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Genezareth

Aus dem von Haifa abgefahrenen Zug schaut man wie aus einer halbdunkeln Kammer in die überhell beschienene Landschaft. Kaum findet das geblendete Auge zurück auf die Gegenstände und die Menschen der Mitfahrt. Wolken von einem satten gelben Straßenglanz thronen im Blau; in der Ferne wie entrückt steht die edle Kegelform des Berges Tabor im Morgenlicht. Der himmelblaue Strang der Schienen glänzt aus gewaltiger Fläche hellgelb blühender Senfstauden empor. Er führt mitten durch die stark bewachsenen Felder, an Gruppen alter Haineichen vorüber, läßt in der Ferne die bewaldeten Hügelketten, führt nah an den Gehöften junger Ansiedelungen vorbei, an Männern, die auf dem Feld arbeiten, an Palmenwipfeln, die in sichelförmige Zweige aufgelösten Kugeln gleichen. Es donnern die kurzen eisernen Brücken über das felsige Bett des Jordanflusses.

Von dem kleinen Stationshaus von Kinnereth geht man zum See hinunter. Ein Motorboot wartet an der Landungsstelle. Der See liegt in einer großen Schale mit niedern Rändern; die Luft über ihm ist heiß wie das in einem Tiegel zum Schmelzen gebrachte Erz. Die Fahrt bringt wenig Kühlung. Das Pochen der Maschine und das Geplapper zweier Frauen, die nach Liberias reisen, um die Schwefelbäder zu benutzen, ist wie ein ohnmächtiges Sträuben gegen die Stille und Einfalt des weiten, unbewegten Gewässers, das rings die aschgrauen Seehügel umfassen. Es ist ein Becken, eher kleiner als das des Bodensees, doch hat man den Eindruck, auf hohem Meer zu sein. Keine Barke, kein Boot außer dem unsrigen ist auf der Flut.

 

Fern wird eine kleine, leblose Stadt am Ufer sichtbar. Nach einer Stunde sind wir dort. Man sieht die dicken, aus schwarzen Basalten gebauten Römertürme von Tiberias; sie sind wie zum Bad ein wenig in das Wasser hineingestiegen. Zwischen Felsstücken, die grau gebrannt sind wie Bimsstein, knien schwarz verhüllte Wäscherinnen. Knaben baden mit ihren Pferden. An der Landungsstelle erwarten in der flirrenden Mittagshitze alte, sich langweilende Juden in langen winterlichen Kaftanen das Boot. Fellachenfrauen mit eisenklappernden Schuhen, in groben blauen Hemdgewändern, begegnen mir in ben engen, glühenden Gassen. Der Blick dringt durch eine Gartenpforte in den Flur des Klosterhauses, wo Mönche in ihren schweren braunen Kutten am groben Tisch sitzen und das Mahl einnehmen. Hier ist ein Garten mit Grabsteinen und blühenden Granatbäumen. Viele der niedrigen, aus schwärzlichem Gestein gebauten Häuser haben Ränder von weißer Tünche und hellblau bemalte Fensterrahmen; auf ihren Dächern dorren Grasbüschel. In einem Schatten liegt ein Bettler auf den Steinen, ein junger Mann, halb aufgerichtet, mit verstümmelten Füßen. Die Fliegen auf seiner braunen Haut glänzen wie Kupferknöpfe. Das Haupt ist zur Seite geneigt mit einem ehernen Leidensausdruck.

Diese Stadt, die dem arabischen Landvolk noch heut für den Sitz des Fliegengottes gilt, war vor zwei Jahrtausenden der Wohnort einer den Judäern verächtlichen, mit arabischem und blondem Fremdvolk durchmischten jüdischen Bevölkerung. Sie ist von den Römern über einem verlassenen Begräbnisort angelegt worden, sie enthielt eine Rennbahn, eine militärische Besatzung und einen Palast mit Tierbildern. Ihrer unheiligen Blüte wegen hat der Meister von Nazareth gleich andern Juden sie gemieden, aber er predigte öfters in ihrer Nähe und soll zuletzt dem Petrus hier bei seinem Fischzug erschienen sein. Darum ist das Kloster hier am Ufer errichtet worden. Die meisten Städte am See, wo die hilfreichen Wunder des Neuen Testamentes geschahen, waren Wohnorte der Minäer, einer Schule, die von den Rabbinen mit Haß verfolgt wurde, denn sie leugnete die Thora, leugnete die Weltschöpfung, den Schöpfer und seine Engel, nannte die Erde das Reich eines bösen Geistes und wollte den Gott des Guten nur in einem weit entfernten König der Wesen anerkennen. Der Glaube der Niedergeschlagenen. Welche Seele ergriffe nicht sich selbst einmal auf solchen kühnen und verbrecherischen Einflüsterungen der Trostlosigkeit und des Trotzes! Noch die heimgekehrten Kreuzfahrer bezeichneten diesen Strich von Galiläa als den künftigen Ausgangsort des Antichristus. Der Talmud, der Keimträger dieser Sage, behauptet, daß der Messias nicht früher kommen werde, als bis das ganze Weltreich minäisch geworden und von den Zauberkünsten Ägyptens erfüllt sei; im übrigen galt ihm auch Jesus für einen ägyptischen Zauberer. Jesus von Nazareth trat in dieser Landschaft auf in einem Zustand von ungeheuerer innerer Spannung. Verstörtes Wort gegen die Mutter bei der Hochzeit zu Kana! Mit Feuer geladene Ruhe, da er in der Synagoge das Buch des Propheten Isaias zutat, es dem Diener gab und sagte: Heut ist die Schrift erfüllt vor euern Ohren! Seligpreisungen auf dem Berg, die für alle vom Gesetz gequälte Menschengattung ein neues Klima, einen Frühling der Seele bedeuten! Gibt es eine größere Genesung, als den Glauben? Und gibt es eine größere Krankheit, als den Glauben? Die Trümmer des kleinen, mit Fluch aus der Welt verschwundenen Städtchens Kapernaum gehören jetzt dem Orden der Franziskaner, und man behauptet, die Treppe der Synagoge aufgefunden zu haben, die einst der Fuß des Meisters überschritt. Diese Steine zu hüten, verschmort ein alter deutscher Mönch sein Dasein zwischen den mannshohen Disteln dort in der Gesellschaft von Geiern, Kolibris und hoch über ihren verborgenen Nestern singenden Lerchen. In Tiberias der Stadt leben an siebentausend aus Galizien und Polen hergezogene Juden aufs armseligste. Russische Pilgerscharen ziehn auf ihren beschwerlichen Frühjahrswanderschaften durch dieses Land. Aus dem kühleren Hochland von Nazareth steigen sie hinab in die Fegfeuer hier am See. Seßhaft werden von den neuen Ankömmlingen nur die jungen jüdischen Landleute im Winkel von Kinnereth mit ihren kleinen Häusern und Viehställen, ihren Weizenfeldern auf der Anhöhe, dem Gutshof mit der Haushaltungsschule, den von Steinen mühsam befreiten und von Hecken amerikanischer Mimosen geschützten Gärten, dem von Gemüsbeeten umgebenen hübschen Haus des aus dem Rheinland eingewanderten Siedlers, das wie in der Eifel zweistöckig und aus schwarzem Schlammgestein gebaut ist, mit weißen Fugen und grünen Fensterläden. Dieser Ankömmlinge sind wenige, und ihr Kampf mit dem vom Feldgekrümel und den Einsamkeiten zweier Jahrtausende bedeckten Land ist schwer. Doch vielleicht ist er nicht vergeblich.

 

Aus der Stadt Tiberias führt der Weg zu den Kochbrunnen eine kleine Strecke am Rand des Sees hin, an vielen schwarzen Trümmern und Schuttstellen vorüber, die als Spuren untergegangener Bauten aus der Erde ragen. Ohne sichtbaren Zugang liegen vor der Felsenwand des Berges einige weiße, würfelförmige Grabkapellen auf der Halde. Die Bäder sind nur wenige Schritte vom Ufer entfernt. Die Badekammern dort, altes und schadhaftes Gemäuer über den mit glühender Flut gefüllten Felsengruben, stehn für jedermann offen. Die Badgäste aus der Stadt kommen des Morgens mit einem Wägelchen hinausgefahren. Andere, die aus fernen Dörfern wanderten, lagern hier draußen wochenlang mit Zelten, Vieh und Wagen. In schlüpfrigen Bachläufen rinnt das faulig riechende, warme Schwefelwasser in den See. Kein Halm gedeiht in ihrer Nähe.

Tief eintauchendes Bad, das wie ein Nesselhemd die Haut umkleidet und doch innig wohltut in der Luft des Glühens! Erlöstes Ausruhn im Freien, wo nach dem Bad auch der sengende Windhauch noch Kühlung fächelt und ein Glas klaren Wassers, aus dem See geschöpft, wie ein Trunk des Lebens selber schmeckt! Nichts anderes hier zerteilt die Aufmerksamkeit. Von Schlacken frei geworden, ergibt sich die Beschauung dem ungetrübten Zauberblau des Sees. Und von einem holden Bann befangen steht die Seele plötzlich Ihn, der im Kahn am Ufer steht, ein wenig abgehoben von der lauschenden Menge, nur die Planke des Bootes und das durchsichtige Wasser unter seinen Füßen. Und nochmals Ihn, wie ein der Flut entstiegenes Götterwesen mitten in einer aus den Dörfern zusammengelaufenen Menge, im Begriff einen Abhang hinaufzusteigen, sich niederzusetzen und zu sprechen. Plötzlich stellt sich die Empfindung ein, als flösse alles was Ihn betrifft, in eine einzige tausendfältig zusammengesetzte Vorstellung über: die von Blechinstrumenten begleiteten, lärmenden Lieder der Heilsarmee; die weiße Scheibe der in tiefer Andacht am Sonntagmorgen in einer von Schwalben zwitschernden Kirche empfangenen Hostie; das von Meisterhand geschnitzte Gesicht des gotischen Kruzifixus; die Gebärde des in ein blütenrotes Gewand gekleideten sanften Predigers auf der Höhe eines deutschen Waldgebirges; das Schwarz auf Weiß der Zeitungsaufsätze um Weihnachten und Ostern; die Plakate amerikanischer Kirchenvorträge von eitlen Rednern vor einem eitlen Publikum; die einsamen Bücher des heiligen Augustinus, des heiligen Thomas des Scholastikers; die an fromme Frauen gerichtete Predigt des Meisters Eckehard im Dom zu Erfurt; das Stoßgebet des Sträflings im Zuchthaus; das Seufzen des Arbeiters unter der ewig wiederkehrenden Last von Ziegelsteinen; die Qual des Künstlers, der heute fertig ist mit dem schwebenden Schein von goldenen Strahlen um das Haupt Christi, um morgen ergrimmt die leuchtende Krone wieder auszukratzen und aufs neue an dem Versuch zu verzweifeln, in seine Züge alles zu legen. Alle Begeisterung und alle Zerknirschung, deren die nackte Seele des von Schuld geängsteten Menschen, alle Salbung, deren die verhangene Seele des Pfaffen fähig ist ... Ich höre das stille, ewige Getöse der Welt um diesen Namen von gewaltigen Dimensionen, IESVS; die Besitzergreifung der Atmosphäre durch seine immer neue, tausendfältige Erscheinung; das ärgerliche Sichwehren der Welt; das Erstaunen der Widerspenstigen; das zornige Donnerwetter des alten Olymp; das triumphierende Dahinziehn des Lammes mit der blauen Kreuzesfahne durch ein hohes Licht; die hochzeitliche, mit mystischen Wonnen ersehnte Ankunft des Bräutigams; alle Wunder des Heilands als einen Kranz von holden Ereignissen, einem solchen Wesen angemessen, das die Scharen nach sich zieht als ein Sohn und Abgesandter Gottes. Ach, daß nicht alles, was Odem hat, sein Leben in der Zeit verbringen konnte, da er lebte und an dem Ort, wo er umherging, um ihn, die größte aller Sehenswürdigkeiten, zu sehn! Sei es auch wie Thomas, der eher fähig war, den Verweis des geliebten Meisters zu ertragen als die Unseligkeit des Nichtglaubenkönnens, bis er mit scheuer Keckheit zwei Finger tief in die Speerwunde hineinsenkte. Riesengroß sehe ich Ihn hier emporgestiegen, das holde Gespenst der Landschaft, die von ihrem Glanz nichts bewahrt hat als den See. In blauen, leichten Umrissen steht die Gestalt wie ein Gewölk in der Klarheit des Tages. Staublos funkelnd wie ein Edelstein liegt die Fläche hier an der niedersten Stelle der Erde zu seinen Füßen; sein Haupt ragt in den dritten Himmel, sein Wesen ist unermeßlich wie die Gesamtheit der Sterne. Wie rührend ist diese arme Landschaft hier in ihrer vertrockneten heißen Ausgestorbenheit und Stille, in ihrer Begrenzung durch das rötlich glühende Rund der Seegebirge. Vielleicht hat ihr Verdorren einst als ein kosmisches Ereignis sich angekündet mit wiederholten Jahren übergroßer Hitze und schlechter Ernten, mit Unruhe, Umherziehn und Zusammenstößen der Menschen, in einem allgemeinen drückenden Vorgefühl schwerer Kriegszeit und einem Durst nach Erlösung vom Naturgesetz. Diese Mulde hier ist nur das Abbild der ganzen Erde, und das Schicksal der hier vergangenen Menschen ist das Schicksal aller. In einen bittern Becher aus schlechtem gebranntem Thon verwandelt sich zuweilen die reiche Pracht dieser Welt, und doch ist von den Wassern seines Lebens der Trunk daraus so süß und rein wie das Wasser, das aus dem See Genezareth geschöpft wird.

 

Es wird Abendzeit. Die ersten Windstöße fahren von den Höhen herab und heben aus meinem bis zum Rand gefüllten Glas das Wasser in silbernen Kügelchen, die glänzend umher über den Boden stürzen. Barken, von der Stadt gesandt, nähern sich mit schräg geneigten Segeln. Ich steige ein, das Boot entgleitet und hält sich immer nah am Ufer. Auf der Landstraße am Wasser zieht eine Schar von bestaubten, bunt gekleideten Landleuten mit ihren beladenen Tieren. Auf einem weichen Bodenrücken über ihnen lagert wie ein lichtes, ziehendes Strichgewölk eine Gruppe von Gräbern, die durch einen schneeweißen und himmelblauen Kalkguß gefärbt sind. Sie alle sind quer zum Rand des Sees nach Süden gerichtet wie nach einem geheimen Kompaß, die Häupter nach Jerusalem! Eine Herde schwarzer Ziegen weidet zwischen diesem hellen Steingewölk dort oben in den dürren Halmen.

Am Abend geh ich in der dumpfen, warmen Stadt umher. Den Sturm erwartend, sitzen die Menschen in ihren faltigen Nachtkleidern an den kaum beleuchteten Gassen. Friedliches, heiseres Rufen der Stimmen; Schlürfen weich bekleideter Füße auf den Steinen; zitternder, gepreßter Metallklang der Singmaschine; laue Gespräche vor dem kleinen Kaffeehaus; hoch über den engen, hohlen Menschenwohnungen die Sterne! Alles geht spät schlafen. Nach Mitternacht braust es plötzlich von den Höhen hernieder und wird zum Orkan. Er heult in den Höfen, rüttelt an den festverschlossenen Fenstern und bewegt den See zu breiten Flutgeräuschen. Aber als der Morgen aufgeht, liegen Stadt und See in kühler, goldener Ruhe. Mitten über dem blitzenden und sprühenden Wasser steh ich auf dem Schiff und seh einen im Wind vom Ufer fortgetriebenen Schmetterling in die Wellen sinken. Ich trage von geliebter Hand einen Brief bei mir, den nehme ich hervor und zerreiße ihn in kleine Stücke. Er entflattert meiner Hand wie ein Opferflug von Tauben, wirbelt im Wind hoch hinaus und senkt sich weit verstreut auf die gleißende Fläche nieder.


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