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Im englischen Parlament.

Es fielen zwei große Tage für die Londoner Bevölkerung zusammen. Am Morgen war die heldenmütige Besatzung der beiden deutschen Kanonenboote »Tsingtau« und »Vaterland« an Bord des englischen Dampfers »Colombo« in Portsmouth eingetroffen; mittags rüstete sich die englische Hauptstadt zum Empfang der deutschen Gäste. Und an demselben Tage hatte im englischen Unterhause der Hauptredner der Opposition eine Interpellation der Regierung, wegen der Besetzung des Hafens von Bender-Abbas an der persischen Küste durch die russische Flotte angekündigt. Die Nachricht von der russischen Flaggenhissung war zwei Tage zuvor in London eingetroffen und hatte dort große Erregung hervorgerufen.

Der Sitzungssaal des Unterhauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst hinter den Sitzreihen standen noch Abgeordnete, andere säumten die Galerien. Lautes Stimmengewirr durchschwirrte den hohen Raum, das noch mehr anschwoll, als der Staatssekretär des auswärtigen Amtes, der sich zur Beantwortung der Interpellation bereit erklärt hatte, seinen gewohnten Platz einnahm und vor sich auf den Tisch des Hauses eine Aktenmappe niederlegte. Es lag etwas wie Krisenstimmung in der Luft. Der Lärm verstummte, als sich nunmehr der Redner des Tages erhob.

Er gab zunächst einen kurzen Überblick über die Kriegsereignisse des letzten Jahres. Noch einmal entrollte sich das gewaltige Drama des Riesenkampfes vor seinen Zuhörern, dann zog er, unter Beifallsrufen seiner Parteigenossen, in kurzen, knappen Sätzen die Bilanz dieser Ereignisse: »Die Regierung hat dies Land«, sagte er, »mit allzugroßer Leichtherzigkeit in einen Krieg hineingeführt, dessen Folgen sie nicht übersah, die sie aber bei vorsichtiger Einschätzung der politischen Lage und der Kräfte unserer Gegner hätte voraussehen müssen. Doch an der Vergangenheit ist nichts mehr zu ändern. Fassen wir das Ergebnis des Krieges zusammen, so ist es das folgende: Die Vernichtung des größten Teiles der deutschen Flotte hat unserer Marine schwerere Verluste gekostet, als wir bei Beginn der Feindseligkeiten erwarten durften. Wir sind stolz auf unsere Erfolge zur See. Aber die Marine Kaiser Wilhelms hat mehr geleistet als wir glaubten. Ein Drittel unserer Schlachtflotte liegt am Grunde des Meeres, ein Drittel unserer Panzerschiffe befindet sich im Dock zur Reparatur, und die schwere Artillerie der noch gefechtsfähigen Schiffe ist so sehr durch den Kampf mitgenommen, daß sie kein Seegefecht mehr riskieren kann. (Lebhafte Unruhe im Hause.) Ich verrate keine Geheimnisse. Es ist allgemein bekannt, daß die Lebensdauer der schweren Geschütze auf unseren Linienschiffen sich nur auf eine beschränkte Anzahl von Schüssen erstreckt, und diese ist überall fast erreicht. Sehen wir ab von den Neubauten, die auf unsern Werften ihrer Vollendung entgegengehen, so ist unsere Schlachtflotte, die aus dem Kriege zurückgekehrt ist, wehrlos, sie kommt für einen Kampf zur See nicht mehr in Betracht, bis sie neue Geschütze erhalten hat.

Also ist es das Ergebnis des Krieges, daß dieses Land die Seeherrschaft auf dem Ozean verloren hat auf kürzere oder längere Zeit. (Unruhe im ganzen Hause.) Wir müssen ehrlich sein gegen uns selber und das nicht übersehen, was andere auch sehen. Daß die französische Flotte noch mehr gelitten hat als unsere, ist kein Trost für uns, und auch die Vernichtung der deutschen Marine kann uns für den Verlust der britischen Seeherrschaft nicht entschädigen. Es gibt heute nur noch eine große Flotte auf dem Ozean, das ist die Flotte der Vereinigten Staaten. (Der Redner wird mehrfach unterbrochen und macht eine längere Pause.) Was dieser Erfolg des Krieges für England bedeutet, will ich nicht weiter erörtern, es genügt, die Tatsache festzustellen.

Deutschland befindet sich in ähnlicher Lage wie wir. Ehemals die größte Militärmacht in Europa, hat es diesen Rang für eine Zeit wenigstens an Rußland abtreten müssen. Diese beiden Tatsachen bedeuten nichts mehr und nichts weniger, als daß die Entscheidung über die Geschicke der Welt nicht mehr in der Hand der beiden Seemächte der germanischen Völker liegt, nicht mehr bei England und Deutschland steht, sondern zu Lande Rußland zugefallen ist und zur See von der amerikanischen Union abhängt. Petersburg und Washington sind an die Stelle von Berlin und London getreten. Darum haben wir dreiviertel Jahr gekämpft. Darum haben wir Hunderttausend Soldaten auf französischer Erde begraben, darum sind unsere Flotten in den Wogen der See versunken. Ich klage die Regierung nicht an; ich folge dem alten Wahlspruch unseres Volkes Right or wrong, my country! (Vereinzelte Cheers.) Dieser Krieg hat der Vormacht des Slaventums und der anspruchsvollen uns nicht freundlich gesinnten Regierung der Vereinigten Staaten, ohne daß sie einen Finger zu rühren brauchten, zu einer Weltmachtstellung verholfen, die wir zurückerobern müssen (laute Cheers), in der Zukunft zurückerobern müssen, denn heute ist unsere Flotte zu schwach.

Was kann uns die Vermehrung und Konzentrierung unseres afrikanischen Kolonialbesitzes für solche Verluste entschädigen? Wir müssen unsere Kolonien in Afrika von neuem erobern. Ebenso Deutschland und Frankreich. Ich spreche nicht von Riesenverlusten unseres Handels, von den finanziellen Einbußen durch die Belastung unseres Budgets mit den unerhörten Ausgaben für diesen Krieg. Und sind wir unseres Besitzes sicher? Ich erinnere das Haus an das, was sich in Südafrika, in Canada, in der Commonwealth von Australien vorbereitet. Ich erinnere daran, daß Kolonien nicht dankbar sondern anspruchsvoll sind. Was soll daraus werden? (Lebhafte Bewegung im ganzen Hause.)

Das Gespenst der Sorge um Indien ist der Hausgeist der englischen Politik. Verlieren wir Indien, so wankt uns der Boden unter den Füßen. Jetzt weht die russische Flagge über den Strandbatterien von Bender-Abbas. Unsere indische Bastion wird durch die russische Erwerbung flankiert. Sollen wir das dulden? Verträgt das die Ehre dieses Landes? (Rufe: Nein, nein!) Wir dürfen nicht mehr Nein sagen. Wir müssen Ja sagen (Lebhafter Widerspruch). Wir müssen Ja sagen, weil wir dieses Land nicht um einen persischen Hafen in einen neuen Krieg stürzen dürfen, in dem wir ohne Verbündete dastehen. Oder ist das Bündnis mit Japan mehr als ein wertloses Stück Papier. Wir müssen uns abfinden mit der Tatsache, daß Bender-Abbas Rußland gehört, daß Persien eine russische Interessensphäre ist. Wir dürfen nicht in denselben Fehler verfallen wie im Winter vorigen Jahres, als wir glaubten, die Welt sei zu klein, als daß große Völker nebeneinander existieren könnten. Für Deutschland war neben England Raum genug, jetzt hat Amerika uns beiden den Platz eingeengt. Für Rußland ist auch neben England Raum genug in Asien. Wir erwarten, daß die Regierung in Petersburg die Verhandlungen in diesem Sinne führt. Wir dürfen dann hoffen, daß Bender-Abbas ein Ventil für das russische Expansionsbedürfnis wird, daß hier das Streben Rußlands nach dem Meere ein Endziel findet und daß dadurch die afghanisch-indische Grenze von einem unerträglichen Druck entlastet wird. Wenn Englands Ehre angetastet wird, steht die Bevölkerung dieses Landes zusammen wie ein Mann, wir sind gewohnt für die Macht und Herrlichkeit des Vaterlandes das Letzte zu opfern. Hier handelt es sich aber nicht um unsere Ehre, sondern um unseren Ehrgeiz, um den Verzicht auf ein Phantom, um den Verzicht auf einen Besitz, der uns nie gehört hat. Und wir sind heute nicht mehr reich und mächtig genug, um einen Krieg zu führen, der nur unsere nationale Eitelkeit befriedigen kann«.

Donnernder Beifall folgte diesen Worten auf beiden Seiten des Hauses. Die Abgeordneten drängten sich an den Redner heran, schüttelten ihm die Hände und sprachen eifrig auf ihn ein. Es war kein Zweifel, er hatte allen aus dem Herzen gesprochen, die bitteren Wahrheiten, die man in so klaren Sätzen eben gehört, hatten ihren Eindruck nicht verfehlt. Von dem lauten Stimmengewirr wurde die Ankündigung des Sprechers des Hauses, daß der Staatssekretär des Äußeren nach fünf Minuten die Interpellation beantworten werde, völlig übertäubt. Überall standen Gruppen der Abgeordneten in lebhaftem Gespräch zusammen. Durch die hohen Fenster des Sitzungssaales tönte von draußen her das dumpfe Brausen des Straßenverkehrs herein, wie der ewig gleiche Tonfall der Meeresbrandung. Jetzt schwoll diese einförmige Melodie auf dem Resonanzboden der Riesenstadt zu größerer Stärke an, laute Cheers erschollen draußen und dann setzten in der Ferne die schmetternden Klänge einer Militärkapelle ein. Geleitet von dem stürmischen Willkommengruß der Londoner Bevölkerung zogen die deutschen Marinesoldaten in London ein. Noch lauschte man im Sitzungssaale diesen ungewohnten Tönen, da erhob sich der Staatssekretär des Äußeren von seinem Platze:

»Das sehr ehrenwerte Mitglied des Hauses hat die Meinung seiner politischen Freunde in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die sich, wenn auch in weniger schroffer Form, mit den Anschauungen des Ministeriums, welches ich zu vertreten die Ehre habe, deckt. Die Regierung dieses Landes weiß die bedauerlichen Folgen des Krieges vollauf zu würdigen, sie gibt sich über den Zustand unserer Seemacht keinen Täuschungen hin und ist ebenfalls der Ansicht, daß es gefährlich wäre, sich auf irgendwelche politische Experimente einzulassen, die das Land in neue unabsehbare Verwicklungen stürzen könnten. Die Besetzung von Bender-Abbas durch das russische Geschwader bedeutet an sich keine Bedrohung unserer indischen Machtstellung. Wenn die Richtung der russischen Expansionspolitik durch die Einnahme von Bender-Abbas eine andere wird, so wird England keinen Einspruch dagegen erheben, unter der Voraussetzung, daß Englands Interessen in Persien – die keine politischen sind und es nie gewesen sind – nicht beeinträchtigt werden. Unser Botschafter in Petersburg ist in diesem Sinne beauftragt, eine Erklärung der russischen Regierung zu fordern. Sobald diese erfolgt, werde ich dem Hause weitere Mitteilungen machen. Vorläufig bitte ich, diesen Gegenstand verlassen zu dürfen«.

Der Staatssekretär machte eine Pause und suchte zwischen den Papierblättern in seiner Mappe. Draußen erklangen jetzt die vollen kräftigen Akkorde der deutschen Militärmusik. Der Staatssekretär begann von neuem.

»Das sehr ehrenwerte Mitglied des Hauses hat erwähnt, daß nach den bedauerlichen Verlusten des Krieges die amerikanische Flotte gegenwärtig die stärkste Seemacht der Welt darstellt. Ich bitte das hohe Haus, sich dieses Umstandes zu erinnern, wenn ich jetzt zu meinem Bedauern eine sehr ernste Mitteilung zu machen habe. (Der Staatssekretär räusperte sich und rückte an seinem Halskragen, als sei ihm dieser plötzlich zu eng geworden.) Unser Botschafter in Washington teilt uns soeben mit, daß ihm die Regierung der Vereinigten Staaten eine diplomatische Note zugestellt habe des Inhalts: Die Regierung der Vereinigten Staaten fordert die Regierung Großbritanniens auf, aus ihren kolonialen Besitzungen in Westindien, aus Jamaica, den Bahama-Inseln, Britisch-Honduras und Britisch-Guyana die englischen Garnisonen zurückzuziehen.

Das gleiche Ersuchen werde in Paris, in Kopenhagen und im Haag überreicht. Der Bau des Panamakanales lege der Regierung der Vereinigten Staaten die Notwendigkeit nahe dafür zu sorgen, daß diese wichtige Schiffahrtsstraße nicht durch irgendwelche Macht im Kriege gesperrt werden könne, und Amerika könne es nicht mehr dulden, daß der Schiffahrtsweg an den Bastionen europäischer Festungswerke vorüberführe. Da die europäischen Kolonien in Westindien nur noch geringe wirtschaftliche Bedeutung hätten, sie aber als Militärstationen aufhören müßten zu bestehen, verlange die amerikanische Regierung die Räumung dieser Besitzungen, die nunmehr unter amerikanischem Schutze selbständig werden sollten. Zum Schlusse der Note heißt es: die Regierung in Washington habe diesen Zeitpunkt für ihre Maßnahme gewählt, da er die größte Garantie biete für eine friedliche Erledigung der Angelegenheit. Nach den großen Verlusten im Kriege und bei dem gegenwärtigen Zustande der europäischen Flotten sei selbst eine europäische Koalition nicht imstande, mit Aussicht auf Erfolg der amerikanischen Flotte entgegenzutreten. Die Vereinigten Staaten und Japan seien zur Zeit die einzigen wirklichen Seemächte. Die europäischen Regierungen müßten daher jetzt endlich auch praktisch der Monroedoktrin die Stellung zubilligen, die Deutschland wenigstens theoretisch bereits freiwillig anerkannt habe.«

Da ward es totenstill im Hause. Alle fühlten es: Es fuhr ein Schlag hernieder, den man nicht mehr parieren konnte. Durch die hohen Fenster strich die laue Frühlingsluft. In der Ferne verklang der Pariser Einzugsmarsch.

* * *


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