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Tempel

Es ist Sonntagmorgen. Ich reite mit einem Begleiter von Jaffa fort, um die Kolonie Wilhelma zu besuchen. Die helle, höckerige Stadt am Meer ist vom Laubgewälde der Apfelsinengärten umgeben. Durch diesen Gürtel reiten wir eine Strecke auf der Landstraße hin, und gelangen dann auf die schlecht bestellte rote Erde der Fellachen. Der Himmel ist weit und blau. Wir traben eine Weile durch den Sand der Dünen und schwenken dann landein. Wir folgen einem Pfad, er führt geradenwegs in eines der kleinen, verworren angelegten arabischen Dörfer; lieber umgingen wir das Wespennest, aber schon sind wir gefangen zwischen den niedern, aus Lehm und Mist gebackenen Mauern der Gartendickichte und den flachen Hütten, die ihren beizenden Morgenrauch emporsenden. Frauen, die wie schwarze Bündel vor den Eingängen der Wohnungen lehnen, erheben sich und fliehen; Kinder schreien auf und werfen uns Steine nach, ein alter Mann kommt uns zu Hilfe und zeigt uns den Weg in Freie. Dort liegen die gepflegten Saaten der Deutschen. Wir finden den Feldweg, er leitet uns zu einem fernen Wäldchen hin, in seinem Laube bergen sich die blaßroten Dächer des jungen Dorfes. Der Boden hier ist den Arabern vor etwa zwanzig Jahren abgekauft worden; er war eine große durchweichte Flur. Die schwäbischen Bauern brachen den Grund mit einem von zwanzig Ochsen gezogenen Untergrundpflug und streuten den Dünger hinein, den das nahe Fellachendorf in Mengen hergab. Ihre Wohnhäuser bauten sie nicht mehr ganz wie die einstöckigen der älteren Kolonistendörfer, sondern zweistöckig, mit kleinen Balkonen, geräumigen Hofstätten und stattlichen Nebengebäuden. Schwaben aus Südrußland gaben dazu die Anregung. Sehr breit ist auch die fünfhundert Meter lange Hauptstraße des Dorfes, wie eine Dorfstraße in der Krim. An der Seite liegen die Ziergärten voller Bauernblumen: Goldlack, Feuerlilien, blaue Pelargonien, Phlox, Bachnelken und Levkojen von dunklem und weißlichem Lila. Die jungen blühenden Maulbeer- und Aprikosenbäume stehn im leisen Glockenton der Bienenschwärme. Eine Doppelreihe von Eukalyptusbäumen gibt der Straße tiefen Schatten. Diese für unser Auge nicht sehr fremdartigen Bäume mit den schmalen Blättern, die wie Sicheln gekrümmt sind, haben eine Riesenkraft des Wachstums; sie sind starke Wasserzieher und haben in kurzen Jahren den nassen Boden hier getrocknet und gesund gemacht.

An der Allee stehen die Wohngebäude in bequemen Reihen. Dem großen Hofplatz gegenüber liegt das Gemeindehaus, das auch als Schule dient. Dort in dem schmucklosen Saal sind gegenwärtig die Männer und Frauen zur sonntäglichen Sprechstunde versammelt. Die Bauern hier sind Angehörige der Tempelgesellschaft, die Christian Hoffmann und Georg David Hardegg vor sechzig Jahren im Schwäbischen gründeten, um im Morgenland ein neues sittliches Volksleben aufzurichten. Tausend deutsche, auch etliche schweizerische Bauernfamilien siedelten nach Palästina über; sie glaubten, daß der Welt die Herrschaft Gottes nahe sei. Ihr Gottesdienst ist einfach wie der der Quäker, und er hat sie die Früchte ihrer fleißigen Händearbeit sehn lassen. Wilhelma ist nur die jüngste, aber nicht die kleinste ihrer Siedelungen.

Die Sprechstunde heute bringt nicht mehr als ein Lied aus dem alten württembergischen Gesangbuch und eine Aussprache über Angelegenheiten der Gemeinschaft. Es hat vor einigen Tagen in Jaffa vor den deutschen Pilgern die Grundsteinlegung des neuen Krankenhauses stattgefunden. Auch Abgesandte von Wilhelma waren dabei gewesen. Einer las nun den Dorfgenossen vor, was er darüber ausgeschrieben hatte, auch den Text der Predigt und den Inhalt der Reden, aber auch daß von allen den hochgestellten Rednern nicht einer beim Rückblick auf das deutsche Werk in Palästina die Tempelgesellschaft zu erwähnen für nötig fand. Ich fragte dann, da eine Stille entstand, nach der Meinung der Templer über die in Palästina jetzt einwandernden Juden. Ältere Männer gaben mir zur Antwort, daß nicht an den Juden allein die Weissagung sich erfülle; die Verheißungen gelten dem ganzen Volke Gottes. Noch seien die Juden in einem saulinischen Zustand; dem Abraham habe Gott auch aus Steinen Kinder verheißen.

Nach der Versammlung begrüßten mich einige Bauern freundlich und gingen mit mir durch das Dorf. Es hat große Gärten; silbergrüne Artischocken und fremdartige afrikanische Stengelbäumchen, mit keulenförmigen Früchten behängen, gedeihen dort neben dem fetten Salat, dem großhäuptigen Rotkraut und Rettich. Ich bewunderte in den reinlichen Ställen das schöne, aus deutscher und syrischer Rasse gezüchtete Hornvieh. In den Höfen standen neuartige Ackerbaumaschinen mit dem rot und blau bemalten eisernen Gestänge. Das Dorf hat einen eigenen Landwirtschaftslehrer, zuweilen halten jüdische Kolonisten sich hier auf, um die Feldwirtschaft zu lernen, denn der Getreidebau ist ihre Stärke nicht, die jüdischen Ansiedler taugen besser zu Pflanzern, als zu Bauern, doch ist ihre Viehwirtschaft rings um Jaffa schon so weit, daß sie die Milchpreise in der Stadt mit bestimmen kann. Um seine Abnehmer zu erhalten, hat denn das deutsche Dorf einen Vorarbeiter in seiner Molkerei angestellt, der die Milch koscher behandelt. Nach dem Gang kehren wir im Gasthaus ein, und in der Mittagshitze reitet dann einer der Bauern mit uns eine gute Strecke bis an die Grenze der Gemarkung, die an Petach Tikwah stößt. Wir reiten draußen vorbei durch die Bijaren. Die weiten Buschfelder der Orangensträucher, die Mandelwäldchen und Rebengelände, die in immer größerer zusammenhängender Breite die Ebene von Saron bedecken und den Wiederbeginn eines pflanzenden und bauenden Lebens anzeigen, führen im ganzen Land den Namen Bijaren. Um sie zu bewässern, müssen Brunne gegraben und Behälter aufgestellt werden; kleine Motoren besorgen, im Blätterdickicht versteckt, die Arbeit des Schöpfens. Oft in der panischen Stille der heißen, sanft wogenden Landschaft vernimmt der Reiter neben dem Glucksen der in die Gärten eingeschlossenen Brunnen nur von den Motoren das unermüdliche, leis schabende Geräusch.

 

Von Jaffa aus ging ich anderen Morgens nach Sarona, dem ältesten der schwäbischen Dörfer. Den Weg legt man in einer halben Stunde auf der Landstraße zu Fuß zurück. Ich traf den Ortsvorsteher in seinem Hof beim Heuabladen. Er beendete seine Arbeit und machte mit mir einen Gang durchs Dorf. Es liegt mit seinen von Blütenwänden überzogenen Häusern, seinen heiß besonnten Gärten und Obstbäumen auf einer Hügelwelle. Hähne krähen. Irgendwo in einem Hof erhebt ein Esel sein eisernes Geschrei. Rings glänzen die Wiesen tief bunt von dem glutfarbenen Mohn, von Dotterblumen, Kamillen und türkisblauen Zichorien. Weingärten mit Lauben, erbleichende Gerstenfelder mit schmalen Feldpfaden dazwischen breiten sich bis an die Sandwelle des Meers. Aus dieser reichen, heiteren und niederen Flut des Getreides und der Wiesen ragt die Zypressengruppe des Friedhofs wie eine ernste Kundgebung der mit dem Himmel beschäftigten Gedanken. Auch dieser Boden war noch ein sumpfiges und fast wertloses Stück, als die ersten Ansiedler den ganzen Placken von der Regierung für ein billiges Kaufgeld erstanden, Felder und Bauplätze des Dorfes gründeten und zuletzt alles nach dem Los verteilten. In den ersten Jahren erlagen viele dem Fieber. Aber wer erinnert sich noch der Zeit vor vierzig Jahren? Dem heutigen Geschlecht ist dieses Dorf die Heimat geworden. Der alte Bauer lädt mich ein, in sein kühles Haus einzutreten und am Vesper teilzunehmen. Auf den mit Wachstuch bezogenen Tisch stellt die Bäuerin den Krug mit Most, den Teller mit ungekneteter Butter, die Schüssel mit Wachshonig, das breite weiche Brot, von dem sie große Keile schneidet. Das Morgenessen in den Bauernhäusern im Remstal ist nicht anders. Auf dem Eckbrett liegt die Bibel und die Brille darauf, an der Wand hängt das Bild des Königs, über dem Sofa eine Weltkarte. Nur diese Karte und der Teller, der mit einem für die Enkelkinder bestimmten Naschwerk von süßen, grünpelzigen Mandelkernen gefüllt ist, lassen hier innen in diesen vier Wänden erkennen, daß wir fern von Deutschland auf dem fremden Boden sind. Mir scheint, als hätten die Einwanderer sogar die Hausfliegen aus der Heimat mitgebracht.

Die großen Weinkeller des Dorfes sind seine Sehenswürdigkeit und seine Schatzkammer. An dem schattigen Holzplatz unter den Bäumen am Dorfeingang arbeiten die Küfer. Dort stehn die Lagerschuppen mit den Schreibstuben der Weinbaugemeinschaft, die aus dem Hafen von Jaffa ihre gefüllten Fässer auf Barken nach allen Häfen der Levante sendet. Wir steigen die steilen Stufen hinunter wie in einen Bergwerksschacht und tragen hölzerne Gabeln mit Kerzen in den Händen. Unten in der kühlen Kellerluft treten wie Andeutungen die Stirnseiten der großen Fässer aus der Dunkelheit hervor. Ein Höhlengang, der unter der Dorfstraße durchführt, verbindet die in den mürben Sandstein gegrabenen Gewölbe miteinander. Ein arabischer Knecht steht bereit mit einem Handbrett voll gefüllter Gläser mit Proben von dem würzigen weißen Riesling, dem dunkeln feurigen Toggauerwein von ungarischer Traube und dem leichten, duftenden Alicante. Ich denke an den Duft der kleinen rotbemalten Weinfässer in dem winkeligen Eckladen der Jaffavorstadt in Jerusalem, wo ich kürzlich einen Nachmittag mit dem schwäbischen Geschäftsinhaber plauderte. Vom Weinhandel sprachen wir wenig, wir sprachen von der Geschichte der Tempelbewegung und ihren Männern. Zuweilen unterbrachen Kunden das Gespräch, Dienstleute aus den Gasthäusern der Stadt, die sich ihre bauchigen Flaschen füllen ließen, bärtige Pilger aus dem nahen Russenhospiz, die den Rotwein mit papierenen Rubeln aus dem Stiefelschaft bezahlten. Ich habe noch eine Nummer der »Jerusalemer Warte« in der Tasche, der unscheinbaren und dürftigen Templerzeitschrift, die vor siebzig Jahren in Ludwigsburg Christoph Hoffmanns »Süddeutsche Warte« war und damals im Streit der Strenggläubigkeit gegen die kritische Tübinger Schule ihre Stimme erhob. Seit einer Reihe von Jahren erscheint sie in Jerusalem und wird im Syrischen Waisenhaus gedruckt. Längst wagt sie jene kühne Deutung der Zeitereignisse nicht mehr, die den alten Hauptleuten vom Deutschen Tempel um die Jahre fünfzig und sechzig als Vorläufer des Weltendes erschienen. Was ist aus der kleinen beherzten Schar der Gläubigen geworden? Ein starkes Inselvölkchen deutscher Bauern mitten in der braunen arabischen Menschenflut, gebräunt von der morgenländischen Sonne wie diese, Bauern mit der Bibel, dem Weinfaß und der Sense und der deutschen Flagge darüber so gut wie die daheim, und mit einem unerfüllten großen Traum im Herzen.

Wir sind wieder an das grelle Licht emporgestiegen, und ich gehe auf der heißen Landstraße nach Jaffa zurück. Das Dorf mit den krähenden Hähnen, dem Rollen der Puter, dem Klaggeschrei des Esels bleibt hinter mir wie festgebunden in die Heiterkeit des wolkenlosen Morgens. Leiterwagen des Dorfes mit arabischen Knechten kommen aus dem Feld, im schmalen Schattengang an der hohen Gutsmauer begegnet mir ein hageres Weib mit nackten schwarzen Füßen, der braune Leib im groben dunkelblauen Hemdgewand; sie trägt auf dem Kopf eine Last von frischem Heu und blühenden Winden. Und da ich nun allein gehe, achte ich erfreut auf das Geschenk in meiner Hand, eine große schwere Stechapfelblüte aus dem Garten und ihren starken Duft von Muskat. Sie ist köstlich weiß und glatt wie der Unterarm einer schönen Frau. Aber im Zusehen beginnt dies zarte Fleisch sich zu verändern, es überzieht sich mit den braunen Adern jäher Welke. Und so verzweifelt und leichenhaft wird der Duft, ich halte sie erschrocken in der Hand und lege es endlich, dies sterbende wilde Geschöpf des Landes, seitwärts in das bestäubte Gras.

 

Ihre Kolonie hier in Jaffa kauften die frisch eingewanderten schwäbischen Bauern vor einem Menschenalter als den Rest einer verunglückten amerikanischen Siedelung, die den Namen Adams City führte. Sie bestand aus neunzehn Bretterhäusern, die fertig aus dem Staate Maine mitgebracht worden waren. Die neuen Bewohner setzten erst in späteren Jahren feste Steinbauten an ihre Stelle. Eines dieser Holzhäuser steht noch, verstaubt und verschlossen wie ein Museumsstück, nah dem Eingang des Besitzes, an der Straße, die ein wenig bergan führt, einer unansehnlich gewordenen Kapelle der englischen Judenmission gegenüber. Die Mauern und Gartenhecken der Ansiedelung umfassen kaum mehr als ein einziges Straßenkreuz mit seinen dahinter gelegenen Gärten; vorn die Gasthäuser mit den eingeborenen Dienern, Pferdeverleihern und Stiefelputzern vor der Tür, auf dem Hügel die neugebaute evangelische Kirche mit dem weithin sichtbaren weißen und spitzen Turm, und die öffentlichen Anlagen.

Dort verzweigen sich die Pfade unter den hoch emporgeschossenen Stämmen der Agaven, den Schattenbäumen, den wie aus Blech geschnittenen Kakteen, den Büschen purpurblauer ägyptischer Rosen, den feuerfarbenen Geranien und duftenden Schmetterlingsranken. Eine Stufe tiefer als der Garten liegen Pflanzgärten mit ihrem dichten, metallisch glänzenden Laub, einzelne Palmen strecken ihre biegsamen Stämme steil hervor und wiegen ihre Fächer, wie der Wind es will. Im goldenen Nachmittagshimmel stehen kleine Drachen über der entfernten Stadt, unbeweglich wie Fische, mit zitterndem Schweif. Man hört von weitem das Horngeschmetter aus einer Kaserne. Vielleicht ist es jene am Marktplatz, und die Soldaten eilen auf diesen Ruf herbei, an dem Eiswasserverkäufer vorüber, der mit seinem roten Wägelchen, das einem Panzerschiff nachgebildet ist, im Gewühl der belebten Straßen vor Anker liegt. Ein alter türkischer Herr kommt an meiner Bank vorüber. Er hält die Hände auf den Rücken. Seine hagern Finger spielen mit einem Rosenkranz aus dicken Bernsteinkugeln. In einem Abstand folgen ihm drei Frauen, verschleiert und ganz in glänzende Seide eingehüllt, eine schwarz wie Kohle, die anderen beiden braun. Von der Sonne vergoldet, wandeln sie ruhig mitten im Duft der Rosensträucher. Und da ich diesem reizenden und eigentümlich befriedigenden Geheimnis nachspähe, beugen sich die beiden jüngeren auf einen blühenden Busch hernieder und zeigen, ohne mich anzusehn, ihre weißen Gefangenengesichter.

 

An der vom tiefsten Staub bedeckten Landstraße liegt ein kleiner Biergarten, den zuweilen auch die Bewohner des nahen jüdischen Stadtviertels Tel-Awiw und die polierteren Levantiner aus der Stadt besuchen. Den aufgeklärten Levantinern erscheint die ganze Welt wie ein Pariser Kabaret, und sie verzieren ihre Abende im Biergarten durch französische Lieder und ein glucksendes Lachen. Es gibt hier für die soliden Deutschen aus der Nachbarschaft eine Kegelbahn, die nicht im geringsten ungewöhnlich aussieht, obwohl ihre Fläche aus weißen Marmorplatten zusammengesetzt ist. Durch das grüne Laub hindurch scheinen die überhellen Glühlichtlampen. Ein alter bissiger Affe liegt an der Kette und faucht den Kugeln nach, die krachend in die von einem neunjährigen Araberknaben aufgestellten Hölzer hineinfährt. Die Spieler hier, mit weiß bestaubten Schuhen, stehen in Hemdsärmeln umher; aus abgerissenen Gesprächen über Zeitereignisse, Geschäfte mit Beton und künstlichem Dünger fährt die Kugel heraus über die donnernde Bahn, die Zahlen reihen sich auf der schwarzen Tafel, und pünktlich um zehn Uhr geht man nach Haus. Nur der helle Mond, von einem weiten Hof umgeben, beleuchtet die Landstraße; die Luft ist warm, der braune Ring dort um den Mond verheißt einen Glutwind für die nächsten Tage. Das Tor der Kolonie ist schon geschlossen. Umständlich wie ein Stadttor wird es von innen aufgemacht, und bis zur Haustür geht der Wächter mit. Oben in meinem Zimmer ordne ich meine Sachen zur Abreise. Ich finde in der Schrankschublade ein fremdes Buch, es hat den seltsamen Titel: Bibelgerbstoff in Pillen. Gerbstoff? Bibel? Kühne Wortverbindung, die an englische Vorbilder erinnert. Doch bei den Bibelkundigen heißt Jaffa die Stadt Simons, des Gerbers. Ich beginne zu blättern und zu lesen. Es find Anmerkungen zu dreihundertundfünfundsechzig Bibelsprüchen, einen für jeden Tag des Jahres; die meisten von ihnen betreffen die Heiligung der Ehe. »Ein geistiges Gesundheitsmittel, besonders wirksam gegen Unglauben und sittliche Fäulnis. Von E. Hardegg« heißt es auf der innern Umschlagseite, und aus dem Vorwort ist zu erkennen, daß dieses Buch bestimmt war, den Gästen des Hauses als ein des Landes würdiges Andenken geboten zu werden. Das Gasthaus gehörte einem Sohn des einstigen Tempelvorstehers Hardegg. War also der frühere Besitzer dieses guten Gasthauses ein Sonderling, so war er von einer biederen und ländlichen Art, der es wohl anstand, dem Gast nicht nur mit Geld Bezahlbares zu bieten. Noch jetzt trägt jede Tür der Gastzimmer den Namen eines Propheten aus dem Alten Testament. Dieses der Erbauung gewidmete Buch mag früher offen auf dem Tisch gelegen haben, bis später ein Griff verlegener Hausleute es in seiner hölzernen Gruft bestattete. O du Traum vom himmlischen Königreich auf Erden, da die Menschen Gottes Gebote befolgen und die Weisheit der Völkerväter obsiegt über das kurzlebig muntere und ehebrecherische Eintagsgeschlecht! Auch hier bist du geträumt worden unverheimlicht, auch hier als eine Torheit unterdrückt und neu zutag gekommen. Du wirst weiterleben, so schlimm es auch in der Welt noch hergehn mag, bis zu den fernen Tagen der Verwirklichung.

 

Ich trete auf den Balkon hinaus in die kühle Luft der Nacht und finde mich hoch über den Feldern, in denen einzelne Häuser im Mondlicht bleich wie Kreide schimmern. Fern rauscht die Brandung des Meeres, aus der Stadt gellt zuweilen ein Pfiff, zuweilen auch der melodische dunkle Ruf von den Türmen der Moscheen. Aus der Weite hallt in Salven das Geheul von Schakalen, doch aus diesem Schleier von Stimmen, der über der Stille liegt, dringt keine glatter hervor als das ewige Wie? Wie? der Frösche.

 

Aus dem Blauen über mir träufelt leicht und glänzend wie ein Sonnenregen das jubelnde Gezwitscher der Lerchen auf die Höhe des Karmel herab. Blankes Meer dort unten zu Füßen des Prophetenberges, weit und still wie der Reichtum des Himmelsraumes! Breite Abhänge, bekleidet mit Rebengärten, geschmückt mit rotblühenden Blumeninseln, bekränzt mit Gebüschen von Lorbeer, Myrthen und duftendem Ginster!

Dort am fernsten Rand der weit geschwungenen Bucht liegt Akka, aus der Ferne sichtbar in der Klarheit des Nachmittags, eine kleine, von mittelalterlichen Wällen umgebene, vom Sand fast erstickte Stadt mit einer braunen, bitteren Bevölkerung von Fischern und Getreidehändlern. Das einst so bunt belebte Handelsufer liegt erstorben. Die verrosteten Schiffsketten des Hafens, die alten Geschütze von den Wällen erwecken die Begehrlichkeit kluger Makler und wandern eines nach dem andern als Trödel fort und als Schiffslasten, die fernen unbekannten Schmelzhütten zugeführt werden. Der Fahrweg nach Haifa führt knapp am Saum des glatten Meeres hin; die Räder des Wagens laufen halb im Wasser, die Pferde haben auf der einen Seite die Wellenfläche, auf der anderen Seite die Felder und die Palmen. Haifas Aufstieg läßt Akka, die alte geschichtliche Stadt der Kreuzfahrerzeit, vollends in Vergessenheit geraten. Weiß und lärmend liegt die kleine neuere Stadt vor der Bergwand in der grünen, wässerigen Ebene. Die Straßen haben begonnen, den Berg zu ersteigen; sie setzen sich, ohne Häuser, noch weit hinauf in Windungen fort. Auf halber Höhe liegt das von einem Berliner Architekten neuerbaute große Technikum, ein weißer Palast von morgenländischer Bauart. Statt der Prunksäle eines Herrschers enthält er Hörsäle und Fabrikwerkstätten eines zur Wissenschaft und Macht sich drängenden Volkes und schaut mit dem Stolz des Emporgestiegenen auf den Hafen hinunter. Dort unten endet ein Zweig der neuen Pilgerbahn, die nach Mekka führt. Durch diese Bahn sendet der belebte Hafen die Güter schon bis in die südlichsten Gebiete des türkischen Reiches und beginnt sich den älteren benachbarten Hafenstädten Jaffa und Beirut gleichzustellen. Fremde Dampfer kommen täglich und zeigen auf einander eifersüchtig ihre Flaggen. Aus dem trojanischen Bauch der Schiffe tritt der Eroberer in das Land mit seinen jeden Augenblick ersetzbaren und verstärkbaren Hilfswerkzeugen und in vielerlei zur Arbeit bereiten Gestalten. Das Technikum, die Eisenbahn der Deutschen, alle diese Dinge, in denen die nüchterne Gewalt Europas steckt, sind Werkzeuge des Welthandels und schließen von hier aus unwiderstehlich die Maschen des Netzes um den arabischen Weltteil. Ein wenig abseits von Haifa liegt die Siedelung der Templer. Die anmutige Doppelreihe flacher und wenig geneigter Dächer reicht von der Mole am Meer in gerader Richtung bis an den Fuß des Karmel. Aus den Höfen dort klingt Sensendengeln, klingt immerfort das fleißige Binkebank der vielen Schmieden und Wagnerwerkstätten. Die breiten, zackigen Schatten der Johannisbrotbäume, die schmalen, zugespitzten Schatten der Zypressen und Palmen liegen auf den grell besonnten Wegen und über dem Flor der Gärten. Über jeder Tür prangt ein biblischer Spruch, ein Stirnband von gotischen Buchstaben. Hier ist der Ort, jenen Gedanken nachzuhängen, von denen einst die deutschen Templerbauern in dieses Land sich leiten ließen.

 

Man kann, vom Sitz der geistlichen Geschichtschreibung herab, die Templer als eine der aus dem schwäbischen Pietismus der Zopfzeit hervorgegangenen Sekten bezeichnen; damit ist aber noch nichts gesagt über die innere Ursprünglichkeit der Bewegung, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einer Schar deutscher Bauern den Mut eingab, ihr Land zu verlassen, um im Morgenland eine bessere Heimat zu suchen. Es müssen tiefere Ursachen als die gewöhnlich zur Sektenbildung führenden, wenn nicht gesellschaftlicher, dann geistiger Art, vorhanden gewesen sein, daß jene Familien sich aufmachten und geradenwegs nach Palästina zogen, um dort auf verwüstetem Boden ein neues Volksleben zu pflanzen. Sie wollten nichts Geringeres. Das hatten die Templer gemein mit jenen anderen Utopisten, die zu verschiedener Zeit aus europäischen Ländern, nicht immer vom Posaunenengel angeführt, ins Blaue auswanderten. Was sie von denen unterschied, die Amerika oder Rußland wählten, das war die Losung Palästina und der seherische Hinblick auf kein anderes Land als dieses, auf das schon ihre Vorfahren ein Augenmerk gerichtet hatten.

Der Pietismus, der in Württemberg im siebzehnten Jahrhundert aufkam, stand von Anfang in einer tieferen Gedrücktheit als die ihm nah verwandten, von Spener, Franke und Zinzendorff angegebenen Richtungen. Das lutherische Württemberg, von katholischen Fürsten regiert und inmitten katholischer Landschaften gelegen, fern von Preußen, das durch Friedrich den Großen den stärksten Einfluß auf die Protestanten des mittleren und nördlichen Deutschland gewann, war seit dem Bauernkrieg ein ruhiges und ergebenes Land geworden; es stellte längst die Leibwache staufischer Kaiser nicht mehr; es diente seinem Herzog und wollte seine Ruhe. Es besaß eine Universität und Professoren zu Tübingen, einen wohlhabenden Bürgerstand und eine geordnete Kirchenverwaltung. Aber die Regierung sah nach Frankreich und schwang die absolutistische Fuchtel. Das Volk gab seine Antwort darauf, indem es pietistisch wurde. Die durch Luther geöffnete Bibel war sein Buch. »Wenn man seinen Hund den ganzen Tag schlägt, so geht er durch und sucht einen andern Herrn, bei dem er es besser hat. Auf die gemeinen Leute nun schlägt jeder zu, der Herzog schlägt auf sie hinein, die Soldaten schlagen auf sie hinein, die Jäger schlagen auf sie hinein. Das stehen sie nicht aus, gehen also durch und suchen einen andern Herrn, sie suchen Christum; und wer Christum sucht, der ist ein Pietist«. So schrieb der Pfarrer Flattich, der damals als ein unerschrockener Erzieher unter dem schwäbischen Landvolk stand und ein Schüler Bengels war. Der Pietismus stützte sich in Schwaben nicht auf den Adel wie in Norddeutschland, sondern wesentlich auf die Geistlichen und die Bauern. Der schwäbische Pietismus in seiner eigensten Gestalt vertiefte sich aber noch durch die exegetischen Schriften Johann Albrecht Bengels, eines weit über seine Lebenszeit hinaus wegen seiner merkwürdigen Weissagungen berühmten Kirchenmannes, der zum Vater einer geschichtlichen Periode des christlichen Chiliasmus geworden ist.

 

Bengel war 1687 in dem Städtchen Winnenden geboren und ist 1752 als Konsistorialrat und Prälat in Stuttgart gestorben. Seine »Erklärte Offenbarung« und »Sechzig Reden fürs Volk« wurden den schwäbischen Frommen zur Nachtigall in der dunkeln Zeit. Theologische Studien waren in Württemberg volkstümlicher als anderswo, und die Auslegung des Weltsinnes war ihr Lieblingsgegenstand. Wie den Kelten Irlands und der Bretagne, so wird ja auch dem Schwabenvolk eine besondere Begabung und Neigung für das Übersinnliche nachgesagt. Bei der chiliastischen Unruhe, die von Zeit zu Zeit immer wieder die Menschen bewegt und noch jetzt mit Hunderttausenden von teuern Büchern und billigen Heften, in Deutschland und Rußland kaum weniger als in England und Amerika, die gläubigen Seelen und geistlichen Kannegießer beschäftigt, handelt es sich um die dunkle Grundsuppe allen geistlichen Lebens: um eine dem Menschengeist eingeborene Kraft der Mutung, ein Verlangen nach dem Blick in die Zukunft, um eine Anteilnahme auch an den Vorgängen in einer andern Welt. Wer vermag die merkwürdigen, durch spätere Ereignisse bestätigten Prophetenverse des Nostradamus zu erklären oder die in den Büchern der Taoisten enthaltenen Deutungen auf den Anbruch der neuen Herrscherzeit in China? Mit der eigentlichen Intelligenz hat diese Gabe vielleicht nichts zu tun; der Messianismus, der aus der Bibel und den andern Offenbarungsbüchern hervorgeht, ist aber dem verfeinerten Messianismus der philosophischen und dichterischen Literaturen nah verwandt. Auch die Geschichte der Wissenschaften verzeichnet Beispiele der Divination, die auf der Grenze der Ahnung und des Wissens Ereignisse vorausgesagt hat, wie die Entdeckung des Neptun, die Entdeckung des periodischen Systems der Elemente in der Chemie und den Fund von Urkunden der Sprachwissenschaft. Wer klug vermutet, ist der trefflichste Prophet. Manches Gemüt mag eine tiefe und verschüttete Kunst der Mantik ahnen; es mag auch manches Kleinod aus den Schätzen magischer und kabbalistischer Adepten zum Spielzeug des Aberglaubens, zum Kehricht, zum Thema der Unterhaltung und Beunruhigung des Volks herabgesunken sein. An Stelle des jüdischen, hat in christlicher Zeit ein beunruhigtes Volk nach dem andern Gott selber sich an die Brust geworfen.

Über allen Ideen Bengels stand das Gefühl einer sichtbaren und nahen Verwirklichung des Reiches Gottes. Seine Besonderheit war es, den Ereignissen, die der Wiederkunft Christi vorausgehen sollten, nach den magischen Zahlen, die in den Offenbarungsbüchern enthalten sind, ihre Bedeutung in der Zeitgeschichte anzuweisen. Aber mehr als bei andern Propheten und Rechenkünstlern dieser Art war es bei diesem Mann ein Gemisch von ahnungsvoller Einsicht und mystischer Befangenheit, das ihn auszeichnete und durch seine Bücher auf Tausende überging. Er näherte eine Zeitlang sogar die Erwartung des tausendjährigen Reichs dem Bekenntnis der Kirche.

Bengel war in seinen Berechnungen so weit gegangen, das Kommen der letzten Dinge für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts vorauszusagen. Sein Buch Gnomon, ein Hauptwerk der Bibelauslegung, das mitten im Zeitalter Voltaires und Lessings entstand, weckte eine heimliche Blüte geistigen Lebens, die an vereinzelten Stellen, wie in der Lebensgeschichte des jungen Goethe und des Novalis ihren Duft mit dem Blühen deutscher Literatur um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts vermischte. Es verhieß der Zukunft den folgenden Gang: Der Geist der Zeit werde je länger je mehr Skeptizismus und Naturalismus sein. Das Kaisertum werde – das Buch wurde 1740 geschrieben, Bengel starb 1752 – noch etwa sechzig Jahre währen, man gebe nur acht, ob etwa der König von Frankreich nicht noch Kaiser wird? Die deutschen Bistümer werden säkularisiert werden, der Erdball werde ein ganz anderes Aussehen gewinnen, die lateinische Sprache werde nicht mehr lang gang und gäbe sein. Von Büchern werden allerlei Erzählungen, wenn es nur einen Zeitvertreib abgibt, am meisten gelesen; läuft noch etwas Geistliches dazwischen, so muß es auf eine sinnreiche Art vorgestellt sein, da man sich dann an der Manier des Vortrags ergötzt und weiter keine Besserung des Herzens sucht. Die Philosophen werden den Kern ohne Butzen, Hülle und Schale haben wollen, d. h. Christum ohne die Bibel, und werden so aus dem Subtilsten zum Gröbsten fortschreiten. Sozianismus und Papismus scheinen jetzt noch weit auseinander zu liegen, und doch werden sie einmal zusammenfließen, und das wird dem Faß den Boden ausstoßen.

Es kam hinzu, daß sich die Ideen Bengels in seinen Anhängern mit denen seines jüngeren Zeitgenossen Swedenborg vermischten. Die Gedanken von der Neuen Kirche und von der Offenbarung haben den Besten einen Aufschwung gegeben, der selbst bis in die Werke Ibsens und Strindbergs noch verspürbar ist. Als sie zuerst in ihrer kräftigen Kühnheit und Neuheit den Pietismus ergriffen, wurden sie in England und Frankreich sogar von Staatsmännern in Betracht gezogen und übten durch die deutschen Träger bis auf den Gründer der heiligen Allianz ihren Einfluß aus. Auf die ungebrochene Überlieferung der Bengelschen Ideen in Württemberg war noch hundert Jahre nach Bengels Tode der Entschluß der Tempelgemeinde aufgebaut, sich selber nach Palästina zu verpflanzen, um dort Gott bei seinen gewaltigen Plänen gleich zur Hand zu sein.

 

Durch die Ereignisse der französischen Revolution und das Auftreten Napoleons erhielt die sehr verbreitete Spekulation auf die im Buch Daniel und in der Offenbarung Johannes vorausgesagten Anzeichen des nahen Weltendes einen neuen gewaltigen Anstoß. Im Oktober 1800 erschien eine Schrift des Pfarrers Friedrich zu Winzerhausen, Oberamt Marbach: »Glaubens- und Hoffnungsblicke des Volkes Gottes in der antichristlichen Zeit, aus der göttlichen Weissagung gezogen von Irenäus II-us. Mit zwei Anhängen: Bengels summarische Beschreibung des tausendjährigen Reiches und Merkwürdige Rede eines Irländers in Betreff der Nähe der Zukunft Christi und des tausendjährigen Reiches, gezogen aus der Allgemeinen Deutschen Zeitung.« Nach dieser Schrift, die schon im Titel ihren Rückgang auch auf eine ältere Schule des Chiliasmus andeutet und sich in ihren Ausführungen an den Gedankenkreis des Irenäus, des aus Kleinasien stammenden ersten Theologen der nachapostolischen Zeit des Christentumes, hielt, sollten in den nächsten zwanzig Jahren alle Kapitel der Apokalypse vom zehnten bis zum zwanzigsten in Erfüllung gehn. Während der zunächst bevorstehenden babylonischen Verfolgungen und schrecklichen Gerichte Gottes wird Palästina der Zufluchtsort der Gläubigen sein. Dahin werden die zwölf Stämme Israels zurückkehren und ihr staatliches Gemeinwesen auf der gesetzlichen Grundlage der Landverteilung unter die einzelnen Stämme wieder aufrichten. Sie werden sich zu Christus bekehren, werden die fremden Gläubigen, die sich in das Land retten, aufnehmen und mit Grundbesitz ausstatten. Christus, nicht in sichtbarer Erscheinung, sondern durch einen Statthalter aus Davids Geschlecht, wird mit dieser Bevölkerung das tausendjährige Reich gründen. Der Tempel mit dem alten Opferbrauch und den Festen wird wiederhergestellt werden. Mit der Herrlichkeit dieses neuen Gottesdienstes wird sich die politische Vormacht des in Palästina entstandenen Gottesstaates und eine Hauptakademie des Heiligen Geistes in Jerusalem verbinden und ein ungestörtes wirtschaftliches Wohlsein: hundertfältiger Ertrag der Felder, ellenlange, zehn Pfund schwere Trauben, Honig in Menge, reicher Ehesegen, ungefährdete Entbindungen, höchstes Lebensalter. In diesem Zustand des irdischen Lebens, – trotz ihm, – sollen auch alle geistigen Güter zur Geltung kommen, wird alles sittliche Verderben verbannt sein. Aber in den übrigen Ländern der Erde wird sich unterdessen alles zum Übeln wenden: Kriege und Aufstände werden die Ordnung untergraben, die Aufklärung wird das Christentum zerstören. Doch einst soll von Jerusalem her alles, auch das Verderben der übrigen Welt, zur Ehre Gottes umgewendet werden.

Der Eindruck solcher ausgemalten Zukunftsbilder muß in Schwaben besonders stark gewesen sein. Der Acker für diese Saat des Glücksverlangens war in vielen Menschen vorbereitet. Im Jahr 1801 zog unter der Führung einer Hysterischen von bewegter Vergangenheit, der Seherin Marie Gottliebin Kummer aus Kleebronn, eine Schar von mehreren Dutzend Personen mit Pilgerstäben, die blaue Bänder als Schmuck trugen, über Weinsberg zur Donau, und dann auf den sogenannten Ulmer Schachteln den Strom hinab bis Wien. Sie wollten nach Jerusalem. Der württembergische Gesandte in der Kaiserstadt ließ die Leute in ihre Heimat zurückschaffen, sie fanden aber in ihren Dörfern kein Obdach mehr, und ihr Pilgerlied endete im Elend. Tüchtiger war die Schar des Webers Johann Georg Rapp, eines Mannes aus Iptingen, der sich schon seit seinen Jugendjahren des landeskirchlichen Gottesdienstes und Abendmahles enthielt und der mit einer groben Entschlossenheit seinen Widerstand gegen die obrigkeitliche Bevormundung in Württemberg zu spüren gab. Die wachsende Schar seiner Anhänger forderte allmählich Maßnahmen zu seiner Unterdrückung hervor, aber die Behörde zögerte, gegen ihn einzuschreiten. Da wanderte er im Jahr 1803 mit einigen hundert Familien aus. Die Gruppe ging nach Amerika und führte drüben den Namen der Harmonisten. Sie gründete die Kolonien Harmony bei Pittsburg, New Harmony in Indiana und Economy in Ohio, und bis zu seinem Lebensende als Neunzigjähriger hat Rapp fast mit unumschränkter bürgerlicher und geistlicher Autorität als der Alleinherrscher dieser klösterlichen Arbeitsgemeinden, die zu großem Wohlstand kamen, gewaltet. Andere Ausgesonderte in Württemberg, die gleichen Ideen gefolgt waren, aber das Land nicht verlassen wollten, boten der Staatsgewalt offenen Widerstand. Diese Bauernhaufen zogen sich, wie einst die Waldenser, Hugenotten und Kamisarden in den Sevennerbergen, auf einsame Höfe zurück oder versammelten sich in den Wäldern. Ihnen galt die Obrigkeit gleich mit dem höllischen Widersacher. Die sieben Kurfürsten, zu denen seit dem Frieden mit Frankreich auch kurze Zeit der württembergische Herrscher gehörte, galten ihnen als das siebenköpfige Tier aus dem Abgrund; sie hielten Bonaparte für den Gesandten Gottes, ja für eine Erscheinung Christi und glaubten nach 1815 an seine Fortdauer im Verborgenen, nicht anders wie jene russischen Abergläubischen, die den Kaiser Peter III. für einen Christus ansahen und an seinen Tod nicht glauben wollten. Als Abzeichen trugen sie einen roten Stern auf der Brust, die Männer weiße Hüte und die Weiber weiße Hauben, nannten einander bei den Vornamen, enthielten sich der ehelichen Gemeinschaft und nährten sich nur von Pflanzen. Ein Teil dieser Schar schlug im großen Auswanderungsjahr 1817 den Weg nach Amerika ein. Englische Quäker waren ihnen dabei behilflich. Sie gründeten die Gemeinde Zoar im Kreise Tuscarawa in Ohio. Diese kommunistische Gemeinde hat fast achtzig Jahre bestanden; ums Jahr 1896 wurde ihr gemeinsames Vermögen unter die Nachkommen der Eingewanderten aufgelöst.

Um die Wende des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts waren in Württemberg die Zustände für die Frommen im Land, die in Sachen des Gottesdienstes zäh am Hergebrachten hielten, nicht viel besser geworden als in der Entstehungszeit ihrer Kreise. In der Oberkirchenbehörde herrschten Rechthaber, die mit aufklärerischen Neuerungen selbst die treu Gesinnten beleidigten und besonders den Pietisten ihr Mißtrauen zu fühlen gaben. Viele Bauern gedachten auszuwandern; Auswanderung aber war verboten. Die verbreiteten Bengelschen Schriften und das Auftreten kühner Männer, wie des Webers Rapp oder auch des bäuerlichen Theosophen Michael Hahn, weckten in diesen Zeiten der Gewissensbedrückung den stummen Trotz der Leute. Mitten in einer Zeit der Verfassungskämpfe, die das Land beunruhigten, starb der dicke König Friedrich. Das Verbot der Auswanderung wurde von seinem Nachfolger Wilhelm aufgehoben. Im Hungerjahr 1817 fand dann jene Auswanderung von hunderten, ja tausenden schwäbischer Bauernfamilien statt, die im Osten den Bergungsort zu finden hofften, der nach den Hindeutungen Bengels und Jung-Stillings den wahren Gläubigen vorbehalten war. Der Schwiegersohn der Frau von Krüdener, russischer Ministerialrat Baron Berkheim, führte die Reisenden. Der Kaiser Alexander siedelte die Deutschen in der Nähe von Odessa und in Grusinien an, er gewährte ihnen Selbstverwaltung und Befreiung vom Militärdienst. Jenen Ausgewanderten, deren Nachkommen noch heute in den ansehnlichen, nach deutscher Art wirtschaftenden Dörfern Südrußlands wohnen und einen großen Landbesitz in Sibirien dazu erworben haben, war unter dem Einfluß der Swedenborgianer Napoleon als der Apollyon der Johannesoffenbarung und als der unmittelbare Vorläufer des Antichrist erschienen. Die Kummerin nannte in einem ihrer Gesichte Alexander den weißen Adler; mit derselben Schwärmerei sah auch die Frau von Krüdener mit ihren und Jung-Stillings Anhängern, sahen die Irvingianer, die Biblische Gesellschaft, die Freimaurerlogen, die Skopzen und selbst die Reaktionäre des heiligen Synods zu dem jungen russischen Herrscher auf. Es ist bekannt, daß Alexander später unter dem geistlichen Joch eines griechisch-orthodoxen Mönches Photios endete, mit dem er, offenbar noch immer im Bann der Bengelschen Ideen, die Allvernichtung im Jahr 1836 erwartete. Von diesem Kaiser, dessen ganzes Dasein ein Zusammentreffen seelischer Gegensätze und das Erbeben eines geistig Blinden war, heißt es ja noch heute, daß er keineswegs im Jahr 1825 gestorben sei, sondern daß er bis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Einsiedler bei Tomsk in Sibirien weiter gelebt habe.

 

Das kleine Württemberg erlitt durch die Auswanderung so vieler tüchtiger Bauern einen großen ernsthaften Verlust. Um der Entvölkerung zu wehren, sah endlich die Landesregierung kein anderes Mittel, als das Entstehen selbständiger außerkirchlicher Gemeinden zuzulassen. Ein Mitglied der Ständeversammlung, das zugleich den pietistischen Kreisen angehörte, machte den Vorschlag zu einer Gründung nach dem Vorbild der Herrnhuter Brüdergemeinde. Die königliche Genehmigung ließ nicht auf sich warten. Schon im Frühjahr 1819 kaufte der Mann, der nach Aufforderung der Regierung diesen Vorschlag geäußert hatte, der kaiserliche Notar und bisherige Amtsbürgermeister von Leonberg, Gottlieb Wilhelm Hoffmann das in der Nähe von Stuttgart gelegene Rittergut Korntal. Dort siedelte die erste Gemeinde sich an und wählte Hoffmann zu ihrem Vorsteher. Sie bestand aus zahlreichen Mitgliedern der Gemeinschaften altpietistischer und Hahnscher Benennung, berief sogleich als ihren Geistlichen den schon erwähnten Pfarrer Friedrich aus Winzerhausen und wurde bald zu einem Wallfahrtsort der Stillen im Lande, die durch diesen Sieg ihrer Sache überall ein höheres Ansehen gewannen. Hoffmanns Plan, die Gemeinde wie ein anderes Herrnhut zu einer Stätte wirtschaftlich-gewerblichen Lebens zu entwickeln, scheiterte zwar an der ungünstigen Verkehrslage des Ortes. Korntal wurde aber allmählich zu einer von vielen auswärtigen Familien beschickten Erziehungsstätte der Jugend und zu einem Zufluchtsort feingestimmter ruhbedürftiger Gemüter, und es hat sich diese Eigenart bis jetzt im Wechsel der Generationen erhalten. Die überschwänglichen Geister der jungen Gemeinde, die sich noch immer an der verbreiteten endzeitlichen Stimmung berauschten, wurden durch den besonnenen Vorsteher in Ordnung gehalten. Als das Jahr 1836, das von den Anhängern Bengels mit Angst und Ungeduld erwartete, ohne ein Himmelszeichen vergangen war, vollzog sich eine stillschweigende Aussöhnung mit der Landeskirche.

 

Auch in England und Amerika war im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Arithmetik der Weltkatastrophe zu einem frommen Sport geworden. In Plymouth entstand, meist aus früheren Angehörigen der Hochkirche, die chiliastische Sekte der Darbysten. Die Irvingianer verbreiteten von England aus ihre apostolische Kirche mit dem Feldgeschrei, daß das Reich der Herrlichkeit nahe sei. Die Mormonen legten am Salzsee den Grund zu einem neuen Zion. Ein Dr. Josia Litch erklärte im Jahr 1838 die Weissagungen im neunten Kapitel des Johannesgedichtes mit Bezug auf das Emporsteigen und den Verfall der türkischen Macht. Ein Wilhelm Miller in Amerika, der Gründer des jetzt verbreiteten Adventismus, verhieß mit Bestimmtheit das Kommen des Herrn auf den 22. Oktober 1844; seine Gläubigen ließen in jenem Jahr die Feldfrüchte ungeerntet und verkauften ihr Eigentum.

Aber selbst andere als nur die pietistischen Kreise hatten in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts begonnen, sich wieder viel mit Palästina zu beschäftigen. Chateaubriands Reise nach Jerusalem erregte Aufsehen; die Schilderungen Lamartines aus Palästina erweckten kolonisatorische Entwürfe. Bilderwerke aus dem Morgenland wurden in ganz Deutschland gelesen. König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen bekundete sein Interesse für Palästina durch die Stiftung eines protestantischen Bistums in Jerusalem; die deutschen Johanniter und die Kaiserswerther Schwestern errichteten im heiligen Land Anstalten zur Pflege und zum Schutz der Pilger.

Diese mannigfachen, von außen kommenden Anzeichen fanden bei den württembergischen Pietisten, deren Jerusalemglaube nicht erloschen war, die größte Aufmerksamkeit. Und es zeigte sich, daß die in Korntal gepflegten Überlieferungen in dieser Zeitstimmung noch hineinwirken sollten. Hoffmann, der im Jahr 1846 starb, hatte zwei Söhne; beide spielten nun in der Jerusalembewegung eine Rolle. Wilhelm, der ältere, war Hofprediger in Berlin geworden und trat 1853 an die Spitze des gegründeten deutschen Palästinavereins. Christoph aber, der jüngere, der mehr als sein Bruder das pietistische Erbe seiner Herkunft verwahrte, faßte den Plan einer kulturellen Wiedererweckung in seiner vollen Wirklichkeit. Er wurde zum Gründer der Tempelgemeinde. Mit ihm an gleicher Stelle steht in der Bewegung, die den Tempel in Jerusalem fast nach mosaischer Vorschrift wieder aufzurichten gedachte, die Kerngestalt Georg David Hardegg.

 

Diese beiden Männer waren es, die zum erstenmal den religiösen Zionismus, den das Judentum wie einen Stachel in der christlichen Frömmigkeit zurückgelassen hat, zu einem schöpferischen Ausdruck brachten. Sie waren einander in dem tollen Jahr 1848 begegnet, blieben fortan in einem gemeinsamen Interesse für Palästina und für die Erneuerung des deutschen Volkes einander verbunden und haben zwanzig Jahre später, nach umfassender Vorbereitung und als Träger der Verantwortung, den Einzug der Tempelgemeinde in Palästina durchgeführt.

Hardegg war 1812 als Sohn eines Landwirts und Gastwirts in dem kleinen Dorfe Eglosheim bei Ludwigsburg geboren. Er entstammte einem fränkischen, auch in der Schweiz und in Österreich ansässigen Reichsrittergeschlecht; sein erster bürgerlicher Vorfahr war im Dreißigjährigen Krieg Offizier im Regiment des Grafen Hatzfeld gewesen. Einer von Hardeggs Verwandten, der in Ludwigsburg geborene Julius von Hardegg, war zur Zeit des Frankfurter Parlamentes Chef des Generalstabes in Stuttgart. Georg David Hardegg durchlief ein Gymnasium und war bestimmt, Kaufmann zu werden. Als Neunzehnjähriger kam er nach Belgien, wo eben die Revolution ausbrach; im Sommer 1831 reiste er an den Herd der Revolution nach Paris, lernte neben den republikanischen Führern eine Anzahl deutscher Flüchtlinge kennen, die für Volksherrschaft entstammt waren und kehrte in dem festen Glauben, daß jetzt für Deutschland die größte Umwälzung bevorstehe, nach Württemberg zurück. Er wurde Student der Medizin in Tübingen, aber nur die Politik lag ihm am Herzen. Gemeinsam mit Männern der süddeutschen Revolutionspartei und einem Offizier der Ludwigsburger Besatzung war er an der Vorbereitung eines militärischen Putsches beteiligt und wirkte eifrig unter den Landleuten. Der Anschlag scheiterte, die Verschwörer wurden verhaftet, Hardegg zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Man brachte ihn auf den Hohenasperg. Sieben Jahre dauerte seine Gefangenschaft. Der Rest der Strafe wurde ihm in Landesverweisung umgewandelt; er heiratete, zog nach Schaffhausen in der Schweiz und lebte dort als Gehilfe eines Großkaufmannes, der ihm bald die Leitung des Handelshauses überließ, vier glückliche Jahre mit seinem jungen Hausstand. Als im Jahr 1844 König Wilhelm von Württemberg sein Regierungsjubiläum feierte, erhielt der Verbannte die Erlaubnis zur Heimkehr. Er zog nach Ludwigsburg und eröffnete dort am Marktplatz eine Lederhandlung. Von den körperlichen Leiden der Gefängniszeit war er niemals ganz genesen; sein Innenleben hatte eine grüblerische Richtung empfangen, die sich an die Bibel um Auskunft wendete. Er näherte sich den pietistischen Kreisen, war aber im Grunde weder mit der kirchlichen noch mit der allzu empfindsamen Frömmigkeit der Durchschnittspietisten zufrieden, sondern neigte stark zu jenem Glauben an überirdische Gaben, der durch Justinus Kerner in vielen Gemütern damaliger Zeit erweckt worden war. Auch Swedenborgs Schriften scheinen ihm nicht fremd geblieben zu sein. Hardegg sah in dem Phänomen der Seherin von Prevorst ein Wiedererwachen der biblischen Wunderkräfte. Er selber achtete auf Gesichte und erwartete mit starker Gebetsanstrengung die im ersten Korintherbrief beschriebenen Gaben des Weissagens und des Krankenheilens. Ihn, den einstigen Revolutionär, fesselten jetzt die politischen Kämpfe der Zeit nach ihrer geistigen Seite, besonders der heftige Streit zwischen der kritischen Tübinger Schule und den gläubigen Richtungen. Kein geringerer als David Friedrich Strauß war in Ludwigsburg für die Wahl in das deutsche Parlament aufgestellt worden; aber nicht Strauß, sondern sein Gegner von der orthodoxen Seite wurde mit Hilfe der ländlichen Bevölkerung gewählt. Der Gewählte war Christoph Hoffmann. Hoffmann verfaßt in Frankfurt ein Schriftchen: »Stimmen der Weissagung«; als Hardegg dieses gelesen hatte, ging er geradenwegs zu Hoffmann, der wieder auf sein Arbeitsfeld als Anstaltslehrer in die Nähe Ludwigsburgs zurückgekehrt war, hin und fragte ihn, warum niemand sich denn rege, um nun die beschriebenen klaren Voraussagen auf das Reich Gottes auch auszuführen?

 

Christoph Hoffmann war 1815 in Leonberg geboren und hatte seine Jugend in Korntal verlebt. Seinen Studiengang begann er auf dem Stuttgarter Gymnasium und setzte ihn, wie sein Bruder, im Tübinger Stift fort. Aber er hatte wenig Neigung zum Dienst der Staatskirche, suchte auch als Student die asketische Haltung loszuwerden, die in Korntal als unerläßlicher Ausdruck einer geistlichen Gesinnung galt, schrieb Gedichte, von denen Gustav Schwab einige für das Cotta'sche Morgenblatt annahm und wurde mit seinen spätern Schwägern, den ebenfalls aus Korntal gebürtigen Brüdern Paulus, Lehrer und Mitunternehmer an einer Erziehungsanstalt für Knaben, das diese in der Nähe von Ludwigsburg auf einem ehemaligen kleinen Herrensitz, dem Salon, errichtet hatten. Die Anstalt glich in vielen Dingen, besonders durch die Neuerungen der Lehrmittel und ein munteres Wanderleben in der Natur, den heutigen Landerziehungsheimen, nur war ihr Geist ein streng gläubiger. Hier blieb Hoffmann, der gelegentliche Schülerreisen bis nach Oberitalien ausdehnte und neben den theologischen Studien, wie sie der Gang der Examen vorschrieb, auch geschichtliche und naturwissenschaftliche Studien trieb, bis zum Jahr 1849 mit gutem Erfolg tätig. Mit Eifer begann er in der von seinem Schwager 1845 gegründeten »Süddeutschen Warte« öffentliche Fragen zu behandeln und bekämpfte besonders nachdrücklich die vom Kirchenglauben sich abwendenden Tübinger Theologen F. Th. Vischer, Eduard Zeller und D.F. Strauß. In der Paulskirche hatte er bei der Eröffnung des deutschen Parlaments neben Ignaz Döllinger seinen Sitz als der einzige Vertreter des Pietismus. Schon die »Warte« hatte durch ihr Eingreifen im Streit um Vischer und Zeller die Aufmerksamkeit von Freund und Feind auf sich gezogen. Durch seinen Wahlsieg über David Friedrich Strauß war Hoffmann einer der volkstümlichsten Männer seiner Heimat geworden; er übernahm die Leitung der »Warte« von 1852 ab allein und hielt in Ludwigsburg und Stuttgart stark besuchte Vorträge über religionsgeschichtliche Gegenstände.

Von dem Jahr ab, da Hardegg und Hoffmann miteinander bekannt und Freunde wurden, beherrschte beide derselbe Gedanke. Hardeggs Energie drängt auf ein greifbares Ziel. Aus dem Morgenland kommt die Kunde von einem Streit der Kirchen um den Besitz des heiligen Grabes; Spannung unter den Großmächten läßt den Ausbruch eines Weltkriegs erwarten. Unter Hardeggs Einfluß und unter dem Eindruck der verfahrenen politischen Zustände der fünfziger Jahre gewinnt in Hoffmann der Gedanke immer bestimmtere Gestalt, »daß es von außerordentlichem Wert wäre, wenn eine Anzahl geistig tüchtiger Leute in einem ihnen eigenen Lande irgendwo in der Welt sich zu einem Volk vereinigten und ein gesundes soziales Leben verwirklichten.« Hardegg wirft die Frage auf: Wie geht man aus Babylon? Es bildet sich um die beiden Männer ein freiwilliger Ausschuß von Jerusalemfreunden, der in Ludwigsburg 1854 öffentlich mit seinem Plan einer Übersiedelung nach Palästina hervortritt; Hardegg schlägt alle Einwände nieder, nicht mit religiösen Gründen, sondern mit praktischen: Die deutsche Nation muß Arbeit haben! Ein Bittgesuch mit 439 Unterschriften, meist von Familienvätern: der Bundestag möge den türkischen Sultan ersuchen, das heilige Land der Kolonisation zu öffnen, wird von Hoffmann und Hardegg selbst in Frankfurt dem Bundestagspräsidenten, Herrn von Prokesch übergeben. Freilich ohne Erfolg. Auf Hardeggs Rat unternehmen Hoffmann und sein Schwager Christoph Paulus Reisen in das Ausland, um mit gleichgesinnten Franzosen und Engländern Fühlung zu gewinnen. Hardegg wendet sich daheim den tätlichen Vorbereitungen zu. Auf seine Anregung vereinigen sich einige wohlhabende Familien und kaufen den Kirschenhardthof bei Winnenden, einen überm Tal der Murr gelegenen Weiler. Es sind neun bäuerliche Wohnungen; dort werden nun auch die Gelehrten, Hoffmann und Paulus, zu Bauern unter Bauern, aber sie vergessen die Lehrkurse und die Gottesdienste keineswegs und halten sie, um die Kirchengesetze unbekümmert, nach ihrem Gewissen. Hardegg gibt der Gemeinschaft den Namen des Geistlichen Tempels. Hoffmann wird zum geistlichen, Hardegg zum weltlichen Vorsteher gewählt; neben den beiden Vorstehern steht ein Rat von zwölf Ältesten. Die neuen Templer sind gesonnen wie jener Berner Täufer Jakob Ammann aus dem Jahre 1593; »Er ließ sich bedunken, es wäre die rächte christliche Ordnung Etlicher Maßen verlohren und hat ihm fürgenommen, Er wolle nach seinem Bedunken den tempel Gottes wider uf die Alte Hoffstatt bouwen.« Aus freiwilligen Beiträgen sammeln die Hardthöfer einen Schatz von zehntausend Gulden. Im Frühjahr 1858 unternehmen Hoffmann und Hardegg in Begleitung eines Landwirts ihre erste Kundschaftsreise nach Palästina, finden die preußischen Konsulate bereit, ihnen alle Förderung zu geben und kehren mit dem Eindruck heim, daß zwar die Ansiedelung großen Schwierigkeiten begegnen werde, daß sie aber, wenn man sie planvoll, nach Sicherung der notwendigen Mittel unternehme, möglich sei.

In der Zwischenzeit vollzieht sich die Lostrennung der Hardthöfer und ihrer im Land verstreuten Gesinnungsgenossen von der Landeskirche. Vier junge Männer sendet nun der Ausschuß nach Palästina als Vorläufer mit dem Auftrag, die arabische Sprache und Verhältnisse kennen zu lernen. Dem kleinen Haufen der Templer erklärt die Landeskirche von den Kanzeln herab den Krieg, sucht auch durch allerlei unduldsame Handlungen der Templergemeinde Abbruch zu tun, kann aber nicht hindern, daß gerade in diesen Jahren der Bund der Templer in Württemberg und angrenzenden Gebieten sich festigt. Er gewinnt auch Anhang unter den schwäbischen Brüdern in Rußland und unter deutschen Eingewanderten in Nordamerika. Jetzt bezeichnet sich das kleine, über die Welt verstreute Volk von ungefähr dreitausend Seelen als Deutscher Tempel. In einem Aufruf heißt es: »Der Sinn der deutschen Nation soll auf die Aufrichtung des Tempels in Jerusalem und auf die Besetzung Palästinas gelenkt, eine deutsche Zentralgewalt, die dieses Ziel verfolge, muß angestrebt werden.« Zweihundert Mitglieder des Tempels unterschreiben im September 1861 eine Bittschrift an die württembergische Volkskammer um Aufhebung der Staatskirche. Die Angriffslust der Männer aus den Jahren Rapps kehrt wieder, doch besonnener und würdiger. Die Templer wollen durch ihren Auszug nach Palästina »mit den gläubig gewordenen Juden die biblische Fruchtbarkeit des Landes wieder erwecken und die letzten Dinge dort erwarten.« Das klingt noch verstiegen genug. Aber wie dieser Gedanke durchgeführt wurde, das zeugt von einer gesunden Kraft der Überzeugung und des Handelns, die mit dem apokalyptischen Mantel nur das Gefühl von einer nationalen Not umkleidet. Die Jahrzehnte des deutschen Schicksals seit den Freiheitskriegen stecken in dem wunderlichen Gedanken der schwäbischen Männer.

 

Der Krieg in Oberitalien 1859 belebt merkwürdig ihre Erwartungen. In ihrer Zeitschrift, die jetzt »Warte des Tempels« heißt, auch in Büchern, in Flugschriften, auf Kongressen in London, Genf und Paris und in Eingaben an den deutschen Bundesrat haben sich die Führer ein volles Jahrzehnt lang über ihre Gedanken ausgesprochen und auf dem Hardthof die künftigen Ansiedler auf ihre Aufgaben vorgeschult. Ärzte, Ingenieure, Naturforscher, Lehrer schlossen sich den Bauern an; alle notwendigen Handwerke hatten sie in ihrer Mitte. Endlich, im Frühjahr 1868 machten die beiden Vorsteher und ihre Familien mit der Auswanderung den Anfang. Sie unternahmen die Ausreise nicht ohne die Gewißheit der diplomatischen Unterstützung der Norddeutschen Bundesregierung und sogar der österreichischen und der französischen Regierung, deren Einfluß im Morgenlande damals am meisten bedeutete. Mehrere Wochen blieben Hoffmann und Hardegg in Konstantinopel, wurden auch von den Türken gut aufgenommen und reisten dann über Smyrna zuerst nach Haifa, um dort vorsorglich und ohne Aufsehen den Landkauf zu betreiben.

Hardegg erstand aus den Mitteln der Kolonisationskaste einen ebenen Landstreifen von über hundert Morgen in der Nähe der Stadt und ließ im Frühjahr 1869 die Bauarbeiten beginnen. Die ganze Anlage, wie man sie heute sieht, mit ihren in luftigen Abständen verteilten Häusern, geht zurück auf Hardeggs Plan und bewährte sich aufs beste. Eine breite, auf beiden Seiten mit Anlagen für Schattenbäume versehene Straße wurde angelegt, die vom Meeresstrand bis zum Abhang des Karmels führte. Ein zweiter Weg, mit diesem gleichlaufend, kam später zur Ausführung. Links und rechts der Hauptstraße wurden die ersten zwölf Häuser errichtet. Zu jedem gehörte ein Garten mit Pflanzland. Sieben Brunnen wurden gegraben. Für die Häuser in der Nähe des Strandes lieferte der Baugrund selber einen guten Sandstein, für die ferner gelegenen verwendete man den weißen schönen Kreidekalk aus den Steinbrüchen des Karmel. Balken und Bretter lieferte das Gebirge nicht; sie wurden auf Segelbarken aus Mersina und sogar von Salonik herbeigeschafft. Arabische Maurer wurden bei den Bauten beschäftigt.

 

In geordneten Wanderzügen und mit Zustimmung der Vorsteher reisten nun die schwäbischen Ansiedler ins Land; es war im Jahr der Eröffnung des Suezkanals; alle Schiffe waren voll von Reisenden. Weitere Templer folgten in den nächsten Jahren aus Nordamerika, aus Südrußland und der Schweiz. Im März 1870 wurde in Haifa das Gemeindehaus eingeweiht. Die gewölbten, schlichten Räume des Erdgeschosses waren für den Schulunterricht und für den Gottesdienst bestimmt. Diesen hielten sie ohne Geistliche. Die Arbeitsjahre begannen und die langsame Ausdehnung des Landbesitzes, die Erwerbung von Weiden, Äckern und Weinbergen nahe der Kolonie. Eine Fabrik und eine Windmühle wurden gebaut, die bäuerlichen Ansiedler gewöhnten sich langsam an die neue Betriebsweise; alle bemühten sich nach Kräften, den eingeborenen Bewohnern des Landes die Anschauung eines geordneten und gesitteten Gemeinwesens zu geben; manche erlagen der Anstrengung und dem ungewohnten Klima. Schon bald nach der Ankunft fiel den Templern auch bei Jaffa ein Stück Boden mit beziehbaren Wohnungen zu. Dorthin, in die aus amerikanischen in deutsche Hände übergangene Siedelung zog Christoph Hoffmann als der Leiter. Er ließ sogleich ein kleines Gasthaus und ein Hospital errichten, später folgte auch die Schule. Die Bauern kauften Grundstücke am Rand der weitgedehnten Orangengärten, den Handwerkern unter den Deutschen gab die Stadt lohnende Beschäftigung. Diese Kolonie, die mit viel weniger Sorgen und Anstrengungen als die von Haifa entstanden war, bekränzte ihre Häuser im November 1869 zu Ehren des Kronprinzen Friedrich von Preußen, der Jerusalem besuchte und in Jaffa des schwäbischen Vorstehers Haus betrat.

In seinen ersten Anfängen hatte das Unternehmen des Tempels als ein internationales gegolten. Durch den Genfer Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes und Leiter der in Paris ansässigen Internationalen Gesellschaft für Palästina, war in den letzten Jahren seiner Regierung sogar Napoleon III. für das Templerwerk interessiert worden. Man kennt aus der Geschichte des zweiten Kaiserreichs die Vorliebe gewisser Pariser Finanzkreise für Unternehmungen in Syrien; nur war Frankreich verlegen um die Menschenkraft, die seine ehrgeizigen Geschäfte an Ort und Stelle besorgen sollte. So kam es, daß die großen Pariser Zeitungen, während in Deutschland niemand sich um die ausgewanderten Schwaben kümmerte, über die Fortschritte des Anbaus der Templer mit Lob berichteten. Als der deutsch-französische Krieg ausbrach, war die Übersiedelung vollzogen. Das Pariser Interesse hörte nun freilich auf, bei den Türken aber ebnete der Eindruck der deutschen Siege und der Gründung des Reiches den Ansiedlern die Wege, die sie vorher nur dank den umständlichsten diplomatischen Vermittelungen offen gefunden hatten. Raschid Pascha, Pfleger von Damaskus, ließ auf dem Karmelberg ein großes Stück Boden von 1200 Hektaren vermessen, um es den Templern zu schenken. Aber die französischen Mönche vom Karmelkloster wußten die Ausführung der Schenkung länger als ein Jahrzehnt zu hintertreiben. Sie ließen in Eile Mauern aufführen und zehn Morgen Landes auf dem Karmel umpflügen, um Bodenstücke, die den Templern zugedacht waren, als ihr Eigentum zu bezeichnen, das übrige taten sie in Konstantinopel. Von der ursprünglichen Schenkung gelangte schließlich nur ein kleines Stück, das aus privaten Mitteln erworben wurde, in den deutschen Besitz. Die Kolonisten bepflanzten es mit Reben und Wald. Aus einer Stiftung wurde später auf der schönsten Höhe ein deutsches Hospiz errichtet.

Auch im übrigen Palästina breitete der Besitz der Deutschen sich aus. Niederlassungen entstanden bei Jerusalem, bei Ramleh, am Tiberiassee und in der Ebene Saron, im ganzen sieben Kolonien, deren Gesamtbesitz heute im Wert auf zehn oder fünfzehn Millionen Mark geschätzt wird. Die große kolonisatorische Tat gelang; die geistige Bewegung allerdings, die ihr eigentlicher Ursprung gewesen war, fand in diesem Gelingen ihren vorläufigen Abschluß. Wenn heute die Templer in Palästina darauf hinweisen, daß sie ohne Hilfe von daheim den Wohlstand erwarben, dessen sich die noch Lebenden und ihre Söhne und Enkel erfreuen, so nennen sie damit zugleich die Ursache des geistigen Stillstands ihrer Bewegung.

 

Es ist nicht das Ungewöhnliche, daß das Epos in einem kräftigen Sichrühren der Hände und im Schweigen der Seele endet. Man mag die äußeren Ursachen des Stillstandes der Templerbewegung aufzählen: das Alter der Führer, die von der Allgemeinheit kaum noch verstandene Verkleidung ihrer Idee in das Gewand der endzeitlichen Spekulationen, den Mangel allen Verständnisses für die Zukunftsbedeutung des Morgenlandes in der alten Heimat, das Fehlen eines hochgestimmten geistigen Nachwuchses der beiden Führer. Das erste Zeichen des Zerbröckelns war eine Entfremdung zwischen Hoffmann und Hardegg selber. Schmerzliches Geheimnis des Bruches alter und erprobter Freundschaft! Wenige Vorwürfe, die das Menschliche treffen, scheinen tiefer als dieser, daß es in innersten Dingen keine beständige Brücke vom einen zum andern giebt. Jahrzehnte der gemeinsam erlebten Sorgen und der gemeinsamen Hoffnung vermögen Männer von verschiedenen Temperamenten und verschiedener seelischer und geistiger Veranlagung nicht völlig eins mit einander zu machen. Jahrzehnte der gemeinsamen zähen Arbeit bis zum Erfolg vermögen es nicht zu schaffen, daß von der einst so festen Brücke mehr als der Stumpen, von der Treue mehr als ein mit Bitternis getränktes Gefühl der Achtung übrigbleibt. Das erkaltete, seiner Freundeswärme, seines lebendigen Zutrauens überdrüssige Gemüt vermag im zur Schau getragenen Gleichmut das Geheimnis mit dem einst Vertrauten nicht mehr zu teilen; es verstockt, und es bricht an diesem Verstocken. Noch bleibt vielleicht hinter der abgewendeten Stirn das zehrende Immerweiterhoffen; aber das ermattete Gemüt sucht aus der Wirklichkeit den Weg zurück zu den Gesichten der Kindheit, an denen keiner noch teilnahm als Vater und Mutter, die längst Verstorbenen, deren Züge jetzt in tiefer Bedeutung vor dem Auge des fertigen Menschen wiederkehren, ehe er selber sich anschickt zu sterben.

Ein Mann wie Hardegg hat wahrscheinlich für sich und den Genossen nichts geringeres erwartet als das Schicksal der beiden Zeugen im elften Kapitel der Offenbarung des Johannes. Ihm und dem Freunde war beim Ausbruch des Krieges in Oberitalien, 1859, Napoleon als das apokalyptische Tier erschienen, dessen Kommen ja so deutlich vorausgesagt sei. »Und wenn sie ihr Zeugnis geendet haben, so wird das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt, mit ihnen einen Streit halten und wird sie überwinden und wird sie töten. Und ihre Leichname werden liegen auf der Gasse der großen Stadt, die da heißt geistlich die Sodoma und Ägypten, da unser Herr gekreuziget ist ... Und nach dreien Tagen und einem halben fuhr in sie der Geist des Lebens von Gott, und sie traten auf ihre Füße, und eine große Furcht fiel über die, so es sahen, und höreten eine große Stimme vom Himmel zu ihnen sagen: Steiget herauf! Und sie stiegen auf in einer Wolke, und es sahen sie ihre Feinde.«

Die geistliche Erregung, die Hoffman und Hardegg besonders in den Jahren 1848 und 1859 zu ihren kühnen Entschlüssen spornte, hatte ihnen jedesmal durch den anderen Gang der Weltereignisse auch eine große Ernüchterung gebracht. Aber sie bestanden diese Probe durch ihr hartnäckiges Festhalten an der einmal für unfehlbar gehaltenen Offenbarung. Sie nahmen den Verzug im Kommen des Herrn als eine von Gott gesetzte Gnadenfrist. Schien nicht endlich und unzweifelhaft der große Augenblick gekommen und das Stichwort zu ihrem Hervortreten gegeben, als Napoleon im Sommer 1870 Deutschland den Krieg erklärte? Jetzt, gerade jetzt war die Übersiedlung der kleinen auserwählten Schar in aller Stille vollzogen. Schien es nicht wie göttliche Absicht, daß nach einer Jahrzehnte dauernden Gärung und Klärung des Gedankens der Übertritt auf den Boden des heiligen Landes gerade jetzt vor dem Ausbruch des Weltkrieges geschehen war? Eine Wendung der Dinge konnte mit einem Mal auch die Frage nach der Zukunft Palästinas in den Vordergrund rücken. Da standen nun als die verantwortlichen Führer des kleinen Häufleins die beiden Männer, gewappnet mit allem Mut der erwählten Zeugen Gottes, das Weltgewitter zu erwarten. Der erste Donnerschlag fand sie bereit in ruhiger, vollkommener Spannung. Aber das Gewitter blieb in der Ferne über dem europäischen Boden stehen und verrollte. Daheim dachte niemand an das Morgenland und seine Möglichkeiten. So war denn die Auserwähltheit der beiden schwäbischen Propheten ein Hirngespinst gewesen? Mit ihrem großen Traum war es zu Ende. Er starb nicht an einem einzigen Tag, nicht an einer bestimmten Nachricht, nicht durch irgendeinen Eingriff von außen. Vielleicht sogar ließ die Freude am Entstehen des neuen Kaisertums, die in den Templern nicht minder hell und stolz war als in allen Deutschen jener Tage, die Enttäuschung über die Pläne Gottes weniger schwer empfinden. Hardegg stand auf seinem Arbeitsfeld in Haifa, in Jaffa hatte Hoffmann die Führung der Leute und der Gemeinschaft. Ohne alles Aufsehen, ohne ein Wort zueinander, ohne ein Wort zu den Freunden, brach in den beiden Männern das Gebäude ihrer heimlichen Erwartung zusammen. Sie sahen einander nicht mehr. Zwischen beiden lag jetzt ein öder Landstrich und das Meer. Beide hatten einander nichts mehr zu sagen. Es war gut, daß Last und Mühen des Alltags einen Vorwand gaben, jetzt die Begegnung zu vermeiden.

Wohl sahen die beiden mit Genügen den erblühenden Wohlstand der Bauern, freuten sich, daß das Deutsche Reich gewährte, was früher der Deutsche Bund verweigert hatte: seinen Schutz übersee und Mittel zur Förderung der Schulen. Die Dinge gingen still ihren steinigen Weg, und sie gelangen; damit mußten nun die beiden Vorsteher sich abfinden, auch in ihren nachdenklichen Stunden. Der eine vor seinen Büchern, in eifriger organisatorischer Tätigkeit am Statut und an den Schulen, auf werbenden, doch ergebnislosen Reisen nach Deutschland und nach Nordamerika; der andere in einem aufrechten und knorrigen Stillstand. Beide sahen über ihrem Hause das neue schwarzweißrote Banner sich bauschen. Das war die Wirklichkeit; sie erlebten sie mit einem beschämten und zugleich beglückten Stolz. Das erneute Vaterland stand sichtbarer im Weltplan als das erhoffte Gottesreich. Auf die beiden Schwaben da draußen war der Schatten eines Größeren gefallen: Bismarck. Sie standen am Ende ihres Lebens Sieger und Besiegte zugleich: dennoch waren auch sie durch ihre Tat und Wirkung wie jener Größere fest hineingewachsen in die Geschichte der Deutschen. Die Geschichte eines Volkes stellt ja nicht allein eine Reihe von Tatsachen, sondern auch eine Kette untereinander verbundener Ideen dar.

 

Die innere Einrichtung der Kolonien nahm einen ungleichen Gang. Als Hoffmann das Dorf Sarona bei Jaffa gründete, erhob Hardegg Widerspruch. Als er ein paar Jahre später die Schule nach Jerusalem verlegte und die Frage der einheitlichen Leitung zu lösen unternahm, mußte er sich abermals an Hardeggs Einspruch stoßen. Das Zerwürfnis ließ sich nicht mehr verbergen. Gegen Hardegg stand selbst in Haifa die Mehrzahl der Kolonisten. Sein schroffes Wesen vertrug sich schlecht mit der Gemeindedemokratie; der alte Starrkopf mochte sich nicht beugen, er legte sein Vorsteheramt nieder und sagte sich von der Gesellschaft los. Der Idee wollte er bis zum Ende treu bleiben; er stiftete mit persönlichen Freunden zusammen den »Tempelverein« und wandte sich in einem letzten öffentlichen Auftreten gegen die von Hoffmann zur Lehre des Tempels erhobenen Ansichten, gegen sein Lehrgebäude, das den Mitgliedern des Tempels große dogmatische Freiheit gewährte, in anderen Dingen aber fast nach dem Muster der römischen Hierarchie unbedingten Gehorsam gegen die Leiter forderte. Hardeggs Freunde vereinigten sich wieder mit der evangelischen Kirche. Der Alte starb einsam an einem Julitag des Jahres 1879.

Das Haus des einstigen Vorstehers ist jetzt zu einem Krankenhaus der katholischen Mission geworden. »Den Gebundenen eine Öffnung«, heißt der Spruch dort im Querbalken über der Tür. Das stattliche Gebäude mit seiner langen schattigen Bogenhalle und dem verzierten Mittelbau liegt ein wenig abseits von den andern Häusern der Kolonie. Alte Johannisbrotbäume breiten um das Haus mit ihrem schwarzgrünen Blätterdickicht gegen die heiße Sonne einen undurchdringlichen Schatten. Ein Schweizer, Dr. Brugger aus Bern, erzählt aus seinen Knabenerinnerungen über Hardegg: »Im kühlen Raum der Bogenhalle, unter den Karuben oder auf dem Weg, der zum Meeresstrand hinabführte, sah ich oft einen Greis von etwas über sechzig Jahren mit einer Türkenpfeife in der Hand sinnend verweilen oder auf und nieder gehen. Schwere Schicksale hatten ihm Haar und Bart früh gebleicht. Er war von mittlerer Statur, sein Gesicht trug scharfe, ja streng herbe Züge. Wir scheuten ihn. Er war eine Respektsperson, selten hat er ein Wort an uns gerichtet. Man hätte den Mann mit dem feudal klingenden Namen für einen Kriegsobersten außer Dienst halten können. Seine Lebensarbeit lag abgeschlossen hinter ihm. Saß er in der Bogenhalle, so schaute er lang und gern über die Meeresweite. Suchte er wohl in überirdischer Ferne, was ihm im Leben nicht gewährt worden, – die Menge des Volks, das seinem Ruf hätte folgen sollen, die Fülle der Himmelsgaben, deren Erguß hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben war?«

 

Hoffmann überlebte den Genossen um sechs Jahre. Er hatte sich neben seiner Tätigkeit als Vorsteher und der von ihm nach der Art des alten Ludwigsburger Salon gegründeten Erziehungsanstalt seinen theologischen Arbeiten wieder zugewendet. Von ihm schreibt Brugger: »Noch sehe ich ihn im Lehrzimmer des Instituts der deutschen Kolonie Jaffa auf und nieder gehen und einer Schülerzahl von sehr gemischten Altersstufen wohlberedt und klar die Elemente der Denklehre vortragen. Seine Gestalt ragte etwas höher als die Hardeggs. Auf breitem Nacken saß, etwas vornübergebeugt, ein deutsches Denkerhaupt, das der morgenländische Tarbusch bedeckte. Die starke Nase gab diesem Gelehrtenantlitz das Gepräge der Energie. Wer je mit Hoffmann in Berührung kam, erhielt den Eindruck eines bedeutenden Menschen.« Die erste Frucht aus Hoffmanns Gedanken und Erfahrungen in Palästina war die in Stuttgart 1875 erschienene kulturgeschichtliche Betrachtung »Occident und Orient«. Hoffmanns kräftiger Verstand durchdringt hier die umschließende Zeit; auch die Schranken Bengelscher Auslegungen beengen ihn nicht mehr. Man erkennt in der politischen Aussprache dieses Buches das einstige Mitglied des Frankfurter Parlamentes, den genauen Beobachter der Vorgänge in Europa und der übrigen Welt. Wo er seine letzten Ansichten aufdeckt, tritt die Abkehr von jener Blut- und Wundentheologie zutage, deren Verfechter er einst in den Jahren der »Süddeutschen Warte« gewesen war. Das Gebäude, das er dem Gottesdienst des neuen Tempels entwirft, unterscheidet sich von der neueren, freiheitlichen Auffassung des Christentums eigentlich nur durch seinen Lebensernst, der aus einer vertieften mystischen Grundstimmung Nahrung erhält. Die Theokratie des Tempels, wie sie Hoffmann will, verwirft die Dreieinigkeit, die Anschauung von der Kanonizität der Bibel und der Einsetzung der Sakramente. Sie sieht ihre vornehme Aufgabe in einem frommen reinen Leben, in fleißiger Arbeit, in Bruderliebe und Menschenfreundlichkeit, in der Errichtung von Schulen und wohltätigen Anstalten. Das sind Grundsätze, die heute mit denen einer Mehrzahl der außerkirchlich Gesinnten übereinstimmen. Die Bedingung der Teilnahme am Tempel ist aber vor allem der Glaube an die Bestimmung des Menschen für das »Reich Gottes«. Das Reich Gottes als ein durchgeistigter Zustand des Menschen in einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und der Gottesanbetung.

 

Die Templer sind Angehörige des Reiches geblieben. Sie haben dem Reich in einer damals ganz abseitigen Gegend des Morgenlandes eine unschätzbare Arbeit geleistet. Wir sehen heute, daß diese Gegend, das Land Palästina, von Jahr zu Jahr mehr bedeutet. Jetzt, in den Baujahren der Bagdadbahn, beginnt sich unverkennbar, wenn auch spät, viel später jedenfalls, als es die Wächter und Führer der kleinen Templerschar erwarteten, das deutsche Interesse dem Morgenland ernstlich zuzuwenden. Die Ahnungen der beiden Seher gehn in Erfüllung. Und es wird sich in der engen Berührung mit dem Morgenland noch erweisen, daß jene kleine, gesellschaftbildende Bewegung einer gedankenvollen und starrköpfigen Minderheit nicht auf ein totes Geleise lief. In der von ihr eingeschlagenen Richtung nimmt in Wirklichkeit die Hochstraße unserer neuen Beziehung zur östlichen Welt ihren Ausgang, auch in einem geistigen Sinn.

Was ist denn die letzte Ursache des modernen politischen Zionismus der Juden? Wer sich einmal mit der Geschichte des Pietismus und der protestantischen Sondergemeinschaften und zuletzt mit den damals ganz unzeitgemäßen, uns Heutige aber in ihrer Theologie ganz modern anmutenden Schriften Christoph Hoffmanns befaßt, der darf sich besonders wundern und erfreuen an der Stärke der »zur Weltherrschaft berufenen Idee des Reiches Gottes«, die dort in immer neuen Äußerungen hervortritt. Der Zionismus eines Christoph Hoffmann ist letzten Endes derselbe, aus dem einst die Kreuzzüge entstanden; derselbe, der im mittelalterlichen Judentum so leidenschaftlich hervorbrach wie in der mittelalterlichen Christenheit. Derselbe Zionismus war die Ursache der Reise des Jehuda ben Halevi nach Jerusalem im elften Jahrhundert und zahlloser anderer Wallfahrten dieser Art, und ist der Untergrund der beispiellosen Verehrung, welche die Bekenner ohne Unterschied den heiligen Stätten noch heut erweisen. Ohne irgendein Zutun, nur im Lauf der Zeit, wie lose Fäden sie brauchen, um mit andern losen Fäden sich zu verknüpfen, ist der Zionismus der schwäbischen Bauern um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Niederschlag einer Zeitstimmung entstanden, die sich wieder einmal viel mit Jerusalem beschäftigt hatte. Und durch leise Verbindungen, die sich aus den Vorschlägen des edlen russischen Dekabristen Pestel ebenso wie aus den stillen Äußerungen schwäbischer Ansiedler in Südrußland nach Rumänien, Galizien und Russisch-Polen verfolgen lassen, ist der Zionismus der christlichen Mystiker der Vorläufer der jüdischen Chowewe-Zion in Rußland und Paris geworden, deren Hoffnungen schließlich in dem Herzlschen Zionismus der Gegenwart den größten und vielleicht für das Ende entscheidenden Ausdruck gefunden haben. Was noch vor Jahrzehnten in dem Siedlungsvorhaben der Schwaben am seltsamsten anmuten mußte, nämlich ihr Glaube, daß künftig auch die Juden dem Land ihrer Väter nicht mehr fernbleiben würden, das ist fast gegen den Willen der Bestrebten, jedenfalls nicht aus Menschenabsicht, sondern aus Umständen der Zeit heraus, zur Wirklichkeit geworden. Der zionistische Gedanke erhebt heut im modernen Judentum sein Haupt; aber auch in der Christenheit hat er seine heimliche Kraft noch nicht verloren. Er lebt im Protestantismus der germanischen Länder nur anders, doch nicht weniger mächtig als bei den russischen Bauern, die in Tausenden zum Heiligen Lande pilgern.

Mit dem Tode Hoffmanns scheint die innere Geschichte des Tempels als abgeschlossen. Aber der Tod hebt den Gedanken nicht auf, der in dem wahrhaft Lebendigen wirkte. In dem, was Hoffmann aussprach: in seiner doppelten Ablehnung der Herrschaftsansprüche Roms und des Rationalismus, der das protestantische Kirchentum zersetzt, in seinem Glauben an das neue Kaisertum und in seiner Hoffnung auf die Erhebung des Morgenlandes aus Elend und Zerfall kehrt jenes ältere, reiche Element des Protestantismus wieder, der das weltfremde Sehertum des Pietismus noch nicht ausgeschieden hatte, sondern diese fruchtbare Kraft noch in sich trug. Hoffmann stand der Größe nah durch seine tiefe Einsicht in die Kräfte des Zeitalters. Heute ist es das Erwarten eines entscheidenden Ereignisses im deutschen Geistesleben, das mit dem kleinen bäuerlichen Haufen der Templer in Palästina eine immer größere Schar der Gleichgesinnten im Muttervolk verbindet. Aus den unablässigen wirtschaftlichen Regsamkeiten, die seit dem Tode Goethes, seit dem festen Hervortreten Preußens, seit der Gründung des Reichs in großen Stößen das geistige Deutschland überrumpelt haben, werden ja doch in Kürze die großen Heilsfragen wieder auftauchen. Dem Vermächtnis eines Lessing, Fichte und Goethe ist noch in keinem Gebäude höheren Gottesdienstes der Tempel geworden, wo einfältige Tiefe des Weltgefühls und Höhe der Bildung zusammentreten und die Deutschen als die ersten Menschen eines neuen Zeitalters erscheinen. Noch lebt in uns der schon in manchen Vorfahren erwachte baumeisterliche Zug, dem ein Tempel vorschwebt, wie ihn Völker der Vergangenheit wohl zu ahnen, aber nicht zu gründen vermochten.

 

Mitten in einem religiös äußerst zerfahrenen und zugleich erwartungsvollen Europa, dem künftige politische Neugestaltungen, dem die immer wärmere Nähe der östlichen Welt, dem die ersten Angriffe aus jener Welt auf die Vormachtstellung des europäischen Geistes sich ankündigen, scheint auch das Judentum in eine geistige Krise geraten. Die Einheitsidee wird wieder in der Welt lebendig, und die Juden zeigen es an. Es ist wie ein Erwachen, dieses Besinnen auf ein lebendiges, wenn auch tausendfach zersplittertes Volkstum. Die Vorgänge zeigen, daß auch in das Judentum, dessen Probleme sich im Zionismus sammeln, eine Richtung gekommen ist. Sie ist dem Geist der deutschen Reformation verwandt und jenen Ahnungen auch, die uns sagen, daß einst der Kreis der europäischen Kultur sich über Vorderasien ausweiten wird, und daß, wer hinausgeht und dort draußen eine geistige und rechtliche Stellung sich schafft, am stärksten einst zurückwirken wird auf das alte Europa.

Alles das ist Bewegung, ist Protestantismus in einem höchsten Sinn. Wem diese Gedanken einstweilen an Einfluß, an Machtbedeutung noch wenig zu umfassen scheinen, der mag sie als Unterströmungen bezeichnen. Aber diese Unterströmungen weisen auf das Urwesen alles Geistlichen zurück. Hier ist das Irgendwo, wo die Kräfte sich sammeln, die einmal die erstarrten Formen ablösen. Mögen sie nicht zu früh aufbrechen, sondern still die Gemüter bewegen und füllen bis zum Überlaufen. Was bedeutet unseren Herzen, die glauben und sich verschwenden wollen, der wissenschaftliche Monismus und der energetische Imperativ! Es hat längst auch tiefere, sagen wir ruhig positive Gründe für ein Anwachsen der außerkirchlichen Gesinnung in der Christenheit gegeben, und nicht von außen her, sondern aus dem Herzen der unsterblichen Religiosität hervor wird unsere neue Religiosität erblühen.

 

Die Auseinandersetzung zwischen Europa und den Völkern des Ostens steht in ihrem Beginn. In diesem wichtigen Augenblick haben die Völker des Westens die Aufgabe erst noch vor sich, über ihre allzu engen Binnengrenzen hinweg ihrer geistigen Einheit die großen gebietenden Umrisse zu geben. Blicken wir auf die Vorgänge in der Politik, so scheint es zuweilen, als ob eine weltgeschichtliche Entscheidung sich zusammenzöge, nirgends anders als über dem Boden Vorderasiens, nahe den Grenzen Ägyptens, dort, wo schon uralte Weissagung das Harmageddon erwartet. Dann wieder lichtet sich die Wolkenwand und eröffnet Ausblicke auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, auf einen freudevolleren Zustand der Menschen. Was ist schließlich das »dritte Reich« der Dichter anderes als ein Gedanke, nicht weniger groß und traumhaft unbestimmbar als das Reich Gottes der Gläubigen? Alles drängt auf das Entstehen einer großen Ökumene – einer Ökumene im protestantischen Sinne der gemeinsamen Bewegung zu einem geistigen Ziel im Weltganzen. Die Kleinen ahnen es, die Großen folgen. So war es immer. Wozu bisher die Kraft und die Phantasie jener kleinen Baumeister nicht ausreichte, das kann einst in Größe vollendet werden, wenn nicht nur die Armen im Geist daran arbeiten.

Vielleicht würde sich ohne die Ansprüche, die jetzt immer lebhafter von der Seite des Judentums auf die Person Jesu, als des größten Sohnes des Volkes, erhoben werden, der Kampf der Geister um diese Gestalt, die uns fast unbegreiflich werden will, entfernen. So aber scheint dafür gesorgt zu sein, daß noch in der Zukunft das Licht um das im Schatten geborene Kindlein sich sammelt. Denn aus ihm ist doch ein Christ geworden, der von allen, die eine geistige Welt über der wirklichen erschauten, der ahnungsvollste und kühnste war. So wie wir heute eine Unruhe sondergleichen, wie wir alle Verheißungen und alle Drohungen für das Schicksal Europas in den Nerven spüren, so hat er im Schicksal eines Volkes das einer geistigen Menschheit vorausgespürt und Worte gesagt, von denen keines so sehr bestürzen muß wie dieses: zwei werden mahlen auf der Mühle; eine wird angenommen und die andere wird verlassen werden.


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