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Eine italienische Nacht

Schon am Sonnabendnachmittag waren die drei Abenteurer zum Garten hinausgefahren. Der Tag war schön, und schön war der Abend. Die Lüfte wehten so lau, daß keiner daran dachte, den Tag zu beenden.

»Wir machen eine ›italienische Nacht‹, verbunden mit einem Erntefest!« rief Dieter aus. In der Laube fand er ein paar alte Laternen, die zündete er an und verteilte sie über den Garten. So, das sind unsere Lampions! Sie könnten zwar ein bißchen bunter sein, ein bißchen freudiger, aber mit einiger Phantasie sind die Laternen schon ganz nette Lampions.

Der Doktor wollte den Abend still genießen. Alte Herren haben viel Sinn für Ruhe und Beschaulichkeit. Aber Dieter fand mehr Freude an lauter Lustbarkeit, an Krakeel. Kinder sind so. Er holte eine dicke Mohrrübe hervor und hielt eine Ansprache:

»Mal herhören, meine Herrschaften! Hier ist zu sehen die große Mohrrübe, mit der sich der Kaiser Tiberius schrecklich vergiftete. Friede seiner Asche. In zweiter Linie sehen Sie den großen Kürbis des Kaisers Claudius. Es war ein Kopf, meine Herrschaften, so einen Kopf hatte kein Bulle. Schade, daß der Kopf verfaulen muß.

In der nächsten Abteilung sehen sie den Kohlkopf des Kaisers Diokletian. Es ist schrecklich zu sagen, aber der Kaiser hat sein Zepter verlegt, er kann den Stab nicht finden, er muß darum mit dem Regieren zeitweise aussetzen. Der Kaiser auf Urlaub züchtete in seinen Ferien Kohlköpfe. Bravo! kann ich dazu nur sagen.

In der nächsten Abteilung – – Doktor, da fliegen ja unsere Lampions! Da haben wir ja eine Festbeleuchtung!«

Dieter unterbrach seine Ansprache, denn durch die abendliche Luft flogen viele Glühwürmchen. Traute war in hellster Begeisterung. Eben noch hatte sie über Dieter herzhaft lachen müssen, jetzt konnte sie aber nur noch »Aaaah!« sagen, so schön war die Festbeleuchtung durch die schwebenden Glühwürmchen. Dann sagte sie: »Doktor, ich habe eine Idee. Wir trinken aus der Wunderflasche, verkleinern uns, und dann machen wir eine italienische Nacht mit den Glühwürmchen. Das muß schön sein.«

Der Doktor war bereit. Auch Dieter vergaß seine scherzhafte Rede und wollte so schnell wie möglich klein werden. Vielleicht kann man auf so einem Glühwürmchen durch die laue Spätsommernacht reiten und alle Schönheiten der Dunkelheit genießen –?

Ohne große Vorbereitungen holte der Doktor die Wunderflasche, und das Zauberwasser machte die Runde. Wieder schrumpften die drei Abenteurer zusammen und wurden so klein, daß der Rasen des Gartens hoch über ihre Köpfe hinauswuchs. Der Doktor aber hatte seine drei winzigen Bakterienlampen zurechtgestellt, und als man sie ergreifen wollte, bemerkten die drei zwischen den grünen Blättern der Buche, die auf dem Boden des Gartens umherlagen, ein zartes Leuchten.

Nanu, noch waren die Bakterienlampen nicht in Betrieb, und schon leuchtete es zwischen den Blättern am Boden? Ist die Bakterienlampe ausgelaufen? Gibt es denn Leuchtbakterien in freier Natur hier im Garten? Holte sich der Doktor seine Wunderlampen nicht aus der Tiefsee?

Ja, es gab auch im Garten Leuchtbakterien. Pilze und Bakterien sammeln sich zwischen den Blättern des abgefallenen Laubes, zersetzen auf chemischem Wege die welken Blätter, und die Verarbeitung der Stoffe, der sogenannte Stoffwechsel, geht so rasch und so energisch vor sich, daß die Pilze und Bakterien »heißlaufen« und ein kleines Glimmerlicht aussenden. Unter den Blättern wird hart gearbeitet, unter den Buchenblättern beginnt ein neues kräftiges Leben bei Festbeleuchtung und Kerzenschein! Und davon hat der Wanderer, der durch das raschelnde Laub schreitet, gar keine Ahnung.

Achtung! Fliegergefahr! Deckung nehmen! Die drei wurden aus ihren Betrachtungen jäh herausgerissen. Ein summender, brummender Bomber flog über die Menschlein hinweg. Die Beleuchtung war zu schwach, die Geschwindigkeit war zu rasend, um erkennen zu können, wes Namen und Art der Bomber war. Da flog er wieder vorbei. Jetzt konnte der Doktor schon besser die Form erkennen. Ein dicker Rumpf in Stromlinienform und daran schmale, elegante Seglerflügel. Der Doktor wußte, der Bomber war ein Dämmerungsschmetterling, ein sogenannter Schwärmer. Die Schmetterlinge fliegen sonst am Tage, im hellsten Sonnenlicht. Die Dämmerungsfalter aber schlafen bei Tage. Sie schlafen so gut, daß man sie leicht überraschen und einfangen kann. Aber nachts werden diese Schmetterlinge lebendig. Man spricht ja auch von Nachtschwärmern, wenn man Menschen meint, die bis in den hellen Tag hineinschlafen und erst abends munter werden.

Die Vögel sind meist so gebaut, daß sie im Fluge den geringsten Luftwiderstand haben. Die Vögel haben Stromlinienkörper, die Insekten dagegen an ihren Körpern überall Ecken und Enden. Die Insekten wissen nichts von der modernen Stromlinie. Aber die Nachtschwärmer sind schneidig und schnittig gebaut. Auch die Flügel sind nicht verschwenderisch und üppig in der Form, sondern sparsam auskonstruiert. Die Schwärmer sind die Schwalben unter den Schmetterlingen.

So flog denn auch der Nachtschwärmer über den Häuptern der drei Zwerge dahin, summend und rasend schnell. Ein Glück, daß er nur Honig nascht, sonst wäre es vielleicht schon um die Abenteurer geschehen.

Aber jetzt waren die Kinder wirklich in Gefahr: eine Fledermaus huschte wie ein Gespenst durch die Nacht! Die Flügel flatterten, aber kein Geräusch kam von dem Flattern. Die Fledermaus war auf Insektenfang. Nachttiere wollte sie auf ihrem nächtlichen Fluge erhaschen. Treibt euch in der Sonne umher, ihr Nachtschwärmer, sonst holt euch die Fledermaus!

Aber die Fledermaus war keine Gefahr für den sausenden Schwärmer. Schmetterlinge, ja, die hätte die Fledermaus leicht bekommen, aber nicht Schmetterlinge von der Form der Schwärmer. Ein elender Flatterer will einen Stromlinienform-Schmetterling einholen? Das geht sicher schief.

Interessiert sahen die drei Zwerge dem Spiele zu. Es war ein Spiel, denn der Schwärmer war zu elegant und zu wendig im Fliegen, um sich von der Fledermaus einholen zu lassen. Immer wieder versuchte die Fledermaus ihr Glück, aber immer wieder bog der Schwärmer geschickt aus. Es war nichts mit dem Schmetterlingsbraten.

In ihrem Eifer hatte die Fledermaus ganz übersehen, daß ein schrecklicher Feind sich nahte.

Durch die Nacht schlich eine Eule. Ihr Flügelschlag war so weich, so lautlos, daß die armen Opfer die Eule nicht herankommen hörten. Die Menschen schleichen auf Gummisohlen oder in Filzschuhen, die Eule aber schleicht auf Eulenflügeln durch die Luft. Ehe die armen Opfer sie bemerken, durchbohren die Dolchfänge schon ihren Körper. Die Fledermaus ahnte nichts von der Eule – da kam ein schwarzer Schatten heran – die Fledermaus suchte Rettung in der Luft –, da griffen auch schon die Eulendolche zu. Ehe die Fledermaus alles begriffen hatte, war sie schon tot. Der Nachtschwärmer aber flog heil und unbehelligt von dannen. Wat den einen sin Uhl is, is den annern sin Nachtigall. Der Nachtschwärmer dachte von der Eule wie von einer Nachtigall.

Im blassen Mondlicht hatten die drei Zwerge alles erkennen können. Das war ein Schauspiel! Die italienische Nacht geht ohne Drama nicht ab. Wer aber die Natur schön findet, der muß sich auch mit dem Kampf in der Natur abfinden. In der Natur gibt es keine Krankenhäuser. Wenn »Tierfreunde« ihre Schoßhunde in Decken einwickeln und ihnen Schleifchen umbinden, dann verzärteln sie ihre Tiere und handeln unnatürlich. Die Natur ist schön, die Natur, so wie sie ist. Es geht aber auch hart zu unter den Tieren und Pflanzen. Alle Tiere müssen immer zum Kampf bereit sein. Es gibt viel Unglück und Trauer unter den Tieren, es gibt aber auch viele herrliche Sieger. Und die Sieger haben immer mit vollem Lebenseinsatz gekämpft. In der Sterbekasse waren sie nicht.

Immer noch schoß der Nachtschwärmer durch die Luft. Mir kann keiner etwas tun, ich bin zu behende, und die pfeilschnellen Raubvögel schlafen alle in der Nacht. Für sie ist die Beute auch zu gering. Die Nachtschwärmer sind auf dem Posten, sie können durch die Luft sausen und jedem Feinde entfliehen. Es lebe die schöne Nachtschwärmerei!

Aber das ist nun wieder übertrieben. Von wegen: es gibt keine Feinde für die Nachtschwärmer. Da stieß durch die Luft ein Vogel, etwa so groß wie eine Amsel. Er hatte nur einen sehr kleinen Schnabel, wenigstens sah dieser sehr winzig aus. Wenn der Vogel aber seinen Schnabel aufriß, bekamen die Augen Besuch – sie waren groß, echte Nachtaugen. Der Vogel brauste daher, riß seinen Schnabel weit auf, und der arme Nachtschwärmer lebte nicht mehr. So geht es den Nachtschwärmern. Sie machen die Nacht zum Tage und werden dann geholt von – – ja wie heißt denn eigentlich dieser Vogel?

Wie eine Schwalbe sah das Tier aus. Aber fliegen denn Schwalben auch nachts? Und haben Schwalben eine so riesige Schnabelöffnung? Es war keine Schwalbe, obgleich das Tier Nachtschwalbe heißt. Man nennt es auch Ziegenmelker. Es ist aber Unsinn, wenn manche Leute meinen, der Ziegenmelker mit seiner großen Schnabelöffnung gehe nachts an die Ziegen und melke ihnen die Milch ab. Die Ziegenmelker fangen Insekten, die in der Dämmerung umherfliegen. Auf Käfer sind sie besonders scharf. In niedriger Flughöhe durchschneiden sie die Luft und fangen alles ein, was im Fluge in ihrem Schnabel hängenbleibt. Am Tage sitzen sie in Baumästen und sind kaum zu erkennen, so sehr ist ihre Farbe der Borkenfarbe der Bäume angepaßt. Ihre Eier legen die Ziegenmelker auf die flache Erde, und wenn Frau Ziegenmelker brütet, dann ist sie kaum auf dem Erdboden zu erkennen, so unscheinbar ist die Färbung. Das weiß sie auch, denn sie läßt beim Brüten alles dicht an sich herankommen, ehe sie sich zur Flucht entschließt.

Viel schon hatten die drei Abenteurer in ihrer italienischen Nacht gesehen. Aber alles, was sie erblicken konnten, spielte sich in den Lüften ab. Vom vielen Sehen und Beobachten bekamen sie schon steife Hälse. Schon wollten sie sich entschließen, auch den Erdboden zu beobachten – vielleicht gab es da noch Abenteuer – da kam schon wieder ein Ereignis, und wieder in der Luft.

Zuckende Funken durchschwirrten die Nacht. Da sind doch wieder die Glühwürmchen, die herrlichen Glühwürmchen! Traute war begeistert und sang laut ihr Lied: »Glühwürmchen, Glühwürmchen, flimm're, fimm're ...« Traute war in bester Stimmung, aber der Doktor dachte sofort an seine Wissenschaften, als er das Farbenspiel sah:

»Kinder, zuerst eine Richtigstellung! Die Glühwürmchen sind keine Würmchen, wie der Dichter meint, sondern Käfer. Aber das nur nebenbei. Etwas anderes interessiert mich viel stärker. Die Leuchtkäfer haben nämlich eine Erfindung gemacht, die ihnen die Menschen nicht nachmachen können. Wenn wir Licht anzünden, dann verschwenden wir viel zuviel Kraft, viel zuviel Energie. Die meiste Kraft wird nämlich bei uns in Wärme umgesetzt, die wenigste in Licht. Das ist so bei unseren Kerzenflammen, Petroleumlampen und Glühbirnen. Wenn wir alle Energie in Licht umwandeln könnten, in sogenanntes kaltes Licht, ohne Wärmeentwicklung, würden wir sehr viel sparen. Die Lichtrechnungen würden bedeutend niedriger sein. Aber wir bekommen das Kunststück nicht fertig, soviel wir auch probieren. Das Leuchtkäferchen hingegen fabriziert kaltes Licht, als wenn das so einfach wäre. Da sehe ich ein Glühkäfer-Ei im Sande liegen. Wir wollen uns das Wunder des kalten Lichtes einmal aus der Nähe betrachten.«

Die drei Abenteurer gingen auf das Ei zu. Voll Erstaunen beobachteten sie, daß auch die Eier leuchten, nicht nur die erwachsenen Tiere. Zwar leuchtet solch ein Ei schwächer und nur an der Unterseite, aber es leuchtet. Von der Wiege bis zum Grabe können diese Käfer leuchten.

Als die drei dicht am Leucht-Ei standen, hielten sie ihre Hände dem Ei entgegen, aber sie merkten nichts von Wärme, denn die Leuchtmasse der Tiere ist kalt. In der Nähe krabbelte ein Glühkäferkind über den Boden. Wie ein Wurm sah die Larve aus, nur hatte der Wurm sechs Beine wie alle Insekten. Die drei Zwerge kamen dem Glühwürmchen näher, und jetzt erst sahen sie, daß es ein arger Räuber war. Es hatte sich über eine kleine Schnecke gestürzt, die Ärmste getötet und war gerade beim Fraße. Die Glühwürmchen sind maßlose Schneckenvertilger. Aber so ein Schneckenfraß ist peinlich. Die Schnecke hat viel Schleim, und besonders in der Todesangst schwitzen die Tiere viel Schaum aus. Das Glühwürmchen war von oben bis unten mit Schleim besudelt. Wie soll sich das Tier jetzt säubern – ohne Hände und ohne Seife!

Aber die Natur sorgt für alles. Aus dem Hinterleib des Glühwürmchens drückte sich ein Instrument heraus, das wie ein Pinsel aussah. Das Tier krümmte und wand sich, bestrich den ganzen Körper mit seinem Pinsel, bis alles sauber war. Dann zog das Glühwürmchen den Pinsel wieder ein.

Schon die alten Griechen hatten den Vorgang beobachtet. Sie konnten sich aber nicht alles erklären. Sie sahen nur, daß am Hinterleib etwas herausgedrückt wurde, daß sich das Glühwürmchen krümmte, und schon glaubten sie, Glühwürmchen ernähren sich von ihrem eigenen Unrat. Das ist natürlich Unsinn. Schnecken sind die Nahrung der Tiere.

Der Doktor hatte noch viel zu erzählen: Nur die Männchen haben Flügel und schwirren als Funken durch die Luft. Die Männchen sehen auch etwas käferähnlicher aus. Dagegen haben die Weibchen keine Flügel, leuchten vom Boden aus und tragen mit größerer Berechtigung den Namen Glühwürmchen. Bei uns leben nur zwei Arten, eine größere und eine kleinere ...

Der Doktor wollte noch viel erzählen. Es ging aber nicht mehr. Die Kraft des Wunderwassers war zu Ende, und die drei Zwerge wuchsen in die dunkle Nacht und in die natürliche Größe hinein. Sie erkannten wieder den Garten, die Schatten der Bäume und die Laternen.

Es war eine herrliche »italienische Nacht« in Doktor Kleinermachers Garten. Dieters Lampions strahlten kräftig, und die Funken der kleinen schwirrenden Glühwürmchen leuchteten feiner, heimlicher und romantischer.

Als Traute in ihrem Bettchen lag, summte sie noch vor dem Einschlafen:

»Glühwürmchen, Glühwürmchen, flimm're, flimm're ...«


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