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XIV.
Die Tagesrunde

– Was für ein ungereimter Einfall, mich um vier Uhr nachmittags kommen zu lassen, da Sie doch wissen, dass im Hotel Vologda ein Festessen stattfindet.

– Haben Sie nicht gesagt, Paula, dass Ihre letzte Neugier die Liebe beim Volke sei? Was hätte es uns genützt, den Abend abzuwarten? Sie kennen meine Vorsicht, und, um zu schauen, muss man wagen! Wenn ich auch nicht den Bummler fürchte, so fürchte ich doch den Polizisten; ein Polizeiposten lässt mich weichen, während ich damit einverstanden wäre, Sie in eine Diebshöhle zu führen. Es gibt in menschlichen Handlungen ein Mass der Kühnheit, das man nicht überschreiten darf, sonst scheitert man im Hafen. Die denkenden und empfindenden Menschen fühlen den Augenblick, in dem das Glück seine Schritte wenden und ihnen nicht mehr folgen könnte. Sie haben sich so viel Gefahren ausgesetzt, Paula, dass diese Erregungen Ihre Neugier nicht mehr reizen. Wir haben beide wie einfache Messerstecher getötet Peladans Roman »Weibliche Neugier«.: es wäre kindlich und kindisch, Wiederanfänge dieser Art zu wagen. Zwischen dem Nachmittage der am Montag blau Machenden und dem Feierabend der Arbeitenden werden wir die wesentlichen und sehr einfachen Züge der Leidenschaft beim Arbeiter erhalten.

– Was soll ich denn wieder anziehen? Ich kann doch mein Pompadourkleid nicht im Volksviertel ausstellen.

– Wir werden in Bluse und Mütze gehen, wie gute Zinkarbeiter oder ehrliche Schmiede. Dort liegt ein vollständiger Anzug aus blauem Leinen, der Sie zu gut kleiden wird.

– Sie haben alle guten Eigenschaften, Nebo, und vielleicht alle Tugenden; aber eine moralische Schroffheit steckt in Ihnen, sobald es sich um Weiblichkeit handelt, die ich nicht begreife bei einem Künstler, der den Kultus der Form übt.

– Dieses Beiwort Schroffheit verlangte, erklärt zu werden: ich bin der Frau gegenüber taub und blind, weil ich nur Augen und Ohren für den Androgyn habe.

– Nun, ich weiss jetzt, wie ich Ihnen gefalle oder missfalle, mich von Ihnen gut oder schlecht behandeln lasse, Ihren guten oder bösen Willen erkenne: sobald ich Grund zur Klage gegen meinen Platoniker habe, werde ich mich zurückverwandeln und wieder Frau werden.

– Wenn Sie Wert auf mich legen, Paula, so spielen Sie nicht dieses Spiel: Sie würden mich verlieren, meine Psyche!

– Sie machen mir Angst mit Ihren Fastenpredigten; als wir Paris durchschifften Peladans Roman »Weibliche Neugier«., waren Sie nicht so pedantisch.

– Als wir Paris durchschifften, Paula, griffen Sie mich nicht so an!

– Ich greife Sie an! Verstehen Sie unter Angriff einen ruhigen und liebevollen Scherz?

Um das zu sagen, war sie auf die Schwelle des zweiten Zimmers getreten, mit nackten Armen und im Korsett.

– Paula, nehmen wir an, ich habe unrecht, sagte Nebo.

Diese verschwand, um sich eine verstohlene Träne abzuwischen, die der junge Mann nicht sehen konnte. Nach einer Weile fragte sie, um das drückende Schweigen zu brechen:

– Welch wesentlicher Unterschied besteht zwischen der Leidenschaft meines Kreises und der Welt, in die wir jetzt gehen?

– Wesentlicher? Keiner! Der Arbeiter gehorcht wie der Dandy den allgemeinen Gesetzen der Gattung; während aber der Dandy einen vollen Zorn, eine volle Eifersucht in die Betonung eines »wirklich« oder eines »wie« legt, wird der Arbeiter fluchen und die Fäuste ballen. Je mehr man gesellschaftlich steigt, desto komplizierter wird das Wesen, zieht sich in sich selbst zurück und spricht sich nicht aus; je tiefer man hinabsteigt, desto mehr vereinfacht es sich, übt sich im Zergliedern und liest sich geläufig. Wo der Gatte von Welt zu seiner Frau sagt: »Mein liebes Kind, du bist sehr kokett,« ruft der Gatte aus dem Volke: »Dirne.« Beim Gebildeten hat der Abzug Das Bild stammt vom Gewehr. der Eindrücke mehrere Kerben; das Gefühl des gereizten Elementarmenschen trifft mit festen und furchtbar wahren Worten. Die Kritiker glauben, dass die Sittenschilderer und Seelenforscher der vergangenen Jahrhunderte nicht in die Tiefe schauten. Doch; nur haben sie darin nicht Personen ersten Ranges gesehen! In Shakespeare, wo das Wirkliche und das Phantastische, das Hohe und das Niedrige wie im Leben selbst gemischt sind; wo der Totengräber dem Prinzen von Dänemark den Ball der geistreichen Einfälle zurückwirft; ist das Volk weder Mitte der Handlung noch erste Rolle: darin ist die Kunst Shakespeares logisch wie das Leben selbst. Erst musste der schändliche Gleichheitswahn sich ausbreiten, damit der Dichter, das Echo einer Gesellschaft, dem Vorstädter das Recht des dramatischen Vorrangs gab. Ein so wenig interessanter Held wie ein Bleiarbeiter wird der Mittelpunkt einer Handlung und der Gegenstand eines Buches! Vorher musste die Dummheit der öffentlichen Meinung diesem Bleiarbeiter politisches Stimmrecht gewähren. Man wird natürlich einwenden, dass der Bleiarbeiter eine unsterbliche Seele besitzt, wie Sombreval Sombreval, Barbey d'Aurevillys »Verheirateter Priester«. oder Rodin Rodin, der höllische Jesuit in Eugen Sues »Ewigem Juden«.: aber gerade weil der Ausnahmemensch, der Held, das Geringste enthält, das heisst die Anfänge der Persönlichkeit, war es logisch, nach dem Beispiel der alten Meister seinen Vordergrund in den vollkommenen Seelen, das heisst in den Geistigen, zu wählen; den Hintergrund der Leinwand konnte man mit allem gewünschten Gewimmel füllen … Sie werden Leute aus dem Volke von Liebe sprechen hören: das werden dieselben Gefühle sein wie in »Romeo und Julia«. Der Ausdruck aber wird unschön klingen, ohne wahrer zu sein. Wo mein Bleiarbeiter sagt: »Ob ich Sie liebe, Fräulein! Sie zweifeln daran! Oh, ob ich Sie liebe –« wird der Capulet sein köstliches Kantabile singen: »Zweifle an allem, am Duft der Blumen, am Licht des Tages.« Der heutige Leser hat nicht mehr die aristokratischen Bedürfnisse des einstigen; ein Mann, der stimmt, ist nur fähig, eine Arbeitergeschichte zu lesen … Ich warne Sie, Prinzessin, wenn Sie in diesem Augenblick eintreten, werden Sie verlegen werden: ich kleide mich um, wie Sie … Um uns für das zu halten, was wir sind, wird das Auge des Vaters Torpes nötig sein. Kommen Sie jetzt, damit ich Ihnen Ihre Hände beschmutze: man wird uns nicht öffnen, wenn wir eine zu weisse Pfote zeigen … Prinzessin, Sie sind der schönste kleine Arbeiter, der sich je auf dem äusseren Boulevard gezeigt hat; hätte Lord Byron Sie erblickt, hätte er seinen Kaled Weiblicher Page des »Lara«. nach Ihnen geändert. Obgleich Zinkarbeiter, nehmen wir einen Wagen; das sieht nicht nach Zink aus, aber die Buttes-Chaumont sind so entfernt, dass Sie die, nicht wahr, für eine blosse Vermutung der Ortsbeschreibung der Vorstädte halten.

– Ich erstaune nicht über so wenig. Vergessen Sie, Nebo, dass wir die Umschiffung Peladans Roman »Weibliche Neugier«. von Paris im Park von Montsouris beschlossen haben? Wie habe ich mich gewandelt seit dieser diplomatisch-abenteuerlichen Besprechung!

– Und Sie bereuen es, auf die Schlange gehört zu haben?

– Bereuen! Ich war eine Puppe, Sie haben aus mir einen Gedanken gemacht: jetzt bin ich auf meine Ideen stolzer als auf meine Reize.

– Sagen Sie mir diese Ideen, die ich zum Aufblühen gebracht habe.

– Legen Sie viel Wert darauf, sie kennen zu lernen?

– Sehr viel! Ich habe in Ihre Seele gesäet: das zu sehen, was aufgespriesst ist, ist das nicht ein wenig mein Lohn!

– Gut, ich werde sie Ihnen nennen, aber nicht jetzt, während diese Droschke stösst. Ich werde eines Abends eigens deshalb kommen.

– Sie wissen, dass ich immer warten werde, wenn ich am Tage vorher Nachricht erhalte.

– Immer? fragte Paula, dem Worte einen gefühlvollen Sinn und den Wert eines Schwures gebend.

– Immer; Sie müssten denn eines Tages sagen: Genug!

– Dieser Tag, Nebo, ist noch nicht in den Kalendern der Zukunft enthalten.

– Darauf müsste ich stolz sein, und ich weiss nicht, was ich Ihnen antworten soll, um in Ihrer liebenswürdigen Tonart zu bleiben.

– In diesem Duett müssten Sie mir den Ton angeben. Doch da vergesse ich, dass ich Ihnen gegenüber nicht den Anspruch auf die Vorrechte einer Person des Geschlechts habe, wie die guten Beichtväter sagen, die sich am Worte »Frau« zu verbrennen fürchten, mit einer Brandwunde teuflischer Aufreizung.

– Haben die denn unrecht? Die Worte sind Kräfte! »Gläubig« sagen und »Amen« hinzufügen, heisst, sein Wort bis zum Martyrium verpfänden. »Amen,« diese einzige Antwort verdammt oder erlöst, steigt gen Himmel wie der Rauch eines frommen Opfers oder sinkt in die Höllen, um die Gärungsstoffe des Bösen aufzurühren. Sagen, »so sei es!«, heisst einer Macht anhangen und ein Verhängnis schaffen, sich einen guten oder schlechten Geist geben! Woran misst die Nachwelt den Ruhm? Am »Amen« eines Lebens. Das »Amen« des Geniessers trifft das ewige Echo, das antwortet: nichts. Das »Amen« des Künstlers verspricht ihm die ewige Schönheit; und der Heilige ist nur ein lebendes Amen zum Worte Jesu Christi.

– Sie vereinfachen das Credo und würden, wie Barbey d'Aurevilly gesagt hat, die Wissenschaft auf eine Visitenkarte setzen.

– Die Wissenschaft als Kausalität kann man sogar telegraphieren; als Erscheinung wird man sie niemals schreiben: der Widerschein des Unendlichen hat vor dem Geschöpf eine relative Unendlichkeit; aber ich habe bemerkt: je heftiger ein Gefühl ist, desto mehr wiederholt es dieselben Worte; in den Stürmen der Seele hat der Geist keine Mannigfaltigkeit noch Nuancen. Das Kind, das sich fürchtet, hat nur einen Schrei: »Mama«, und der Christ, der leidet, nur einen Ausruf: »Mein Gott, mein Gott!« Die Schauspielerin, die im Theater so weinen würde, wie sie im Leben weint, würde entweder eine lächerliche oder allzu schmerzliche Wirkung ausüben, da der künstlerische Genuss auf dem gemässigten Erhabenen beruht.

– In der Tat, sagte die Prinzessin, ist es mir oft aufgefallen, dass die schauspielerische Darstellung eines Unglücks eine Zerstreuung ist, während der Anblick eines wirklichen Unglücks ein Schrecken wäre, von dem man sich entfernen würde. Doch gibt es im Theater Augenblicke, in denen man vergisst, dass die Dolche nicht stechen und die Gifte aus reinem Wasser bestehen: man erschrickt, ist aber glücklich über diesen Schrecken. Wie erklären Sie das?

– Während die Gleichgültigen nicht zu zählen sind, gibt es Beifallsfreudige, die bereit sind, für den gut geführten Messerstich loszubrechen, wie für die Handlung der Barmherzigkeit: der Mörder und der Missionar haben Bewunderer, Eiferer! Das ist eine so unmittelbare Folge des freien menschlichen Willens, dass die Lehre des Manes Manes (lat. Manichaeus) nimmt zwei gleich ewige Grundwesen an: das gute oder das Licht, das böse oder die Finsternis. noch in der Person des Satans erscheint, den die römische Lehre duldet; eine Person, die den Gläubigen in keinem Credo aufgedrängt wurde …

– Was ist Lust? begann Nebo. Eine Empfindung, deren Uebertragung ins Gefühl Wollust erzeugt. Das Gegenteil ist Schmerz. Das scheint klar zu sein. Derselbe Geruch, der den einen entzückt, wird dem andern Ekel erregen; dieselbe Nahrung widerstrebt oder missfällt. Es gibt sinnliche Frauen, die nicht den Kuss auf die Lippen vertragen; es gibt Männer, die zu lieben aufhören, wenn man ihnen ihre Liebkosungen zu genau wiedergibt. Ohne die seltsamen Abneigungen und die naturwidrigen Anziehungen anzuführen, wird sich eine durch die Erziehung entwickelte Persönlichkeit, die sich ihres Selbst bewusst geworden ist, immer von der allgemeinen Art zu fühlen entfernen, während der Mann aus dem Volke überall eine gleiche Gattung bleibt, dessen Exemplare wenig voneinander abweichen. Dort ist keine Kokette möglich, man ist eine gute Frau oder eine Dirne; man ist ein Säufer, der seinen ganzen Lohn auffrisst und vertrinkt, oder ein Solider und Sparsamer. Kälte, Hitze, Ermüdung, diese Wirkungen der Umgebung, sind nicht dieselben für alle: der Mann des Gedankens würde seinen Geist aufgeben, bevor er das Tagewerk eines Hufschmiedes beendete; dieser wieder würde verrückt werden, wenn er zwei Gedanken verbinden sollte, zum Beispiel das göttliche Vorherwissen und die menschliche Freiheit. Der Leitung des Gehirns gegenüber bekennt sich das Volk als ohnmächtig, wie der Verfeinerte der Muskelanstrengung gegenüber. Das Vorherrschen einer dieser beiden Systeme teilt die Menschen sofort in Gefühls- und Sinnesmenschen: wird der Gefühlsmensch von der Heftigkeit einer plötzlichen Leidenschaft mitgerissen, wird er die Eigenschaften eines Tigers besitzen, den furchtbaren Sprung, die Kraft einer Minute; während der Sinnesmensch, der diesen unvorhergesehenen Stoss des organischen Dynamismus nicht führen kann, die beständige Arbeit eines Pferdes liefern wird … Frauen, die für viel weniger »Mörder!« rufen würden, lassen sich bis aufs Blut durch ihre Liebhaber beissen, um dann ohnmächtig zu werden: das ist also eine an sich grausame Verwundung, die zum Rausch wird, weil der Grausame ein geliebter Mann ist. Es ist also wenig philosophisch, die Eindrücke in schmerzliche und angenehme zu teilen. Ein Mann, der sich nicht geliebt glaubte, machte einer Nachbarin den Hof, um die geliebte Frau, die anwesend war, zu reizen; diese gerät ausser sich, erhebt sich und tritt geschickt mit dem Absatz furchtbar auf die Zehen des Hofmachers: nun, er hat mir gestanden, einen Taumel unsagbaren Glückes empfunden zu haben; dieser Schmerz, der ihm die verborgene Liebe seiner Rosalinde enthüllte, hatte die Empfindung verwandelt. Der Gedanke beherrscht die Tat, und das Gefühl die Empfindung in der Rangordnung des menschlichen Gleichgewichts. Paracelsus, der erste unter den Modernen, hat den allmächtigen Einfluss gedeutet, den das Geistige auf das Körperliche, der Gedanke auf den Eindruck übt, als er, die Zierereien des hermetischen Geheimnisses verwerfend, die Kraft des Talismans erklärte: sie wirke nicht relativ zum Talisman, sondern nur virtuell durch den Glauben; indem er behauptete, eine nicht bestätigte Reliquie heile den Gläubigen und eine falsche Religion könne wahre Wunder tun; die Wirkung der Wundertätigkeit schrieb er allein dem Glauben zu … Um auf die Lust am Leiden des Schauspielers zurückzukommen, so ändert sich die Erklärung je nach der Natur des Stückes. Gewöhnlich klatschen die Hahnreie dem Unglück des Georges Dandin Gestalten Molières. und die verliebten Greise dem Arnolphe Gestalten Molières. Beifall. In der Komödie gibt es dieses Vergnügen, das ein berühmter Vers des Lukrez bezeichnet. Es ist süss, sich zu sagen: »Ich bin weder so lächerlich noch so abscheulich wie Orgon Gestalten Molières. oder Scapin Gestalten Molières.«. Auch beim Drama ist es süss, sich zu sagen: »Ich habe weder Sbirren in meiner Gasse noch Meistersinger auf meinem Nacken, weder eine uneheliche Tochter noch einen entarteten Vater.« Doch der eigentliche Reiz des Theaters liegt in dem intensiven und idealen Leben, das es auf den Zuschauer überträgt: ins Theater gehen, bedeutet, aus dem Leben, aus Paris herauskommen; nicht nur den gewohnten und faden Ort, wo man lebt, verlassen, sondern auch die Zeit, die Gesellschaft. Der Vorhang hebt sich und, siehe da, wir blicken wie durch ein auf die Vergangenheit geöffnetes Fenster auf einen Traum, der uns fesselt, da die Triebfedern dieselben sind, die uns gewöhnlich treiben, jedoch ausserordentlich durch die Kraft ihres Ausdrucks. Während einiger Stunden folgt man dann wie ein antiker Chor dem Federbusche des Musketiers durch seine Duelle, dem entarteten Rodin mitten durch seine Kabalen, Ruy-Blas in seinem Liebesglück, Lagardère in seiner heldenhaften Verteidigung der Blanche de Nevers Rodin, Jesuit in Sues »Ewigem Juden«; Ruy Blas, Drama von Victor Hugo.. Man hat das Vergnügen des Jungen, der den Schah von Persien gesehen hat und sagen kann: ich war ihm ganz nahe, auf zwanzig Schritte. Der niedrige Klerus, der immer diese elende Redensart, das Theater sei das Vorzimmer der Hölle, wiederholt, tut seinem Urteil Unrecht: das Theater erregt Phantasie und Sinne, aber es kultiviert, es mildert die Sitten; und milde Sitten sind schon halb reine. Der erste Schritt der Heiligung wie der Zivilisation ist immer gewesen, den Menschenfresser, den Skalpierer, das wilde Tier, das mehr oder weniger in jedem Menschen schlummert, zu vertilgen. Während das Kaffeehaus, das nicht mit dem Wedel vom Höllischen gereinigt ist, abstumpft und verdummt, erzeugt das Theater im Geiste Luftströmungen, die heilsam sind, weil sie die gewöhnlichen Naturen verhindern, völlig zu glauben, dass der Horizont ein grosses Buch ist. Als ich sehr jung war, habe ich nie das Theater verlassen, ohne von Ehrgeiz oder Hingebung, vom Verlangen nach Ruhm oder Gedanken an Entsagung begeistert zu sein, und mein Fall steht nicht allein da. Alles, was den Menschen dem Einfluss des materiellen und gesellschaftlichen Lebens entzieht, ist eine Wohltat: und als Priester würde ich meine Pfarrkinder lieber ins Theater treiben, als ihnen Schenke, Billard, Lotto und andere verächtliche Albernheiten zu erlauben. Wann endlich, grosser Gott, wird die priesterliche Stimme, wie es ihre Pflicht ist, die sie arg versäumt hat und wohl noch lange versäumen wird, rufen: »Meine Brüder, die Verdummung ist gegen Gott, und die Albernheit beleidigt den Heiligen Geist.« Sie werden mir die nackten Brüste und blossen Arme sowie die Trikots der Ballette entgegenhalten. Meine Antwort ist einfach: wer den Leitstern seiner Keuschheit bei diesem Anblick verliert, fällt bei der ersten Gelegenheit, ist von vornherein gefallen. Uebrigens ist die Furcht, welche die Heiligen bewahrt hat und die sicherste Rettung in der Begierde ist, für den Modernen nichts wert; auf die jungfräulichen Jünglinge muß man in der Ehe verzichten, und die weibliche Form, selbst mit ihrer Gefahr, hat eine übersinnliche Tragweite. Die Frauen waren es, die, zuerst gezähmt, ihre wilden Gatten der Barbarei entrissen haben, in den Urzeiten der Geschichte: diese nackten Brüste, die schuldige Gedanken erzeugen, waren es, welche die wilden Männchen bezaubert haben; indem sie auf ihnen einschliefen, haben sie ihre wilden Triebe vergessen. Mag die Heilige nicht an ihre Schönheit denken, aber sie achte sie als ein göttliches Geschenk und beflecke die von ihrem Heiland getragene Form nicht mit Blut. Für den Weltlichen klingen diese Schamhaftigkeiten wie Dummheiten: alles ist rein für die, welche nicht schmutzig sind, und alles ist unrein für die, welche schmutzig denken. Sie haben ohne Zweifel das Geschrei und Getue der Frau Spiessbürger nicht gesehen, wenn man von diesen Künstlern spricht, die den ganzen Tag vor einer nackten Frau verbringen. Erklären Sie ihr, dass der Künstler bei der Arbeit keine Begierde im Auge hat; überzeugen Sie sie, dass diese so warme Seite nur in der reinsten Kälte hat geschrieben werden können: sie wird Ihnen nicht glauben. Versuchen Sie selbst höheren Geistern auseinanderzusetzen, dass es eine geistige Sinnlichkeit gibt, die den Körper nicht erregt; dass es eine feine Wollust gibt, deren Ergötzung keine organische Rückwirkung hat! Man wird Sie weder begreifen noch Ihnen zugeben, dass die Nacktheit einer Schulter, die Bewegungen der Brüste und selbst die Hosenrolle gewisse Naturen entzücken, ohne ihre Begierde zu erregen; ihnen gefallen, ohne sie zu fesseln.

Sein Arbeiteranzug erhöhte die Seltsamkeit seines Vortrags, und die Prinzessin blickte ihn mehr an, als dass sie ihm zuhörte, indem sie das Rätsel ihres Mentors zu durchdringen suchte, in einer Träumerei, die unfähig war, etwas zu erraten.

*

– Steigen wir hier aus, sagte Nebo, als sie in die rue Botzaris kamen.

Eine Drehorgel leierte den Rosenwalzer, der von einem Mädchen mit gebrochener Stimme gesungen wurde, vor einem Publikum von Strassenjungen und Frauen in Schlurren, die ihre Kinder auf den Armen trugen. Rechts grünte der Ausläufer Parc des Buttes Chaumont, parkartig angelegte Höhen im nordöstlichen Paris. des Montmartre unter einem schönen Himmel, von der Sonne beschienen, und entfernte Rufe waren zu hören. Auf der andern Seite der Strasse, den schwarzen Bretterzaun der bewohnten Grundstücke durchbrechend, hisste ein niedriges altes baufälliges Haus, das durch eine Kalkschicht schlecht verjüngt war, auf einer Blechtafel in Buchstaben von Lackfarbe die Parole: »Zum Becher der Liebenden«.

– Treten wir dort ein, bat Paula; das ist vielleicht ein Ort, wo man liebt.

Sie stiessen die mit roten Vorhängen versehene Tür auf und traten in einen weiten Saal, der zur Hälfte getäfelt war. Lämpchen, die an quer gespannten Drähten hingen, deuteten auf Sonntagstänze. Männer in der kurzen Jacke des Hafenarbeiters tranken ihr Liter Wein und assen Brot; eine zweite Glastür führte in einen Garten mit lauter neuen Lauben aus weissem Holze, die darauf warteten, dass sie sich belaubten.

Ganz im Hintergrunde schienen sich ein Mann und eine Frau zu küssen; vor ihnen stand eine Bowle Glühwein, die kalt geworden und fast geleert war. Die beiden jungen Leute liessen sich so nahe wie möglich bei der Gruppe nieder, nachdem sie ein Liter Wein beim Gastwirt bestellt hatten: das war ein magerer und langer Mensch, mit scheelem Blicke, der abends ein gefährlicher Geselle werden musste.

– Lalia, sagte der Liebhaber, du hast unrecht, mich nicht zu erhören; ich würde dir meinen Wochenlohn pünktlich abliefern; statt mit den schlechten Kameraden in die Schnapskneipe zu gehen, würde ich mit dir Glühwein trinken … Macht dir das nichts, wenn du abends heimkehrst … das Zimmer leer findest … niemand ins Bett kommt, um es zu wärmen … Dagegen, im Winter ein Ofen, der brennt … ein Ofen voll Koks und ein schwarzer Kaffee, der darauf kocht … und Kastanien … sagt dir das nichts?

Und Lalia antwortete:

– Wahrhaftig, was du sagst, das blinkt wie ein neuer Sou, aber du bist heute verliebt; morgen wird es rostig sein wie ein alter Sou, wenn es geschehen sein wird … Du zeigst mir Kopf … aber ich sehe Schrift … Schrift, das sind die Kinder … Ich würde mich über alles hinwegsetzen … aber die Kleinen … Und je ärmer man ist, desto mehr kommen; das scheint Absicht zu sein, und es ist doch sehr ungerecht, dass die Armen, die sie nicht ernähren können, mehr davon machen als die Reichen. Nein, siehst du, Lobeau, ich bin zu unglücklich gewesen mit dem andern, ich will nicht wieder anfangen.

– Auf diese Weise, erwiderte Lobeau, lässt du mich verdorren, und ich werde meine Tage verbringen, mich zu entflammen, dich zu küssen, und weiter nichts. Denke nicht daran!

– Ja, denke nicht daran, sagte die Frau, das wäre für uns beide besser.

Sie schmollten: der Mann zündete seine Pfeife wieder an, und Lalia begann eine Zitronenscheibe zu kauen, um sich Haltung zu geben.

– Und die Gedanken, die dir kommen, wie allen andern, was machst du damit? Hast du nicht das Bedürfnis, eine Hand zu ergreifen … eine Brust an dich zu drücken? … Du wirst mir doch nicht vormachen wollen, dass ein Mann und eine Frau nichts anderes tun als Neckereien! Du bist doch keine Zierpuppe?

– In der Hinsicht, nein! Ich will dir nicht verbergen, dass ich manchmal fühle, wie Gluten in mir aufsteigen; und sicher, das kitzelt mich mit dem Verlangen, jemand zu haben, der mich liebt; aber ich denke an die Kinder, und dann … vergeht mir das.

– Wenn du sicher wärest … So sicher, wie diese Bowle eine Bowle ist, werde ich dir keine Kinder machen.

– Dann sage ich nicht nein … aber wie kann man sicher sein?

Lobeau beugte sich zum Ohre, das Lalia ihm hinhielt, und gab ihr mit leiser Stimme eine lange Erklärung, welche die Frau erröten liess.

Er schien seine Sache gewonnen zu haben, sein Gesicht heiterte sich auf, er triumphierte und wurde gefühlvoller.

– Endlich! Ich wusste wohl, dass du vernünftig werden würdest! Seit vierzehn Tagen hole ich dich ab, wenn dein Geschäft schliesst; seit vierzehn Tagen verlasse ich dich bei deiner Tür, wie man es mit den grossen Damen tut: du wirst geliebt wie eine Prinzessin, und du verdienst es, bei meiner Ehre als guter Arbeiter. Ich liebe die kleinen Frauen nicht: da ist kein Platz zum Lieben! Du, du bist ein derbes Weib, du hast einen schönen Balkon, und deine Flügel, wenn sie auch kurz sind, haben mich oft träumen lassen, wenn ich mit dem Auge dein Getrippel verfolgt habe.

Und er küsste sie gierig, dass die Lippen auf den Backen klatschten.

Nebo erhob sich.

– Wissen Sie, was dieser Lobeau so leise seiner Lalia gesagt hat? fragte Paula, die einige Minuten geschwiegen hatte, als sie in den Park eintraten.

– Ich weiss es, aber ich brauche es Ihnen nicht zu sagen: ich müsste Ihnen sonst einen Kursus über Abtreibung halten.

– Oh, mein Gott! rief die Prinzessin. Es war nur einfache Neugier; sprechen wir nicht mehr davon.

*

– Da haben wir den gesuchten jungen Infanteristen, sagte Nebo.

Er zeigte auf einen Soldaten der Linie, der, sich mit seinem Käppi fächelnd, die andere Hand auf dem Griff des Seitengewehrs, eine üppige Person, die einen Kinderwagen schob, geleitete und bezauberte.

Die beiden jungen Leute folgten auf einige Schritte Entfernung diesem Liebesspaziergang.

– Das ist aber sicher, dass er Schwein hat, Ihr Balg, eine Amme zu haben, welche als Marketenderin die Bewunderung eines Regiments erregen würde; nur haben Sie zu schöne Bollwerke für die Uniform, und alle Kompagnien würden aus dem Tritt kommen, um Sie anzuschauen.

– Sie sind ein Schwindler, Herr Soldat, und wenn Sie nicht aus Pontanevaux wären, wie ich aus Romanche bin, würde ich Sie ganz sicher nicht anhören; aber man hat immer etwas in seinem Herzen übrig für die, welche nicht weit von uns geboren sind.

– Die langweilen mich, sagte Paula.

Nebo zweigte ab und liess Paula in die Grotte hinabsteigen.

*

Ueber ihnen brach ein Wortwechsel aus.

– Und ich sage dir: wenn er dich noch einmal so anschaut, werde ich euch beide prügeln! Du bist meine Geliebte; ich habe dich nicht für die andern genommen! Ich kaufe dir Bänder für mein Geld, damit man dich lüsterner anblinzelt, Dirne!

– Du bist betrunken, gemeines Vieh, schrie die Frau.

Man hörte schallende Ohrfeigen, und dann ein Schluchzen. Ein Stück Band fiel ins Wasser; der Mann hatte seiner Geliebten das Halsband abgerissen. Diese liess sich zu neuen Beleidigungen hinreissen, und dieses Mal hallten dumpfe Schläge: die Frau musste am Boden liegen, und ihr Geliebter schlug blind auf sie los.

Nebo blickte Paula an: sie war bleich wie ein Leintuch.

Dann stiegen sie auf den Gipfel des Belvedere, wo sich ein Paar küsste; von dieser Höhe erblickten sie die Kämpfenden vom Gipfel der Grotte.

Starr und beharrlich in ihrer Wut, das blutige Taschentuch gegen ihren Mund haltend, wurde die Frau, deren schwarzes Kleid am Mieder zerrissen war, von dem unsaubern und brutalen Manne verfolgt: von Minute zu Minute versetzte er ihr wie aus Scherz einen Fusstritt ins Kreuz oder in den Rücken. Sie sahen, wie sie sich umdrehte und sich bückte, um mit fieberhaften Händen einen Stein zu suchen; auch ihr Geliebter blieb stehen, zog seinen genagelten Schuh und warf ihn mit aller Kraft. Die Frau stürzte; ohne sich zu beeilen, richtete er sie wild an den Haaren wieder auf, die sich auflösten und auf die Schultern fielen. Die Gemarterte sammelte ihre Kräfte und begann zu laufen; der Mann folgte ihr fröhlich: es schien ihm grossen Spass zu machen, seinen Schuh nach ihr zu werfen.

Nebo blickte nach den sich umschlingenden Liebenden neben ihm: die hatten die Szene mit Interesse verfolgt, und man las auf ihrem Gesicht, dass sie ihnen natürlich vorkam.

– Gehen wir, Paula, es ist Zeit, zurückzukehren, wenn Sie zum Essen der Fürstin-Witwe nicht zu spät kommen wollen.

*

Sie stiegen wieder in die Droschke, die sie im voraus hatten bezahlen müssen, da der Kutscher Arbeitern, die ihn auf die Stunde nahmen, nicht traute.

– Die Frau aus dem Volke ist eine Märtyrerin, rief die Prinzessin, und der ursprüngliche Mensch ein wildes Tier! Ich werde diesen Nero aus der Vorstadt, der seinen schweren genagelten Schuh zehn Male nach seiner Geliebten warf, nie vergessen!

Dann rief sie:

– Ich dachte nicht mehr daran, dass es der letzte Tag meines Unterrichts in der Seelenkunde ist: wann werde ich Sie wiedersehen, Nebo?

– Wenn Sie mir Ihre tiefen Gedanken entschleiern werden.

– Spotten Sie ihrer nicht, bevor Sie die kennen; die sind vielleicht tief genug, um Sie zu verwirren.

– Dann werden diese Gedanken Gefühle sein; ein Gedanke verwirrt nicht in dem Sinne, in dem Sie meinen.

– Gedanken oder Gefühle: verurteilen Sie die nicht, noch entwerten Sie die; ich will sie aussprechen, sie verteidigen und vielleicht von Ihnen teilen lassen.

– Es sei, meine Creata Lionarda, Ihr Verrochio liebt das Licht zu sehr, um es nicht in Ihnen zu begrüssen, wenn es dort leuchtet.


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