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Im Fahrstuhlbohrer durch die Pflanze

Der Doktor ist ein ewiger Erfinder. Immer wieder denkt er über neue Maschinen nach, um sich mit ihrer Hilfe die Welt des Kleinen zu erobern. Neulich war der Doktor mit den Kindern in der Erde, jetzt wollte er mit ihnen im Stengel einer Pflanze emporsteigen. Es wird immer wundersamer mit dem Doktor. Wie er das nur wieder fertigbringen wird?

Zum Sonntag waren sie eingeladen, mit dem Doktor den Garten aufzusuchen. Natürlich benutzten sie wieder ihre Fahrräder, und es dauerte nicht lange, bis sie ein lebhaftes Gespräch führten.

»Doktor, kann man die Lupinen nicht essen? Es ist doch schade, daß man das große Feld umpflügt, wenn die Pflanzen in der Blüte stehen.«

»Das wäre eine schöne Sache, wenn man die Lupinen essen könnte. Denn die Lupinen enthalten soviel gute Nährstoffe wie kaum eine Pflanze.«

»Und warum ißt man sie nicht?«

»Die Sache hat einen Haken. Die Lupinen sind bitter. Die Pflanzen enthalten einen Bitterstoff, und der bekommt uns nicht.«

»Warum haben Lupinen den dummen Bitterstoff?«

»Die Kinder müssen immer nach dem Warum fragen. Aber laßt nur, das ist gut so, die Gelehrten fragen auch immer nach dem Warum! Ich will euch die Antwort geben: Die Lupinen sind darum so bitter, damit die Hasen nicht kommen und die Lupinen alle abfressen.«

»Gab es denn einmal süße Lupinen?«

»Ja, die gab es, und die haben die Hasen alle abgefressen. Paßt mal auf, die Sache war so: Früher waren alle Lupinen süß. Die Hasen kamen und fraßen das grüne Zeug ratzekahl ab. Aber ein paar Lupinen, die nicht ganz so süß waren, die ließen die Leckermäuler stehen. Nur die weniger süßen Lupinen konnten sich also weiterverbreiten. Als die Hasen merkten, daß keine ganz süßen Lupinen mehr da waren, machten sie sich über die weniger süßen her, bis auch die aufgefressen waren. Aber wieder waren ein paar Lupinen darunter, die waren ein ganz klein wenig bitter. Die blieben stehen. Und das ging so weiter mit dem Hasenfraß, bis nur die ganz bitteren Lupinen übrigblieben.«

»Wenn die bösen Hasen nicht wären, gäbe es heute noch süße Lupinen.«

»Laßt nur, Kinder, es gibt heute noch Hasen, die den umgekehrten Weg gehen.«

»Da bin ich aber neugierig, Doktor! Wo leben denn diese Hasen, die alle bitteren Lupinen wegfressen und die süßen übriglassen?«

»Diese Hasen sind die Gelehrten.«

»Das ist aber komisch! Ich habe noch keinen Professor gesehen, der sich über ein Lupinenfeld herstürzte und Lupinen kaute.«

»Nein, so machen das die Gelehrten auch nicht. Die Forscher arbeiten still und unbeobachtet in ihren Laboratorien. Früher versuchten die Professoren süße Lupinen zu züchten und kosteten immer wieder, ohne recht vorwärtszukommen. Dabei kann man sich aber zu Tode kosten und sich mit Bitterstoff vergiften. Man kostet heute nicht mehr, man stellt die Bitterstoffe ganz anders fest. Aber das kann ich euch nicht erzählen, das ist zu kompliziert. Jetzt hat man jedoch endlich süße Lupinen gefunden. Die Sache ging so: Von allen bitteren Lupinen suchte man ein paar aus, die weniger bitter waren. Von diesen säte man die Samen aus, und dann suchte man wieder ein paar Lupinen aus, die zufällig noch weniger bitter waren. Das setzte man so lange fort, bis man die süßen Lupinen aussortiert hatte. Stellt euch das nicht so einfach vor. Es sind immer nur sehr wenig Lupinen, die geringeren Bitterstoff haben. Aber mit viel Geduld und Ausdauer fand man doch den richtigen Weg, den umgekehrten, den die Hasen gingen. Ich kann euch sagen, Kinder, die Gelehrten arbeiten mit einer Ausdauer und mit einem Scharfsinn, da kommt ein Detektivroman gar nicht mit. Zum Beispiel hat Doktor v. Sengbusch 1½ Millionen Lupinen untersucht und dabei nur 5 süße Lupinen gefunden.«

Hoppla! Beinahe wäre der Doktor in seiner Begeisterung für die Wissenschaft gegen einen Baum gefahren. Er hätte ja nicht auf dem Rade erzählt, wenn die drei nicht stille Radfahrwege durch Wälder benutzt hätten. Auf Landstraßen duldete der Doktor keine Unterhaltung. Da mußten die drei hübsch hintereinander fahren, damit kein Unglück geschehe. Unterhaltungen sind auf Landstraßen zu gefährlich. Aber im Walde, auf breiten Radfahrwegen, kann man sich schon eine Unterhaltung erlauben. Und auch da ist die Sache nicht so einfach. Was die Bäume für Anziehungskraft auf die Fahrräder haben, ist einfach erstaunlich.

Der Doktor stellte die Unterhaltung ein und bearbeitete weiter schweigend seinen Drahtesel. Wenn der Dieter von seinem Fahrrad sprach, dann sprach er immer nur von seiner Knochenmaschine. Die Traute aber wollte nicht so drastisch reden, sie nannte ihr Fahrrad ein Stahlroß. Den Doktor nannte sie einen Ritter vom Pedal.

Bald war der Garten erreicht. Die drei nahmen in der Laube ihr Frühstück ein, und dann konnte die neueste Abenteuerfahrt starten. Wie will der Doktor nur in die Pflanze hineinkommen? Hatte er in dem Pflanzenstengel einen winzigen Fahrstuhl angelegt? Aber warum den Kopf zerbrechen, der Doktor wird schon etwas gefunden haben, es wird, wie immer, gut abgehen. Hat der Doktor denn schon jemals eine Aufgabe nicht lösen können?

Mitten vor den Beeten machten die drei halt. Der Doktor reichte die Wunderflasche herum, ein paar Kleinigkeiten hatte er vorher auf die Erde gelegt, dicht an einen Pflanzenstengel, und dann kullerten ein paar Schlucke aus der Wunderflasche die Kehle hinunter. Gluck, gluck, gluck, Wunderpulle!

Du kleine Pflanze da unten, wir wollen dich mal von innen besehen. Ja, mit dem Doktor Kleinermacher gehen wir in alle Winkel der Welt. Auch du, kleine Pflanze da unten, bist vor uns nicht sicher.

Was ist denn das? Die kleine Pflanze wird immer größer. Jetzt ist sie genau so groß wie die drei. Nun wächst sie sogar weit über die Menschen hinaus. Immer noch, immer noch. Will denn das Wachstum gar kein Ende nehmen?

Aber es schien den beiden Kindern nur so. In Wirklichkeit waren sie es, die zusammenschrumpften, und zwar so sehr, daß die kleinen Pflanzen ihnen bald größer vorkamen als die riesigsten Bäume. Schließlich konnten sie mit ihren Augen gar nicht mehr die ganze Pflanze erfassen. Vor ihnen stand eine dicke, hohe Säule, die sich irgendwo am Himmel verlor. So klein waren die drei Abenteurer geworden. Und wie uneben war die Erde! Wie soll man nur durch das Felsengebirge zur Pflanze gelangen?

Aber daran hatte der Doktor schon gedacht. Nicht weit von ihnen lag ein dünner Grashalm, der alle Schluchten und Felsenklüfte wie eine grün angestrichene Autobahn überbrückte. Rasch erkletterten die drei die Grasautobahn und gingen auf ihr spazieren, immer der unheimlich riesigen grünen Pflanzensäule zu.

Wenn man die Grashalm-Autobahn genauer betrachtete, dann konnte man sehen, daß sie mit lauter kleinen unregelmäßigen Pflastersteinchen dicht bei dicht bepflastert war. Die Pflastersteinchen waren durchsichtig. Unter ihnen konnte man noch kleinere runde Pflastersteinchen erkennen, und die wieder hatten lauter grüne Pünktchen. Ist das eine wunderliche Autobahn, wie im Märchenland. Der Doktor erklärte den Kindern, daß die Pflastersteine, die durchsichtigen und die grünen darunter, alles Zellen seien, aus denen sich jede Pflanze aufbaue.

Lang war der Weg auf der Autobahn. Endlich kamen die drei Abenteurer dem Pflanzenstengel näher, der den Kindern wie eine mächtige Säule erschien. Und was steckt denn da in der Säule? Ja, der Doktor hatte heimlich Vorbereitungen getroffen. Er hatte ein Fahrzeug erfunden, das er einen »Fahrstuhlbohrer« nannte. Das Fahrzeug sah ungefähr so aus wie das Untergrundboot von der Fahrt unter der Erde. Nur war der Fahrstuhlbohrer viel kleiner und so eingerichtet, daß er sich nach oben in die Pflanze bohren konnte. Dementsprechend waren auch das Fenster und die Tür eingerichtet. Der Fahrstuhlbohrer war so tief in die große Säule hineingedrückt, daß nur noch das Hinterteil mit der Tür herausragte. Von der Tür hing eine kleine Strickleiter bis zum Boden herab.

*

Die Kinder sahen die ganze Vorrichtung und waren begeistert. »Dreimal hoch soll der Doktor leben! Immer wieder erfindet er neue Fahrzeuge, und immer wieder überrascht er uns!«

Die drei Abenteurer kletterten die Strickleiter empor, der Doktor zog die Strickleiter ein, und dann verschloß er sorgfältig die Tür. Die Fahrt konnte beginnen. Ganz aufgeregt waren die Kinder. Der Doktor ließ den Mechanismus laufen. Langsam drehte sich das Gewinde, und das Fahrzeug bohrte sich in die Pflanze hinein, immer empor.

Die Kinder standen am Fenster und betrachteten voller Erstaunen das Innere der Pflanze. Aus vielen langgestreckten Säulen war das Gewächs aufgebaut. Säule drängte sich an Säule, dicht beieinander standen die Streben, die die Wissenschaftler Zellen nennen. Wenn eine Säule endete, stand auf ihr eine neue. Eng und schmal waren die Gebilde, innen hohl und mit Wasser gefüllt. Manche Säulen hatten Boden und Decke, die waren so porös wie Siebe, die Kinder konnten es gerade noch erkennen. Manche Säule war dicker und hatte eigenartige verzierte Wände. Manche aber waren nicht nur dick, sondern auch kurz. Der Doktor sagte, das seien die Markzellen. Die Markzellen waren so luftig und zart, daß der Doktor fürchtete, mit seinem Fahrstuhlbohrer steckenzubleiben. Darum steuerte er immer mehr den engen Säulen zu und flüchtete mit seinem Fahrstuhl, wenn er dem Bereich der Markzellen zu nahe kam.

Die engen Säulen aber waren voller Wasser, und da beim Emporfahren viele Säulen angerissen und zerstört wurden, tropften und flossen Wasser und Zellschleim um den Fahrstuhlbohrer herum, so daß er ganz naß wurde. Auch die Fensterscheiben waren immer mit Wasser und Schleim benetzt.

Der Doktor erklärte, daß das Wasser, das die Wurzeln im Erdreich aufsogen, durch die Säulen nach oben steige, bis zu den Blättern hin. So eine Pflanze sei eine ständig arbeitende Wasserleitung.

Traute wollte wissen, wo denn das Wasser oben in den Blättern bliebe? Aber der Doktor meinte, das sehe man noch früh genug. Zu den Blättern käme man ja auch mal.

Die Kinder konnten sich nicht satt sehen an den Wasserleitungsröhren im Pflanzenstengel. Sie liegen so unübersehbar dicht bei dicht, daß man gar nicht weiß, was die Pflanze mit all dem Wasser will. So hohe Wassertürme hat noch kein Mensch gebaut. Wenn die Menschen Türme bauen, dann müssen sie immer sehr dick sein. Die Pflanze macht aber alles viel feiner, viel schlanker, viel eleganter. Und dabei ist alles so elastisch, daß der Wind den Wasserturm bis zur Erde biegen kann. Wenn der Windstoß vorüber ist, richtet sich der Wasserturm wieder auf. Ja, man kann sogar auf die Pflanze treten, immer wieder richtet sich der Wasserturm fast unbeschädigt empor. Die Pflanzen sind alle Kraftwerke. Eigentlich müßte man vor jeder Pflanze den Hut abnehmen.

Schon lange fuhren die drei mit ihrem Fahrstuhlbohrer empor. Die Kinder standen an den Fenstern und schauten sich die Pracht an. Da glaubte der Doktor eine Abzweigung im Stiel zu erkennen. Ein Teil der langen, engen Säulen bog sich sanft zur Seite. Sicherlich führt von hier aus ein Weg zu einem Blatt. Wenn wir das Blatt erreichen wollen, dann dürfen wir nicht mehr senkrecht empor fahren, sondern müssen unseren Fahrstuhlbohrer schräg abbiegen lassen. Hoffentlich bohren wir uns dabei nicht aus dem Stengel hinaus. Der Doktor stellte die Steuerung ein, und der Fahrstuhlbohrer legte sich etwas auf die Seite. »Achtung!« Der Doktor forderte die Kinder zum Festhalten auf, denn auch der Boden des Raumes im Fahrzeug stellte sich schräg ein. Die Kinder konnten kaum das Gleichgewicht halten, aber immerzu schauten sie durch das Fenster. Sie wollten keinen Blick von den Wundern lassen. Obgleich die Wasserleitungen der Pflanze nahezu gleichförmig aussahen, wollten sie sich jedoch den Anblick des Schauspieles nicht entgehen lassen. Wer weiß, vielleicht kommt man nie wieder im Leben dazu, sich eine Pflanze von innen anzusehen.

Immer weiter geht die Fahrt. Die Wasserleitungen führen die Flüssigkeiten einem Blatt zu, und im Blatt verteilen sich dann die Leitungsrohre in zahlreichen Verzweigungen über das ganze Blatt. Die Adern des Blattes sind die Leitungsrohre des großen Wasserwerkes.

Jetzt schien eine Störung im Getriebe eingetreten zu sein. Der Doktor war mit seinem Fahrstuhlbohrer wahrscheinlich der Rinde zu nahe gekommen, der Bohrer verschmierte sich in den Flüssigkeiten, und plötzlich stand das Fahrzeug still. So dicht hatten sie sich der Oberfläche des Blattstieles genähert, daß das Sonnenlicht hell durchbrach.

Aber die Abenteurer waren nicht gefangen. Bequem und ohne große Mühe konnten sie aussteigen und durch einen Spalt emporklettern.

Tief unter ihnen lag die Erde, man konnte sie kaum erkennen. Oben in den Lüften konnten sie Blattflächen sehen, aber die Entfernungen waren so groß, daß sie mit ihren kleinen Augen die ganze Pflanze nicht zu überblicken vermochten. Nur einzelne große Flächen konnten sie in weiter Entfernung erkennen, aber bei weitem nicht alle Blätter.

Da jauchzte der Doktor plötzlich auf. Er hatte rückwärts geblickt, und die Kinder schauten sich jetzt gleichfalls um. Glück im Unglück! Dicht am Ansatz des Blattes hatte ihr Fahrstuhlbohrer versagt. Jetzt konnten die drei Abenteurer das Blatt beschreiten, das wie eine ungeheure grüne Fläche vor ihnen lag. Glatt war die Fläche nicht, denn kleine Gebirgszüge zogen sich in Verästelungen über das Blatt hin. Es waren die Adern des Blattes, die Wasserleitungen, die den im Wasser aufgelösten Nährstoff überallhin weiterleiteten.

Unbeweglich war die Blattfläche nicht. Der Wind hob und senkte das Blatt, und die Kinder wären hinabgestürzt, wenn nicht zahlreiche kleine Säulen auf der Fläche gestanden hätten. Die kleinen Säulen waren die Blatthärchen. Aber immer noch waren die Blatthärchen zu klein, um sicheren Schutz zu bieten. Zu sehr schwankte das Blatt im Winde. Eine weitere Wanderung auf dem Blatt schien ausgeschlossen.

Die Kinder hielten sich krampfhaft an den Blatthärchen fest, und der Doktor ging vorsichtig zurück, um wieder zum Spalt in der Rinde und zu seinem Fahrstuhlbohrer zu gelangen. Vorher hatte er den Kindern erklärt, daß sie bleiben und sich festhalten sollten. Er werde Hilfe bringen.

Bald kam der Doktor wieder. Aus dem Fahrstuhlbohrer hatte er sich eine Flasche mit Wunderwasser geholt. Die drei Abenteurer sollten noch kleiner werden, so klein, daß sie zwischen den Härchen der Blattoberfläche wie in einem Säulenwalde spazierengehen konnten.

Die Flasche wurde tapfer ausgetrunken, und dann schrumpften die drei noch mehr zusammen und wurden so klein, daß der Wind über sie hinwegfuhr und sie sicher im Säulenwalde spazierengehen konnten. Zwar merkten sie deutlich, daß die Blattunterlage sich immer noch im Winde hob und senkte, aber sie hatten sich schon daran gewöhnt wie an eine stürmische Seefahrt.

So krabbelten denn die noch kleiner gewordenen Zwerge auf dem Blatt herum. Für ihre Augen war die Blattfläche mit großen unregelmäßigen Pflastersteinen besetzt, die durchsichtig wie Glas waren. Zwischen den Pflastersteinen war keine Lücke zu bemerken, so eng lagen die Ränder aneinander. Aber unter den durchsichtigen Pflastersteinen schimmerten runde Pflastersteine, die dicht mit grünen Punkten besetzt waren.

Der Doktor erklärte: »So sieht ein Blatt in der Nähe aus. Ist das nicht wundersam? Kann es in einem Märchen schöner zugehen? Die durchsichtige Schicht besteht aus Zellen, ihr seht diese Zellen hier als Pflastersteine, die das Blatt schützen. Darunter liegen die Zellen mit den grünen Farbkörperchen. Chlorophyll sagen die Botaniker. Die grünen Klumpen sind die Maschinen der Pflanze. Jedes Blatt hat Millionen von diesen Maschinen. Die Pflanze ist eine große chemische Fabrik. Ich muß euch den Vorgang erklären, auf die Gefahr hin, daß ihr nicht alles verstehen könnt.

Wir atmen Luft ein und aus. Beim Einatmen nehmen wir den Sauerstoff der Luft, und beim Ausatmen entlassen wir den verbrauchten Sauerstoff, der sich fest mit Kohlenstoff verbunden hat. In diesem Zustand kann kein Tier und kein Mensch mehr die verbrauchte Luft benutzen. Sauerstoff und Kohlenstoff sind zu fest verbunden.

Die Pflanzen aber nehmen die verbrauchte Luft an sich, und mit ihren grünen Maschinen hier im Blatt trennen sie wieder den Kohlenstoff von dem Sauerstoff. Das ist ein chemisches Kunststück. Der Sauerstoff wird entlassen, und wir haben damit wieder brauchbare Luft gewonnen. Den Kohlenstoff aber behält die Pflanze. Mit ihm baut sie sich ihren Pflanzenkörper auf. Der Vorgang ist also keine Atmung, sondern eine Ernährung. Das Atmen kennt die Pflanze auch. Dabei verbraucht sie wie wir Sauerstoff und entläßt Kohlenstoff.«

Dieter wollte wissen, wo denn nun eigentlich der Mund der Pflanze sei?

Der Doktor antwortete: »Die sogenannten Atemöffnungen der Pflanze befinden sich nicht hier oben, sondern an der Unterseite des Blattes. Dahin können wir leider nicht gelangen.«

Da entdeckte der Doktor aber doch noch einen Spalt auf der Oberseite der Blattfläche. Eine Fuge zwischen den Pflastersteinen war undicht, und man hätte sich bequem durchzwängen können. Die Kinder waren auch hierzu bereit, und so kletterten sie hinab.

Schon in dem Pflanzenstengel war es wundersam gewesen, was die Kinder aber jetzt im Innern des Blattes sahen, war unbeschreiblich. Nahe unter der Oberfläche standen dicht beieinander sackartige Zellen, die voll grüner Klumpen waren. Das waren die chemischen Maschinen des Blattes. Darunter wieder waren die Zellen unregelmäßiger in der Form und wurden auch seltener, so daß sich viele Hohlräume ergaben und die Kinder bequem durch das Gewirr der Zellen klettern konnten. Hier unten wurden auch die grünen Maschinen immer seltener. Am häufigsten waren sie an der Oberseite des Blattes, da, wo die Sonne schien, denn die Betriebskraft holen sich die grünen Maschinen von der Sonne. Die Sonnenstrahlen kurbeln den chemischen Betrieb der Pflanze an.

Wie in einem grünen Paradiese standen die drei mitten im Blatt und konnten sich an der Pracht nicht satt sehen. Kein Abenteuerland, kein Urwald, keine Filmstadt kann so romantisch sein wie ein Aufenthalt mitten in einem Blatt, das doch so dünn erscheint wie ein Stück Papier.

Der Doktor sagte: »Ihr freut euch an dem Anblick. Ich auch, das kann ich nicht bestreiten. Worüber ich aber vor allem staune, das ist die chemische Leistung der grünen Maschine. Die Pflanzenfabrik fängt Licht auf, nimmt die Kraft von den Sonnenstrahlen, und aus dem Kohlenstoff der Luft und aus den Wassern von den Wurzeln fabriziert sie Zucker und Stärke. Das sollen wir der Pflanze erst mal nachmachen. Werft ihr einmal Kohlen in einen Wassertopf und versucht daraus Zucker zu machen. Ist die Pflanze nicht ein Tausendkünstler?«

Noch waren die Kinder im Staunen und blickten nur nach oben, da entdeckte Dieter ein neues Wunder. Die Unterseite war mit zahlreichen kleinen Öffnungen versehen, die nach außen führten.

»Doktor, das Blatt hat ja lauter Löcher. Wer hat es denn so zerstört?«

Traute war entrüstet über den Übeltäter, der das Blatt so durchlöchert hatte. Ob das Mücken waren, die ihre Stachel in die Blätter piekten? Aber der Doktor klärte auf:

»Jetzt endlich kann ich euch die Atemöffnungen der Pflanze zeigen. Diese Spaltöffnungen hat jedes Blatt an der Unterseite, viele tausende. Wenn die Wasserleitungen die Nährstoffe mit dem Wasser von den Wurzeln aus nach oben pumpen, dann verdunstet das Wasser in den Blättern, und durch diese Öffnungen verdampft das Wasser. Die Nährstoffe aber bleiben in der Pflanze. Jede Pflanze hat viele Blätter, und jedes Blatt hat noch viel mehr Spaltöffnungen. Was da so im Laufe eines Tages an Wasser emporgesogen wird und in den Blättern verdunstet! Ihr macht euch keine Vorstellung. Seht euch die Spaltöffnungen mal genauer an. Jede Öffnung wird von zwei Zellen gebildet. Die beiden Zellen sehen aus wie ein Paar Wiener Würstchen. Ist viel Wasser in der Pflanze, dann sind die Würstchen prall gefüllt und beulen sich zu einer großen Öffnung auseinander. Jetzt kann das Wasser verdunsten. Ist aber wenig Wasser in der Pflanze, dann fallen die Würstchen zusammen, werden schlaff, und die Spaltöffnungen schließen sich. Das wenige Wasser wird in der Pflanze zurückgehalten. Deshalb verdursten die Pflanzen auch nicht so leicht in der prallen Sonne. Ist das nicht ein klug ausgedachter Mechanismus? Vorsicht, Traute, fall nicht hinunter! Die Spaltöffnungen stehen jetzt alle offen. Wenn du hier durchfällst, bist du verloren.«

Traute hatte wirklich nicht achtgegeben. Sie entdeckte nämlich etwas Neues, und das nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Nicht weit von den drei Abenteurern breitete sich im Blatt ein heller Tunnel aus. Nur die Oberhaut und die Unterhaut des Blattes waren noch da, die grünen Zellen dazwischen waren wie weggefressen.

Breit und groß lag das Gewölbe vor den Kindern. Mitten im Blatt ein Glaspalast. Durch die Decke des Glastunnels schien warm und ungehindert die Sonne.

Und auf dem Glasboden schritten die drei Abenteurer entlang, immer tiefer in das Gewölbe hinein. Wer hat sich diesen Glaspalast in dem Blatt nur gebaut? Die grünen Wände zur Rechten und zur Linken standen weit auseinander. Sicher hat sich ein Tier, ein Schmarotzer, diesen Gang im Blattgrün genagt. Vorsichtig war der Bursche: weil er die Oberhaut und die Unterhaut des Blattes nicht annagte, nur die Zellen im Innern aufgefressen hatte, war er in seiner gläsernen Wohnung ständig geschützt.

Der Doktor erzählte, es gäbe viele solcher Schmarotzer im Blattgrün. Raupen von kleinen Schmetterlingen, sogenannte Miniermotten, nagen sich solche Gänge. Aber auch Larven von Blattwespen, selbst Larven von Käfern ernähren sich auf die gleiche Art im Blattgrün. Dabei gehen die Tiere sehr klug vor. Damit das Blatt recht lange frisch bleibe, benagen sie das Blatt von der Spitze aus. Auch sehen sie sich vor, daß sie keine Wasserleitungen beschädigen, sonst stockt die Ernährung des Blattes, und die Raupen müssen verhungern.

Der Doktor war noch im Erzählen, da nahte schon die Raupe, die sich den Glaspalast genagt hatte. Ein entsetzliches Vieh! Dick und schwammig war der Körper. Den Kindern erschien das Ungeheuer, das sonst dem menschlichen Auge entgeht, so groß wie ein Walfisch. Und wie satt und vollgefressen das Ungeheuer aussah. Die Kinder konnten ihren Schreck nicht verbergen, sie schrien auf und flüchteten, der Doktor hinter ihnen her, denn er wollte seine Freunde nicht allein lassen. Schon hatten die drei den gläsernen Tunnel hinter sich, schon bewegten sie sich zwischen den schützenden grünen Zellen, da geschah das Unglück.

Bei der Flucht achteten die drei nicht auf ihren Weg, dachten nicht mehr daran, daß der Boden des Blattes mit vielen Spaltöffnungen bedeckt war. Sie traten fehl, und alle drei stürzten durch die Spaltöffnungen der Blattunterseite.

Jetzt ist es aus, jetzt haben alle Abenteuer ein Ende! Aber der Doktor merkte, als er sich durch die Luft bewegte, daß der Flug durch die Luft alles andere als ein Sturz war. Viel leichter noch als Federn schwebten die drei durch die Luft. Ja manchmal ergriff sie ein leichter Wind und hob sie sogar empor. Dieser Sturz durch die Luft war ein sanfter Flug ohne Apparat und ohne Flügel. Nur konnten sie nicht steuern, konnten die Richtung ihrer Reise nicht bestimmen.

Von seinem ersten Schreck hatte sich der Doktor erholt. Ein neuer Schreck aber erfüllte ihn jetzt. Anfangs waren die drei in der Luft noch zusammen, bald aber wehte sie der Wind auseinander. Vom Winde verweht! Jetzt konnte der Doktor seine Freunde schon gar nicht mehr erkennen, so weit war er schon von ihnen entfernt. Wenn das man gut geht! Hoffentlich geschieht den Kindern nur nichts!

Bei seiner Luftreise kam der Doktor einem Baum nahe. Mit seinen gelehrten Augen erkannte er sofort, daß der Baum mit Flechten bedeckt war. Der Wind drückte ihn an das grüne Moosgebilde der Flechten, und er hielt sich ängstlich fest. Die Landung war sanft, aber der Doktor ließ nicht los, denn die Luftreise muß ein Ende haben. Wer weiß, wohin man sonst noch gelangt? Wie leicht kann irgendein fliegendes Insekt den kleinen Bissen wegschnappen. Nur nicht noch einmal die ungewisse Luftreise! Dann schon lieber an den Flechten zappeln und warten, bis das Wachstum einsetzt. Aber der Doktor war schließlich zu sehr Naturforscher, um stumm und ergeben das Größerwerden abzuwarten.

Wie sehen denn die Flechten eigentlich von nahem aus? Er wußte ja schon alles, der Doktor: die Flechten sind nämlich eigentlich gar nicht grün, wie sie dem Auge gewöhnlich erscheinen. Alle Flechten setzen sich aus zwei Pflanzenarten zusammen, nämlich aus hellen Pilzen und kleinen grünen oder blauen Algen. Die Algen erst geben der Pflanze die Farbe. Von einer Pflanze darf man eigentlich gar nicht sprechen, sondern von zwei zusammenlebenden Pflanzenarten. Die Freundschaft zwischen den beiden Pflanzenarten ist so eng, daß man Alge und Pilz nur unter dem Mikroskop deutlich unterscheiden kann. Der Pilz sorgt für Heranschaffung der Feuchtigkeit, und die Alge erzeugt mit Hilfe ihres Fabrikgrüns Zucker und Stärkestoffe. Das bringt nämlich der Pilz nicht fertig, weil ihm das Fabrikgrün fehlt.

Die Flechten sind sehr genügsam. Auf jeder Baumborke, auf jedem Stückchen Holz, auf jedem Stein können sie sich ernähren. Dafür wachsen sie aber sehr langsam. Eine Flechte braucht Jahre, ehe sie sichtbar größer wird. Nur eins kann sie nicht vertragen: schlechte Luft ist ihr ein Greuel. Sie verlangt immer nach guter Luft, und wo Flechten wachsen, ist die Luft gesund. Darum wachsen ja auch so selten Flechten in den Großstädten.

Bei seinen Betrachtungen erkannte der Doktor in der Rindenschicht der Flechte eine Öffnung. Hinein! Erstens wird man da drinnen nicht so sehr von der Luft geschaukelt, und zweitens kann man sich auch mal eine Flechte von innen ansehen.

Wie im Blatt, so wunderbar sah es im Innern der Flechte aus. Die dicke Rindenschicht bestand aus Pilzmasse. Auch im Innern gingen die hellen Pilzfäden kreuz und quer durcheinander. In dem Gewirr konnte man umherklettern wie in einem Irrgarten. Vereinzelt zwischen den Pilzfäden lagen runde, grüne Kugeln. Das waren die Algen, die lebenslänglich Verbündeten und Gefangenen des Pilzes. Ein herrlicher Anblick! Wie schön, wenn man das alles als Zwerg zu sehen bekommt! Schade, daß die Kinder sich den herrlichen Tempel nicht ansehen können. Was mögen sie nur machen? Hoffentlich ist ihnen nichts passiert.

Was ist denn das? Das beginnt ja im Körper zu prickeln und zu reißen! Himmel, jetzt fange ich an, in der Flechte zu wachsen! Schnell hinaus! Rasch stolperte der Doktor über die Pilzfäden und arbeitete sich dem Ausgang näher. Dann stürzte er sich in die frische Luft. Anfangs wurde er wieder sanft hin und her getragen, dann wurde er schwerer, und langsam fiel er zur Erde.

Dieter hatte die gleichen Erlebnisse in der Luft wie der Doktor. Auch er wurde hin und her getragen. Zeitweise ging es höher, zeitweise aber auch abwärts. Als Dieter einem Blatt näher kam, hielt er sich krampfhaft fest. Das Blatt war mit zahlreichen weißen Fäden bedeckt. Dieter überlegte nicht lange und griff tapfer zu. Er hatte keine Ahnung, was sich eigentlich hier auf dem Blatte breitmachte. Wer sollte sich auch in all den Wundern der Natur zurechtfinden? Kennt doch selbst der Doktor Kleinermacher nicht alle Erscheinungen und Namen in der Natur.

Dieter beobachtete, daß das Gewirr der weißen Fäden in das Blatt hineinging. Sicher irgendein Schmarotzer, der das Blatt aussaugt. Vielleicht ein Pilz? Aber was für ein Pilz? Mitten im Überlegen setzte auch bei Dieter das Größerwerden ein. In der Aufregung vergaß er sich festzuhalten und stürzte wie der Doktor in die Luft.

Als der Doktor immer größer wurde und langsam zur Erde hinabsank, schaute er eifrig nach den beiden Kindern aus. Aber selbst als er den Boden erreicht hatte, konnte er nichts von ihnen erblicken. Erst als er mit seinem Haupte über das Gras schauen konnte, sah er Dieter.

»Junge, mein lieber Junge, ist dir nichts passiert?« Er wollte freudig auf Dieter zu eilen, aber die Schmerzen in den Gliedern beim Größerwerden verhinderten jedes Gehen. Da hinten wächst ja auch die Traute aus dem Grase heraus. Nun ist alles gut, die Kinder leben und sind gesund. Da war der Doktor Kleinermacher sehr zufrieden.

Jeder mußte berichten, was er erlebt hatte. Der Doktor erzählte von seinen Flechten und der Dieter von seinen Fäden auf dem Blatt. Als dann alle drei die Fäden besichtigten, erkannte der Doktor, daß Dieter mitten in dem weißen Überzug eines Mehltaupilzes gelandet war. Mehltau sagte man zu jenen Pilzen, weil die Blätter wie von Mehlstaub überzogen schienen und weil man früher annahm, der Überzug sei weiter nichts als ein krankhaft gewordener Morgentau. Von mikroskopisch kleinen Pilzen hatte man damals keine Ahnung.

»Und du. Traute, was hast du erlebt?«

»Ich bin auf der Erde gelandet, habe, so ganz allein, Angst bekommen und mich unter einem Steinchen versteckt.«

Der Doktor sagte: »Kinder, auf den Schrecken müssen wir Kaffee trinken und Kuchen essen, Schlagsahne habe ich auch da.«

Hat die Schlagsahne den Kindern geschmeckt!


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