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VI.
Die Philosophie im Rauchzimmer

– Heute abend gehen wir zu den Auguren, hatte Nebo gesagt.

Als die Prinzessin das in einen Salon umgewandelte Atelier betrat, das Nergal bewohnte, flog ein Blick heftiger Neugier über die sieben Personen, deren Haltung so verschieden war.

– Nebo und Noroski, sagte Nergal, und sieben Zweige des literarischen Leuchters; die Nachwelt wird ihre Namen erfahren; Ihnen werden sie sich durch ihre Ideen vorstellen.

Und er lud die jungen Leute ein, auf einem türkischen Sofa Platz zu nehmen.

– Das Vorstellen macht mir Angst: diese Konfrontation, die Sie zwingt, Ihr geheucheltes Wohlwollen mit dem zu kreuzen, der es nicht für Sie hat, peinigt mich als Nervenmenschen und demütigt mich als Schriftsteller. Wir sind die Zierden einer Gesellschaft; es hat nicht mehr Sinn, diesen Herren zu sagen, das ist Tanneguy und der andere Cruas, als darauf hinzuweisen, dass dieses Porzellan zur grünen Familie gehört und diese Zeichnung sich Rops nennt. Wir tragen einen äusseren Charakter von Geist, der uns genügend andeuten muss.

– Nergal, der leidenschaftliche Hierarchist, sagte Cruas, ein derber Mann mit einem eigensinnigen Kopf, berühmt durch seine Kraft als Maler in Prosa, ist selbstsüchtig in seiner Inkonsequenz; er hat das Glück, schön zu sein: die Frau, die ihn liebt, wird ihm die Hände küssen. Ich dagegen, wenn ich auch kein Tier bin, habe doch den Bauch und die Hände eines Unteroffiziers. Man ist nicht oft das platonische Anagramm seines Werkes: als Gavarni zum ersten Male Balzac erblickte, hielt er ihn für einen Gehilfen der Buchhandlung, in der er ihm begegnete. Als Raphael seinen Karton der »Schule von Athen« entwarf, besass man noch nicht die griechischen Skulpturen, die man seitdem gefunden: doch die Gesichter, die er sich erdachte, passen besser zu den griechischen Philosophen als die echten.

– Schweig, erwiderte Nergal, du hast die Kraft und die Energie deiner Bücher.

– In deinen Augen und in einigen anderen; aber wir sprechen hier im Salon und nicht in der literarischen Gesellschaft.

– Nergal hat nur die mühsame aber nicht lohnende Arbeit von seiner Geheimlehre, sagte Tanneguy, Graf und Romancier, der Edelmann, der den stärksten Pulsschlag in die Seelenlehre der Ausnahme gelegt hat; er hat die Liebe zum Knopfe und will Mandarin sein; trotz den Schminkläppchen hat er eine Schwäche für dieses heuchlerische und niedrige Volk.

– Dieses, wenn Sie wollen, affenartige Volk, sprach Nebo, ist kein Raubgeselle: ein Gebildeter weigert sich, mit abendländischen Offizieren zu verhandeln, und das zeigt wenigstens, dass er nicht die geisttötende Faust eines Bonaparte erduldet hat, den Kuppler des Todes, der die militärische Prostitution einführte.

– Bonaparte, rief Tanneguy aus, ist der Koloss von Rhodos, am Eingang des Jahrhunderts aufgestellt; man wird den Sockel beschädigen, aber die Bronze wird man nicht ritzen.

– Ja, es ist ein Koloss aus Erz, der Koloss eines Molochs; Monomane des Gemetzels, flösste er seinen Geschmack einem ganzen Volke ein: betrachten Sie ihn als den Schlächter im wahrsten Sinne des Wortes, als den modernen Nimrod; aber beim doppelten Lichte der Barmherzigkeit und der Vernunft erscheint seine Säule als Beinhaus, und die Wendung, die er den Sitten gab, eine Vorbereitung für die Eroberung.

– Dass die blinde Kraft herabgesetzt wird, höre ich gern, seufzte Nergal; tausend donnernde Kanonen machen nicht ein Wort, und der Ruhm breitet seine Flügel nicht über die Schändlichkeit eines spanischen Krieges.

– Die kriegerischen Völker sind die grossen Völker: unter Nationen wie unter einzelnen besteht die Notwendigkeit zu stehlen, um zu hehlen, und zu töten, um zu leben; der Abbé von Saint-Pierre Der Abbé von Saint Pierre hat (1713) eine Verbindung aller europäischen Staaten vorgeschlagen, damit ein ewiger Frieden unter ihnen bestehe« (Rousseau, Emil)., das Schiedsgericht, die europäische Synarchie des Marquis von Saint-Yves Saint-Yves, Mission des Juifs. Paris 1884. sind Träume, die verfliegen angesichts der Lebensbedingungen eines Landes. Ich wundere mich, dass Sie, Nergal, der Sie nicht an Fortschritt glauben, sich den Flausen des alten Hugo hingeben: die passen für eine Mannschaft verdrehter Mechaniker.

Mit ironischer Lippe rief Chavany feierlich betonend:

– Im zwanzigsten Jahrhundert wird der Krieg tot sein, das Schafott wird tot sein, die Grenze wird tot sein, die Dogmen werden tot sein.

Nergal zuckte die Achseln:

– Eine menschenfreundliche Redensart für leichtgläubige Sozialisten; ich behaupte nur zweierlei! Erstens, dass Kaserne und Bordell sich gleichen: an beiden Orten bietet man seinen Leib dem ersten besten, hier für eine Liebkosung, dort für eine Wunde. Nun, ich mache der Gesellschaft das Recht streitig, Soldaten auszuheben, wie man ihr grundsätzlich das Recht bestreitet, Dirnen auszuheben. Der persönliche Dienst im Bordell müsste ebenso Pflicht für alle Französinnen sein wie der persönliche Dienst in der Kaserne für alle Franzosen. Krieg und Prostitution tragen denselben Titel: »Notwendige Uebel.« Im Gedanken des Gesetzgebers ist die Dirne ein Schutz für die Familienehre, wie der Soldat ein Schutz für die Freiheit und die bürgerlichen Güter.

– Mein Lieber, unterbrach ihn Bandol, du sprichst ein unwürdiges Paradoxon aus! Um mich auf deinen Gesichtspunkt zu stellen, werde ich dir einfach sagen, dass der horizontale Dienst der Französinnen dem Staat nutzlos sein würde, während der Dienst der Franzosen, der allerdings auch horizontal endigt, eine Notwendigkeit des Zeitalters ist: wir haben uns entschlossen, nicht zu träumen und uns zu erinnern, dass wir Doktoren der Psychologie sind.

– Ich werde hinzufügen, sagte la Farlède, dass der Staat, als Wirt oder Besitzer betrachtet, das Recht hat, dem einzelnen zu sagen: wenn du die Bedingungen, die ich meinen Gästen oder Mietern stelle, nicht magst, so gehe anderswohin.

Nergal schüttelte sein schweres Haar.

– Ich nehme an, der Staat sei so ruchlos, wie Sie es formulieren; er braucht ebensoviel Soldaten, wie er gesunde Bewohner hat, und die vorm Tornister Angst haben, können nur auswandern. Was aber schadet es dem Staat, dass ich ihm meinen Diener schicke, damit er an meiner Stelle übt und kriegt? Nergal bedeutet für die Aushebung nur einen Mann: gut, er wird diesen Mann stellen. Warum aber will er Nergal in Person?

– Weil der Staat ein Lump geworden ist, jeden Menschen für einen Lumpen hält und nur zu Lumpenwerken taugt, rief Chavany.

– Zweitens behaupte ich, fing Nergal wieder an, das Verpfuschen der Person ist vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt ebenso dumm wie das Verpfuschen der Dinge: mit dem Schwerte Karls des Grossen Holz hacken, den Panzer Heinrichs II. zur Zielscheibe nehmen, aus einer Majolika den Napf für seinen Hund machen, Feuer mit Miniaturmanuskripten anzünden, seine Nachttöpfe aus dem Campana-Museum nehmen, ist genau dasselbe wie einen von uns auf Wache ziehen lassen. China, das Sie so leicht tadeln, Tanneguy, hat längst begriffen, dass es Luxuswesen gibt, von denen man nicht die Abtritte reinigen lässt.

– Da haben wir ja wieder die Mandarinenfrage, sagte Théoule. Bedenken Sie, mein Lieber, dass die Ueberlegenheit, die auf einem Examen beruht, Zöglinge der Normalschule hervorbringt: und wenn man uns morgen ermächtigte, diese Prüfung zu bestehen, wir würden alle unwürdig durchfallen. Ich habe keine Ahnung von der Geometrie; Cruas kennt die Namen der drei Grazien nicht; zählen Sie mir die Marquesas-Inseln auf, Bandol; wieviel Eigenschaften hat die Seele nach den Handbüchern, la Farlède? Malen Sie mir, Chavany, das politische Bild Frankreichs unter Ludwig dem Dicken! Nein, ich sage es Ihnen, wir würden das Studentenexamen nicht bestehen, und doch sind wir der allgemeinen Ansicht nach so beschaffen, dass wir den Grossen zu dieser Stunde gleichkommen.

– Sie haben hundert Male recht, Théoule; auch würde mein Mandarinentum ausschliesslich auf dem geschriebenen Werk, auf dem Buch fussen; und auf der öffentlichen Erörterung vor seinesgleichen, zur Prüfung, ob man auch der Verfasser ist. Denken Sie, dass wir unsere Romane nicht mündlich erklären und durch die sozialen Fragen, die sie aufwerfen, und die seelischen Probleme, die sie aufstellen, die Wirklichkeit unseres Adels nachweisen könnten?

– Ihre Idee scheint glänzend zu sein, sagte Bandol, aber wir sind in Frankreich, wo der Romancier nicht als ernster Schriftsteller gilt; die Professoren, die schwer verdauliche Oktavbände über das Studium des Menschen schreiben, würden sich entehren, wenn sie Balzac oder d'Aurevilly zitierten. Man muss einen Entschluss fassen, sich durchsetzen, dann sein Nest bauen und kühlen Wein trinken.

– In einer so anarchischen Gesellschaft, wie unsere ist, muss ein Schriftsteller sich vor allem die Hände waschen und die der Frauen küssen. Der unglückliche Nergal versteift sich darauf, seine Bolzen auf Menschen zu werfen, die unempfindlich sind bis auf ihr Interesse: das mag schön sein als literarisches Mittel, aber als Wirkung auf das Publikum ist es nichts.

– Aber wir alle sprechen doch nicht in die Kulissen, wenn wir schreiben, erwiderte Nergal; unser wahrer Leser ist nicht, der uns kauft, sondern der uns liebt.

– Also, rief Tanneguy, der wahre Leser ist die Dame von gutem Willen. Der Lorbeer ist nur gut, um die Myrte anzuziehen, und meine wirklichen Verfasserrechte sind die Gunst, die ich bei den Frauen geniesse.

– Wie, rief Cruas, Sie denken an die Phantasie der Cydalise und an die Lenden der Lisette, wenn Sie eine Seite meisseln? Das ist die poetische Kunst Mussets, in seiner »Namouna«:

Das Singspiel lebe, in dem Gretchen weinte!

– O nein, ich lege nicht mein Verdienst ins Klopfen der Mieder, ich lege meine Freude darein! Schieben wir die Frage des Geldbeutels beiseite: was macht es mir aus, fünfhundert Leser in Lyon und selbst zehn in Grand Gallargues oder in Port-de-Bouc zu haben? Welche Wonne würde es mir eintragen, so bekannt zu sein wie Bornibus, der Senffabrikant, oder Menier, der Chokoladenmann? Der Verfasser wird sich herausziehen, wie er kann, im Laufe der Jahrhunderte, der Mann aber in mir sieht nur einen Aufstieg zum Kapitol, dessen Siegeskrone aus schönen nackten Armen besteht.

– Immer die plastische Frage wie in »Mademoiselle de Maupin« Roman von Gautier, deutsch erschienen., erwiderte Cruas; Sie, Tanneguy und Nergal, Sie schaffen das Werk eines Idealisten, ein lyrisches Werk; ich bin Analytiker, ich besitze das klare tiefe Sehen, aber ohne hübsch närrische Flügel: ich fühle mich schlecht behandelt in Ihren Lösungen.

– Hören Sie, Paula, sagte Nebo; auf dem Punkt, wo die Herren jetzt angelangt sind, werden sie Ihnen ein bemerkenswertes Gespräch über Einweihung in die Leidenschaft geben.

La Farlède, blond und schlank, dessen Anmut sogar die strenge Zeitung »Des Débats« bezaubert hatte, ja sogar die gichtische »Revue des Deux-Mondes«, der einzige Junge, den die Alten zuliessen, der Hahn unter den akademischen Kapaunen, stand auf, um seine Zigarette wieder anzustecken.

– Tanneguy ist besonders begabt; aber für mich, der ich nicht dieselben körperlichen und künstlerischen Beschränkungen habe wie Cruas, ich muss gestehen, im Boudoir seine Helden zu spielen, das ist der letzte der Berufe. Die Frau, die einen Schriftsteller will, will ihn nach seinen Büchern; nun, meine sind fromm vor Liebe; also bin ich in der Frauengunst. Bestürzt, wie Buridans Esel, weiss ich nicht, ob ich die ätherische Leidenschaft des Werkes fortsetzen oder rücksichtslos lieben soll, nicht im Geiste, sondern fleischlich und geil.

– Sie rühren, sagte Bandol, an die wichtige Frage: was ergibt sich aus den geschlechtlichen Beziehungen? Sind Sie der Geliebte Ihrer rechtmässigen Frau oder einer Frau, wie sie sein soll, ist es Ihnen nicht möglich, Sie selbst zu sein: sich selbst sein in der Sinnenlust heisst immer Egoist sein, etwas brutal und mit gemeinen Gebärden. Sobald es sich um einen Nimbus zwischen Ihnen beiden handelt, muss man heucheln: seine Gefühle abhobeln und ganz geziert, ganz gezuckert, ganz herzlich sein, vom Kopf bis zu den Füssen. Man muss träumerisch eine blonde Flechte auflösen, wenn man unter den Röcken mit dem Feuer spielen möchte, wie ein Soldat im verrufenen Hause. Schliesslich muss man die Situation retten und die Frau muss in einen Traum fallen, der so süss ist, so anwächst, dass sie, wenn die Sache geschehen ist, aufwachen und sagen kann: »Wo bin ich? … Habe ich nicht geschlafen? … Das ist ein Traum.« So sehr verwickelt diese Heuchelei den Liebesakt, dass dieser Gedanke allein mich erschreckt. Sehen Sie, Tanneguy, Sie haben mich neulich bei einer niedrigen Hurerei getroffen; ich hätte indessen an feinem Orte mit einer zierlichen Dame sündigen können; sobald ich aber eine Frau mit solcher Kunst besitzen muss, durchnässt mich der Schweiss und die Arme sinken mir. Der männliche Ehebruch, die Untreue des Mannes, hat in den meisten Fällen keine andere Ursache.

– Aber, wagte Paula, und bei diesem Wort wendeten sich alle Blicke ihr zu, ohne dass sie sich erregte, wenn man von vornherein zugibt, dass Stunden der Tierheit kommen und dass man seinen Nimbus zurücknimmt, wenn man geht.

– Das Unglück, mein Herr, sagte Tanneguy, liegt darin, dass der Nimbus ein verzaubertes Kleid ist, das seine Kraft für immer verliert, wenn man es einmal auszieht. Da in jeder Sache der Stolz nur bestimmt, bleiben wir auf unserm Piedestal, und sei es der niedrigste der Schemel; und um Eitelkeit und Unzucht zu versöhnen, macht man es wie Bandol: man flirtet an hoher Stelle und man verübt es im unteren Stockwerk.

– Eine andere Tatsache, die noch nicht vom Buch eingestanden wurde: in einer Nacht der Alkmene gibt es wenig Vergnügen für Zeus-Amphitryon: ihr Wert, so oft vervielfacht, ist durch die Eigenliebe allein. Welcher Grund könnte den Mann mehr anspornen, sei er ein Genie oder nicht, als die Mannbarkeit, die seine Frau niederwirft und sie um Gnade bitten lässt? Dieser ganz körperliche Zauber ist die geheime namenlose Anziehung, die der Typus des Don Juan ausübt. Er ist immer der Mann einer heraklidischen Nacht, und darin liegt das ganze Ideal, das er einschliesst: eine ins Gleichgewicht gebrachte Satyriasis Krankhafte Begattungswut des Mannes..

– Sie werden mir zugeben, sagte Cruas, ohne mich des Materialismus zu zeihen, dass für uns Männer des Gedankens die verehrten Albernheiten der Liebe, ihr Papageiengeschwätz, das sich zusammensetzt aus Worten wie: »Sag, du liebst mich … Geh, ich liebe dich! … Mein Engel, meine Liebste!« weniger Reiz hat als für den gewöhnlichen Menschen.

– Augenscheinlich, sagte Chavany, muss man den Leidenschaften unseres Lebens die Leidenschaften unserer Bücher hinzufügen; als ich meinen Schmöker »Die Insel der Küsse« geschrieben hatte, war ich wie erschöpft. Der gewöhnliche Sterbliche bringt in die Liebe seine ganze Idealität: wo sollte er die sonst aufwenden? Wenn wir andern nicht die Verderbtheiten der Uebersättigung mitbringen, ist es die Geilheit, die wir verlangen. Das Weib ist die Rückwirkung, die der Missbrauch unseres Gehirns ausübt, und die Entspannung des Körpers, während für die andern die Frau wirklich die ganze Leier bedeutet.

– Eine andere Eigenschaft, die in unseren Seelen aufzuzeichnen ist: unserer Ueberlegenheit sicher und mit der Literatur legitim verbunden, betrachten wir die kirchliche Ehe als eine Treulosigkeit gegen die Literatur, unsere Moira Griechische Schicksalsgöttin, bei Homer.. So können wir nur das anspruchslose und anbetende Wesen lieben, das in unserm Leben keinen Platz einnimmt.

– Ich habe mich immer, erzählte Nergal, an eine Predigt erinnert, die ich hörte, als ich Jesuitenschüler war. Der Prediger schilderte uns ein kleines Kind aus der Zeit der Christenverfolgungen, dem man eine Hostie anvertraut hatte, damit es die in eine Katakombe bringe. Als es andere Kinder spielen sieht, vergisst es sich und hält sich bei ihnen auf. Sobald es sich aber auf den kostbaren Schatz besinnt, kreuzt es die Arme auf der Brust und will fliehen. Die Jungen wollen wissen, was das Kind trägt, und verfolgen es, indem sie es kneifen und schlagen. Das Kind aber hält, trotz den Schlägen, die schwachen Arme, die sich mit Blut bedecken, unüberwindlich auf der Brust gekreuzt, wo in einer Kapsel die göttliche Hostie hängt. Wenn ich eine Stimme in mir habe erwachen fühlen, ist mir diese rührende Geschichte wieder eingefallen, als das Gleichnis für den Dichter und den Künstler. Wir bleiben auf dem Wege des Lebens bei den schlechten Spielen der Liebe stehen; wenn man aber an unsere Hostie rührt, an das Werk, an dieses Wort der Schönheit oder der Barmherzigkeit, das uns anvertraut ist, dann kreuzen wir unsere Arme auf der Brust und können leiden und feig sein, um das göttliche Gedicht, das wir tragen, zu retten.

– Ihre Schilderung öffnet mir eine Perspektive, sagte la Farlède, wie der Mann des Gedankens in dem intimen Kampfe unterliegt: er macht Zugeständnisse wie Ludwig XVI., nimmt das Glas Wein an und setzt die Freiheitsmütze auf.

– Angenommen, eine Frau, Gattin oder Geliebte, ist sich dessen bewusst, dass wir Reliquienträger sind, könnte sie, ohne zu sehr zu leiden, uns die Flügelweite unserer Persönlichkeit lassen? Es kommen oft Stunden, in denen die Gleichgültigkeit aus unserer Haltung durchsickert, wie die Feuchtigkeit aus einer Kellermauer, und diese Stunden sind für eine Frau schwer zu ertragen.

– Schadet nichts, sagte Nergal. Der weniger Begabte von uns hat auch Stunden, in denen er einen Zauber ausstrahlt, in denen eine Phosphoreszenz der Liebe von ihm ausgeht; wir sind gewöhnlich schlecht, aber wir können Seele und Leib solche Feste geben, deren Erinnerung ein ganzes Leben erleuchtet.

– Ja, sagte Théoule, wir haben die seltsame Fähigkeit, augenblicklich wieder jungfräulich und jung zu werden: ein Cherubin Cherubin, der Page in Mozarts Oper, ist eine Lieblingsgestalt Peladans. geht aus unserem Ekel hervor, und wie rührend ist seine Romanze an die Gräfin, als die schöne Patin sich zur rechten Zeit einfindet.

– Wenn wir Grog brauten, meine Pairs, sagte Nergal, einen Teetisch auf Rollen heranschiebend, der mit Flaschen und Gläsern beladen war.

In der Bewegung, die diese Einladung hervorrief, sagte Nebo zu Paula:

– Sie haben Tanneguy und Cruas gelesen, den Romantiker und den Positivisten des Studiums der Leidenschaft?

– Ich kenne auch Théoule und La Farlède; aber Bandol, wie ist dessen Art?

– Die Ironie auf wissenschaftlicher Grundlage, die lyrische Ironie, die so hochmütig ist, dass sie sich in ihrer Schärfe nicht gewahr wird.

Nergal wendete sich ihnen wieder zu.

– Tanneguy fragt mich, wer der schöne junge Mann ist, der Sie begleitet?

– Es ist ein Schüler, der sich unterrichtet, indem er Sie hört, meine Meister, sagte Paula keck.

Alle wechselten einen Blick; die Verkleidung war entdeckt.

– Wir haben unsere höhere Instanz in der Moral bestanden, sagte Tanneguy.

– Oh, Sie sind alle ausgenommen: als Luxuswesen.

Bandol näherte sich.

– Graf Noroski, wenn Sie wirklich hierher gekommen sind, um zu lernen, so befragen Sie Ihre sechs Professoren über die Gegenstände dieses besonderen Lehrfaches, in dem Herr Nebo Rektor ist.

– Mein Gott, erwiderte Paula, wenn ich Ihnen Fragen stelle, sieht es so aus, als spielten wir ein Gesellschaftsspiel.

– Einerlei, wie es aussieht, sagte La Farlède, wenn wir Ihnen nur gefällig sein können.

– Nun denn, meine Herren, rief Paula, erklären Sie mir die Liebe, sechs Male, jeder einmal. Herr Tanneguy, beginnen Sie.

– Die Liebe, das ist die stärkste Erregung, die das Leben geben kann, und die einzige, die einen den Tod wünschen lässt, wenn man sie empfindet, sagte Tanneguy.

– Die Liebe, das ist ein Vertrag zwischen einem Engel und einem Tier, der zu einem doppelten Zusammenbruch führt, sagte Bandol.

– Die Liebe, sagte Cruas, ist ein Vorwand, den der Mensch sich gegeben hat, um sich von anderen Säugetieren zu unterscheiden.

– Die Liebe, das ist das Ideal in Kupfergeld, sagte Théoule.

– Ein Traum, der immer mit Albdrücken endet, sagte Chavany.

– Eine Blase oder eine Laterne Sprichwort: »Laternen für Sterne, Blasen für Laternen halten.«: man hat nie recht gewusst, welche von beiden, schloss La Farlède.

– Nehmen Sie mich, wie bei Herrn de Goncourt, für ein Publikum? rief Paula. Sie geben mir geistreiche Redensarten, die wenig treffend sind, wenn ich tiefsinnige Lösungen haben will.

– Mein lieber Herr, glauben Sie, dass man immer die Taschen voll tiefsinniger Lösungen hat? eine Lösung, selbst eine oberflächliche, das wäre sehr hübsch.

Nebo bewunderte, dass Paula darauf verzichtete, bei diesem »Gastmahle« die Rolle der Diotima Diotima, in Platons »Gastmahl« der erdichtete Name der Priesterin, von der Sokrates die Ideen über das Wesen der Liebe gehört haben will. zu spielen, die leicht war, wenn sie das hersagte, was er ihr gelehrt.

– Vorhin haben Sie Erlebtes und demgemäss Lehrreiches gesagt; jetzt, da Sie einen Schüler zu unterrichten haben, scherzen Sie.

– Ihre Schuld, sagte Cruas; Sie stellen ein abstraktes Ziel auf, wir schiessen mit blossem Pulver; wenn Sie uns aber nach konkreten Dingen fragten …

– Nach konkreten? Nun, ist es wahr, dass die lange Vorrede das beste am Buche der Leidenschaft ist?

Darüber herrschte Einstimmigkeit.

– Glauben Sie, dass die Empfindung in ihrer Fülle vorhanden ist, ausser der Leidenschaft, in der Ausschweifung?

– Offenbar, erwiderte Bandol, um so mehr, als sie allein darin ist.

– Verständigen wir uns über die Fülle der Empfindung, sagte la Farlède; oft erst beim fünfzigsten Stück gibt die Stradivariusgeige Paganini selbst ihre ganze Note.

– Die Empfindung hängt immer vom Zustande des Gehirns ab, sagte Tanneguy; der Gedanke, dass man ein Wesen umfängt, das selten umfangen wird, verwandelt den Besitz.

– Etwas anderes, unterbrach ihn Paula mit weiblicher Herrschsucht: sagen Sie mir, jeder von Ihnen, welche Frau Sie fesseln würde.

– Ein Engel, dessen Teufel ich wäre und den ich verdammen würde, sagte Tanneguy.

– Eine Dirne, die für jeden andern spröde ist, nur für mich nicht, sagte Bandol.

– Eine Frau aus dem Harem, die nicht lesen könnte und deren Sprache ich nicht verstünde, erklärte Cruas.

– Die Fee in Teilen, sagte Théoule, eine Schöne in der Nacht, Matrone am Tage.

– Ich, sagte Chavany, ich verlange die Freundin mit den Hüften, nach dem Ausdruck Baudelaires.

– Wahrhaftig, Chavany, du hast mir mein Programm gestohlen, das aller geistigen Arbeiter. Das Ideal, das ist die Sicherheit und die Nachsicht in der Liebe; nicht die Schwesterseele, aber der Brudergeist; der Gefährte, der ein Geschlecht erst gegen Mitternacht wiederfindet; der Freund, der die ebenso ehrliche wie sanfte Hand besitzt, der stützt und tröstet, der vor allem verzeiht. Verzeihen in der Liebe, ungeschicktes Benehmen verzeihen, Gleichgültigkeiten verzeihen, selbst die Untreue verzeihen, das, das würde uns fesseln, indem es uns zur Anbetung niederwirft. Das aber, Kameraden, ist der Traum des Androgyns; der wohnt im Lande der Mandragorabäume und der blauen Dahlie; das ist zugleich der Engel des Tanneguy, die Geliebte des Bandol, die Schweigende des Cruas, die nächtliche Schöne des Théoule; das ist alles Gute und alles Schöne! Ist das nicht auch Ihr Traum, Herr Nebo?

Nebo neigte ernst das Haupt; eine Stille trat ein, welche die Prinzessin verlegen machte; ein Zauber ging von ihr aus, in den sich die sieben Schriftsteller verliebten: sie sahen sie so, wie la Farlède gesagt hatte.

Nebo fühlte, wie sie der Groll des Mannes umfing, der seinen Wert bewiesen, aber von einem Wesen ohne Werke übertroffen wird. Lebhaft verteidigte sich Paula gegen diesen schlechten Gedanken.

– Der Androgyn sinkt, wenn er um Mitternacht Weib wird, Herr la Farlède: das Androgynentum besteht nur um den Preis, dass das Geschlecht verneint wird; bejaht man es, hat man nur noch eine Frau; die Flügel fallen, das Bett öffnet sich, nur das Alltägliche bleibt übrig.

– Aber bringt das Morgengrauen das Androgynentum nicht wieder?

– Haben Sie nicht vor einem Augenblick gesagt, wenn dem natürlichen, das heisst tierischen, Menschen einmal der Nimbus genommen ist, kehre er nicht zurück! Man muss wählen: entweder die geschlechtliche Leidenschaft mit allen ihren Folgen oder die Nichtgeschlechtlichkeit mit allen ihren Entsagungen. Sobald man etwas Seltenes will, setzt man sich grossen Anstrengungen aus! Wenn man behauptet, ein und derselbe Körper umfasse den Widerspruch Geliebte und Kamerad, so täuscht sich das Urteil.

– Sie scheinen recht zu haben, Graf Noroski, sagte Bandol: sowohl im Verkehr wie in allen sozialen Schichten gibt es Frauen, welche die Oberflächlichen gute Mädchen nennen, die aber nur die Münze der Ninon de Lenclos sind. Man erkennt sie daran, dass sie sich sofort oder nie hingeben und einen ohne Hass und ohne Erpressung verlassen. Das sind keine Androgyne, zwischen den Seiten Swedenborgs Balzac, Seraphitus-Seraphita, siehe Strindberg, Legenden. oder Platons aufgeblüht, aber wohl die einzigen Geliebten, deren Erinnerung ohne Bitterkeit ist.

Das Gespräch schlief ein; das Wort erstickte unter dem Gewicht des Gedankens, eine Träumerei senkte sich auf alle herab; man hätte sie für einen Klub Haschischraucher halten können; oder vielmehr schien die Prinzessin in eine Narghileh, eine türkische Wasserpfeife, verwandelt zu sein, aus der jeder die Chimäre seines Herzens sog. Ruhig und lächelnd unter diesen Blicken, die liebten und nicht begehrten, wurde das wunderbare junge Mädchen weder verwirrt, noch errötete es. Pauline Borghese Sass Canova als Venus., so stand sie diesen Schriftstellern vorm inneren Auge, und es lag ein solcher Respekt in deren Betrachtung, es war eine solche geistige Gemeinschaft, dass das Schweigen feierlich wurde: eine religiöse Rührung liess die Zigarren erlöschen, machte die Stellungen unbeweglich.

Cruas, auf einem Rauchstuhle reitend, das Kinn in den Händen, den Kopf in die Schultern eingezogen, nahm vielleicht zum ersten Male die Empfindsamkeit der Liebe wahr. La Farlède, seinen feinen Blondkopf zurückwerfend, schloss halb die Augen in einer Blendung der Leidenschaft. Tanneguy, die Hände auf die Schenkel gestützt, vorwärtsgebeugt, das Auge starr und übermässig geöffnet, schien, wenn er seine schweren Lider senkte, Gehirnphotographien zu nehmen. Chavanay kräuselte seinen seidenweichen Schnurrbart, mit dem wollüstigen Lächeln, mit dem er geistige Vergnügen kostete. Théoule und Bandol warfen einander Blicke zu, wie Künstler einander mit dem Ellbogen stossen, wenn sie bewundernd vor einem Meisterwerke stehen. Nergal, an den Kamin gelehnt, die Arme gekreuzt, schien Rätsel zu kauen.

Eine Sonne von Stolz erhob sich in Paulas Seele; ihre blosse Anwesenheit hatte die schärfsten, die unabhängigsten Gedanken unterworfen: in der Liebesstrahlung, die von diesen hochstehenden Männern ausging, sah sie endlich das Genie Nebos, und mit einem Blick, dessen Kühnheit dankbar war, bot sie dem Platoniker die Huldigung dieser Geister.

Diesen Blick fingen alle auf; einen Augenblick ihre Augen von der Prinzessin wegwendend, betrachteten sie den Platoniker mit dem Erstaunen des Künstlers, der gezwungen ist, sich vor einem nicht schaffenden Wesen zu verbeugen; mit dem Erstaunen des Schriftstellers, der eine Handschrift bewundert. Eine Minute lang erschien ihnen diese übernatürliche Erziehung grösser zu sein als ihr Werk.

– Wer von uns würde, wenn er ihn leben könnte, einen solchen Roman schreiben? rief Nergal aus, als Nebo und Paula mit schweigendem Grusse gegangen waren; denn für diese Doktoren der Empfindungen hätte ein ungeschicktes Wort und die Alltäglichkeit des Händedruckes dieser traumhaften Stunde etwas genommen.

– Sie sind verstummt, Pygmalion, sagte die Prinzessin zu Nebo; die Galathea zeugte von ihrem fruchtbaren Geiste; unten auf meinem Beinkleid haben die Herren gelesen: Nebo fecit! Ich wusste nicht, dass Sie in mir so grosse Dinge vollendet haben. Vom Gesichtspunkt der Erziehung dagegen bin ich enttäuscht worden: diese Kliniker der Seele, diese Priester der Empfindsamkeit haben mir nicht das geringste enthüllt.

– Kind, sagte Nebo, indem alle Sie verehrten, haben diese Magier der Kunst in Ihnen das höchste Geheimnis gegrüsst, das Dante in der Beatrice seines Paradieses verkörperte. Romantisch oder sinnlich, haben Ihnen alle sechs besser als durch Reden das letzte Wort der Einweihung in die Leidenschaft gesagt.

– Ich hab's, rief Paula, in der die Erinnerung an das letzte Gespräch des »Periplus« Periplus (griechisch), Umschiffung, hier die Umschiffung von Paris, die Nebo mit Paula in Peladans Roman »Weibliche Neugier« unternimmt. aufstieg: das Glück kommt, wenn man das vegetative Leben einschränkt, das leidenschaftliche Leben auslöscht, um mit allen Kräften das geistige Leben zu entwickeln, welches das der Engel ist: was sich ins Androgynentum auflöst, das ich jenen vorstelle.


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