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Im Segelflug durch die Schlafstube

Stürmisch und noch völlig außer Atem klopften Dieter und Traute an Doktor Kleinermachers Tür. Sie kicherten wie losgelassene Übermute und überstürzten sich förmlich, als ihr väterlicher Freund die Tür öffnete: »Stimmt's, Doktorchen, fahren wir heute wieder Luftballon?« wollten sie wissen.

»Nein, Dieter, mit dem Luftballon werden wir zu weit von unserem Ziel abgetrieben.«

»Da bin ich aber gespannt, übrigens fällt mir ein, Doktor, ich habe einmal einen Kulturfilm gesehen. Da wurden Luftströmungen im Zimmer aufgenommen. Durch irgendein Verfahren hatte man die Luftbewegungen sichtbar gemacht. Vor dem Munde eines Sprechers tobte da ein riesiger Orkan. Schon eine Kerzenflamme brachte die Luft in Bewegung, das wirbelte und strömte, nie hätte ich das gedacht.«

»Richtig, Dieter, was du im Kulturfilm gesehen hast, das kann ich jetzt gerade gebrauchen. Ich will nämlich mit euch im Segelflugzeug durch die Schlafstube fahren, ganz ohne Motorkraft, nur durch die Kraft des Windes!«

»Wir wollen im Segelflugzeug fliegen? Das wird ja immer schöner! Doktor Kleinermacher, was man mit dir alles erleben kann, das ist wunderschön.«

»Nun, ihr habt sicher schon einmal gehört, daß man zum Segelfliegen einen sogenannten Aufwind braucht, einen Wind also, der von unten nach oben strömt. Aufwinde kommen meist von erwärmten Flächen, wir müssen irgend etwas am Fußboden erwärmen. Das ist gar nicht so schwer, ich habe hier auf dem Fußboden einfach ein Heizkissen gelegt. Das genügt für uns, denn unser Segelflugzeug ist sehr klein, wir sind ja diesmal wieder nicht größer als Flöhe. Hier ist das Flugzeug.«

Mit Lupen betrachteten die Kinder das winzige Segelflugzeug und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Nein, dieser Doktor Kleinermacher, war er nicht ein Tausendkünstler? Wer sollte auch sonst ein Tausendkünstler sein. Nun aber frisch hinein ins Abenteuer!

Voller Hast tranken die drei ihren sorgfältig abgemessenen, diesmal wieder recht großen Schluck aus der Wunderflasche und schrumpften zusammen, bis sie so klein wie Flöhe waren. Wo stand denn das Flugzeug? Ach, da war es ja. Aus Pappe hatte der Doktor einen Abhang gebaut, darauf stand der Segler mit seinen langen, schmalen Flügeln. »Ein Segelflieger hat nämlich viel längere, schnittigere Tragflächen als ein Motorflugzeug«, berichtete der Doktor. Das Flugzeug stand auf einem winzigen Katapult, denn mit Gummiseilen, die von den großen Segelfliegern zum Starten benutzt werden, konnten die Zwerge nicht arbeiten, dazu fehlten ihnen die Hilfskräfte. Auch von einem Auto konnten sie sich nicht zum Start schleppen lassen. Wer sollte das Auto steuern, und wer hätte ein so winziges Auto bauen sollen? Ein Auto für Flöhe, die Feinarbeit wäre zu schwierig gewesen. Aber der Doktor wußte sich immer zu helfen. Ein Katapult ersetzte Gummiseile, Mannschaft und Auto.

Als die drei den Papphügel erklommen hatten, sahen sie unterhalb des Abhangs ein weißes, welliges Gebirge. Dort lag das Heizkissen, und von dort strömte die Wärme, und es wehte ein Wind, der nahezu kerzengerade nach oben stieg. Die drei setzten sich in das Segelflugzeug, der Doktor bediente den Steuerknüppel, Dieter löste den Mechanismus am Katapult aus, und elegant und schnell schoß das Flugzeug los, direkt über das Gebirge des Heizkissens hinweg. Sicher erfaßte der Doktor den Aufwind. Schnittig und elegant stieg das Flugzeug hoch und immer höher. Der Doktor bediente das Steuer so geschickt, daß der Segler in schönen Kurven und Spiralen durch das Zimmer flog, dabei langsam immer Höhe gewinnend.

Jetzt flog das Flugzeug an der steilen Holzwand des Kleiderspindes vorbei. Beinahe wäre es an den großen Schlüssel des Schrankes gestoßen. Aber der Doktor riß noch im letzten Augenblick das Steuer herum. Er mußte immer aufpassen und konnte sich kaum dem Genuß des Fliegens hingeben. Ein Unglück durfte sich nicht ereignen. Er trug die Verantwortung. Aber Dieter und Traute sahen aus dem Flugzeug auf die romantische Landschaft der Schlafstube. Herrlich sah das alles mit den kleinen Augen von oben aus. Jetzt flogen sie über das Bett hinweg, das unter ihnen lag wie ein großer weißer Gletscher. Die Spiralen zogen sich immer höher. Wieder ging eine elegante Kurve an der Wand, diesmal dicht an einem Bild vorüber. Aber die Zwerge waren zu klein, um das Bild zu erfassen. Immer höher ging es. Jetzt wollte der Doktor über den Kleiderständer hinweg. Wird er es schaffen, ist die Höhe ausreichend? Na, wird es gehen? Bums, da saß der Flieger fest. An einem Hut wollte der Doktor vorbei, hatte aber die Höhe unterschätzt. Und nun saß er auf dem Hutrand. Eine schöne Bescherung. Wie konnte man nur wieder herunter? Ein Glück, daß der Filz so weich war.

Der Doktor jammerte: »Auf dem Kleiderschrank wollte ich eigentlich landen. Dort steht auch eine zweite Katapultvorrichtung, und eine dritte steht auf dem Nachttisch, damit wir von dort wieder starten können. Aber auf dem Kleiderständer habe ich kein Katapult angebracht. Eine nette Geschichte, wirklich eine nette Geschichte.«

Dieter wollte handeln und sah sich die Umgebung an. Vielleicht konnte man das Flugzeug ganz auf den Hut hinaufschieben? Wenn man es von dort herabgleiten ließ, würde es vielleicht wieder Wind fangen? Aber der Doktor verwarf den Plan. »Erstens werden wir es nicht schaffen, das Flugzeug auf den Hut hinaufzuzerren, dazu ist der Abhang viel zu steil, und dann gleitet es dort schlecht ab. Der Hut ist trotz der weichen Filzhaare viel zu rauh. Das ist ja ein Gebüsch und ein Urwald auf der Hutfläche, da bleibt unser Flugzeug sicher stecken. Nein, wir müssen nach einer anderen Startmöglichkeit suchen.«

Traute blieb im Flugzeug, und die beiden »Männer« gingen auf die Suche. Dieses Mal hatten sie leider keine Klettereisen und Seile mitgenommen, sie hätten diese bei ihrer Kraxelei auf dem Hutrand so gut gebrauchen können. Der Hut war ziemlich alt und stark verstaubt, Doktor Kleinermacher hatte ihn schon lange nicht mehr benutzt. Mit großer Mühe nur kamen sie auf der welligen, schon etwas aufgerauhten Hutfläche vorwärts.

Mitten im Klettern fand der Doktor eine Überraschung: »Was ist denn das?« Da kroch eine große behaarte Raupe über den Hut. Am Kopfe standen die Haare besonders borstenartig, aber auch am entgegengesetzten Ende des Körpers. Dieter wollte das Tier bestimmen und erklärte kühn: »Das ist sicher eine Raupe.«

»Nein, vorbeigeraten, Dieter, das ist die Larve des Pelzkäfers. Der Pelzkäfer ist ein ganz schlimmer Bursche. Zwar hält sich der erwachsene Käfer vom Mai an harmlos im Freien auf. Vor allem auf den Blüten von Doldengewächsen. Zur Eiablage fliegen sie durch geöffnete Fenster ins Haus. Und die Larven sind dann das große Unglück aller Kürschner. Wo sie auftreten, da werden die Pelze zernagt, daß die Haare fliegen. Wo der Pelzkäfer haust, da werden die Kürschner arm. Die Pelzkäfer fressen nicht nur Pelze, sie benagen auch Stoffe aus Wolle, Teppiche, und hier ist mein alter Hut ihnen ein willkommener Fraß. Morgen werde ich den Hut in den Müllkasten werfen, oder noch besser, ich werde ihn verbrennen. Ich hätte ihn besser ausklopfen sollen. Das Ausklopfen können die Pelzkäfer und Motten nicht vertragen. Ja, wo eine Frau im Hause fehlt, da fehlt doch etwas.«

Eifrig setzten sie ihre Kletterei auf dem Hut fort. Aber die Startmöglichkeiten wurden immer schlechter. Dafür entdeckte Dieter wieder ein merkwürdiges Wesen: »Was ist denn das nun schon wieder? Ich würde sagen, es ist eine Motte. Aber ich bin jetzt vorsichtig geworden. Sieht aus wie eine Raupe, hat sich aber eine Hülle gebaut, und aus der Hülle schaut nur der Kopf heraus und am anderen Ende der Schwanz. Wenn wir im Wasser wären, würde ich das Vieh für eine Köcherfliege halten. Da soll der Kuckuck sich zurechtfinden. Doktor, was ist es denn nun?«

»Dieter, das stammt diesmal wirklich von einer Motte. Die kleine Raupe der Pelzmotte hat 16 Füße, sieht bleichgelb aus und futtert an meinem Hut herum, so ein Biest. Aus dem abgenagten Stoff hat sie sich ein längliches Futteral gebaut, und wenn sie vorwärts krabbelt, dann schleppt sie ihre Wohnräume mit, wie eine Schnecke ihr Haus. Sie tritt eigentlich mehr in Bettfederhandlungen als in Wohnungen auf. Wenn deine Mutter eine Motte im Zimmer fliegen sieht, dann klatscht sie sicher mit den Händen, bis das Tier dazwischen gerät und getötet wird. Und da glaubt sie, recht daran zu tun, denn die Larven der Kleidermotten fressen Felle, Pelze, Polster, Wolle, ausgestopfte Tiere ..., die Kleidermotten sind sehr gefährlich. Im Hochsommer fliegen sie, meist suchen die Männchen ihre Weibchen, und nach der Hochzeit legen die Weibchen mit ihrem spitzen Hinterleib ihre Eier zwischen die Haare, Federn oder Fäden. Die aus den Eiern kriechenden Raupen bauen sich ihre Wohnröhren, langgestreckte, aus dem Nahrungsstoff festgesponnene Röhren, die an beiden Enden offen sind. Die Larve streckt bald am Vorder-, bald am Hinterende der Röhre den Kopf zum Fressen heraus. Ist die Nahrung vor der Öffnung abgeweidet, so verlängert die Raupe die Röhre bis zum nächsten Nahrungsplatz. So wirkt die echte Kleidermotte. Sie hat für Pflanzenstoffe wenig Neigung. Baumwolle verschmäht sie ganz, an Grieß oder Grütze und Bohnen geht sie gelegentlich. Aber sie findet sich fast an allen Gegenständen unseres Hauses, die aus tierischen Stoffen, vor allem aus Haaren und Federn hergestellt sind, so an wollenen Kleidern, an Pelzen, Teppichen, Polstermöbeln, Bürsten, sie befällt Insektensammlungen, in Käsefabriken das Kasein, den Grundstoff der Käsebereitung, und vieles andere. Der hartnäckigen Findigkeit der Weibchen gelingt es, sich Zutritt auch zu den gut verschlossenen Vorräten zu verschaffen. Es schiebt seine 200 Eier mit Hilfe seiner Legeröhre am Hinterleibsende zwischen die Haare, die Federn oder die Fäden der Gewebe. Aus ihnen entwickeln sich in unseren Wohnungen in etwa 100 Tagen wieder Motten, so daß in einem Jahre etwa drei Bruten von ihnen entstehen. Diese jährlichen Nachkommen eines Weibchens verbrauchen bei Zimmertemperatur etwa 30 Kilogramm Wolle. Bei höherer Wärme mehr. Wie viele Mottenweibchen mögen sich aber in einem Hause einfinden und entwickeln? Wie viel mal 30 Kilogramm von Kleidern, Teppichen, Pelzen oder von Kasein können die vertilgen? Der Haß der Hausfrau gegen diese Großschädlinge ist begreiflich. Aber die Jagd auf fliegende Motten im Zimmer ist in der Hauptsache Freude an Bewegung und von geringem Nutzen. Denn die Motten, die am gefährlichsten für unser Haus und unsere Vorräte sind, die Weibchen sind schlechte Flieger. Was da durch unsere Zimmer fliegt, sind meistens Männchens, die auf der Suche nach Weibchen sind. Man sollte sie nicht jagen, sondern beobachten. Man sollte sehen, wohin sie fliegen und mit ihrer Hilfe die versteckt sitzenden Weibchen und die Brut auffinden, die allein frißt und Schaden anrichtet. Hat man diese Orte entdeckt, so tötet man zuerst die flink laufenden und in Falten der Stoffe sich verkriechenden Weibchen. Dann sucht man die langgestreckten, gesponnenen Röhren auf dem Gewebe, auf dem Pelz, auf der Bürste oder auf dem Käsestoff und tötet die darin befindlichen Raupen und Puppen. Und dann geht man zum dritten Angriff über, zu dem auf die Eier. Die meisten Insekten befestigen ihre Eier mit Hilfe eines Klebstoffes auf der Unterlage. Die Mottenweibchen besitzen keinen, und das ist der schwache Punkt in ihrer Lebensgeschichte. Die Eier liegen lose zwischen den Haaren oder den Fäden des Gewebes und sind durch Schütteln oder Klopfen des befallenen Stoffes leicht zu entfernen. Und Raupen, die man beim Suchen übersehen haben sollte, werden getötet, wenn man die befallenen Stoffe einige Stunden in der Sonne ausbreitet – Sonnenlicht ist Gift für das dunkelheitliebende Geschmeiß der Motten!

Ja, ja, die Motten können viel vernichten. Schon der alte Hiob, der Hiob aus der Bibel, sagte, er werde langsam weniger wie ein Kleid, das die Motten fressen. Die Alten hatten nämlich Motten schon kennengelernt. Da gab es in Griechenland einen großen Philosophen. Aristoteles hieß er. Der behauptete, die Motten entstünden durch Urzeugung. Das heißt die Motten sollten sich von selbst entwickeln, ohne Eltern und ohne Eier. Wenn die Wolle alt, staubig und trocken sei, dann entstünden sicher Motten, meinte der alte Aristoteles. Noch sicherer entstünden Motten, wenn eine Spinne in der Nähe sei. Das ist doch alles Unsinn, nicht wahr, Dieter.

Die alten Philosophen haben vieles verkehrt gedacht, dabei aber zeigen die Motten wirkliche Wunder. So können die Raupen ganz trockene Sachen verzehren, knochentrockene Sachen, obwohl sie nie Gelegenheit zum Trinken haben, und doch leben und wachsen die Mottenlarven. Es gibt noch mehr Nichttrinker unter den Tieren. Die jungen Störche im Nest erhalten von ihren Eltern auch nie Wasser, und doch kommen sie nicht um. Dafür ist ihre Nahrung aber auch nicht so knochentrocken wie die der Motten. Da fällt mir gerade ein, die Frösche trinken auch nicht, wenigstens nicht mit dem Maule. Ihre Haut zieht so viel Flüssigkeit ein, wie sie gebrauchen, ist das nicht merkwürdig?

Aber Dieter, was läßt du mich denn so lange reden. Wir müssen wieder zurück, was soll denn die Traute von uns denken?«

So machten sich die beiden wieder auf die Rückwanderung. Nach vielen Klettern erreichten sie die Traute. Diese begrüßte sie: »Wo wart ihr denn so lange, ich dachte schon, ihr wäret abgestürzt.«

»Nein, Traute, wir haben Motten gesehen, die haben uns aufgehalten.«

»Habt ihr denn einen Startplatz gefunden?«

»Nein, was machen wir bloß? Sollen wir hier oben auf unser Wachstum warten? Das wäre niederträchtig. Ich schlage vor, wir stürzen uns mit unserem Flugzeug hinab, vielleicht können wir beim Fallen einen Aufwind abfangen, dann fliegen wir wieder.«

»Doktor, wenn das man gut geht?«

Aber der Doktor wollte alles wagen. Mit Dieter schob er das Flugzeug bis an den Rand des Hutes, dann setzte er sich an das Steuer, Traute saß auch auf ihrem Platze, und Dieter sollte dem Flugzeug einen gewaltigen Schubs geben, dabei sich aber am Flugzeug festhalten und im Fliegen wieder hineinklettern. Verdammt gefährlich, aber es mußte gewagt werden.

Kaum hatte das Flugzeug das Gleichgewicht verloren, da trudelte es auch schon nach unten und unternahm eine halsbrecherische Fahrt, immer tiefer, immer tiefer. Der Doktor versuchte mit aller Gewalt, das Segelflugzeug abzufangen, aber es wollte ihm lange nicht gelingen. Endlich konnte er einen Aufwind erfassen, er hatte das Flugzeug wieder in seiner Gewalt. Da beschrieb es wieder wie vorher elegante Bogen. Die erste Frage des Doktors war: »Was macht Dieter!«

Dieter hatte das Flugzeug an den Abgrund geschoben, dann dem Fahrzeug einen Schubs gegeben, sich dabei aber krampfhaft festgehalten. Beim Sturzflug wurde er wild hin- und hergeschleudert, aber er hielt sich wacker fest und ließ nicht locker. Es war eine wahnsinnige Fahrt, alle Knochen taten ihm weh. Als das Flugzeug wieder zur Ruhe kam, konnte er mit letzter Kraft hineinklettern. Nun saßen die drei wieder sicher im Flugzeug.

Da erkannten sie den riesigen weißen Gletscher des Bettes unter sich; der Doktor hatte alle Lust am Manövrieren verloren und landete glücklich auf dem Bett. Mit einem Aufatmen stiegen die drei aus. Es war nochmals alles gut gegangen. Toi, toi, toi. Das war mehr Glück als Verstand.

Die drei stampften über die weiße Fläche des Bettes, die – genau so wie ein Gletscher – keineswegs eben war, sondern voller Hügel und Wälle. Sie kamen an einem Abgrund vorüber, der sich weit ausbuchtete. Hier im Tal war es bedeutend wärmer als auf der Höhe der Bettdecke.

Der Doktor sagte: »Ich weiß schon, wie dieser Gebirgskessel in meinem Bett entstanden ist. Heute morgen habe ich einem Landstreicher etwas Wäsche geschenkt, und der Unverschämte hat sich gleich aufs Bett gesetzt und ein Paar Socken angezogen.

Der Doktor wollte im Tal weiterwandern, als er entsetzt stehen blieb: »Donnerwetter, da haben wir die Bescherung. Der Landstreicher hat mir etwas hinterlassen, seht ihr, was dort herumkrabbelt? Eine Wanze! Kommt dem Vieh nicht zu nahe, es stinkt erbärmlich.«

Kaum hatte der Doktor seinen Abscheu überwunden, als auch schon sein wissenschaftliches Interesse siegte. Er begann wieder zu erzählen:

»Schon die Griechen und Römer kannten die Biester. Es ist ein Allerweltstier geworden, die Wanze. Die Holländer sagen zu den Viechern Plättchen, weil sie so platt sind, und die Berliner sprechen drastischer von Tapetenflundern. Ein halbes Jahr und länger können die Wanzen hungern. Wenn sie aber Blut riechen, dann saugen sie sich so voll, daß sie ganz dick werden. Sie können gut riechen mit ihren Fühlern, die Wanzen. Wenn sie an der Decke krabbeln, und sie riechen unter sich einen schlafenden Menschen, dann lassen sie sich von der Decke auf den Schläfer fallen. Brennenlassen des Lichts aber hält sie ab – wenn sie nicht zu hungrig sind -, denn sie sind äußerst lichtscheu. Andere schwören wieder darauf, daß Wanzen Pferdegeruch nicht vertragen könnten, darum wickeln sie sich vor dem Schlafengehen mit Pferdedecken ein. In Kavalleriekasernen soll es auch weniger Wanzen geben als anderswo. Ich habe das selbst noch nicht ausprobiert. Aber die Fachgelehrten meinen, daß es nicht stimme. Wenn die Wanzen nur nicht so stinken würden. In ihrer Brust haben sie nämlich zwei Stinkdrüsen, die Ausgänge münden auf der Unterseite beim letzten Beinpaar. Sie sondern eine ölige Flüssigkeit ab, die den häßlichen Geruch der Tiere ausströmt. Seht ihr da am Kopfe den Stechrüssel? Wenn er nicht benutzt wird, schlagen ihn die Tiere nach unten ein. Beim Stechen saugen sie nicht nur Blut, sondern tropfen auch etwas Speichel in die Wunde, und der gerade verursacht den Juckreiz, der aber nicht, wie bei der Mücke, im Augenblick des Stechens, sondern erst dann entsteht, wenn die vollgesogene Wanze sich längst wieder in Sicherheit gebracht hat. Verdammt peinlich. Tod allen Wanzen! Ein Weibchen legt ungefähr 200 walzenförmige Eier, täglich etwa zwei. Sie sind etwa ein Millimeter lang und einen halben Millimeter breit und werden in Ritzen der Bettstellen, an die Rückseite der Tapete oder an Balken abgelegt. Nach drei Wochen kommen die Jungen aus den Eiern. Sie sind kälteempfindlich, und nicht alle kommen mit dem Leben davon, besonders die nicht, die zu spät im Jahre zur Welt kommen.

Bei Zimmertemperatur sind die Wanzen schon etwa nach 7 Wochen erwachsen und können selbst Eier legen. Bis dahin müssen sie sich aber oft häuten. In verwanzten Wohnungen findet man oft diese leeren abgestreiften Häute. Die jungen Wanzen können noch nicht so kräftig stechen wie die alten. Darum suchen sie nur zarte Hautstellen auf, oder Menschen mit zarterer Haut, wie Kinder oder Frauen. Ihr müßt nicht glauben, daß es nur Bettwanzen gibt. Es gibt viele, viele Arten von Wanzen. Etliche ernähren sich nur von Pflanzensäften, andere überfallen andere Insekten und leben vom Raub, andere wieder räubern im Wasser. Die größeren Tiere haben ihre besonderen Arten von Wanzen, so z.&nbsp;B. die Schwalben. Wenn die Schwalben zum Winter nach dem Süden ziehen, dann bleiben die Schwalbenwanzen im Nest, hungern, und wenn die Schwalben im Frühling zurückkommen, dann sind die Viecher noch lange nicht verhungert und saugen frisch und fröhlich weiter. In unbewohnten Gebäuden wurden Bettwanzen nach 14 Monaten noch lebend gefunden. Unkraut vergeht nicht. Wenn ich nur wüßte, wie ich diese Wanze hier töten könnte. Ob ich sie nachher noch finden werde?«

Es war immer das gleiche Erlebnis. Die Kinder staunten schweigend, und der Doktor erzählte. Aber kaum hatte der Doktor seine Rede beendet, da kam eine größere Wanze auf die Bettwanze zu. Es war eine sogenannte Schreitwanze, eine Raubwanze, die zweifellos auch von dem Landstreicher zurückgelassen wurde. Sie hatte längere Beine, konnte rascher ausschreiten, hatte sogar Flügel und konnte, wie der Doktor später erzählte, auch zirpen. Eine Wanze, die zirpen kann, ist das nicht merkwürdig? Die Schreitwanze kam auf die Bettwanze zu, bohrte von oben ihren Stechrüssel in ihr Opfer und saugte die böse Bettwanze aus. Das Opfer zappelte nicht lange, denn mit dem Stich wurde ein Gift in die Bettwanze gedrückt, welches das Tier sofort tötete.

Brave Schreitwanze. Aber die Schreitwanzen sind auch nicht besser. Auch sie saugen Blut vom Menschen, wenn sie keine Bettwanzen als Nahrung finden.

Die Kinder hatten genug und eilten davon, immer auf dem Bettgletscher entlang. Der Doktor mußte die Wanzen verlassen, wenn er die Kinder nicht allein wandern lassen wollte. Endlich erreichten die drei einen Steg, der vom Bett auf den Nachttisch führte. Der Doktor hatte ein Lineal über den Abgrund gelegt, für die Zwerge war das Lineal so breit wie eine Autostraße. Auf dem Nachttisch lauschte der Doktor angespannt. Dann hörten auch die beiden Kinder, was der Doktor erwartete. Es pochte und klopfte im Holz. Ungefähr so schnell, wie eine Taschenuhr tickt. Davon hatten die Kinder schon gehört. Müßte das nicht der Klopfkäfer oder die Totenuhr sein? Man nennt den kleinen Kerl auch Trotzkopf. Wenn alles still ist im Zimmer, dann hört man das Ticken besonders deutlich. Abergläubische Menschen sagen dann, die Totenuhr klopfe, es müsse einer sterben. Das ist natürlich Unsinn. – Hört ihr den Klopfkäfer rufen? Den müssen wir besuchen. Die drei gingen bis an den Rand des Nachttisches und sahen tief unten den Erdboden. Man konnte schwindlig werden an diesem ungeheuer steilen Abgrund. Da, etwas tiefer, auf einem Absatz, da lag doch ein Häufchen Mehl? Ach so, das war sicher etwas Bohrmehl des Holzwurmes. Dann müßte doch über dem Mehlhäufchen das Holzloch des Tieres sein! »Hier ist es, direkt unter uns«, brüllte Dieter eifrig. Der Doktor hatte am Rande ein Seil befestigt, daran mußten die drei hinabklettern, bis sie das Eingangsloch des Bohrwurms erreichten. Endlich waren alle drei in dem Tunnel des Tieres.

Kreisrund war die Öffnung, und kreisrund war auch das Innere des Tunnels. Der Doktor holte eine kleine Laterne hervor, denn auf den Klopfkäfer hatte er sich vor Beginn des Abenteuers vorbereitet.

Die drei schritten durch die dunklen Gänge, gingen kreuz und quer, glaubten schon, daß sie den Ausgang nicht wiederfinden würden und hatten noch immer nicht den Klopfkäfer gesehen. Beim Suchen erzählte der Doktor: »Der Bohrwurm ist nämlich gar kein Wurm, sondern die Larve eines Käfers. Die Larve hat sechs Beine, ist sehr weich und sieht weißlich aus. Aber die Kinnbacken des Bohrwurms sind sehr kräftig, denn mit denen muß er ja das Holz benagen, und das erfordert Kraft. So ungefähr im Mai nagen sich die Bohrwürmer ein etwas größeres Gemach, verpuppen sich darin, und nach einigen Wochen kommt der Käfer zum Vorschein, unser gespensterhafter Klopfkäfer. Dann geht es etwa im Juni auf die Hochzeitsreise.«

War denn der Klopfkäfer immer noch nicht zu sehen? »Ich werde dem Burschen mal vortäuschen, als ob ich seine Braut wäre.«

Doktor Kleinermacher klopfte mit seinem Stiefel so schnell und laut auf das Holz, wie es ungefähr der Klopfkäfer tut. Lind richtig, kaum hatte der Doktor seine Zeichen gegeben, da antwortete die »Totenuhr« mit ihrem Klopfen. Das machte dem Doktor und den Kindern Spaß, und immer wieder klopften sie auf dem Holz herum, und immer wieder kam eine Antwort des Käfers. »Der Klopfkäfer ist verliebt, er klopft nach seiner Braut, er will Hochzeit halten und erhält Antwort. Ist das nicht ein neckisches Liebesgeflüster?«

Die drei bogen im Holztunnel um eine Kurve, und dann sahen sie den Käfer sitzen. Es war ein braunschwarzer Geselle; er hatte einen dicken Kopf, einen unverschämten Dickkopf, und mit dem klopfte er immer nach oben an die Tunneldecke. Dabei hielt er die Fühler eingezogen und den Körper schräg nach oben gerichtet. »Sieht der Dickkopf nicht putzig aus, wie er immer so bummert? Ist das nicht ein komisches Morse-Alphabet?« flüsterte der Doktor.

»Liebe und Freundschaft will der Dickkopf mit seinem Klopfen ausdrücken. Und da glauben manche Menschen, der Dickkopf bringe kranken Menschen den Tod. Davon ist ja gar keine Rede«, fuhr der Doktor fort. »Trotzkopf heißt der Bursche noch. Aber nicht, weil er so einen dicken Kopf hat, sondern weil er sich bei Gefahr so lange totstellt. Die Todesstarre will bei ihm gar kein Ende nehmen.«

Mitten im Betrachten drängte der Doktor: »Kinder, es ist höchste Zeit. Zu lange schon sind wir unterwegs. Wir müssen zurück, wir müssen das Bett erreichen, wir müssen starten, damit wir auf dem Fußboden wieder wachsen können.« Den Kindern war die Vorstellung verdammt unangenehm, im Holz des Nachttisches wachsen zu müssen. Das mußte ja unverschämt drücken. Sie suchten und fanden den Ausgang des Tunnels, kletterten auf die Nachttischplatte empor, liefen im Dauerlauf über die Autobahnbrücke des Lineals, und dann rannten sie weiter über den endlosen Gletscher des Bettes. Da stand ja auch noch das Segelflugzeug. Nun schnell das Flugzeug zum Katapult geschleppt, dann eingespannt, Platz genommen, und dann konnte die Luftreise wieder beginnen.

Aber schon während der ersten Vorbereitungen setzte das Wachstum ein. Es zuckte und prickelte im Körper, es riß und zog an allen Gliedern. Und als die drei ihre Normalgröße erreicht hatten, da standen sie auf der weißen Bettdecke des Doktor Kleinermacher. »Schnell von da herunter, wer wird denn mit Straßenschuhen auf das Bett steigen?« rief Traute, die an ihre hausfraulichen Pflichten dachte und sofort heruntergehopst war. Als die drei auf Stühlen saßen und sich von ihren Abenteuern erholten, fing Traute plötzlich laut an zu lachen.

»Was hast du denn, Traute?«

»Ach, ich stelle mir nur etwas vor: es war doch zu drollig, wie du eben die Braut des Klopfkäfers warst. Das ist wirklich zu komisch. Unser Doktor Kleinermacher als Braut eines Käfers!«

Und da lachten sie alle drei.


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