Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hummel, Hummel!

So früh waren die Kinder noch nie aus den Betten gekommen wie am Sonntag, als es zu Doktor Kleinermachers Garten gehen sollte. Der Doktor hatte seinen Garten in solch bunten Farben beschrieben, daß die Kinder lange nicht einschlafen konnten. Und doch kamen sie zeitig aus den Betten. Pünktlich wollten sie sein, keine Minute wollten sie versäumen.

Mit der Eisenbahn zu fahren, gefiel dem Doktor nicht. Er hatte ein Fahrrad, die Kinder auch. So strampelten sie denn alle drei in den frühen Sonntagmorgen hinein. Sie hatten Rückenwind, und das war schön. Der Wind schob so herrlich mit, daß sie mit halber Kraft fahren konnten.

»Ein Glück, daß wir keinen Bauchwind haben«, meinte Dieter. Bald standen die drei vor den Toren des Gartens, den Doktor Kleinermacher so liebte. Das Land war nicht sehr teuer hier draußen, darum konnte sich der Doktor auch einen so großen Garten leisten. Am Tore standen zwei Rotdornbäume, zur Rechten und zur Linken, vorn war der Obst- und Gemüsegarten, dahinter die Laube, und hinter der Laube rauschte der Wald, der »deutsche Wald«. Eine Erfindung vom Doktor Kleinermacher.

»Doktorchen, zuerst wollen wir den Wald besichtigen. Du hast uns den Mund so wäßrig gemacht mit deinen Bäumen, die leben und denken können und den Menschen so sehr ähneln.«

Nichts tut der Doktor lieber.

»Hier seht ihr meine Eiche. Sie ist noch nicht so knorrig und saftig, meine Eiche ist noch jung. Seid ihr enttäuscht? Eine alte Eiche konnte ich mir nicht pflanzen. Daneben steht die Buche. Auch die ist noch jung und klein. Buchen wachsen nämlich langsam. Da muß man Geduld haben.

Dahinten, die Birke, die wächst schneller. Wenn die Birken schon alt sind, dann sind die Buchen immer noch jung. Und hier steht auch meine Erle, meine unheimliche Erle. Ihr kennt doch den »Erlkönig« von Goethe? So ein Unhold ist meine Erle auch. Wenn man sie abschlägt, wenn man sie tötet, dann wachsen aus dem Stumpf viele neue Erlen empor. Goethe hatte schon recht, die Erle hält es mit den Gespenstern.

Was sagt ihr zu meiner Frau Linde? Sieht sie nicht gesund und frisch aus? Ja, kein Baum ist so oft besungen worden wie die Linde. ›Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum ...‹, es gibt noch mehr Lieder von der Linde.

Die Ulme hier ist weniger frisch. Die entsetzliche Ulmenkrankheit hat auch sie gepackt. Ja, ja, die Ulmenpest geht um – ihr habt davon sicherlich schon gehört –, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich muß ich meine Ulme auch fällen.

Da seht ihr den Ahornbaum und hier die Roßkastanie. Das ist mein König aus dem Süden. Wißt ihr, warum man Roßkastanie sagt? Man hat früher, im Mittelalter, aus ihrem Samen ein Roß-Medikament hergestellt, und heute sagt man immer noch Roßkastanie, ohne sich etwas dabei zu denken. Wir kennen viele Pflanzen, die nach Heilmitteln benannt wurden, so zum Beispiel das Lungenkraut oder die Lebermoose. Aus den Lebermoosen kochte man früher einen Tee, der der Leber gut tun sollte.

Hier in der Ecke steht die Esche. Das ist ein Stürmer und Dränger unter den Bäumen. Der Baum wächst wie toll. Übrigens, kennt ihr die Weltesche aus der Edda? Ich weiß, die Edda kennt ihr. In jedem Kreuzworträtsel heißt es: Nordische Dichtung? Antwort: Edda. Aber ihr müßt das Buch auch mal lesen. Da kommt nämlich auch etwas von der Weltesche vor, unter der die germanischen Götter Recht sprachen.

Nun schaut mal 'rüber zur Eberesche, dem Vogelbeerbaum. Kennt ihr das schöne Lied: ›Keinen schöneren Baum gibt's als den Vogelbeerbaum ... ‹? Aber warum heißt die Eberesche eigentlich Esche? Seht euch die Blätter der Esche und des Vogelbeerbaumes an. Sie ähneln sich in den Blättern, und doch sind die Bäume nicht miteinander verwandt. Darum sagte man früher zu dem Vogelbeerbaum, er sei auch eine Esche, eine Aberesche. Denn ›aber‹ hatte damals den Sinn von ›auch‹. Der Aberwitz ist auch ein Witz, und der Aberglaube ist auch ein Glaube. Aus Aberesche wurde im Laufe der Zeit Eberesche. So heißt der Baum auch heute noch.

Dort hinten in der Ecke steht die Akazie. Es ist eigentlich keine Akazie, sondern eine sogenannte Robinie. Die Ähnlichkeit mit der Akazie hat ihr den volkstümlichen Namen gegeben. Bei uns wachsen keine echten Akazien, desto mehr aber die Pseudoakazien, wie die gelehrten Botaniker die Bäume auch noch nennen.

Aber auch die Robinie ist ein Fremdling. Sie kommt aus Amerika. Der Hofgärtner des französischen Königs Heinrich IV. holte den Baum über den großen Teich. Robin hieß der Gärtner, und nach ihm heißt der Baum Robinie. Aber der Name Akazie ist so verbreitet, daß kaum einer mehr den Baum kennen wird, wenn man ihn Robinie nennt.

Hier vorn neben dem Stall steht die Trauerweide. Der alte Vater Linné, der allen Pflanzen und Tieren die ersten wissenschaftlichen Namen gab, der allem, was da kreucht und fleucht, ein Etikett anhängte, gab der Trauerweide den wissenschaftlichen Namen Salix babylonica, weil er glaubte, daß die Juden in ihrer babylonischen Gefangenschaft an den Ufern des Flusses unter der Trauerweide saßen und wehklagten, so wie es im Psalm heißt. Aber Linné irrte sich, an den Ufern von Babylon wuchsen damals keine Trauerweiden.

Wie findet ihr meine Pyramidenpappeln? Die wachsen, als ob sie keine Zeit hätten. Aber prächtig sehen sie aus, nicht wahr? Ein Kaiser hatte einst die Bäume sehr gern. Es war Napoleon. Seine Heerstraßen bepflanzte er alle mit Pyramidenpappeln. Heute wird man die Heerstraßen unauffälliger anlegen, wegen der Fliegergefahr.

Da steht meine Fichte! Wenn die Fichte auf den Weihnachtstisch kommt, heißt sie ›Tannenbaum‹. Dort ist auch die Lärche, unser einziger Nadelbaum, der im Winter alle Nadeln verliert. Und da die Eibe, und da der Wacholder ...

Das ist mein Wald! Er rauscht, er wächst, und er ist schön! Hier, Kinder, in diesem Walde wollen wir unser erstes Abenteuer in diesem Jahre bestehen.«

Die Kinder klatschten vor Freude in die Hände, und der Doktor holte die berühmte Wunderflasche hervor. »So, jetzt kann es losgehen!«

Die Kinder kannten die Wunderflasche schon. Trinkt man sehr viel daraus, dann wird man kleiner als ein Floh. Trinkt man aber nur wenig, nippt man nur von der Wunderflasche, dann wird man so klein wie eine Maus. Diesmal aber wollten die drei Abenteurer so klein wie eine Ameise werden, da mußte jeder einen kräftigen Schluck tun.

Der Doktor reichte die Wunderflasche herum, und kaum hatte jeder getrunken, so prickelte und kitzelte es, als ob der ganze Körper eine einzige Seltersflasche wäre. Zur gleichen Zeit wuchsen die Bäume bis in den Himmel hinein. So kam es wenigstens den Kindern vor. Das Gras wurde größer und größer, bis man über die Grasspitzen nicht mehr hinwegsehen konnte. Und dann war jeder nur so groß wie eine Ameise.

Sieht die Welt komisch aus, wenn man sie als Ameise anschaut! Der Boden ist so rauh und unregelmäßig, voller Felsbrocken, voller Gestrüpp und Balken.

»Wohin soll denn die Reise gehen, Doktor?«

»Vor uns liegt ein Berg. Seht ihr den? Das ist ein alter Maulwurfshügel. Darin haben sich jetzt die Hummeln breitgemacht. Wir gehen hinein in das Hummelschloß.«

Traute aber war damit nicht einverstanden. »Doktor, wir haben im vorigen Jahr das Ameisennest und den Bienenkorb besucht. Immer hast du uns mit einer Flüssigkeit eingerieben, damit wir ebenso riechen wie die Tiere und die Tiere uns nicht als Feinde angreifen. Wir müssen uns jetzt doch auch einreiben.«

»Nein, das ist nicht notwendig. Die Hummeln sind zwar größer als Bienen, und stechen können sie auch ganz anständig, aber sie sind gutartiger. So leicht stechen Hummeln nicht. Wenn ich eine Hummel auf einer Blüte sitzen sah, bin ich manchmal dicht herangegangen und habe sie sanft gestreichelt. Sie ließ sich nicht stören, sog weiter am Honig, nur manchmal wehrte sie mit einem Beine unwillig ab. Ja – die Hummeln sind gutartiger als die Wespen und Bienen.«

Die Kinder ließen sich beruhigen und gingen an den Berg heran. Der Doktor zeigte eine versteckte Öffnung und ging dann tapfer hinein. Die Kinder folgten ihm beinahe ebenso tapfer.

Schon am Eingang sahen sie eine Hummel, die sich festgekrallt hatte und mit den Flügeln wild um sich schlug. Die schnelle Bewegung der Flügel ergab einen summenden Ton. Was war denn das? Waren die Hummeln doch nicht so gutartig? Hatte ein Wächter unsere Ankunft bemerkt und alarmierte jetzt die Besatzung des Hummelschlosses?

Der Doktor hatte wieder etwas zu erzählen:

»Diesen kleinen ›Hummeltrompeter‹ hat man schon lange beobachtet. Früher glaubte man, daß er die Weckeruhr des Hummelstaates sei. Achtung, aufstehen! Betten machen, die Sonne scheint schon, die Blüten warten auf uns.

Man glaubte felsenfest an den Hummeltrompeter als an eine Art staatlicher Weckeruhr. Etliche Forscher versuchten den Hummeltrompeter zu entfernen. Sie verhafteten einfach die Weckeruhr. Dann kam eine andere Hummel und setzte das große Wecken fort.

Leider ist es nicht so poetisch. Der sogenannte Hummeltrompeter versucht nur die Luft zu verbessern. Er fächelt frische Luft in den Bau. Die vermeintliche Weckeruhr ist ein Ventilator. Das Geräusch, das dabei entsteht, ist ein zufälliges Geräusch.

Aber kommt weiter hinein in das Hummelnest!«

Deutlich merkten die Kinder den starken Luftzug am Eingang. Der lebende Ventilator ist ganz gut. Und noch dazu ohne Strom und ohne Lichtrechnung.

Richtig, Licht! Es wird ja immer dunkler in dem Hummelnest. Hat denn der Doktor nicht an die Beleuchtung gedacht? Der Doktor denkt an alles. Es gibt in der Natur viele Tiere, die leuchten können. So ein paar Leuchtbakterien hatte der Doktor wieder bei sich und leuchtete damit die Hummelhöhle ab.

»Solche Ordnung wie im Bienenstaat oder im Ameisenstaat herrscht nicht im Hummelnest. Auch ist die Besatzung viel geringer. Ein Hummelstaat kann mit zwanzig Einwohnern auskommen, es können aber auch bis zweihundert Staatsbürger werden. Ganz selten bringt es ein Hummelstaat auf fünfhundert Untertanen. Unregelmäßig und mit geringer Ordnung wird der Blütenstaub im Nest gesammelt, und mitten in den Blütenstaub werden die Eier gelegt. Die Hummellarven fressen sich voll, entwickeln sich, und ehe sie zu fertigen Hummeln auswachsen, spinnen sie den Kokon und schlafen darin den Schlaf der Gerechten. Man spricht von Hummelpuppen. Krabbeln später die fertigen Hummeln aus, dann stehen die leeren Kokons wie Fingerhüte herum. Aber die Hummeln haben für diese Fingerhüte noch Verwendung. Die leeren Kokons werden als Honigtöpfe benutzt.

Das ist so ziemlich alles im Hummelnest. Etwas dürftig, nicht wahr? Aber auch so ein Hummelstaat hat seine Geheimnisse. Kinder, laßt euch die Geschichte von der großen Hummelmutter erzählen. Die Dame da, die größte im Staate, das ist die große Hummelmutter. Im vorigen Jahr ging sie auf die Hochzeitsreise, dann suchte sie ein verborgenes, geschütztes Plätzchen auf, um dort zu überwintern. Im Frühling begann sie mit der Staatsgründung, ganz allein, denn nur sie blieb vom Hummelstaate übrig, alle anderen starben schon im vorigen Jahr.

Die Hummelmutter legt Eier, besucht die Blüten und sorgt für den kleinen Staat, der noch gar nicht da ist, der erst kommen soll. Aus den ersten Eiern kriechen die ersten Hummeln. Das sind noch sehr kleine Tiere, verkümmerte Weibchen, sogenannte Arbeiterinnen. Die Arbeiterinnen machen ihrem Namen Ehre, fliegen ein und aus, sammeln Blütenstaub und Honig, halten das Nest in Ordnung, und schließlich braucht sich die große Hummelmutter nur noch den Geschäften des Eierlegens zu widmen. Immer seltener fliegt sie aus, bis sie überhaupt nicht mehr das Nest verläßt. Die Arbeiterinnen, die jetzt aus den Eiern schlüpfen, werden immer größer, und schließlich gedeihen die Arbeiterinnen so gut, daß sie selbst Weibchen werden. Zwar erreichen sie noch nicht die Größe der Hummelmutter, aber sie können schon Eier legen. Leider kommen aus den Eiern dieser Weibchen nur Männchen hervor. Die Männer sind ein faules Volk unter den Hummeln, genau so wie unter den Bienen. Die Männer wollen nur Honig schlecken, sammeln keinen Vorrat ein und treiben sich draußen in der freien Natur herum, bis sie sterben. Es ist ein Elend mit den Männern unter den Bienen, Wespen und Hummeln.

Die Weibchen, die aus den Eiern der großen Hummelmutter kommen, werden immer besser, immer kräftiger. Schließlich werden sie so groß wie die Hummelmutter selbst. Jetzt feiern die neuen Weibchen Hochzeit mit den faulen Männern. Das ist aber ganz anders als im großen Bienenstaat. Es gibt keinen Drohnenkrieg und selten sogar einen Hochzeitsflug. Oft feiern die Hummeln ihre Hochzeit einfach im Bau.

Dann aber stirbt bald alles ab im Hummelstaate. Die Arbeiterinnen sterben, die Männer sterben, und selbst die alte große Hummelmutter wird müde und legt sich hin. Nur die neuen Hummelmütter, die von der Hochzeitsfeier, verschlafen in irgendeinem Versteck den Winter und gründen im Frühjahr einen neuen Staat. Das ist so der Hummelstaat, ein bescheidener Bienenstaat.«

Der Doktor war mitten im Erzählen in der schwach beleuchteten Höhle, als Dieter plötzlich mit der Hand nach einer besonderen Hummel wies.

»Doktor, was ist denn das hier für eine Hummel? Die sieht ja etwas anders aus. Ist sie krank?«

»Gut, Dieter, daß du den Unterschied merkst! Diese Hummel gehört gar nicht in unseren Hummelstaat. Das ist ein Eindringling, ein Räuber. Schade, daß wir keine Gewehre bei uns haben. Das Tier ist nämlich eine Schmarotzerhummel. Sie ist zu faul, um Kinder zu pflegen, zu faul zum Blütenstaubsammeln, sie hat auch gar kein Körbchen an den Beinen, wie die echten Hummeln. Aber sonst sieht sie doch den Hummeln verdammt ähnlich, nicht wahr?«

Die Hummeln sind wirklich gutartig, das muß man schon sagen. Sie lassen die Schmarotzerhummel passieren ohne Aufenthalts- und ohne Passierschein. Der Eindringling geht an die Blütenstaubvorräte, legt dort sein Ei ab, und dann verläßt er wieder den Staat der gutmütigen Hummeln. Das Räuberkind, das dem Ei entschlüpft, frißt das Hummelkind auf, ernährt sich von dem Vorrat der fleißigen Hummeln, und zum Schluß fliegt eine Schmarotzerhummel aus den Kokons. Auch unter den Insekten gibt es Schmarotzer, die wie der Kuckuck die Eier fremden Eltern unterschieben. Schert euch zum Kuckuck, ihr Kuckucksinsekten! Könnt ihr nicht selber eure Kinder großziehen, müßt ihr immer andere Leute in Anspruch nehmen? Schämt euch, ihr Kuckuckseltern!

Aber da gibt es noch mehr Kuckuckseltern. Eine Schmarotzerbiene hat man sogar Kuckucksbiene genannt, das ist ihr wissenschaftlicher Name. Und eine Schmarotzerfliege besucht auch das Hummelnest. Wie eine Hummel sieht die Fliege aus, wenn man nicht ganz genau hinsieht. Auch diese Fliege legt ihre Eier im Hummelnest ab. Wenn doch die Hummeln besser aufpassen wollten! Der Doktor sagte immer: »Daß es schlechte Menschen gibt, daran haben nur die guten Menschen schuld. Weil sie so nachsichtig sind, weil sie immer wieder verzeihen, weil sie nicht grob werden können, darum wuchert das Schlechte im Menschen wie das Unkraut. Man muß mal saugrob werden können. Gerade wer gut ist, der muß mal ein Donnerwetter einschieben, dann wird es schon besser werden mit den bösen Menschen.« Unter den Tieren ist es genau so. Wenn doch die Hummeln nur mal die Schmarotzer alle hinauswerfen wollten. Aber sie sind zu gutmütig, obgleich sie einen fürchterlichen Stachel haben.

Die drei Abenteurer verließen langsam das Nest der Hummeln, gingen durch die kleine Ausgangspforte, und bald standen sie wieder im vollen Sonnenlicht. Es war noch viel Zeit zum Größerwerden. Das Wunderwasser wirkt nämlich nur für eine bestimmte Zeit, und diese Zeit war noch nicht abgelaufen.

Der Doktor wollte einen kleinen Spaziergang in der Nähe des Hummelnestes machen, um zu sehen, was es hier alles in der Umgebung gab. Vor ihnen krabbelte eine Ameise über das Geröll und den Felsenschutt des Sandbodens. Ihr nach! Wollen doch mal sehen, wohin die Ameise eilt!

Aber die Verfolgung war sehr schwierig, denn die Ameisen sind unheimlich flink. Schon glaubten die drei die Verfolgung aufgeben zu müssen, da kam die Ameise an einem Erdloch vorüber. Aus dem Erdloch schauten ein Paar Zangenspitzen heraus. Jetzt wurden die Zangenspitzen größer, erfaßten die kleine Ameise und verschwanden mit ihr in der Unterwelt. Was war denn das?

Vorsichtig trat der Doktor näher und wagte einen neugierigen Blick in das Erdloch. Da unken schlängelte sich ein schrecklicher Erdwurm, viel, viel größer als die Ameise, hielt das kleine Tierlein zwischen die schrecklichen Zangen gepreßt und saugte das zappelnde Opfer aus. Der Doktor wußte sofort Bescheid.

Der fürchterliche Erdwurm ist die Larve eines Raubkäfers, des sogenannten Läufers. Der Raubkäfer ist schon ein unheimlicher Fresser und fällt alles Getier an, das er überwältigen kann. Sein Kind aber, die Larve, ist noch viel gefährlicher. Während der erwachsene Käfer seine Beute offen anfällt, gräbt sich die Larve eine Art Röhre. Dahinein kriecht sie, preßt sich mit Dornen und Beinen fest, läßt nur die schrecklichen Zangenspitzen am Kopf aus dem Loch herausgucken und wartet auf Beute.

Wie in einem Gully sitzt der Räuber in seiner Höhle und überfällt die ahnungslosen Spaziergänger. Die Beute wird gepackt, getötet, in den Keller hineingezerrt und dann ausgesogen. So ein hinterlistiger Gullyräuber!

Der Doktor war noch im Betrachten, da kletterte der Räuber auch schon nach oben, um auf neue Beute zu warten. Vorsichtig zog sich der Doktor zurück und berichtete den Kindern von seinen Beobachtungen. »Achtung, Kinder, geht nicht so dicht an den Gully heran, da drinnen sitzt ein heimtückischer Wegelagerer.«

Die Kinder waren noch erschrocken über den Tod der Ameise, da kam auch schon eine kleine Wespe dem Gully zu nahe. Vorsichtig, kleine Wespe, du gehst in den Tod, du spielst mit deinem Leben. Aber die Wespe verstand die Menschensprache nicht, obgleich sie der Doktor mit dem wissenschaftlichen Namen Methoca, anredete. Es war, als ob die Wespe absichtlich auf das kleine Räuberloch zuging.

Und nun war es geschehen. Die schrecklichen Zangen packten zu, die kleine Wespe wurde dabei emporgehoben, auch der Gullyräuber reckte sich etwas aus seiner Höhle heraus. Und jetzt kam das große Wunder. Blitzschnell krümmte die Wespe ihren Leib und drückte ihren Stachel in die Weichteile des Gullyräubers, die der Wegelagerer unvorsichtig entblößt hatte. Die Zangen öffneten sich, und wie tot sackte der Gullyräuber in sein Loch zurück. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.

Aber die Wespe war noch nicht fertig mit ihrem Werk. Die Bienen sammeln Honig und Blütenstaub für ihre Kinder ein. Die Wespenkinder aber wollen Fleisch essen. Erst die erwachsenen Wespen werden Vegetarier. Die kleine Wespe kletterte hinab zu dem ohnmächtigen Gullyräuber und legte ihre Eier an dem Scheintoten ab. Wenn die Wespenkinder aus den Eiern schlüpfen, dann fressen sie den ohnmächtigen Gullyräuber auf, der sich nicht wehren kann, dessen Fleisch aber auch nicht verdirbt, weil er ja noch am Leben bleibt. Die Ohnmacht ist so tief, daß der Gullyräuber keine Schmerzen empfindet beim Gefressenwerden. Wir empfinden ja auch keine Schmerzen, wenn wir unter Narkose operiert werden.

So frißt ein Räuber den anderen in der Natur. Die Wespe flog davon. Sie hatte sich überfallen lassen, bewußt sich der Gefahr ausgesetzt, denn wenn der Gullyräuber sie nicht angefallen hätte, wenn er seinen Körper beim Angriff nicht entblößt hätte – nie hätte die Wespe ihren Betäubungsstich anbringen können.

Die drei gingen weiter. Immer felsiger wurde das Gelände. Der Graswuchs hörte schließlich ganz auf.

Da sah Dieter einen Trichter im Sande, so groß wie ein Granattrichter. Hurra! Hier gibt es etwas zum Klettern. Unter Hallo stürzte sich Dieter auf den Granattrichter im Sande und rutschte die Böschung hinab. Der Doktor schrie ängstlich auf:

»Dieter, um alles in der Welt, bleib zurück! Unten im Granattrichter sitzt noch so eine Bestie. Im Sande versteckt lauert der Ameisenlöwe, der wird dich auffressen.«

Aber es war zu spät. Dieter stand schon mitten auf dem Abhang und wollte weiter Hurra schreien. Da kam aber der sogenannte Granattrichter in Bewegung. Dieter glaubte an ein Erdbeben, so wurden die Sandmassen im Trichter erschüttert.

Dieter versuchte nach oben zu klettern, aber immer neue Erschütterungswellen brachten den Trichter in Bewegung. Geröllmassen überschütteten den armen Dieter, und der Junge rutschte immer tiefer hinab. Gellend schrie er um Hilfe.

Der Doktor rannte eiligst zurück, fand einen dünnen Grashalm, schleppte den Grashalm bis zum Trichterrande und ließ dann das eine Ende hinabgleiten. Das andere Ende behielt er in der Hand. Dieter ergriff den Grashalm wie einen Rettungsanker, der Doktor und Traute zogen am anderen Ende, und so kam Dieter langsam wieder nach oben, obgleich der Granattrichter immer mehr in Bewegung kam und das Erdbeben immer gewaltiger wurde. Endlich war Dieter oben. Ganz blaß und aufgeregt war der Junge. Das war noch mal gut gegangen, wie leicht hätte das »ins Auge gehen können«. Als er sich von seinem Schrecken erholt hatte, fragte er:

»Doktor, nun sage mir bloß, was war denn das schon wieder? Man kann ja kaum zehn Schritte gehen, dann kommt schon ein neues Abenteuer.«

Und der Doktor mußte wieder berichten. Da fliegt ein Tier durch die Luft, das ungefähr wie eine Libelle aussieht. Dieses Tier legt seine Eier im Sande ab. Die Larven, die aus den Eiern kriechen, sehen nicht einer Libelle ähnlich, sondern mehr einer Wanze. Aber die Kinder sind weder Wanzen, noch sind die Eltern Libellen. Es geht furchtbar komisch in der Natur der kleinen Welt zu. Was würdet ihr dazu sagen, wenn die Kamele Kinder bekämen, die den Tigern gleichen? Die Kinder unseres Tieres hier nennt man Ameisenlöwen. Sie graben sich unter ruckartigen Bewegungen einen Sandtrichter, und kommt eine Ameise dem Trichter zu nahe, dann wird der Sand so lange erschüttert, bis die Ameise immer tiefer in den Trichter gerät. Das Erdbeben verursacht der kleine Ameisenlöwe auf dem Grunde des Trichters. Dabei fällt noch ein feiner Sandregen auf den Kopf des Opfers, und die Lage der Ameise wird immer hoffnungsloser. Am Grunde packen sie die Zangen des Ameisenlöwen, und die arme Ameise wird verzehrt. Es brauchen nicht immer Ameisen zu sein; kleine Raupen, Spinnen und Käfer verzehrt der Ameisenlöwe auch. In der Hauptsache aber sind es Ameisen ...

»Doktor, ich wachse!« rief die kleine Traute mitten im Erzählen. Und richtig, alle drei spürten jetzt im Körper das Prickeln, Reißen und Ziehen, welches das Ende des Zwergendaseins ankündigte. Jetzt wuchsen die drei Abenteurer über die Ameisenwelt hinaus, wurden größer und immer größer, bis sie wieder richtige Menschen waren.

»Schönen Dank, Doktor, für das erste Abenteuer! Es war wie immer furchtbar aufregend, und wir haben wieder so viel gelernt, Ich dachte, in deinem Walde herrsche tiefster Friede. Es ist aber allerhand los in deinem Garten. Ich freue mich schon auf das nächste Mal. Schönen Dank, Doktor!«

Die drei setzten sich wieder auf ihre Räder und fuhren heimwärts. Mit dem Doktor ist es doch immer schön. Wo wird er uns das nächste Mal hinführen?


 << zurück weiter >>