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Und die andern Mächte …?

Ihre Stellung ergab sich gewissermaßen von selbst. Wer die politischen Vorgänge der letzten Zeit aufmerksam studiert hatte und wer durch den Phrasenschleier der Presse hindurchzublicken vermochte, für den gab es keine Enttäuschungen. Wohl aber Überraschungen. Die erste war Italiens Anschluß an Deutschland. Man hatte sich daran gewöhnt, den Dreibund als eine quantité négligeable anzusehen. Und es waren ja auch nicht so sehr geschriebene Paragraphen, die die Dreibundsmächte aufs neue zusammenschweißten, es war bei Italien mehr das Ungeschick der englischen Diplomatie, was die Regierung zwang zwischen einer Demütigung vor England, zwischen der Gefahr der Unpopularität und womöglich Abdankung und dem Kriege an der Seite Deutschlands zu wählen.

Auch die Geduld Österreichs hatte die Ungeniertheit Englands bei der Entfachung des Nationalitätenkampfes auf der Balkanhalbinsel bis zum äußersten erschöpft. Die ganz offen mit englischem Gelde betriebene Wühlarbeit, die englischen Waffenlieferungen nach Saloniki trugen die Kriegsgefahr bis an die Grenze Bosniens. Hier wurden Österreich gefährliche Fußangeln gelegt, um es bei der Abrechnung mit Deutschland zu paralysieren. Zudem griff durch Englands provozierende Behandlung der makedonischen Frage, wobei es Österreich, Italien und Rußland gegeneinander auszuspielen versuchte, allmählich eine außerordentliche Gereiztheit beim Austausch endloser diplomatischer Aktenstücke Platz, daß hier Anfang März bereits ein Konflikt entstand. Er wurde, da englische Sovereigns in Bulgarien und Serbien kräftig »einheizten«, auf diesem alten Tummelplatz nationaler Interessenkonflikte vielleicht einen Brand entzündet haben, hätte der Zwischenfall von Samoa nicht der Entwickelung vorgegriffen. Durch Rußlands Auftreten in Sofia und Belgrad, durch seine Drohung, nicht nur die heimlichen Schürer des Aufstandes zur Verantwortung zu ziehen – die russische Flotte lag zum Auslaufen bereit in Sewastopol – sondern gleichzeitig die alte »Potemkin«-Rechnung in Bukarest zu präsentieren, flaute die Bewegung ab. Die Rajahvölker zogen es vor, die englischen Pfunde in geräuschvollen Versammlungen in Slivovitz, Wodki und andere landesübliche Getränke anstatt in Patronen umzusetzen und ihre Haut für die Herren der Londoner City zu Markte zu tragen.

Österreich glaubte mit einem Federstrich seine alte Kabinettspolitik ohne Rücksicht auf die Empfindungen seiner zahllosen Nationalitäten fortsetzen zu können, und verfügte am 22. März die Mobilmachung der Armee. Als sich bereits zwei Armeekorps auf dem Wege nach der französischen Grenze befanden, brachen die bekannten Revolten des tschechischen Pöbels in Prag und andern Städten aus. Lärmende Volksversammlungen sandten Sympathieadressen nach Paris und auch aus Ungarn wurden massenhafte Gehorsamsverweigerungen bei der Mobilisierung bekannt. Die zum Garnisonsdienste einberufene Honvedarmee stellte im Rücken des österreichischen Heeres eine so bedeutende Gefahr dar, daß sie die Wiener Regierung zwang, die Hälfte der mobilen Armee im Lande zu lassen. Nur langsam vollzog sich deshalb der Transport der österreichischen Truppen auf dem Weg durch Süddeutschland und die Lombardei nach der französischen Grenze. Das hatte bekanntlich den Vorstoß der Franzosen auf Mülhausen zur Folge. Während im Norden Schlag auf Schlag folgte, während die deutschen Heere in Frankreich hineinfluteten, blieb die österreichische Führung stets eine schleppende. Die österreichischen Korps gliederten sich im Süden der deutschen Front an. Auf ihrem linken Flügel stand die italienische Armee. Auch Italiens halbes Heer hielt das Gespenst einer englischen Landung zur Verteidigung der langen Küstenlinien in der Heimat fest. Wenn die italienischen und österreichischen Armeen manche erfreulichen Erfolge erreichten, so verdankten sie das dem Umstande, daß ihnen nur schwächere feindliche Streitkräfte und die spanischen und portugiesischen Korps gegenüber standen.

Zugleich mit dem englisch-französischen Angriff hatte Portugal, der Vasall Großbritanniens, eine bombastische Kriegserklärung erlassen. Eingeengt in diesem Schraubstock der Westmächte blieb Spanien kaum noch eine Wahl. Zudem ward es von Paris aus kategorisch an die beim Besuche Loubets in Madrid getroffenen damals so harmlos aussehenden Abmachungen erinnert. Auch Spanien trat zu den Verbündeten über, und zwar ohne eine Kriegserklärung. Es war eine gewisse »Hemdärmligkeit« im diplomatischen Verkehr eingerissen.

Und Amerika …? Im Grunde genommen war es ein einfaches Exempel, das restlos aufging. Beide angelsächsischen Staaten, Amerika wie England, empfanden die deutsche wirtschaftliche Konkurrenz auf dem Weltmarkte seit Jahrzehnten gleich lästig. Von London wie von Washington aus hatte man ja häufig genug versucht, den andern in einen Krieg mit Deutschland hineinzutreiben. Keiner wollte derjenige sein der mit der größten Militärmacht anband, damit der andere als tertius gaudens inzwischen die Früchte des Krieges einheimse. Hatte England s. Zt. versucht, in dem Konflikt mit Venezuela Deutschland und die Vereinigten Staaten aneinander zubringen und sich dabei nicht nur während der Blockade, sondern auch bei dem Intriguenspiel in Washington gefährlich exponiert, so zeigten die Vorgänge in Samoa ein Gegenstück dazu. Nur war der Erfolg diesmal ein sehr realer. Wir kennen die Vorgeschichte des Zwischenfalls von Apia nicht, und werden sie vielleicht nie kennen lernen; man wird schon dafür sorgen, daß keine Dokumente auf die Nachwelt kommen. Das eine ist aber sonnenklar, daß die Verteilung amerikanischer Gewehre an die Eingeborenen, daß die Wühlarbeit der amerikanischen Missionare hier einen Konflikt schaffen sollte, in dem man dann den angelsächsischen Bruder liebevoll vor dem Rest sitzen ließ. Im letzten Augenblick als schon die Geschütze schußbereit waren, verließ, wie berichtet, der amerikanische Kreuzer »Wilmington« die Reede von Apia. Die kleine Kostenrechnung auf Samoa hat man von Washington aus später unter Ausdrücken lebhaften Bedauerns bar beglichen. Es war der Einsatz im politischen Roulettespiel. Man setzte einen Dollar und gewann Millionen, wo der Handel zweier Nationen ein Jahr lang still lag. Ein einziges Mal hat England seine altbewährte Politik, einen Zusammenstoß mit mächtigen Völkern zu vermeiden, verlassen. Es glaubte mit Amerika zu gehen und ward von ihm geschoben und mit einem freundschaftlichen Fußtritt in den Abgrund gestoßen. Was England hundertmal gewollt hat, worauf es seine ganze Diplomatie konzentriert, gelang dem kühl berechnenden Bruder Jonathan, als britische Schlauheit auf einen Augenblick schlafen gegangen war. Der Moment, da der »Wilmington« die Reede von Apia verließ, entschied für Amerika wie für England über Milliarden. Amerika buchte sie unter: Haben.

Und Rußland …? Rußlands Haltung war von klugen Erwägungen geleitet, die auch persönliche Neigungen am Zarenhofe zum Schweigen brachten. Vielleicht am besten charakterisierte ein Artikel der »Nowoje Wremja« die Lage, in dem es hieß: »Unserm Kriege mit Japan hat die ganze Welt mit niemals verhehlter Schadenfreude zugesehen. Es war der englischen Diplomatie gelungen, Japan auf es zu hetzen. Wir wissen, was wir England verdanken, und werden das nie vergessen. Japan hat, indem es unsere Flotte vernichtete, nur Englands Geschäfte besorgt. Heute, da Europa in Flammen steht, sind wir in der glücklichen Lage, uns an dem Feuer ruhig die Hände wärmen zu können. Jeder Sieg, jede Niederlage zählt auf unserer Seite. Je mehr tote Soldaten man auf französischer Erde verscharrt, um so größer wird die russische Armee. Sollen wir Deutschland in den Rücken fallen? Wir haben genug polnische Provinzen. Was wir wollen, nehmen wir uns, wenn der Krieg an der Erschöpfung beider Gegner zu Ende geht. Dann steht uns die Welt offen. Ebenso denkt man in Japan, wo man das Bündnis mit England grinsend verlacht. Kein Gelber marschiert wieder für England. Sollen wir Frankreich beispringen? Frankreich, das uns verraten, das unsere Schiffe aus Saigon verjagte? Diesmal sitzen wir im Parkett … Das Spiel hat begonnen«.

Rußland blieb neutral, so neutral, daß es selbst den englischen Kreuzer »Arrogant« der im April mit Maschinenschaden Riga anlief, kategorisch aufforderte, entweder den Hafen innerhalb 24 Stunden zu verlassen oder die Flagge zu streichen. Rußland instruierte die türkische Regierung, daß es keinerlei Unruhen auf der Balkanhalbinsel dulden werde, schob seine Grenzposten in Turkestan langsam vor, erklärte, daß es Getreide und Pferde nicht als Kriegskontrebande betrachte, sorgte so für die Aufrechterhaltung seiner Getreideausfuhr über die westliche Grenze und wartete im übrigen in aller Ruhe das Ende des Riesenkampfes ab.

Die skandinavischen Länder versandten an alle Regierungen eine Neutralitätserklärung, konnten aber nicht verhindern, daß englische Kreuzer häufig norwegische Fjorde aufsuchten. Dänemark setzte seine Armee auf den Kriegsfuß, und versammelte 30 000 Mann in Jütland, während der Rest des Heeres in und um Kopenhagen konzentriert blieb. Es schien zunächst so, als ob die englische Flotte Esbjerg als Operationsbasis gegen die deutsche Nordseeküste benutzen wolle. Auf eine kategorische Erklärung von deutscher Seite, wenn die englischen Schiffe nicht sofort zum Verlassen Esbjergs veranlaßt würden, so werde Deutschland in Jütland einrücken, erließ die dänische Regierung einen Protest nach London, der auch den gewünschten Erfolg hatte. Nicht aus Rücksicht auf Dänemarks kleines Heer und seine wenigen Küstenpanzer, sondern weil eine Verletzung der dänischen Neutralität Jütland auf jeden Fall sofort in deutschen Besitz gebracht hätte. Zwar hätte Kopenhagen ein Stützpunkt der englischen Flotte werden können. Doch lag der Nachdruck ja nicht auf einer Landung an der deutschen Küste. Und fuhr man schließlich nicht ebenso gut mit einer wohlwollenden Neutralität Dänemarks, nach dem alten Erfahrungssatze: Neutralität ist, wenn man nicht erwischt wird?

* * *

Es sei hier gleich der einzigen Gelegenheit gedacht, da die sozialdemokratische Phrase sich in die Tat umzusetzen versuchte. Nach der Drohung Bebels im Reichstage hatte man an so etwas wie die Proklamierung eines Massenstreiks in den Gewerben gedacht, die mittelbar mit der Mobilmachung zusammenhingen. Nichts davon geschah; der gesunde Sinn des deutschen Arbeiters war überall stark genug, um den Einfluß verhetzender Vereinsrednerei zu überwinden. Und als einige gar zu laute Schreier festgesetzt wurden, brachte man dieser Maßregel volles Verständnis entgegen. In der Volksseele klangen ernstere Empfindungen und Stimmungen wider, als daß sie sich über das Schicksal einzelner Agitatoren hätte aufregen können.

Bekanntlich erfolgte in den ersten Tagen des Krieges ein Vorstoß zweier französischer Korps ins untere Elsaß, der dort eine ungeheure Panik erzeugte. Beim Herannahen des Feindes glaubte nun der sozialistische Magistrat einer Stadt, deren Namen verschwiegen bleiben mag, seine international-sozialdemokratische Gesinnung dokumentieren zu sollen. Als eine Abteilung afrikanischer Chasseurs sich der Stadt näherte, zogen ihnen die Herren vom Magistrat mit roten Fahnen und Schärpen und sonst allerhand Rotem entgegen, um die »Befreier« willkommen zu heißen. Der französische Oberst ließ ein halbes Dutzend Ansprachen und die Arbeitermarseillaise geduldig über sich ergehen und beförderte dann die ganze Gesellschaft hinter die Front, wo man die aus allen Wolken fallenden Internationalen zunächst um ihre Unterschrift unter die Anweisung einer sechsstelligen Summe als Kontribution ersuchte. Und als sie sich weigerten, steckte man die entgeisterten Volkstribunen einfach ein und kassierte selber das Geld. Es blieb dies erfreulicherweise der einzige Fall, in dem unentwegte Genossen ihre Phrasen von Völkerverbrüderung praktisch zu verwerten suchten. In dem Riesenkampfe, in dem die Nationen sich eisenklirrend gegenüberstanden, ward die kümmerliche Treibhauspflanze der Internationalität schnell zu Boden getreten.

Auf ferner, fremder Aue …

Jetzt standen sie draußen, alle die jugendfrischen Söhne eines fleißigen Volkes, die ein kurzer Befehl von ihrer Arbeit abgerufen hatte. Losgelöst von allen Bequemlichkeiten der Kultur standen sie jetzt im Felde. Leute, die vor zwei Wochen noch das Bewußtsein, einen nicht ganz tadellosen Kragen zu tragen oder ein Fleck auf dem Vorhemde aus dem moralischen Gleichgewicht gebracht hätte, verwöhnte Einwohner der Großstadt, denen bis dahin ein Mittagessen ohne weißes Tischtuch ein unvollziehbarer Gedanke deuchte, die daheim gewohnt waren nasse Stiefeln sofort zu wechseln, waren jetzt froh, wenn sie überhaupt einmal dazu kamen, den durchschwitzten Rock ausziehen, oder ihr Hemd selber in meist sehr zweifelhaften Gewässern waschen zu können. Nach kurzer Zeit lag diesem Volksheere die ganze Kulturwelt wie eine blasse Erinnerung, von der man durch Jahre getrennt war, dahinten. Manche gefielen sich ganz besonders in der Pose des rauhen ungewaschenen Kriegers. Wenn nur die furchtbaren Regengüsse nicht gewesen wären. Da man jedoch dem Tode täglich ins Auge sah, verloren alle kleinen Leiden ihre Bedeutung. Nur trockene Strümpfe und etwas festes im Magen und im Brotsack, dann ließ sich die Sache schon ansehen.

Und dies herzzerpressende, die Kehle zuschnürende Angstgefühl, wenn es zum ersten Mal ins Gefecht ging, wenn man zum ersten Mal auf Menschen schießen sollte, die einen doch schließlich nichts angingen, die einem doch nichts getan hatten. Aber solche Empfindungen verstummen, sobald der Soldat merkt, daß dies doch etwas anderes sei als daheim ein Manöver, wenn das pfeifende Sausen wie von einer schwippenden Gerte, wenn die durch einschlagende Kugeln verursachten Sandspritzer den Mann schleunigst sich decken hießen. Dann fielen die Ersten, und der Anblick der toten und verwundeten Kameraden entfachte in den andern eine ingrimmige Wut, eine wilde Gier nach Rache, bis dann der Blutgeruch die Sinne umnebelt und alles andere Empfinden erstickt, nur das Eine: nur an ihn, nieder mit ihm, der dort drüben immer schießt …

Bei dem Vormarsch der deutschen Heere durch Belgien blieb die rechte Flanke nach Norden stets durch starke Truppenmassen gedeckt, die bei einem zu erwartenden feindlichen Vorstoß von Antwerpen aus, sofort von rückwärts Verstärkungen heranziehen konnten. Da die Aufgaben der deutschen Heeresleitung im nordöstlichen Frankreich lagen, verzichtete man einstweilen auf einen Angriff auf Antwerpen und wartete, bis der Feind seinerseits vorgehen werde. Der ließ freilich lange auf sich warten. Es bedurfte erst ernsthafter Vorstellungen von französischer Seite, bis sich die englische Heeresleitung entschloß, durch eine Diversion direkt auf die deutsche Etappenlinie den französischen Verbündeten zu entlasten. Die Schlacht, die Mitte April nördlich von Löwen an der Dyle stattfand, endete nach anfänglichen englischen Erfolgen schließlich mit der Zurückwerfung der englisch-belgischen Armee auf Antwerpen, worauf mit der Belagerung der Festung begonnen wurde. Der Verlauf der Schlacht wird recht anschaulich geschildert in folgendem Briefe eines deutschen Reiteroffiziers, der zu Beginn des Kampfes verwundet wurde. Der Brief lautet:

 

Lazarett IV, Löwen,
am 30. April 1906.

Mein lieber Vater!

Die beiden Telegramme, die Oberstabsarzt Gebhard Dir geschickt hat, werden Dich einstweilen über mein Schicksal beruhigt haben. Soweit es einem zum Krüppel geschossenen Offizier überhaupt gut gehen kann, darf ich mit meiner Lage hier zufrieden sein. Was später aus mir und Euch werden wird, ist eine Frage an eine Zukunft, über die ich kaum nachzudenken wage. Wir alle sind durch Familientraditionen gewohnt, dem Schicksal klar und scharf ins Auge zu sehen und insbesondere ist unser beiderseitiges Verhältnis ein derartiges, daß wir die üblichen konventionellen Geheimnisse nicht vor einander haben, und nicht zu haben brauchen. Deshalb hier endlich ein klares, unretouchiertes und durch keine Schönfärberei entstelltes Bild dessen, was mir die beiden letzten Wochen gebracht haben.

Zwischen dem Augenblick, als ich auf dem Sattel meines Pferdes Dir die letzte Feldpostkarte am Morgen des 18. April mit Bleistift hinkritzelte, während um mich herum die Trompeten zum Aufsitzen bliesen, und dem Augenblick, da ich in der Fliederlaube des Lazarettgartens von Löwen wiederum zur Feder greife, wo um mich der Frühling blüht und duftet, liegt eine Welt.

Laß mich kurz chronologisch erzählen. Am 18. April morgens rückten wir und ein Dragoner-Regiment zusammen auf der von Löwen nach Norden führenden Straße vor. Schweigend ritten wir in den strahlenden Frühlingsmorgen hinein. Von fern her schallte dumpfer Kanonendonner herüber. Auf dem Höhenzuge, den die Straße, kurz bevor sie in das Tal der Dyle hinabsteigt, überschreitet, stand unsere Artillerie. Als wir gegen 6 Uhr in der kleinen Talsenkung hinter dem Höhenzug in eine Reservestellung einrückten, hatte der Geschützkampf bereits Stunden gewährt, ohne daß wir oder der Gegner irgend welche nennenswerte Erfolge erreicht hätten. Man sagte, daß die kleine Stadt dort unten im Tale der Dyle fast schon in unseren Händen gewesen war, als General French mit vier neuen Infanterieregimentern unsere Pioniere und die zwei Bataillone, die sich in den ersten Häusern eingenistet und verbarrikadiert hatten, wieder hinaus warf. Seitdem, sagte man, stände das Gefecht. Unser Oberst ließ unser Regiment neben der Straße Halt machen und die Leute absitzen. Auf der anderen Seite stand ein Infanterieregiment, ebenfalls als Reserve. Die Leute saßen im Straßengraben. Während wir nach dem rasenden Lärm vor und über uns hinhorchten, wollte kein rechtes Plaudern in Gang kommen. Es ist die gedrückte Stimmung, die eine Truppe stets befällt, wenn sie den Feind nicht sehen kann und nur dem Schall der Mordarbeit zu folgen vermag. Dazu wirkte der Anblick der Verwundetentransporte wie stets niederdrückend, so daß nicht einmal die berufsmäßigen Witzemacher in der Kolonne Anklang fanden.

Ich erhielt Befehl, mich oben bei der Artillerie über den Stand der Schlacht zu orientieren, und ritt von einem Dragoner begleitet die sanft ansteigende Straße hinan. Es ist eine unvergeßliche Erinnerung für mich, das wundergewaltige Panorama einmal in meinem Leben gesehen zu haben, welches der Massenkampf der Völker in ihrem Zusammenprall entrollt. Ich hielt oben dicht hinter der Kulminationslinie des Hügels zwischen beiden Artillerieregimentern, die nur durch die Chaussee in ihrer Aufstellung getrennt wurden. Eine einzige Linie springender gelber Blitze, schwarzer Rohre, aus denen der Tod dem Feinde entgegen brüllte. Der Boden aufgewühlt und gepflügt von platzenden Granaten, oben in der Luft die weißen Dampfballen zerspringender Schrapnells. Gedeckt zwischen den Chausseebäumen konnte ich das Tal der Dyle überblicken, grüne Fluren, in denen schwarze Linien die Stellungen unserer Infanterie markierten. Die Straße senkte sich vor mir bis zu dem Städtchen, um das in früher Morgenstunde bereits so heiß gestritten war. Jetzt brannte es zur Hälfte. Die englische Artillerie stand, wie die unsere, gedeckt hinter den Kuppen der jenseitigen Hügel, war also von hier aus unsichtbar. Über den langen Schützenlinien, die sich wie Ackerfurchen über das wellige Terrain zogen, stand ein feiner blauer Dunst; wie leichter Frühnebel aufsteigt, wenn die Morgensonne die Erde grüßt. Über einem an der Chaussee hinter unserer Artilleriestellung liegenden Bauernhof flatterte eine Fahne mit dem roten Genfer Kreuz.

Ich konnte mit meinem Görzglas deutlich verfolgen, wie drüben auf der Bahnlinie, außerhalb des Bereiches unserer Artillerie von Antwerpen her Zug um Zug heranrollte, eine lange Wagenreihe hinter der anderen herkriechend, um einige Kilometer nördlich der Stadt Halt zu machen, worauf aus ihnen eine wimmelnde Ameisenschar herausquoll. Der Feind führte anscheinend von seiner Operationsbasis gerade hier nach seinem linken Flügel hin die größten Truppenmassen. Ich sah die englischen Bataillone sich formieren, sich in Schützenlinien auflösen und so eine Ackerfurche neben und hinter der anderen entstehen. In den vorderen Furchen stiegen graugelbe Rauchwolken auf, und die Ameisen, die von ihnen zur Seite geschleudert wurden, sie blieben regungslos liegen. Das klappernde Infanteriegefecht schien zuweilen ganz einschlafen zu wollen, der Donner der Geschütze blieb das Grundmotiv. Offenbar hatte der Feind ein größeres Geschützkaliber herangezogen, denn während seine Granaten und Schrapnells bisher immer nur in und über unseren Infanteriestellungen explodiert waren, flogen sie jetzt in flachem Bogen über den Höhenkamm hinweg, diesseits berstend in die dichten Kolonnen unserer Reserven versinkend. Es entstand ein Schwanken, eine wellenförmige Bewegung nach links und rechts, dann fluteten die dunklen Abteilungen zurück, man zog die Reserven aus der Feuerlinie, um sie nicht zwecklos abschlachten zu lassen.

Ich konnte mich von dem seltsam fesselnden Bilde nicht losreißen, und hatte, mit dem Glase den Bewegungen der feindlichen Schützenlinien folgend nicht darauf geachtet, daß in der Batterie links neben mir das Feuer nachzulassen begann. Zwei Rohre waren unbrauchbar geworden und an den anderen vier Geschützen lagen die Bedienungsmannschaften fast alle in einem wüsten Knäuel um die Lafetten. Schrapnell auf Schrapnell platzte über der dezimierten Batterie und eine Granate um die andere wühlte den Boden zwischen den Kanonen auf. Die Leitung des feindlichen Feuers wurde offenbar vom Ballon aus, von dem man unsere Stellungen einsehen konnte, dirigiert. Gerade als ich den Fesselballon mit dem Glase ins Auge faßte, fühlte ich den Boden unter mir erzittern. Unmittelbar neben mir stieg eine gelbe Dampfwolke auf, mein Pferd ward nach links hinüber geschleudert. Der Krach des explodierenden Geschosses machte mich fast taub. Ich lag hilflos unter dem Pferd und griff mit der rechten Hand in eine ekelhafte, schmierige, warme Masse. Ein Stück der Granate hatte meinem Pferd den Bauch aufgerissen. Ich sah, wie der Dragoner vom Pferd sprang, fühlte mich von seinen Armen emporgehoben und nach dem Grabenrande hingeschleift. Ich blickte zurück auf den Körper meines treuen Tieres, das mich ein paar Sekunden vorher noch getragen und wie sich in solchen entsetzlichen Momenten das ganze Seelenleben auf den Bruchteil einer Sekunde konzentriert, man im Augenblick Stunden erlebt und scheinbar Gleichgültiges mit aller Schärfe beobachtet, sah ich mitten auf der blutigen Masse einen Stiefel liegen. Ich packte den Dragoner am Arm und deutete dorthin. »Herr Leutnant«, sagte er, »der Stiefel nützt Ihnen nischt mehr«. Ich verstand das nicht.

Einige Minuten – es kann auch länger gewesen sein – muß ich bewußtlos geworden sein. Als ich die Augen wieder aufschlug, stand ein junger, blonder Militärarzt mit einem Schmiß über der Backe neben mir. Mein Dragoner bettete mich, so gut er's vermochte, in die Lücke einer Hecke, am Grabenrande. »Was ist's«, fragte ich den Arzt. »Herr Leutnant, die Hauptsache ist, daß wir die Blutung zum Stehen bekommen«. Ich fühlte, wie er mit einem scharfen Instrument in meinem rechten Bein herumbohrte, ein rasender Schmerz durchzuckte mich. »Bin ich schwer verwundet«, fragte ich. »Der rechte Oberschenkel ist glatt durchschlagen«. Jetzt dämmerte es in mir auf, was es mit dem Stiefel auf sich hatte; ich war ein Krüppel. Was weiter in den nächsten Stunden geschehen ist, weiß ich nicht, nur der furchtbare Schmerz an meiner rechten Seite ließ mich zuweilen aus dem Dämmerzustand erwachen. Das Rasen und Dröhnen der Schlacht ging um mich weiter, einmal als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, Mittag also. Auf der Chaussee, an deren Rand ich ziemlich versteckt in der Hecke lag, hörte ich das Schüttern und Rasseln von Fahrzeugen, das allmählich schwächer wurde. Von unserer Artillerie sah ich nichts mehr. Nur die weiße Flagge mit dem roten Kreuz flatterte noch über dem Giebel des Bauernhauses. Aber was sie bewegte, war nicht der Wind, es waren die Flammen, die aus dem Dache des Hauses hervorzüngelten. Die Ambulanz brannte. Gellendes Geschrei drang aus dem Erdgeschoß des Hauses und aus dem raucherfüllten Garten davor.

Zwei Ordonnanzen rasten an mir vorüber und verschwanden in der Senkung der Straße, die Hufe ihrer Pferde klapperten auf der Chaussee. Dann kam eine Kompagnie im Laufschritt aus dem Tal der Dyle herauf, warf sich dicht neben mir zu beiden Seiten der Straße nieder und das furchtbare, rollende Prasseln des Kleingewehrfeuers benahm mir wieder die Sinne. Halb bewußtlos glaubte ich noch zu hören, wie größere Menschenmassen an mir vorüberwogten, ich hörte fluchen und schimpfen. Dann ward's wieder stiller, und neben mir sagte eine Stimme: »die Khakis kommen«. Der Trieb der Selbsterhaltung ließ mich meine Schmerzen überwinden, ich fragte nach der Richtung hin, wo ich die Stimme gehört hatte: »Werden wir geschlagen«? Ich erhielt keine Antwort.

Auf der Chaussee schleppte sich mühsam ein verwundeter Infanterist, sein Gewehr als Stock benutzend, fort, nach der Richtung wo unsere Schützenlinie verschwunden war. Ich rief ihn an, er sagte: »Wir sind zurückgeschlagen«, und setzte sich auf den Grabenrand neben mir. So warteten wir beide in dumpfem Schweigen, während ein beklemmender Schmerz vor dem Grauenvollen, was nun kommen würde, meine Brust zusammenpreßte, auf das Erscheinen des Feindes. Hinten prasselte und knatterte das Feuer in den Dachsparren des Ambulanzhauses, davor hielt ein Wagen mit der Genfer Flagge, in dem man einige Verwundete fortzuschaffen suchte. Mitten auf der Straße stand ein graubärtiger Stabsarzt, schwenkte in der Hand ein großes weißes Tuch und beobachtete durch ein Glas das Terrain vor ihm. Ich suchte ihn anzurufen, doch er schüttelte den Kopf, winkte weiter mit dem Tuch, und deutete mit seinem Krimstecher nach vorn. Jetzt hörte ich ein englisches Kommando und sah im Laufschritt über die Felder lange Linien heranlaufender Menschen in graugelber Uniform. Vor dem Kamm des Hügels warfen sie sich nieder, sich zwischen Hecken und in den von den Granaten gerissenen Löchern einnistend und die Tornister unserer gefallenen Mannschaften als Deckung benutzend. Während das taktmäßige Klappern der Gewehrschlösser und der scharfe Knall der Schüsse anwuchs wie zu einem orkanartigen Hagelwetter, wenn es auf ein Blechdach herniederschlägt, hörte ich auf der Chaussee das Rasseln und Stoßen einer heranfahrenden Batterie.

Rings um mich und in die Reihen der Khakis schlugen pfeifende Geschosse ein und stäubten Sand und Kiesel auf. Jetzt war sie heran, die erste englische Batterie, das vorderste Geschütz nur noch mit vier Pferden bespannt. In das Gespann des zweiten Geschützes schlug eine Granate, wirbelte die Pferdeleiber durcheinander, riß blutige Fetzen von den Reitern und warf die Protze quer über die Chaussee, das Geschütz in den Straßengraben dicht neben mir schleudernd. Ein Khakileutnant sprang vom Pferd, brüllte die Mannschaften an und zwang sie unter einer Flut von Schimpfworten die Kanone hinter mir in den Acker zu schleppen. Dicht an meinem Kopfe fühlte ich die in der weichen Erde wühlenden schweren Tritte der englischen Kanoniere. Dann ein schnappender Ton von Metall, » fire!« tönte das Kommando, ein Feuerstrahl schoß an mir vorbei durch die Luft, die englische Artillerie hatte den Kampf aufgenommen.

Das beginnende Wundfieber muß während der nächsten Stunden meine Sinne betäubt haben. Als ich wieder erwachte, war es Abend. Wie ich später erfuhr, hatte die Schlacht folgende Wendung genommen: Vor der übermächtigen englischen Artillerie, die ungefähr über das Doppelte an Geschützen verfügte wie unsere Artillerie hier auf dem rechten Flügel, hatten wir zunächst zurückweichen müssen. Nachmittags hatte nach Heranziehung von Reserven unsere Vorwärtsbewegung dann von neuem begonnen, und am Abend waren die verlassenen Positionen wieder in unseren Händen, der Feind trat den Rückzug über die Dyle in der Richtung auf Antwerpen an. Der Tag war unser, aber unter welchen Opfern. Es war, wie gesagt, Abend, als ich erwachte. Rings um mich tiefe Stille, die Schlacht hatte sich weit hinüber über die Dyle gezogen. Neben mir stand noch das englische Geschütz, über der Lafette lagen zwei tote Kanoniere, den Kopf in der Todesstarre krampfhaft nach oben gebogen. Selbst meine durch die Schrecknisse der letzten Wochen gestählten Nerven vertrugen diesen Anblick nicht. Wie vier feurige Kohlen glotzten mich die gebrochenen Augen der Toten, in denen sich die brandrote Farbe des Abendhimmels widerspiegelte, an. Um das nicht sehen zu müssen, kroch ich unter fürchterlichen Schmerzen ein paar Schritte fort. Mitten auf der Chaussee stand ein zweites englisches Geschütz. Auch verlassen, auch von einer stummen Totenwache umlagert; jener Leutnant, der am Mittag das umgeworfene Geschütz ins Feuer geführt hatte, lehnte am Rade der Lafette. Die rechte Hand hielt noch den Krimstecher, den Kopf hatte eine Granate fortgerissen. Die Protze dahinter auf der Chaussee war in den Graben geschleudert, ihre Deichsel starrte wie ein Galgen in die Luft, den Kopf des einen Pferdes wie mit dem Strick eines Henkers in die Luft zerrend. Das Dämmerlicht leuchtete gerade genug, um mir all dies Gräßliche noch einmal zu zeigen; dann ward das Licht schwächer, die Sonne sank. Über den leise verschwimmenden Konturen des Hügels schauten nur die langen Schutzschilde zu beiden Seiten eines dritten Geschützrohres, welches mitten im Ackerfelde stand, starr empor. Ich erkannte daran, daß es Ehrhardtsche Geschütze, Geschütze deutscher Herkunft aus der Zeit des Burenkrieges gewesen waren, mit denen der Feind von hier aus in die Kolonnen unserer braven Truppen hineingepfeffert hatte.

Und die Nacht senkte sich hernieder. Ganz von fern dröhnte der Geschützkampf nach, langsam abflauend und dann wieder anschwellend. Stunde um Stunde verrann. Zuweilen muß ich wieder in Fieberphantasien verfallen sein. Ich weiß noch, daß ich träumte, ich wäre auf einer nächtlichen Wanderung, ich wanderte auf der Landstraße drunten in Württemberg, mitten durch den schweigenden Wald, durch die Stille der Nacht, die keine Stille ist, in der hundert Stimmen lebendig werden, die uns das Geräusch des Tages überhören läßt. Und ich wanderte und wanderte, und wunderte mich darüber, daß mein rechtes Bein schmerzte, und ich trat hinaus aus dem Wald und sah hinüber auf das Dorf unten im Talgrund. Es lag eine Stimmung über dem Ganzen wie in dem alten, frommen Lied von Paul Gerhardt: »Nun ruhen alle Wälder«, und in diese Elegie hinein platzte plötzlich eine Stimme von ganz fern her, ein Hund schlug an bau–a, bau–a, bau–a, so klang es plötzlich ganz weit von fern irgendwo her bau–a, bau–a, bau–a, und immer wieder nur der eine Hund und er bellte unablässig und immer lauter. Er schrie und rasselte an der Kette, da fingen noch andere Hunde an, das ganze Dorf war voller Hunde, wütend bellten und kläfften sie und die Stille der Nacht verschwand, und es schrie irgend jemand nach Wasser und die Hunde bellten lauter und sie wuchsen und wurden größer, wurden zu riesengroßen Ungeheuern und sie zerrten an ihren Ketten. Dazwischen immer wieder der eine Ruf »Wasser«. Da erwachte ich. Von fern her dröhnten die Geschütze noch immer, bau–a, bau–a, bau–a bellten sie und schrien wie die Kriegshunde, mit denen der Donnergott über den Wald dahin fährt, während die sturmgepeitschten Wipfel unter ihm rauschend aneinander schlagen.

»Wasser«. Der Kamerad konnte nicht weit von mir liegen. Ein paar Schritte nur, aber ich Krüppel konnte ihn nicht erreichen. Ich griff nach meiner Feldflasche, sie war bei meinem Sturze heil geblieben. Ich trank gierig ein paar Züge, dann, meine ganze Willenskraft zusammennehmend, schloß ich den Stöpsel wieder. »Kamerad«, rief ich, »hier meine Flasche, ein kleiner Rest ist noch darin«; und ich warf sie nach der Richtung, von wo gerufen wurde. Ein leise gehauchter Dank wurde verschlungen von dem Splittern des Gefäßes auf einem Chausseestein. Das karge Labsal erreichte die dürstende Zunge nicht. Meine Gedanken wanderten wieder in die Ferne. Ich war zu Hause und sah eine schön geschliffene Flasche mitten auf einem gedeckten Tisch stehen, Wasser so viel man wollte, und hier die Besten des Volkes im Straßengraben verkommend, weil ein neidischer Zufall das letzte Labsal in den Sand rinnen läßt. Bau–a, bau–a, bau–a bellten die Geschütze weiter und die Nacht wurde lebendig rings um mich her. Sie erwachten die Stimmen des Schlachtfeldes, das Klagen und Stöhnen der Verwundeten, der Jammerschrei der Sterbenden. Flüche und Verwünschungen, englische Worte, flehentliche Bitten: Wasser, Wasser, und drüben über der Talmulde rotbrauner Brandrauch über der Stadt, da die Kriegsfurie friedliches Leben mitleidslos zerstampft hatte. Das Herz erstarrte mir und krampfte sich zusammen unter dem Gefühl eigner Hilflosigkeit so entsetzlichem Unglück gegenüber. An seinem Mitleiden ist Gott zu Grunde gegangen, so sagt wohl jener Philosoph, jener Herrenmensch. Er hat nie verwundet unter Todwunden auf einem Felde gelegen, wo der unerbittliche Schnitter Tod die Garben gemäht hat.

Es war eine furchtbare Nacht, einsam unter den Einsamen, allein unter den Verlassenen. Hin und wieder blickte ein Mondstrahl zwischen den Wolken hindurch, das schauerliche Bild des Todes mit seinem fahlen Scheine übergießend. Dann ward es stiller. Rastlos jagten, lautlosen Reitergeschwadern gleich, zerfetzte Wolken über den Nachthimmel, es ward kälter, der Morgen nahte. Blasses Dämmerlicht ließ die Umrisse des Geschützes vor mir auf der Chaussee wieder deutlicher hervortreten. Da flatterte neben mir aus der Hecke etwas auf. Eine Amsel setzte sich auf das Korn des Geschützrohres, putzte sich die Flügel und begann ihr schrilles Morgenliedchen zu pfeifen …

Als ich wieder zur Besinnung kam, befand ich mich in einem Saal voll weißer Betten; ich war im vierten Lazarett von Löwen. Was soll ich Dir schreiben über den Verlauf der Heilung, die mein Freund, der Oberstabsarzt Gebhardt für ein Wunder seiner Kunst erklärt. Ich bin ein Krüppel. Ich sitze hier in der Fliederlaube des Gartens, um mich blühender Frühling; in vier Wochen darf ich meine Krücke nehmen und heimkehren, heimkehren zu was? Bescheidene Gemüter werden sagen, ich darf mich beglückwünschen, daß ich noch so davon gekommen bin, wo die Blüte unseres Volkes auf dem Schlachtfelde modert. Beglückwünschen dazu, daß das dankbare Vaterland soweit für mich sorgen wird, daß es mich in den Stand setzt, eine Drehorgel zu kaufen, mit der ich als dekorierter Kriegsinvalid hinfort auf der Straße mir mein Brot suchen darf?

Dein Sohn Otto.


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