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Dieter macht sich selbständig

Kaum waren die Kinder wieder in Doktor Kleinermachers Garten, da wollte Dieter auch schon zu den Gemüsebeeten. Wer hätte das von Kraut, Kohl und Rüben gedacht, daß man so nett von dem grünen Zeug sprechen kann?

»Zum Beispiel hier der Rettich, Doktor, was ist mit dem los? Hat den der Kolumbus aus Amerika mitgebracht, oder haben Ali Baba und die vierzig Räuber zum erstenmal in der Weltgeschichte Rettiche angepflanzt?«

Der Doktor lächelte über den ungestümen Dieter, denn er freute sich, daß der Junge so wißbegierig war, und er freute sich auch, daß er wieder – erzählen konnte.

»Der Rettich war schon lange vor Kolumbus da. Der wuchs schon bei den alten Germanen. Da gab es in Rom einen Naturforscher, Plinius mit Namen. Der schrieb über alle Pflanzen und Tiere seiner Zeit. Wo es etwas Interessantes gab, da wollte Plinius dabei sein. Beim Ausbruch des Vesuvs konnte er auch nicht dicht genug an die Unglücksstätte herankommen. So mußte er denn sterben, ein Opfer wissenschaftlicher Neugier. Dieser Plinius hat auch etwas über den Rettich geschrieben. Er sagte, daß in Germanien die Rettiche so groß wie Kinderköpfe würden. Solche Bomben sieht man heutzutage nicht oft.

Hier, schaut euch meine Mohrrüben an. Die sind auch nicht zu verachten. Über die Mohrrüben hat derselbe Plinius auch etwas geschrieben. Nach ihm soll sich der römische Kaiser Tiberius seine Möhren ausschließlich aus Germanien haben kommen lassen, die hätten ihm am besten geschmeckt.

Sagt mal, kennt ihr eigentlich Schwarzwurzeln? Hier stehen sie. Ich werde mal eine herausreißen. Seht, solche langen Wurzeln haben die Pflanzen. Die Wurzeln schmecken ungefähr wie Spargel. Nur haben sie noch einen würzigen Beigeschmack. Ihr müßt sie mal probieren, ich bin begeistert von ihnen.

Übrigens, die Schwarzwurzeln müssen schon lange in Deutschland wachsen, denn Plinius spricht von einer Art Spargel, die in Deutschland gedeihe. Nach meiner Ansicht konnte er nur Schwarzwurzeln meinen. Und hier meine Kartoffeln! Da haben wir wieder etwas aus Amerika. Der berühmte Seefahrer und englische Admiral Drake soll die Kartoffel von drüben mitgebracht haben. Drake war ursprünglich ein Pirat, ein Großpirat und Großkaufmann mit Geschäftseinlagen. Man konnte sich in England Anteilscheine am Erfolg des Piratenfanges kaufen. Später machte ihn dann seine Königin Elisabeth zum Admiral der englischen Flotte. Ja, auch bei der Kartoffel könnt ihr Geschichte lernen.

Francis Drake soll die Kartoffel nach Europa gebracht haben. So steht es noch in vielen Lehrbüchern. Aber Drake muß gestürzt werden. Die Kartoffel nahm einen anderen Weg nach Europa! Nach der Entdeckung Amerikas kam sie zuerst – nach Spanien. Von da wanderte sie nach Italien. In Italien meinte man, die Kartoffeln hätten eine Ähnlichkeit mit den Trüffeln. So nannte man die Knollen Tartufoli. Aus Italien kamen nun die Knollengewächse nach Deutschland, und aus Italien holte man auch den Namen der Pflanze. Sie hieß anfangs ›Tartuffel‹. Daraus ist dann ›Kartoffel‹ geworden. Aber es dauerte noch lange, bis die Kartoffel Volksnahrung wurde. Im Berliner Lustgarten, der war damals wirklich noch ein Garten, pflanzte man die Kartoffel wie eine Zierpflanze an. Zur Zeit des Soldatenkönigs gab es Kartoffeln nur zu feinen Suppen. Friedrich der Große hatte seine liebe Not, seine Bauern von dem Werte der Kartoffel zu überzeugen. Er stellte ihnen unentgeltlich Saatkartoffeln zur Verfügung, aber die Bauern pflanzten das komische Zeug nicht an. Die Kartoffeln haben sich erst langsam das Land erobert. Im Jahre 1783 konnte Matthias Claudius schon ein Lob- und Preisgedicht auf die Kartoffel dichten. Ihr kennt doch Matthias Claudius, den Dichter des Liedes ›Nun ruhen alle Wälder‹. Dieser Claudius dichtete auch das Kartoffellied. Kennt ihr es schon? Ich kann es sogar auswendig:

Pasteten hin, Pasteten her.
Was kümmern uns Pasteten?
Die Schüssel hier ist auch nicht leer
Und schmeckt so gut wie aus dem Meer
Die Austern und Lampreten.

Schön rötlich die Kartoffeln sind
Und weiß wie Alabaster.
Sie däu'n sich lieblich und geschwind
Und sind für Mann und Frau und Kind
Ein rechtes Magenpflaster.

Ist das nicht ein niedliches Gedicht? Wenn ich Kartoffelpuffer esse, dann muß ich immer an Matthias Claudius denken. Kinder, das ist eine Idee, wir machen uns heute Kartoffelpuffer!«

»Au ja!« rief Traute. »Du, Doktor, schälst die Kartoffeln, Dieter reibt sie, und ich brate die Puffer.«

»Gemacht, Traute, wir wollen uns nachher ein paar große Kartoffeln aussuchen. Aber jetzt habe ich noch ein klein wenig zu erzählen.

Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, warum eigentlich aus den Knollen die Pflanzen wachsen?«

»Natürlich. Die Knollen sind die Samen. Aus Samen wachsen doch immer Pflanzen.«

»Leider stimmt das nicht. Die Samen entwickeln sich doch aus der Blüte. Habt ihr schon mal eine Kartoffelblüte gesehen, die unter der Erde ihre Farben entfaltet?

Aus der wirklichen Blüte der Kartoffel kommen die grünlichen Beeren, die wie kleine Tomaten aussehen. Die Knollen aber sind Teile des Stengels. Ja was sage ich denn da? Sind die Knollen nicht Teile der Wurzel? Schon wieder so eine Verrücktheit der Botaniker. Die Knollen gehören nämlich zum Stengel, zum unterirdischen Stengel. Darum tragen die Knollen auch kleine verkümmerte Blättchen. Die ›Augen‹ der Knollen sind die verkümmerten Blättchen. Wird eine Knolle dem Sonnenlicht ausgesetzt, dann färbt sie sich grün. Habt ihr schon mal grüne Kartoffeln gegessen? Die schmecken so süß! Die Sonne hat die Stärke der Knollen in Zucker umgewandelt. Aber süße Kartoffeln, nein, die mögen wir nicht.

Jetzt genug von den Kartoffeln. Traute, such mal im Stall nach schönen großen Kartoffeln. Wir braten uns jetzt Kartoffelpuffer.«

Hurra! Das ließen sich Traute und Dieter nicht zweimal sagen. Der Doktor schälte die Knollen in der Laube, Dieter rieb die Kartoffeln auf der Reibe zu Brei, und die kleine Traute füllte den Brei auf die Fettpfanne. Das Fett knisterte und spritzte, und dem Dieter lief das Wasser im Munde zusammen. Ha, so herrlich gebräunte Puffer, frisch von der Pfanne und dann Zucker darüber gestreut – das ist ein Götter-Mahl! Was haben die alten griechischen Götter gegessen? Ambrosia? Die haben sicher noch keine Kartoffelpuffer gekannt, sonst hätten sie die Ambrosiaspeise stehengelassen. Und Nektar sollen die Götter dazu getrunken haben. Wir trinken heißen Kaffee dazu, Kaffee mit Milch. Prosit, ihr Götter!

Und Dieter aß, bis ihm das Fett die Backen herunterlief und er sich schweratmend den Bauch hielt.

»Doktor, ich gehe jetzt schlafen. Ich bin ja so faul. Wir wollen das Abenteuer vertagen. Ach, bin ich müde ... Doktor, was fliegt denn da für eine große Wespe nach dem Zuckerteller? Das ist doch eine Hornisse. Hilfe, Doktor! Ich habe gehört, acht Hornissenstiche können schon einen Menschen töten. Doktor, was mach' ich bloß!«

»Nur stillsitzen, dann tut dir die Hornisse nichts.«

Richtig, die Hornisse naschte im Zuckerteller, dann brummte sie noch etwas durch die Laube, und schließlich flog sie zum offenen Fenster hinaus. Das ging ja ganz gut ab. Hätte Dieter wild um sich gefuchtelt, wie es sonst die Kinder immer tun, dann hätte er einen Stich bekommen, und ein Hornissenstich ist nicht von Pappe. Der wirkt ganz anders als ein Bienen- oder ein Wespenstich.

»Doktor, ich habe eine Idee. Wir besuchen ein Hornissennest.«

»Du warst doch vorhin so müde, Dieter –?«

»Ja – vorhin! Aber jetzt bin ich wieder abenteuertoll! Ein Hornissennest, das ist eine pfundige Sache!«

»Dieter, mir ist die Sache zu gefährlich. Die Hornissen sind jähzornige Tiere. Sie überfallen Insekten aller Größen und töten sie. Wir kommen aus dem Hornissennest nicht mehr gesund heraus. Und die Chitinrüstung möchte ich nicht mehr anziehen. Man schwitzt ja Blut und Wasser, wenn man mit dem Insektenpanzer spazierengeht. Viel Neues können uns die Hornissen auch nicht bieten. Nach ihrem Aussehen und ihrer Lebensweise sind sie eigentlich weiter nichts als vergrößerte Wespen.

Wie bei den Wespen und Hummeln überwintert eine Hornissenmutter und gründet im Frühling einen neuen Staat. Irgendwo, an einem Balken, in einem leeren Bienenkorb oder in einem hohlen Baum beginnt die Grundsteinlegung des Nestes. Das Baumaterial holt sich die Hornissenmutter von den Bäumen. Die grüne Rinde wird abgeschält, besonders gern von den Eschenbäumen, mit Speichel verarbeitet, auseinandergezupft, und dann werden die sechsseitigen Zellen gebaut. Auch hier liegen die Öffnungen nach unten. Wenn die Hornissenmutter ein Ei legt, dann klebt sie es oben in der Zelle an. Wie bei den Wespen erhalten die Larven zerkaute Insekten als Nahrung. Die Hornissen überfallen Tiere, töten sie und legen den Fraß den Hornissenkindern vor. Ich habe mal ein Hornissennest beobachtet und habe versucht, die kleinen Hornissenlarven mit Honig zu füttern. Den Honig nehmen sie auch an, die Hornissenkinder sind also keine strengen Fleischfresser.

In der Zelle verpuppen sich dann die Larven, spinnen einen Deckel über die Zelle, und nun krauchen nach einigen Wochen die fertigen Hornissen hervor. Zuerst sind es nur Arbeiterinnen, verkümmerte Weibchen, die die Zellen verlassen. Sie helfen der Hornissenmutter beim Zellenbau, bei der Nahrungsbeschaffung und bei der Pflege der Kinder. Im Herbst aber werden echte Weibchen und Männchen geboren, dann gehen die Hornissen auf die Hochzeitsreise, und wie die Wespen werden die Hornissen plötzlich wahnsinnig und zerstören alles, Waben, Larven und Eier. Die Männchen, die Arbeiterinnen und die große Hornissenmutter sterben dann, nur die werdenden Mütter überwintern irgendwo in einem Versteck, und im Frühling geht die Sache von vorne los. Da gibt es nichts Neues mehr bei den Hornissen, das haben wir alles schon bei den Wespen gesehen.«

»Na, dann gute Nacht, Doktor, ich bin jetzt wirklich müde. Wahrscheinlich habe ich zuviel Kartoffelpuffer gegessen. Ich lege mich draußen ins Gras und schlafe mir eine große Weiße aus.«

Dieter ging, suchte sich im Grünen einen Sonnenplatz aus, und der Doktor blieb mit Traute in der Laube. Die kleine Traute betätigte sich als Hausfrau, wusch das Geschirr ab, und der Doktor trocknete die Teller und Schüsseln ab. Dann wurde alles in den Schrank gestellt, und beide summten fröhlich ein Lied bei ihrer Arbeit. Traute fühlte sich wohl, daß sie sich als Hausfrau betätigen konnte, daß sie für zwei Männer zu sorgen hatte. Da fiel ihr ein, daß Dieter, der Faulpelz, sich auch nützlich machen könnte. Die Nacht ist zum Schlafen da, am Tage kann er seine Kräfte zeigen. Dieter soll Holz hauen, damit zum nächsten Sonntag wieder Kleinholz zum Feuern da ist. Sie verließ die Laube und ging hinaus, um Dieter zu rufen. Voller Schrecken kam sie wieder zurück: »Doktor, Dieter ist verschwunden!«

»Nanu!«

»Ja – da im Rasen lag er noch vorhin. Jetzt ist der Platz leer, und im Garten ist er auch nicht zu sehen. Dabei ist das Gartentor verschlossen. Wo kann er nur sein?«

Der Doktor ging auch hinaus. Dann rief er plötzlich der Traute zu: »Stillstehen! Ganz stillstehen!«

»Kommt wieder eine Hornisse?«

»Nein – aber ich sehe da die Wunderflasche. Dieter hat sie sich heimlich mit hinausgenommen, auch davon getrunken, und nun geht er allein auf Abenteuer aus. Du mußt ganz stillstehen, Traute! Wie leicht können wir Dieter jetzt verletzen! Vielleicht hast du vorhin beim Suchen im Garten schon den Dieter zertreten?

Dann wird er nie mehr wachsen, und wir müssen den armen Eltern Nachricht geben, daß der Dieter tot ist. Traute, ich habe Angst um unseren Dieter.«

Traute weinte vor Kummer laut auf. Der Gedanke war schrecklich, daß sie Dieter nicht mehr sehen sollte. Aber sie standen beide ganz still und bewegten sich nicht. Vielleicht lebt der Dieter noch, nur nicht bewegen! Wenn doch dem Dieter bloß nichts geschieht!

*

Dieter hatte sich tatsächlich die Wunderflasche heimlich mit hinausgenommen. Er legte sich ins Gras, zögerte noch, so ungezogen zu sein und allein auf Abenteuer auszugehen, und wollte doch noch brav einschlafen. Da sah er am Fliederstrauch zu seiner Linken eine Menge Feuerwanzen herumkrabbeln. Kann man sich die Tiere nicht von nahem besehen? Die Versuchung war zu groß. Dieter tat einen kräftigen Schluck aus der Wunderflasche und wurde kleiner und kleiner.

Jetzt wurden die Grashalme wieder so groß wie Palmen, und der Zwerg Dieter steuerte dem Gekrabbel der Feuerwanzen zu.

Prächtig waren sie anzusehen. Rot und Schwarz waren in so schönen Ornamenten angebracht, daß Dieter gar nicht begreifen konnte, warum die Tiere eigentlich Wanzen heißen.

Sehr eilig war ihr Lauf nicht, manchmal blieben sie in der prallen Sonne stehen, als ob sie sich sonnen wollten. Dann gingen sie wieder auf und ab, in regellosem Gekrabbel. Im Ameisenhaufen herrscht auch scheinbar ein unordentliches Drunter und Drüber. Wer aber den Ameisenstaat kennt wie Dieter, der weiß, daß da schon Ordnung ist im Ameisenverkehr. Die Feuerwanzen aber haben keine Gemeinschaft, keine Ordnung, nur eine Geselligkeit.

Wozu sollen sich die Feuerwanzen auch ordnen? Sie feiern Hochzeit, setzen immerzu Junge in die Welt, und wenn sie Hunger haben, dann fressen sie. Ihre Nahrung wollen sie sich aber nicht erobern. Vom Heldentum wissen die Feuerwanzen nichts. Wenn ein totes Tier irgendwo herumliegt, dann saugen sie der Leiche die Säfte aus. Bewegt es sich noch, dann rücken die bunten Wanzen aus. Nur nicht mutwillig sich in Gefahr begeben! Tapferkeit ist eine unbekannte Eigenschaft unter Feuerwanzen. So farbenprächtig die Tiere auch aussehen, Dieter langweilt sich bald unter ihnen. Daß sie ungefährlich sind, hatte er bald heraus. So legte er sich denn lang hin und wartete auf das nächste Abenteuer.

Und das Abenteuer kam, ein Abenteuer auf sehr langen, dünnen Beinen. Ein Kanker, ein sogenannter Weberknecht, spazierte heran. Die Weberknechte sind Spinnentiere, aber keine echten Spinnen. Daher zählen die Zoologen sie zu den Afterspinnen. Während die echten Spinnen sehr angriffslustig sind, ist der Weberknecht sehr furchtsam. Auch kann er keine Netze spinnen wie seine Verwandten.

Mit seinen überaus langen Beinen kam der Weberknecht heran. Sie waren viel zu lang für den kleinen Körper. Beim Laufen bewegte sich der Körper wie eine Luftschaukel auf und nieder. Das sieht sehr komisch aus für uns Menschen. Für den Zwerg Dieter machte das Ganze aber einen schrecklichen Eindruck. Kommt da ein Feind an, ein Ungeheuer, das mich verschlingen will? Um alles in der Welt, das Ungetüm bewegt sich ja gerade auf mich zu. Der Schreck saß Dieter in den Gliedern, und der Schreck war so groß, daß er nicht aufstehen und nicht fliehen konnte. Dieter wurde sehr blaß, und der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren. Warum nur bin ich allein auf Abenteuerfahrt gegangen! Wenn der Doktor bei mir wäre, dann wüßte er sicher ein Mittel gegen das schreckliche Ungetüm.

Der Weberknecht änderte noch immer nicht seine Richtung. Jetzt trat das Spinnentier näher, und ein Bein setzte sich schon neben Dieters Körper nieder, ein schreckliches, langes, dünnes Bein. In namenloser Angst ergriff Dieter das Spinnenbein, hielt sich krampfhaft daran fest und schrie, so laut er konnte.

Jetzt erst bemerkte der Weberknecht den lächerlichen Zwerg. Aber das Spinnentier hatte noch viel größere Angst als Dieter. Sofort machte es kehrt und begab sich auf die Flucht. Hilfe, hier bewegt sich etwas! Rette sich wer kann! Aber Dieter in seiner namenlosen Furcht hielt das Spinnenbein fest, als ob er einen Rettungsanker gefunden hätte. Der Weberknecht überlegte nicht lange. Die Hauptsache ist, der Körper befindet sich in Sicherheit. Von den Beinen sind ja so viele da, acht Stück. Kurz entschlossen riß sich der Weberknecht sein Bein aus und schaukelte im Eiltempo von dannen. Mit sieben Beinen läuft es sich auch noch ganz gut. Dem Himmel sei Dank, der kleine Zwerg rennt nicht hinter mir her. Das ist nochmal gut gegangen ... Und bei der Flucht wippte der Spinnenkörper auf und nieder.

Dieter war sprachlos. Er hielt ein langes, dünnes Spinnenbein in der Hand, und das schreckliche Ungetüm war verschwunden. Jetzt schämte er sich, daß er vor Furcht so gebrüllt hatte. Ein Glück, daß Traute ihn in der Situation nicht beobachten konnte. Der ganze Respekt wäre futsch gewesen, und die Kohlerei hätte kein Ende gefunden.

Aber was ist denn das? Das Spinnenbein bewegt sich ja. Es zuckt hin und her und scheint lebendig zu sein. Will denn das Spinnenbein auch noch fliehen, will es dem Weberknecht nachlaufen? Das ist ja furchtbar! Dieter war voller Schrecken, warf das Spinnenbein fort und mußte dann noch sehen, wie das lange, dünne Bein auch auf dem Erdboden noch zuckte. Das war zu viel. Spinnen, die Angst haben, das geht ja noch in Ordnung, aber ausgerissene Spinnenbeine, die noch lebendig bleiben, das ist zu viel. Dieter schrie wieder auf und rannte in der entgegengesetzten Richtung davon.

Armer Dieter! Wärst du doch beim Doktor Kleinermacher geblieben. Der hätte dir erzählt, daß die Weberknechte furchtbar feige sind. Lebende Tiere greifen sie überhaupt nicht an. Wohl naschen sie an toten Insekten, solange sich aber noch ein Fliegenbein regt, wagen sich die Weberknechte nicht einen Schritt näher. Meist schleichen sie auch nur nachts umher. Und das ausgerissene Spinnenbein wird sich auch noch beruhigen. Zu viele Nervenstränge gehen durch das Bein, daher bleibt es noch lange lebendig. Ein Schmerz war es für die Spinne nicht, ein Bein zu verlieren. Die meisten Weberknechte haben schon irgendwo ein oder zwei Beine verloren.

Im Rennen sah Dieter vor sich eine riesige dicke Säule, die weit, weit in den Himmel hineinragte. Ist das ein Baum? Aber nein, das ist ja Doktor Kleinermachers Bein! Er schrie, so laut er konnte: »Doktor!«

Aber die Säule bewegte sich nicht. Da steht ja auch das andere Bein. Dieter kletterte mühselig auf Doktor Kleinermachers Schuh, dann zupfte er dem Doktor am Hosenbein. So sehr er auch zerrte und zog, der Doktor bewegte sich nicht. Ist er denn taub und gefühllos? Schläft er im Stehen?

Dieter kroch dem Doktor unter das Hosenbein, kletterte den Strumpf empor und versuchte jetzt, die Haut des Doktors zu kitzeln. Aber der Doktor bewegte sich nicht. Was kann man da nur beginnen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, daß hier unten sein Dieter herumkrabbelt? Mit der Faust schlug der Zwerg gegen das Bein und trommelte, so stark er konnte, mit beiden Fäusten. Der Doktor rührte sich nicht.

Eben wollte Dieter darüber nachdenken, was er noch anfangen könnte, als das Prickeln und Zucken im eigenen Körper einfetzte. Heiliger Bimbam, jetzt fang' ich in Doktor Kleinermachers Hosenbein zu wachsen an! Ich werde ihm dabei das ganze Hosenbein zerreißen. Dieter ließ sich fallen, kullerte den Strumpf entlang, fiel auf den Schuh und von da aus auf die Erde.

Der Doktor hatte von alledem nichts bemerkt. Dieter war zu klein, seine Quälereien waren dem Doktor nicht fühlbar. Als Dieter aber größer wurde und über den Strumpf kullerte, da war es dem Doktor doch so, als ob ein Tier einen Besuch in seinem Hosenbein machen wollte. Er wollte sich kratzen und sagte: »Himmel, was beißt mich da?« Aber dann sah er Dieter, der ihm vom Erdboden her entgegenwuchs.

Da haben aber Traute und der Doktor den Dieter ins Gebet genommen! Ob er sich nicht schäme, so das Vertrauen des Doktors zu mißbrauchen? Das sei keine Freundschaft mehr, das sei ein ganz gewöhnlicher Dummerjungenstreich. Der Doktor meinte, das beste wäre, den Dieter für seine Ungezogenheit durchzuhauen. Aber er könne Kinder nicht schlagen, das sei sein schlimmster Fehler.

Dieter stand mit gesenktem Kopf dabei und schämte sich sehr. Als ihm dann ein paar Tränen über die Backen kullerten, da zupfte Traute den Doktor am Rock: »Laß gut sein, Doktor, er hat schon genug bekommen. Es tut ihm jetzt wirklich weh. Er wird es ganz bestimmt nicht wieder tun.«

Und Dieter ging auch nie wieder allein auf Abenteuerfahrt.


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