Nein, nein, das dürft Ihr nicht thun, das ist das Ende von allem!«

»Glaubst Du, wir thäten es ohne zwingende Not? Der Schritt hat meinem Manne Thränen gekostet, die mir in die Seele brannten. Aber wer anders als ein Wucherer leiht unsereinem Geld?«

»Welche Summe wollt Ihr borgen?«

»Wir wollen nicht mehr wagen als hundert Mark.«

»Und wieviel braucht Ihr eigentlich, um Euch wieder aufzuhelfen?«

Frau Nöttle sah Karoline an und zögerte. Dann meinte sie in hoffnungslosem Tone: »Mit zweihundert Mark ließe sich jetzt noch alles zum guten richten. Soviel können wir aber nicht vor Jahresfrist abzahlen, und auf so lange Zeit borgt uns niemand.«

»Doch«, sagte jetzt Karoline. »Ich will Euch die Summe borgen auf ein Jahr und meinetwegen auch länger.«

Frau Nöttle rang heftig mit sich, bis sie weinend stammelte: »Nein, nein! Ich kann – – ich darf es – nicht nehmen!«

»Du kannst, darfst und sollst!« erwiderte Karoline. »An meinem Gelde klebt keine Sünde – –«

»Nicht so hab' ich's gemeint, aber – – –«

»Denk' an Dein Kind, an ihn auch, der durch Gram und Sorge an seiner Gesundheit Schaden leiden kann, an Dein Liebesglück und dann sag' Dir selbst, ob ich ein so verworfenes Geschöpf bin, daß Du lieber Dein Glück opfern, als aus meiner Hand etwas nehmen würdest, was nichts anderes ist, als eine Sühne für eine Schuld, die zwar nicht mit Geld getilgt werden kann, aber vielleicht mit der Gesinnung, welche die Gabe begleitet. Ein frommer Betrug zu seinem eigenen Heile ist es, den Du an Deinem Manne verüben sollst. Du läßt ihn den Wechsel schreiben und hebst denselben sorgfältig auf. Hundert Mark behändigst Du ihm, die anderen Hundert behältst Du bei Dir und ergänzest daraus, wie aus einem verborgenen Schatz, was von Eurem Einkommen weggenommen werden muß, so daß Deine Wirtschaft, wie knapp der Gatte Dir das Geld zuweist, immer auf dem Rechten bleibt. Bist Du nur klug, erfährt er niemals, daß er überlistet worden ist.«

»Du bist so gut, Karoline, und Deinen guten Willen wird Dir der Himmel lohnen! Ich weiß nicht, ob ich thun darf, was ich thue, aber ich kann nicht widerstreben. Ich nehm' – es – an!«

Mit diesen Worten warf sich Frau Nöttle schluchzend Karoline um den Hals. Diese schob sie freundlich zur Seite, ging raschen Schrittes in die Schlafstube und entnahm dort dem Schranke zwei Hundertmarkscheine, die sie der jungen Frau überreichte, hinzufügend: »Keinen weiteren Dank, armes kleines Frauchen, und keine Sorge um die Zurückzahlung! Läßt Du Dich einmal wieder bei mir sehen, so wird es mich freuen, doch soll's Dir keine Last sein. Ich weiß recht wohl, wie die böse Welt ist, und sähe man Dich im vertrauten Umgang mit mir, es könnte ein schlechtes Licht aus Dich werfen, denn es giebt Leute, die mich für eine ausgemachte Dirne halten!«

»Karoline!« rief Frau Nöttle entsetzt.

»Sie thun unrecht, diese Leute, glaub' es mir. Aber es ist einmal so, und darum kann ich dir selbst nur Vorsicht raten. Doch wenn Du alle vier Wochen einmal in meinen Laden kommst, ist nichts Auffälliges dabei.«

Scheu fragend sah Frau Nöttle auf die Freundin, ehe sie schüchtern fragte: »Du bist nicht glücklich?«

»Glücklich – nein!« antwortete Karoline. »Und doch darf ich nicht sagen, daß ich unglücklich bin. Es sind nur bange Ahnungen, die mich zuweilen beunruhigen, und die Erfahrung, daß ein solches Glück, wie ich es durchgelebt habe, von einem Zufalle erschüttert werden kann, der vielleicht vorübergeht, vielleicht das Ende bringt.«

»So will er Dich nicht heiraten?« fragte Frau Nöttle.

»Soweit gehen meine Gedanken schon nicht mehr!« lautete die Antwort.

Als dann Frau Nöttle mit einer halb mitleidigen, halb um das richtige Verhalten verlegenen Miene sie ansah, raffte sich Karoline aus der herben Stimmung auf und nachdrucksvoll sagte sie: »Und dennoch reut mich nicht, was ich gethan habe. Ich war Weib und habe genossen, was jedes Weib ersehnt. – Hab' keine Angst! Ich begreife, daß Du das Leben anders ansiehst, als ich, und ich will Dich nicht wieder durch meine Offenheiten entsetzen. Nur das wollt' ich sagen, daß, wenn mir vor der Zukunft bangt, es nur darum ist, weil die Menschen, die ungerufen unsern Weg durchkreuzen, alles verderben können. »Es hat so kommen müssen!« sagen dann die Leute, wenn ein derartiges Verhältnis, wie das meine, einen üblen Ausgang nimmt, und meinen, sündhafte Liebe habe eben keinen Bestand. Warum denn nicht? Würden andere sich nicht um unsere Sünde unberufen kümmern, sie wär' so dauerhaft wie Tugend. Und das Glück? Was würdest Du dem erwidern, der Dir sagte, Du hättest nicht heiraten sollen, weil Du jetzt nicht glücklich bist?«

»Nicht glücklich?« versetzte Frau Nöttle. »Wir haben schweren Kummer, wenn du aber meinst, daß deshalb meine oder meines Mannes Liebe Schaden gelitten hat, so irrst Du sehr. Weil jedes mehr als je der Liebe bedarf, giebt jedes, was es an Liebe hat, mit verdoppelter Empfindung, und weil jedes sieht, wie Liebe Sonnenschein in dunkle Tage bringt, freut sich jedes dankbar der gegebenen und der genossenen Liebe. Jetzt, wo der ganze Ernst der Pflicht an uns getreten ist, fühlen wir erst, wie groß der Zauber der Liebe ist. Und da rede ich noch nicht einmal von unserm Kinde! Uns können auch die Menschen nichts anhaben. Je mehr sie uns stören würden, desto enger würden wir uns aneinanderschließen. Eine schwere Prüfung ist's, die wir zu bestehen haben, aber unsere Liebe kann dabei nicht Schaden leiden, sie kann nur wachsen.«

Karoline war nachdenklich geworden. Dann sagte sie, ihre Bewegung hinter spottenden Scherz verbergend: »Ja Du, Du bist ein Engel, und Dein Ludwig, dieses Tugendmuster – – – Ihr seid eben einmal ein seltsames Pärchen!«

»Seltsam«, antwortete Frau Nöttle, »erschiene es mir, dächte eine Ehefrau, die einen braven Mann und ein herzliebes Kind hat, anders als ich. Ich will Dir nicht wehe thun, aber nach dem, wie Du über die Liebe denkst, will's mir scheinen, nicht darin läge so fast die Sünde, daß sich zwei Menschen gegen die Sitte ohne Priestersegen lieben, als darin, daß solche Menschen meist lieben wollen, ohne Pflichten zu tragen, und, weil sie den hohen, schönen Reiz der erfüllten Liebespflicht nie empfinden, verblaßt ihre Liebe, geht sie im Kleinen zu Grunde.«

Karoline senkte den Blick zu Boden und sagte: »Warum glaubst Du, daß ich nicht Pflichten tragen würde, gerne möchte, wenn – – –«

»Wenn er sie tragen wollte, meinst Du?« versetzte Frau Nöttle darauf. Karoline blieb stumm, und jetzt gewahrte jene erst, daß sie nichts mehr zu sagen wußte, was der Freundin hätte zum Troste gereichen können. Eine Weile zögerte sie noch mit verlegener Miene, dann meinte sie: »Vielleicht kommt er doch noch zur guten Einsicht. Ich wünsche es Dir!«

Dann bedankte sie sich für die Hülfe mit herzlichen Worten, versprach wiederzukommen und schied mit einem Händedruck und einem fragenden Blicke. Sie hätte gerne noch etwas gesagt, aber die ehrbare Frau war so ungeschickt der Welt der Sünde gegenüber.

Karoline blieb zurück in tiefer Nachdenklichkeit. Es war ihr ja nicht so ganz neu, was Frau Nöttle gesagt hatte. Sie wußte es schon seit einiger Zeit, daß ihre Liebe krankte an dem Mangel tieferen Gehaltes. Daß aber aus Kummer und Thränen der Liebesglaube mit solcher Kraft, solcher Begeisterung emporsteigen konnte, das war ihr neu und warf in seiner bewundernswerten Größe erdrückend schwere Schatten auf ihr eigenes Geschick.

Den ganzen weiteren Verlauf des Tages grübelte sie über jene Worte nach, prüfte sie sich selbst und durchforschte Bertrams gutmütiges, aber von langgewohnter, festgewurzelter Selbstsucht bestimmtes Wesen. Als sie immer mehr einsah, daß ein unerreichbares Paradies sich ihren Augen eröffnet hatte, versuchte sie das Bild mit Gedanken zurückzudrängen, deren Zügellosigkeit sie sich alsbald selber schämte.

So nahte die Zeit heran, um welche sie Bertram erwartete. Seine Anwesenheit sollte die wehmutsvollen Gedanken verscheuchen, und sehnsüchtig harrte sie ihm entgegen, entschlossen, mit heißer Leidenschaft alle Verstimmung zu ersticken.

Ihre Ladengeschäfte waren beendet, und sie hatte sich in ihre Wohnstube zurückgezogen, als an der vom Flur zur Wohnung führenden Thür so heftig geklingelt wurde, wie Bertram es niemals zu thun gewohnt war. Sie fuhr erschreckt von ihrem Sitze auf, ehe sie aber noch die Zimmerthür erreichen konnte, ertönte die Klingel nochmals mit derselben Heftigkeit. Karoline lief in banger Ahnung über den kurzen Korridor. Als sie die Thür geöffnet hatte, stürzte ihr die Frau des Regierungsrats unbedeckten Kopfes, im Hauskleide entgegen, und sich an ihren Arm klammernd, stammelte sie mit keuchendem Atem: »Retten Sie mich! Verbergen Sie mich! Mein Mann – – mein Mann – – Er bringt mich um!«

Karoline erriet wohl den Zusammenhang, war aber unentschlossen.

»Nur rasch, nur rasch! Irgendwohin!« stammelte die Regierungsrätin wiederum in zitternder Angst und stürzte blindlings in den Korridor vor.

Karoline schloß die Thür und geleitete dann die Dame, welche, in dem dunklen Gange ratlos dastehend, aufs neue rief: »Um Gottes willen, nur schnell! Wohin, wohin!« in die Wohnstube.

Dort sah sie erst das totenbleiche, von wilder Furcht verzerrte Gesicht der jungen Frau, dabei auch das verwirrte Haar, dessen rückwärtige Frisur nur noch an wenigen vorstehenden Nadeln hing, und die flüchtige Art, mit welcher das Kleid an der Brust verschlossen war. Einige Knöpfe waren offen, die anderen nicht in der richtigen Reihe geschlossen, und ein kleines Stückchen weißen Linnens drängte sich dazwischen durch.

»Sie bringen mich in eine unangenehme Lage, gnädige Frau!« sagte Karoline zögernd, obwohl sich in ihr ein mitleidiges Gefühl regte. »Ich ahne, um was es sich handelt, und es ist nicht gut, sich in solche Dinge einzumischen.«

»Haben Sie Erbarmen! Ich will es Ihnen ewig danken!« rief die Regierungsrätin, aus den sonst so verführerisch koketten Augen einen jammervoll flehenden Blick auf Karoline werfend und deren Arm wiederum umklammernd. »Mein Mann ist drüben in einer entsetzlichen Auseinandersetzung mit – – mit – – mit – – nun ja – – ach Gott! – – Ich bin entwischt, und wenn nur eine Weile vorüber ist, wird er ruhiger sein – – jetzt – – jetzt tötet er mich. Er rast, wie ein Wahnsinniger! Nur auf eine Weile verbergen Sie mich!«

Karoline zögerte noch einen Augenblick, dann sagte sie trocken, ohne ihr Mitleid zu verraten: »Treten Sie hier in mein Schlafzimmer!«

Sie öffnete die Thür, und die Regierungsrätin stürzte mit fiebernder Hast in das Gemach. Karoline schloß hinter ihr. Kaum war dies geschehen, als vom Hausflur ein dumpfer Lärm hörbar wurde, der nach einer Weile verstummte. Dann klingelte es wieder. Ängstlich und zögernd öffnete Karoline, nachdem sie gelauscht und mehrere Stimmen auf dem Flur vernommen hatte. Bertram war gekommen.

»Was ist denn hier los?« fragte er eintretend.

»St! St!« flüsterte Karoline, welche beim Öffnen wohl bemerkt hatte, daß die Dienstboten des ganzen Hauses in lebhafter Unterhaltung auf dem Flur versammelt waren. In die Stube zurückgekommen, erzählte sie ihm das eben Geschehene.

Bertrams Miene wurde verdrießlich.

»Hör' mal!« sagte er. »Da hast Du eine schlimme Sache angezettelt. In so etwas mischt man sich doch nicht. Und ich komme gerade recht, während die Geschichte im Gange ist. Ein heiteres Vergnügen!«

»Gottlob, daß Du hier bist!« antwortete Karoline. »Ich fing schon an, bange zu werden!«

»Was kann denn ich dabei thun?« versetzte Bertram in übelster Laune. »Ich habe doch mit der Geschichte nichts zu schaffen, komme aber am Ende auch noch in einen Skandal hinein. Wäre ich früher dagewesen, hätte die Frau Regierungsrätin zusehen können, wo sie sich versteckt! Das Klügste wäre auch jetzt noch – – –«

Es wurde heftig an der Wohnungsthür geklingelt.

»Da haben wir's«, fuhr Bertram, seine Rede unterbrechend, fort. »Jetzt sträube Dich nur nicht lange, die Gesuchte auszuliefern, und mache möglichst kurzen Prozeß. Ich gehe einstweilen hier nebenan in den dunklen Laden. Wenn's nötig sein sollte, trete ich schon vor; besser ist's, ich bleibe aus dem Spiele.«

Karoline sah ihn fragend an und schritt dann zur Wohnungsthür, während er in den dunklen Laden verschwand. Als sie öffnete, standen der Hausherr mit ernster Miene und der Regierungsrat in wilder Erregung vor ihr.

»Wo ist sie?« »Wo haben Sie sie versteckt?« schrie letzterer, sofort in den Korridor dringend.

»Die Frau Regierungsrätin ist bei Ihnen!« sagte der Hausherr ruhig, aber mit deutlichem Unwillen. »Machen Sie keine langen Geschichten und führen Sie den Herrn zu ihr. An dem ganzen Skandal sind Sie schuld!«

»Ich?« fragte Karoline, die Thür schließend.

»Ja, Sie! Also kurz. Wo ist die Dame?«

»Die Dame hat bei mir Schutz gesucht vor thätlichen Angriffen!« erwiderte jetzt Karoline. »Ich habe die Geängstigte aus Mitleid aufgenommen und werde den Herrn zu ihr führen, wenn er nur verspricht, sich zu mäßigen und ihr nichts zu thun!«

»Die Dame ist meine Frau, und ich habe Ihnen keine Rechenschaft zu geben!« schrie der Regierungsrat. »Wo, wo ist sie?«

»Vorwärts, vorwärts, Fräulein!« sagte der Hausherr. »Machen Sie keine Schwierigkeiten, wenn Sie nicht die Polizei auf dem Halse haben wollen. Das weitere wird sich finden!«

Erschreckt und geängstigt führte Karoline die Herren in ihr Wohnzimmer.

Der Regierungsrat warf einen raschen Blick durch den Raum, wählte mit den aus schweißbedecktem Gesichte wie im Wahnsinn hervorleuchtenden Augen zwischen den beiden Seitenthüren und stürzte dann mit vorgestrecktem Arme auf das Schlafzimmer zu. Karoline trat ihm in den Weg. Mit bebender Stimme sagte sie:

»Das ist meine Wohnung, Herr Regierungsrat, und Sie haben kein Recht, in derselben zu schalten. Ich bitte zu warten, bis ich Ihnen Ihre Frau Gemahlin bringe.«

Der Regierungsrat wich einige Schritte zurück. Der Hausherr faßte ihn am Arme und sagte: »Beruhigen Sie sich, Herr Regierungsrat! Sie sehen ja, daß sie keine weiteren Schwierigkeiten macht.«

Indessen war Karoline in das Schlafzimmer, die Thür hinter sich schließend, verschwunden. Schweratmend, die Augen starr auf die Thür gerichtet, wartete der Regierungsrat. Man hörte Klagelaute, bittende Töne, Schluchzen und dazwischen die halblaute Stimme Karolinens, in bald drängendem, bald beschwichtigendem Tone. Endlich öffnete sich die Thür, und von Karoline mehr gezogen, als selber gehend, erschien zitternd und bleich die Ehebrecherin. Mit einem Aufschrei warf sie sich dem Gatten, dessen Augen sich vergrößerten und dessen Finger in wildem Kampf zuckten, zu Füßen.

»Elende!« zischte er, sie an den Schultern schüttelnd, daß sie angstvoll stöhnte. »Das, das für all meine Liebe, für all mein Sorgen! Ihn habe ich gezüchtigt, wie's einem Buben gehört! Darfst nicht glauben, daß ich eine Kugel mit ihm wechsle und vielleicht den Platz räume. Mit der flachen Klinge seiner eigenen Waffe habe ich ihn gebleut, daß er Funken fliegen sah, und mit einem Fußtritt ihn vor die Thür geworfen. Mag er sich selber die Kugel vor den Kopf schießen, wenn er es wenig ehrenvoll für einen Offizier hält, durchgeprügelt und ohne Waffen heimziehen zu müssen.«

Ein langgedehnter, wimmernder Wehlaut rang sich aus der Brust der jungen Frau.

»Und Du!« schrie der Regierungsrat, sie in die Höhe reißend. »Du entläufst wie eine ertappte Dirne und suchst einen Schlupfwinkel bei Deinesgleichen. Hast es bequem gehabt, so in der nächsten Nähe eine jener mitleidigen Seelen zu finden, die nicht im Stiche lassen, was das gleiche Handwerk treibt.«

»Was soll das?« rief Karoline mit gellender Stimme dazwischen. »Wer giebt Ihnen das Recht, mich zu beschimpfen?!«

»Bitte, Fräulein, halten Sie sich ruhig!« sagte der Hausherr mit einem Ausdrucke, der Geringschätzung und Befehl zugleich bedeutete.

»Ich halte mich nicht ruhig!« meinte Karoline. »Wenn ich die Dame aus Mitleid aufnahm, mag ich unklug gehandelt haben, doch darum hat man kein Recht, mich zu beschimpfen. Herr Regierungsrat, Sie haben, was Sie suchten, und damit ist der Zweck Ihres Aufenthalts beendigt.«

Der Regierungsrat warf nur einen flüchtigen Blick auf sie, und seine Frau am Handgelenke gewaltsam greifend, sagte er mit erzwungener Fassung: »Jetzt folgst Du mir, ruhig, ohne Widerstreben! Fürchte nichts! Ich thue Dir kein Leid, nur, was geschehen soll, will ich Dir sagen.«

Sie warf einen ängstlich flehenden Blick auf ihn, den er mit einem wilden Zornesblicke erwiderte. Dabei stieß er sie, das Handgelenk gleichwohl festhallend, von sich, daß sie taumelte.

Ein leises »Ach!« kam von ihren Lippen, und die Thränen flossen über die Wangen herab.

Der Hausherr wandte sich an den Regierungsrat mit den Worten: »Lassen Sie mich vorausgehen. Ich will das Dienstbotenvolk beiseite schaffen, damit Sie ungestört über den Flur können.« »Sie aber«, wandte er sich an Karoline, »haben gar keinen Grund, eine beleidigte Miene anzunehmen. Der Herr Regierungsrat hat begründeten Verdacht, daß Sie ein Einverständnis mit seiner Frau Gemahlin hatten, die zu einer ganz Fremden sich nicht gewandt haben würde.«

»Die Dame wird bestätigen können, daß dies nicht der Fall ist!« erwiderte Karoline.

Die Regierungsrätin wandte den Blick gegen den Hausherrn und wollte sprechen.

»Schweig!« befahl ihr Gatte, sie wiederum heftig schüttelnd.

»Davon abgesehen!« sagte der Hausherr. »Mir ist schon seit einiger Zeit allerlei zu Ohren gekommen, als ob Ihr Geschäft nur ein Deckmantel sei. Solche Leute bin ich in meinem Hause nicht gewohnt und ich überlasse es Ihnen, ob Sie freiwillig von unserm Vertrage abstehen wollen oder ob ich von meinem Rechte, Personen von zweifelhaftem Lebenswandel aus meinem Hause zu weisen, Gebrauch machen soll. Die Zeit, Ihre Geschäfte in Ordnung zu bringen, will ich Ihnen lassen. Es darf aber nicht allzu lange dauern. Guten Abend!«

Karoline war erst sprachlos. Ehe sie ein Wort von den Lippen bringen konnte, hatte der Hausherr schon die Thür geöffnet.

»Herr – –« stammelte sie endlich.

»Schon gut, schon gut! Ich will nichts mehr hören!« antwortete dieser und verließ die Stube, vom Regierungsrate und dessen wankend dahinschleichender Frau gefolgt.

Fassungslos und wie betäubt stand Karoline da, als Bertram langsamen Schrittes und finsterer Miene aus seinem Verstecke trat.

Bei seinem Anblick machte sie einige Schritte gegen ihn und rief mit lebhafter Gebärde! »Hast Du's gehört? Warum bist Du mir nicht beigesprungen?«

»Das hätte die Sache wahrlich nicht gebessert!« erwiderte Bertram in unfreundlichem Tone und über sie hinwegblickend. Karoline sah den Geliebten erstaunt an. Dann ging ein Zittern durch ihren Leib, und mit weitgeöffneten Augen ihn angstvoll ansehend, sagte sie mit bebender Stimme: »Otto, Otto! Sonst – hast Du mir – jetzt nichts – zu sagen?«

Bertram zuckte die Achseln.

»Was soll ich sagen?« meinte er trocken. »Es ließ sich erwarten, Daß dein thörichter Streich ähnliche Folgen habe.«

»Das – das ist alles?« fragte Karoline mit weinerlicher Stimme.

Dann rang sie einen Augenblick mit sich, und erstickten Tones, die rechte Hand krampfhaft an die Brust gedrückt, mit der andern auf einen Stuhl gestützt, sagte sie: »Nach dem, was Du gehört hast, giebt es nur zweierlei. Du glaubst die schimpflichen Anschuldigungen, die man gegen mich erhob, oder Du mußt mich aus meiner schmachvollen Lage befreien! Du mußt – –«

»Was muß ich?« fragte Bertram und maß sie mit brutalen Blicken.

»Mich heiraten!« antwortete sie starren Auges und ihre furchtbare Seelenangst gewaltsam niederdrückend, daß keine Muskel ihres Gesichtes bebte.

Bertram wendete seinen Blick ab. Er besann sich eine Sekunde, dann warf er in rascher Bewegung, wieder den Kopf in die Höhe, und ohne sie anzusehen, mit ins Leere gerichtetem Auge, sagte er laut, aber doch nicht ganz festen Tones: »Will's dahinaus? So suchst Du die Sache auszubeuten? Nun wohl, weil es einmal soweit ist, und weil Du's herausforderst, so sei's gerade herausgesagt: Es geht nicht mehr mit uns beiden, es muß ein Ende werden!«

»Otto!« schrie Karoline gellend auf.

In kühlem Tone sagte dieser: »Schon länger habe ich's eingesehen, daß wir nicht mehr zusammen passen. Du machst Ansprüche an mich, die ich nicht erfüllen kann, willst mich meinen Freunden entziehen, bist verdrossen, wenn ich mich nicht Deiner unumschränkten Laune füge und Deinen Capricen nachgebe. Aber die heutige Geschichte stößt dem Faß den Boden aus. Hast Du Dich bloßgestellt, ist's Deine Schuld, und die Rolle des Ehrenretters, die Du mir zumutest, machte mich lächerlich. Weiß Gott, was da noch für Skandale bei Gericht herauskommen, was sich für ein Geschwätz bildet. Ich habe keine Lust, in den Handel hineingezogen zu werden. Wollt' ich's selbst, ich könnte nichts für Dich thun. Ob wahr, ob unwahr, Deine eigene Thorheit hat Dich in eine Lage gebracht, die auch unsere Stellung ändert. Es thut mir leid, mein Kind, daß es dahin gekommen ist, aber …«

Achselzuckend griff er nach seinem Hute.

Karoline, die ihn erbleichend und zitternd angehört hatte, warf sich ihm jetzt um den Hals und schluchzend rief sie: »Otto, Otto! Es ist nicht möglich! So kannst Du mich nicht verlassen! Ich war zudringlich, habe zu viel verlangt! Verzeihe, es soll die Rede nicht mehr davon sein! Ich will nichts, gar nichts von Dir, als daß Du mich nicht verläßt, nicht jetzt verläßt, wo ich ohnehin so elend bin!«

Bertram atmete schwer, während er sich mit sanfter Gewalt aus ihrer Umarmung zu befreien suchte.

»Es hilft nichts, ich kann nicht anders, es muß sein!« sagte er und befreite sich endlich.

Hastig eilte er der Thür zu.

»Otto!« schrie Karoline nochmals auf, ihm nachtaumelnd. Sie faßte seinen Arm. Er schob ihre Hand zurück und eilte durch den dunklen Korridor der Wohnungsthür zu, die hinter ihm sich lärmend schloß. Karoline aber kauerte vor der offenen Stubenthür in einer Ecke am Boden und schluchzte, stöhnte, schrie im Übermaße ihres Schmerzes. Als er auf die Straße kam, stürzte Bertram noch immer in derselben hastigen Eile vorwärts. Der Jammerruf »Otto!« gellte noch in seinem Ohr, so deutlich, daß er sich scheu umsah, ob die Unglückliche ihm nicht aus die Straße nachgeeilt sei. Wüst, sinnverwirrend jagten die Gedanken und Bilder in seinem Kopfe. Ihm war es, als hätte er das Wesen, das ihn so sehr liebte, mit einem Faustschlage niedergeschmettert, ja, als hätte er es gemordet. Er hatte wohl schon solche Trennungsschmerzen zu Ende gehender Liebschaft erlebt, aber er war nie so roh gewesen gegen Mädchen, die weniger wert waren als Karoline, und, er fühlte es jetzt wieder, er war doch nie von einem so wackeren Mädchen geliebt worden. Er sah sie in ihrer Wohnung dem namenlosen Schmerze hingegeben, und er sah, wie sie war in den Stunden des Glückes, schön, lächelnd, glückstrahlend, genußfroh. Er sah, wie sie schmachvoll verjagt wurde aus dem Hause, beladen mit dem Schimpfe eines ehrlosen Geschöpfes sie, die er verführt, die nur leichtfertig geworden war ihm zur Liebe, und schwer fiel auf sein Gewissen die Erinnerung der täuschenden Worte, mit welchen er sie zu Fall gebracht hatte.

Die ganze Katastrophe war ihm selber unerwartet gekommen. Ahnungslos und ohne jegliches böse Vorhaben war er zu der Geliebten gekommen. Als er von dem Zwischenfall mit der Regierungsrätin hörte, war er unangenehm berührt, weil er die Lage sofort übersah und sich sagte, er werde entweder die schiefe Rolle des stumm zur Seite stehenden Liebhabers Karolinens spielen oder aber Veranlassung bekommen, für diese einzutreten, sich dabei von Herren, an deren Achtung ihm gelegen sein mußte, unangenehme Dinge sagen lassen, und in weiterer Linie vielleicht gar noch vor Gericht in einer unbequemen Zeugenrolle auftreten müssen. Er war durchaus nicht feige, aber seiner Selbstsucht mußte es sehr empfindlich sein, in eine Stellung zu geraten, die gerade nichts Würdevolles, Empfehlendes hatte. Darum zog er sich zurück, entschlossen, nur in einem kaum denkbaren äußersten Notfalle der Geliebten beizuspringen. Als er dann in seinem Verstecke Zeuge der Geschehnisse war, da raunte ihm ein Teufel ins Ohr: »Jetzt oder nie!«

In jähem Fluge zog an ihm das Bild seiner Lage mit dem Widerstreit der Liebe und der Junggesellenneigungen vorüber, die draußen vor sich gehende Scene, zweifelte er auch nicht an Karoline, warf doch für den Augenblick entstellende Flecken auf sie, die völlige Ungebundenheit von ehedem lachte ihm als eine heitere Aussicht entgegen. Was war's? Ein kurzes, mutiges Aufraffen, jener bequeme Mut, der mit einem rohen Ansturm niederwirft, was bei längerem Kampfe zäher widerstanden hätte, sich so das Ermüdende, Aufregende eines allmählichen Losreißens ersparte und nicht mehr lange nach schlechten Vorwänden zu suchen nötig machte. Das war das Beste, und so wurde es rasch gethan.

Er war frei, hatte eine Last von sich gewälzt, und doch lag ein bleierner Druck auf ihm, er war verstimmt in innerster Seele, und alle Versuche, mit cynischen Gedankengängen, mit kaltsinniger Lebensklugheit die Gewissensbisse des Verführers, der ein Weib ins Elend wirft, der Scham des Mannes, der ein Weib, das ihn liebte, so roh von sich schüttelte, zu beschwichtigen, waren vergebens. Planlos war er eine Weile durch die Straßen gewandert, stets überlegend, ob er in solcher Stimmung die Freunde aufsuchen sollte, und die Absicht immer wieder zurückweisend, bis er sich endlich an der Hauptpost in eine Droschke warf und diese nach dem Zusammenkunftsorte wies.

An seiner Stirn war zu lesen, daß ihm etwas Besonderes begegnet sein mußte. Er zögerte auch nicht auf Lilienfelders Frage, erst diesem halblaut zuzuraunen: »Ich komme von Karoline. Ich habe gebrochen mit ihr.« Fräulein Rieder, die daneben saß, hörte es. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung und sah dann auf den verstörten, finster blickenden Mann mit einem langen, leuchtenden Blick, den dieser gar nicht wahrnahm. Lilienfelder machte die Nachricht bald zu einem allgemeinen Gespräch. Man sagte nichts Böses über Karoline, aber man fand es allgemein klug, daß Bertram ein Verhältnis aufgehoben habe, das so ernsthaft ihn vor eine Lebensfrage gestellt hätte.

Fräulein Rieder hörte schweigend zu, nur ihre Blicke wandten sich immer wieder fragend, forschend auf Bertram. Dieser bemerkte erst nach langer Weile ihr Augenspiel, und als sich endlich beider Blicke begegneten, sagte Fräulein Rieder: »Sie müssen sich aufheitern, Herr Bertram! Jetzt ist es einmal geschehen, und Sie werden gewußt haben, warum Sie so handelten. Das war auch nichts für Sie, das mußte so enden!«

Bertram erwiderte nichts, aber bald darauf fing er von selbst, über Lilienfelder hinweg, der dazwischen saß, ein Gespräch mit dem Mädchen an. Lilienfelder beteiligte sich dabei. Später aber, als er mit einem andern Genossen sich in eine geschäftliche Frage verwickelte, räumte er seinen Platz, um diesem näher zu sein, und sagte zu seiner Freundin: »Sieh zu, daß Du ihn in bessere Laune bringst!«

Die beiden saßen nun nebeneinander. Die Kosten des Gespräches trug Fräulein Rieder fast allein. Sie hatte aber immer etwas zu plaudern, und es gelang ihr, wenigstens ein kurzes Lächeln dem Nachbar abzugewinnen. Auf dem Nachhausewege ging sie an seinem Arme.

Er lauschte ihrem Geplauder, das sich tändelnd in sein Ohr schmeichelte, mit Anschauungen, wie er sie selbst sonst immer gehegt hatte.

»Sie sind da einmal in eine Sackgasse geraten«, meinte sie, auf das abgebrochene Verhältnis hinweisend. »Seien Sie froh, daß Sie den Rückweg gefunden haben. Sie werden sich's jetzt ein für allemal merken, daß man's nicht so ernst mit der Liebe nehmen soll, wenn man nicht für die Freude Last eintauschen will. Warum können zwei Leutchen, die einander gefallen, nicht gute Kameraden sein, die miteinander lachen und scherzen, sich die Zeit vertreiben und heute nicht an das denken, wie es morgen zwischen ihnen werden soll, und nicht, wie es gestern mit ihnen war? Da braucht es keine Treue, keine Eifersucht, keine gegenseitige Belästigung, sondern nur guten Humor und gute Gelegenheit.«

»Ist Lilienfelder derselben Ansicht?« fragte Bertram das Mädchen endlich, als es diese Theorie der freien Liebe noch weiter ausschmückte.

Sie stockte einen Augenblick, dann sagte sie halblaut und mit deutlichem Mißbehagen: »Er bezahlt mich!« –

»Sie lieben ihn also nicht?« fragte Bertram sie weiter.

Fräulein Rieder sah ihm voll ins Gesicht. Dann wendete sie den Kopf nach der entgegengesetzten Seite und sagte mit bitterem Spotte: »Er hat mich gekauft – muß ich ihn deshalb lieben? Aber«, fuhr sie in gereiztem Tone fort, »er ist ja Ihr Freund! Sie können es ihm sagen, daß ich ihn nicht liebe. Meinetwegen!«

»Was fällt Ihnen ein, Fräulein!« erwiderte Bertram. »Warum sollte ich – –«

»Nun, er hat sich ja auch in Ihren Liebeshandel gemischt und Ihnen so lange zugeflüstert, bis Sie seiner Meinung gefolgt sind.«

»Er – ich?« fragte Bertram, und ein unangenehmes Gefühl stieg in ihm auf.

»Etwa nicht?« fuhr das Mädchen fort. »Wäre Ihnen Lilienfelder nicht immer in den Ohren gelegen, Sie hätten niemals daran gedacht, Fräulein Pauer zu verlassen.« Dazu lachte sie belustigt.

Bertram war recht schlecht zu Mute. Das Mädchen hatte recht, und daß es recht hatte, das machte ihn unmutig, und sein Unmut lenkte sich gegen Lilienfelder. Etwas wie Haß gegen den Freund stieg in ihm auf, und in dem Hasse eine Befriedigung, daß er sein Schuldbewußtsein abwälzen konnte.

Während er in Gedanken verloren dahinschritt, schmiegte sich das Mädchen näher an ihn und sagte: »Es ist ja gut, daß es so kam. Eine so schwerfällige Liebe taugt nicht für einen Mann, wie Sie. Aber Lilienfelder hat Ihnen damit doch etwas genommen, was Sie trotz allem entbehren werden, und hat Ihnen nichts dafür gegeben. Das war nicht recht von ihm.«

Bertram schwieg.

»So verkehrt Ihre Liebschaft war. Sie werden Liebe nicht missen können«, fuhr Fräulein Rieder fort. »Sie werden sich am Ende ärgern über Ihren Freund, der mit seiner gekauften Liebe prahlt, während Sie einsam sind, und aus Ärger in einer bösen Stunde ihm verraten, was ich Ihnen sagte, um sich an ihm zu rächen. Lilienfelder jagt mich weg, und ich? Sie nehmen sich meiner nicht an, Ihnen bin ich zu gering.«

»Ich werde Sie nicht verraten«, erwiderte Bertram. »Es hat mich im stillen ohnehin schon gewundert, daß Sie so lange bei dem – bei Lilienfelder aushalten.«

Sie sah ihn von der Seite an, und ein leises Lächeln zuckte über ihre Lippen.

Dann seufzte sie als Antwort auf Bertrams Bemerkung und lenkte ihn zu den Genossen, die eben in eifriger Unterhaltung über einen für den morgenden Sonntag geplanten Ausflug nach Starnberg begriffen waren.

Fräulein Rieder griff den Plan mit Lebhaftigkeit auf, es als selbstverständlich voraussetzend, daß Lilienfelder nicht ohne sie teilnehmen würde. Dieser wandte sich an Bertram mit der Frage, ob er sich beteiligen würde, bekam aber eine kurz verneinende Antwort. Auch die anderen, die Bertram nun ermunterten, erhielten keinen besseren Bescheid. Das Mädchen hörte aufmerksam zu, wie bald dieser, bald jener dem Widerstrebenden zusprach, ohne selbst mit einem ermunternden Worte sich an denselben zu wenden. Dagegen besprach sie sich abseits mit Lilienfelder. »Ich möchte wohl noch ein Gläschen Wein trinken mit Dir irgendwo, wo man ungeniert ist. Aber nicht die ganze Gesellschaft mitschleppen …«

Dabei warf sie ihm einen zärtlichen Blick zu.

»Ein Gläschen Wein heißt bei Dir eine Flasche Sekt!« entgegnete Lilienfelder. »Aber meinetwegen! setzte er mit einem breiten, die Zähne weisenden Lächeln hinzu.

»Den armen Schelm, den Bertram, können wir ja am Ende mitnehmen, daß er die Grillen verliert!« bemerkte jetzt das Mädchen leichthin.

»Hast recht!« versetzte Lilienfelder. »Wir wollen ihn dann ins Gebet nehmen und vielleicht bringen wir ihn doch morgen nach Starnberg.«

Sie näherten sich Bertram, und Lilienfelder flüsterte diesem vertraulich zu: »Wir wollen noch ein Stündchen unter uns sein! Komm mit! Die anderen lassen wir laufen!«

Einen Augenblick zögerte Bertram.

»Kommen Sie doch mit!« sagte Fräulein Rieder und nickte ihm aufmunternd zu. Er besann sich einen Augenblick, daß er doch zu Hause keinen schnellen Schlaf finden würde, und sagte mit einem mürrischen: »Meinetwegen!« zu.

Als die Drei sich von den übrigen nach einer geschickten, jeden Anschluß abweisenden Redensart Lilienfelders getrennt hatten, begaben sie sich in eine jener nur dem Ortskundigen bekannten Weinkneipen, deren Vorzug weniger in der Güte ihrer Weine, als in der Zwanglosigkeit bestand, mit der man, dank der Pfiffigkeit des Wirtes, die sonst überall streng beobachtete Polizeistunde überschreiten und, wenn man wollte, bis zum frühen Morgen verweilen konnte. Als sie eintraten, befanden sich in der sauber eingerichteten Stube einige ältere Schoppenstecher beim Kartenspiel.

Der Wirt bemerkte, wie Fräulein Rieder sich mit unzufriedener Miene umsah, und sagte lächelnd: »Wenn es beliebt, können die Herrschaften hier nebenan Platz nehmen!«

Dabei öffnete er eine Thür, die in ein kleines Kabinett führte. Ein Pult mit einem großen Geschäftsbuche darauf erwies den Raum als die Schreibstube des Wirtes. Ein breites Schlafsofa mochte wohl diesem oder der Kellnerin dazu dienen, gelegentlich einer kurzen Ruhe zu pflegen, bis die letzten Nachtschwärmer das Haus verließen. Vor dem Sofa befanden sich ein Tisch und einige Rohrstühle.

Fräulein Rieder und Lilienfelder setzten sich auf das Sofa, Bertram auf einen Stuhl neben das Mädchen. Die Kellnerin fragte mürrisch nach dem Begehr der Gäste, denn sie liebte weiblichen Besuch nicht sehr. Als aber Lilienfelder eine Flasche deutschen Schaumweins bestellte, wurde ihre Miene freundlicher.

»Wenn schon – denn schon!« sagte Fräulein Rieder. »Da trinken wir doch lieber gleich Champagner!«

»Aber – – –« meinte Lilienfelder.

»Sei nicht so knickerig!« entgegnete das Mädchen.

»Das Fräulein hat recht!« sagte jetzt Bertram. »Nehmen wir doch gleich Champagner! Deutscher Schaumwein ist nichts für Damen!«

Fräulein Rieder nickte ihm dankend zu. Lilienfelder machte ein saures Gesicht und fügte sich; die Kellnerin wurde lebhaft und eilte, die Bestellung auszuführen.

Statt ihrer kam der Wirt selbst nach einer Weile mit der im Eiskübel stehenden Flasche, machte ein höfliches Kompliment, hantierte im Eise herum, entkorkte die Flasche, füllte die Gläser und fragte schließlich, ob die Dame nicht etwa Kuchen oder Obst wünsche.

»Bringen Sie nur, bringen Sie nur!« sagte Bertram, während Lilienfelder sich noch zu besinnen schien. Alsbald standen zwei Teller, der eine mit Backwerk, der andere mit Trauben, Apfelsinen, Äpfeln und Rosinen bedeckt, auf dem Tische. Dann verschwand der Wirt, nachdem er noch auf seine höfliche Frage, wie der Wein munde, eine freundliche Antwort erhalten hatte, und schloß hinter sich die Thür, welche bisher offen geblieben war. Fräulein Rieder zerteilte einen Apfel, schälte ihn und reichte erst Bertram, dann Lilienfelder davon. Bertram hatte hastig zwei Gläser hinabgestürzt. Die beiden anderen tranken langsam. Fräulein Rieder knabberte erst an ihrem Apfel, dann am Backwerk und an den Rosinen. Lilienfelder begann den Freund neuerdings für den Ausflug nach Starnberg zu stimmen, kam aber nicht zum Ziele. Das Mädchen hörte, bald mit den Zähnen, bald mit den Fingern an den Leckereien tändelnd und den eben Sprechenden anguckend, zu. Als schließlich Lilienfelder von dem Ereignisse des Tages zu sprechen begann, kam ihr der Mutwille. Sie unterbrach den Redefluß des Geliebten durch allerlei Späße und Neckereien, die dieser erst abwehrte, schließlich erwiderte, bis er endlich sein Gespräch ganz vergaß. Das breite Lächeln schwand nicht mehr von seinen fleischigen Lippen, die ohnehin etwas vorquellenden Augen wurden immer größer, von Zeit zu Zeit kam ein wiehernder Ton aus seiner Kehle. Bertram sah dem Spiele der beiden erst völlig gleichgültig zu. Nach einer Weile fand er Lilienfelder recht plump und tölpelhaft, wieder nach einer Weile schien es ihm, als ob das Mädchen trotz seines üppigen Körperbaues sehr viel natürliche Grazie besitze. Ein leichtes Lächeln kam über seine Lippen, als Fräulein Rieder gerade zu ihm hinsah und ihn anlachte. Dabei fielen ihm zum erstenmal ihre schönen Zähne auf.

»Ist das nicht ein prächtiges Mädchen?« sagte jetzt Lilienfelder mit behaglichem Selbstgefühle und drückte den Oberarm seiner Geliebten, als sei er ein Sklavenhändler, der seine Ware anpreist. »Das ist was andres als Deine langweilige Karoline!«

Bertram zog die Stirn in Falten.

»Fräulein Karoline ist eine sehr schöne und sehr liebenswürdige Dame!« sagte jetzt Fräulein Rieder. »Sie nimmt nur das Leben zu ernst, und Herr Bertram ist gern lustig. Nicht wahr?«

Dabei sah sie Bertram mit seitwärts geneigtem Köpfchen an.

Bertram dankte ihr mit einem warmen Blicke. Das Getändel fing wieder an. Als Lilienfelder das Mädchen an sich zog und mit geräuschvollen Küssen behandelte, hatte er eine so widerliche Empfindung, daß er die Flasche, die er eben in Händen hielt, heftig auf den Tisch aufstieß. Das Paar ließ voneinander und sah ihn verwundert an.

»Die Flasche ist bald leer! Trinkt doch und laßt uns eine neue bestellen!« sagte jetzt Bertram, schenkte ein und schlug mit dem Messer an die Flasche. Der herbeigeeilte Wirt brachte alsbald eine zweite.

»Jetzt macht vorwärts!« sagte Bertram. Die alte Flasche wurde rasch geleert. Während Bertram sich damit beschäftigte, die neue zu öffnen, warf sich Fräulein Rieder plötzlich mit einer raschen Bewegung Lilienfelder in den Schoß Über hohen Schnürstiefeln, welche ein zierliches hochgespanntes Füßchen und feine Gelenke umschlossen, wurden, von hellblauen Strümpfen bedeckt, die schwellenden Beine des Mädchens bis an die Kniee dem dicht vor ihr sitzenden Bertram sichtbar, den sie, während Lilienfelder mit ihr schäkerte, lächelnd aus halbgeschlossenen Augen ansah. Dann trank sie ihr Glas aus und reichte es ihm hin. Als er eingeschenkt hatte, stieß sie, ohne ihre verwegene Stellung zu ändern, mit ihm an und trällerte, den Takt dazu mit dem Glase an seinem Glase gebend, das Liedchen aus der Fledermaus: »Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist!«

Lilienfelder sang vergnügt mit. Er sah nicht die heißen Blicke, welche seine Geliebte Bertram zuwarf, dessen Augen bald die Glut dieser Blicke auffingen, bald nach den enthüllten Reizen des Mädchens schielten, während sein Blut sich zu erhitzen begann. Vergessen, vergessen in einer wilden Orgie, das war es, wonach er sich im Augenblicke sehnte, und ein mühsam unterdrücktes Gefühl trieb ihn an, dem tölpischen Freunde dieses jugendfrische, buhlsüchtige Weib zu entreißen. Fräulein Rieder hatte das Glas auf den Tisch gestellt und nahm die plumpen Zärtlichkeiten ihres Geliebten hin, gleichzeitig immer Bertram zulächelnd, als wollte sie sagen: »Komm an seine Stelle!« Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und fiel nach rückwärts gegen die jenseitige Sofalehne, während ihr ganzer Körper in eine kurze, heftige Schwingung geriet. Mit einer raschen Handbewegung drückte sie die aufwärts strebenden Kleider nieder und richtete sich mühsam auf, während sie Lilienfelder in scheltendem Tone sagte: »Das sind Dummheiten!«

»Aber ich habe ja gar nichts – –« wandte dieser ein.

»Ach was!« sagte sie mürrisch und sprang auf, sich auf einen Stuhl neben Bertram setzend, der sie mit beredten Blicken maß.

Lilienfelder wollte noch einige Bemerkungen machen, die sie mit beleidigter Miene abschnitt. Er gab sich zufrieden. Der Champagner begann seine Wirkung zu üben, und er starrte stumpfsinnig vor sich hin, während Fräulein Rieder ihre Finger durch Bertrams lang wallenden Bart gleiten ließ und diesen fragte: »Nun, gehen Sie morgen mit nach Starnberg?«

»Wenn Sie es wünschen!« erwiderte Bertram, ihre Hand fassend und seine Augen tief in die ihren senkend.

»Natürlich geht er mit!« platzte Lilienfelder mit lallender Zunge heraus. »Jetzt aber gehen wir nach Haus, sonst kann man nicht ausschlafen!«

»Erst muß die Flasche ausgetrunken werden!« sagte Bertram in einem munteren Ton. »Nicht wahr, Fräulein?« Dabei klopfte er dem Mädchen auf die Schulter.

»Freilich, freilich!« erwiderte diese. »Du Schlafmütze!« wandte sie sich darin an Lilienfelder. »Da sieh, wie wir noch munter sind!«

Dabei sprang sie auf, und das Champagnerglas in der Hand, tänzelte sie vor Bertram herum, wiederum trällernd: »Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist!«

Dann setzte sie sich diesem auf die Kniee, sprang aber gleich wieder auf, als sie mit ihm angestoßen hatte.

Endlich, nachdem Lilienfelder auch noch trotz seines Zustandes einige Gläser hinabgestürzt hatte, brach man auf.

Vor dem Gasthause sagte Fräulein Rieder zu ihm:

»Lieber Freund! Mache nur, daß Du nach Hause kommst! In dem Zustande danke ich für Deine Begleitung. Herr Bertram wohnt ohnehin in meiner Nähe und wird mich schon heimbringen!«

Lilienfelder besann sich einen Augenblick. Dann sagte er: »Ist mir auch recht! Komm aber rechtzeitig um sieben Uhr zum Bahnhof! Gute Nacht!«

Bertram und das Mädchen sahen ihm noch lachend nach, wie er etwas unsicheren Schrittes seines Weges ging. Dann schlugen sie in rascher Gangart die entgegengesetzte Richtung ein.

»Gottlob, daß Sie so gut sind, mich zu begleiten!« sagte Fräulein Rieder. »Der arme Schelm kann nicht viel vertragen, und in einem solchen Zustande ist er schrecklich. Er wird morgen einen schönen Katzenjammer haben, wenn er nicht gar verschläft! Wenn er verschlafen würde, könnte ich ja gar nicht mitgehen!« fuhr sie nach einer Weile fort. »Ach«, setzte sie dann lustig lachend hinzu, »dann nehmen Sie mich mit, nicht wahr?«

»Mit Vergnügen!« erwiderte Bertram, sie mit den Blicken verschlingend.

Als sie eine Strecke weit gegangen waren, klang vom Turme der Peterskirche die dritte Stunde in die Nacht hinaus.

»Schon drei Uhr!« sagte Fräulein Rieder. »Da hat man nur mehr drei Stunden zum Schlafen. Das ist gar nicht der Mühe wert!«

»Doch! Etwas Ruhe ist nötig, wenn wir morgen frisch sein wollen!« meinte Bertram.

»Sind Sie so schläfrig?« fragte das Mädchen dagegen. »Ich habe gar keinen Schlaf!«

Bertram sagte scherzend: »Dann könnten wir ja bis zur richtigen Stunde spazieren gehen!«

»Ich danke, drei Stunden auf der Straße!« versetzte das Mädchen. »Ich wüßte andern Rat!« setzte sie, sich leise an ihn schmiegend, hinzu.

»Lilienfelder ist mein Freund!« erwiderte Bertram zögernd, während seine Pulse tobten.

Das Mädchen klammerte sich fester an ihn, er spürte das Wogen ihrer Brust an seinem Arme.

»Wie sollte er's erfahren?« flüsterte sie mit bebender Stimme.

Bertram zögerte.

»Wenn er es auch nicht erfährt, er hat Sie mir anvertraut – –« sagte er.

Sie sah zu ihm auf mit einem verzehrenden Blicke, und er fühlte, daß das vom Weine erhitzte Mädchen von wilden Begierden durchschauert wurde.

Da betraten sie den Gärtnerplatz. Plötzlich wurde Bertrams heißes Blut kühler, ein beklemmendes Gefühl beschlich seine Brust. Das liebelechzende Weib an seiner Seite, das nichts mehr zu sagen wagte, aber sich fest an ihn geschmiegt hielt, es verursachte ihm Qual. Er lockerte den Arm. Da betraten sie die Klenzestraße. Erst hatte er gar nichts weiter bedacht und nur eine begehrliche Freude empfunden, Fräulein Rieder begleiten zu können. Jetzt standen vor ihm die Gespenster der Vergangenheit, jetzt besann er sich in peinigendem Schmerze, daß er ebenda mit einer lüstern nach unkeuschen Freuden begehrenden Buhlerin wandelte, wo er Karolinens innige, echte Liebe sich erlistet hatte. Seine Gedanken flogen nach jener andern Straße, wo die Unglückliche wohl jetzt auf ihrem Lager mit schlaflosem, thränenvollem Schmerze rang. Er beschleunigte seine Schritte. Es drängte ihn, die Straße zu fliehen, und eilfertig sagte er zu Fräulein Rieder, als sie vor dem Hause angelangt waren: »Schlafen Sie wohl, Fräulein!« Dabei reichte er ihr die Hand.

Sie hielt dieselbe fest, und mit glühenden Blicken zu ihm aufschauend, machte sie Miene, ihn zu küssen.

»Gute Nacht, Fräulein!« sagte er, sich von ihr losreißend, und ließ die Enttäuschte stehen.


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