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Die Bergsteiger am Küchenfenster

Traute hatte eine herzensgute Tante. Und tierlieb war die Frau! Beim Spaziergang im Park nahm sie immer Kuchenkrümel für die Vögel mit, und wenn sie in den Zoo ging, dann schleppte sie mindestens zwei volle Markttaschen mit Lebensmitteln mit. Die Tiere sollten doch etwas Leckres zum »Freß'chen« haben, meinte sie. Zucker, Schokolade, Königskuchen, Bananen, Marzipan ... oh, die Tiere wußten schon sehr genau, wie nett die gute Tante war. Die Vögel im Park benahmen sich bei ihr schon so zahm, weil sie die gute Tante kannten, daß sie auf ihrer Hutkrempe fast nach den künstlichen Kirschen pickten. Neulich fand sie im Walde sogar ein ganz junges Rehkindlein im Grase. Sie streichelte das liebe, kleine Tierlein und wollte und wollte nicht weitergehen. »Mein gutes Herzchen, du mein hübsches Kleines!« Am liebsten hätte die gute Tante das Rehkindlein mit nach Hause genommen.

»So lieb ist die gute Tante«, berichtete Traute voll heller Begeisterung und beantragte beim Doktor, daß man sie bei der Besichtigung des Haus-Zoos einmal mitnehme. Tierliebe Menschen müßten belohnt werden.

Da wurde aber der Doktor Kleinermacher böse. So wütend hatten ihn die Kinder noch nie gesehen: »Geht mir weg mit eurer guten Tante. Wenn sie im Winter die Vögel füttert, will ich nichts sagen, aber wenn sie es im Sommer tut, dann ist das zu gut gemeint. Die Vögel vergessen über Kuchen und Schokolade nur zu leicht, die Raupen und schädlichen Insekten zu töten. Dann nimmt das Ungeziefer gewaltig zu und verwüstet unsere Bäume. Nur, weil deine gute Tante einen Futterkomplex hat.«

»Was ist das, ein Komplex?«

»Ein Komplex, das ist eine verrückte Idee, ein Tick, ein Spleen. Wenn von der guten Tante die Enten am Teich gefüttert werden, dann sammeln sich sehr schnell Ratten an, nehmen zu, fressen die herumliegenden Futterreste und holen sich, da man es ihnen so bequem macht, bald auch die Entenküklein, denn der Appetit kommt beim Essen. Die gute Tante glaubt, den Enten zu helfen. In Wirklichkeit aber hilft sie, Entenkinder morden. Im Zoo füttert sie die Tiere zu Tode. Ihr glaubt ja gar nicht, wieviel Tiere alljährlich im Zoo an verdorbenem Magen sterben! Es gibt nämlich viel zu viel gute Tanten, gute Onkel und gute Neffen und Nichten. Das Rehkindlein im Walde hat sie auch – ohne zu überlegen – gestreichelt. Denn im schlimmsten Falle kann sie dadurch zur Mörderin werden! Wenn die Rehmutter zurückkommt und die Menschenwitterung riecht, wagt sie sich nämlich oft nicht mehr an ihr Kindlein heran, und das arme Wesen muß verhungern. Laßt alle Tiere in der Natur in Ruhe, die helfen sich am besten selbst. Nur im Winter soll man sie etwas mit Nahrung unterstützen. Alles andere ist unverantwortlich und nicht etwa verständige Liebe, sondern blinde Verliebtheit!«

So wetterte der Doktor über die gute Tante und konnte lange keine Ruhe finden. Traute wagte kaum, noch einen Ton zu sagen, nein, der Doktor regte sich zu sehr auf. Und dabei hatte er recht, wenn man nur genau darüber nachdachte.

Dem Dieter war die Sache peinlich. Zwar hatte er mit Traute noch ein Hühnchen zu rupfen wegen der Frotzelei als Zwerg beim letzten Abenteuer. Aber jetzt tat ihm Traute leid. Stand sie doch vor dem Doktor, als wenn sie die Verantwortung für die sogenannte gute Tante hätte. Er wollte ablenken und sagte: »Doktor, wo gehen wir heute hin? Müssen wir wieder bis zum Abend mit unserem Abenteuer warten?« Der Doktor ging sofort darauf ein und antwortete: »Nein, heute können wir im Sonnenschein arbeiten. Es geht am Küchenfenster auf und nieder.«

»Aber ich sehe ja gar keinen Paternoster am Fenster, und eine Rolltreppe auch nicht?«

»Ja, meine Lieben, die Sache mit dem Fahrstuhl war uns verunglückt. Nie wieder Fahrstuhl. Auch die Sache mit der Rolltreppe hat mir nicht hundertprozentig gefallen. Wir kommen damit immer nur nach bestimmten Plätzen hin. Ich möchte aber, wie die Tiere, überall hingelangen. Wie machen es beispielsweise Fliegen, wenn sie die Wände emporlaufen?«

Dieter und Traute hörten aufmerksam zu.

»Ich habe mir nun«, so erläuterte der Doktor weiter, »verschiedene Tiere angesehen und bin zuletzt bei den Tintenfischen gelandet. Man kann bei sorgfältiger Beobachtung dem Tierreich oft wirklich wertvolle Anregungen entnehmen. So haben die Tintenfische an ihren langen Armen viele kleine Saugnäpfe. Damit saugen sie sich fest und können sogar die Glaswand im Aquarium emporklettern. Solche kleinen Saugnäpfe habe ich nun auch für unsere Beine angefertigt. Wenn wir sie umschnallen, dann werden wir die Mauer emporklettern können, wohin wir wollen.«

»Au fein, wenn ich Zahnschmerzen habe, möchte ich auch immer die Wände emporklettern. Aber das geht nie. Beim Doktor Kleinermacher aber geht alles. Wunderpulle her, wir wollen jetzt wirklich die Wände hochklettern.«

»Langsam, langsam, mein Lieber, die Sache hat nämlich noch einen Haken. Wenn wir uns die Saugnäpfe an die Füße schnallen, und auf das Näpfchen drücken, so entweicht die Luft durch ein Ventil. Dehnt sich dann das Näpfchen, durch unsere Muskelkraft unterstützt, wieder aus, so bleibt es luftleer, und wir werden vom Luftdruck mit den Füßen an die Wand gepreßt. Drücken wir nun mit der großen Zehe auf das Ventil, so strömt die Luft wieder ein, das Näpfchen löst sich, und wir können mit einem Bein fortschreiten, während das andere noch festklebt. Habt ihr das verstanden?«

»Ja«, sagte Dieter. Traute nickte nur, weil sie noch nicht alles begriffen hatte.

»Wenn wir aber nun mit unseren Beinen an der Wand kleben, dann müssen wir den Körper durch Muskelkraft waagerecht halten, weil er ja sonst von der Schwerkraft heruntergezogen wird. Das ist nicht nur eine sehr unbequeme Lage, sondern auch außerordentlich anstrengend. Das paßt mir gar nicht. Wie könnten wir in einer besseren Lage die Wand emporklettern? Das ist die Frage.«

Dieter und Traute dachten lange nach. Dann tippte sich Dieter an den Kopf: »Ich hab's! Wir schnallen uns auch Saugnäpfe an die Hände, dann können wir in senkrechter Körperlage die Wand emporklettern.«

Der Doktor antwortete: »Ja, schön und gut, aber wir haben nur zwei Hände. Mit welchen Gliedern halten wir dann unsere Gewehre? Nun, ich nehme den Vorschlag von Dieter trotzdem an. Aber nicht an die Hände schnallen wir zwei weitere Saugnäpfe, sondern an unsere Ellenbogen, dann haben wir die Hände frei. Einverstanden? Also geht jetzt nach Hause, morgen seid ihr wieder hier, dann habe ich noch sechs Saugnäpfe für die Ellenbogen fertiggestellt.«

Die Kinder hatten zwar keine Lust, fortzugehen, aber der Doktor drängte, denn er wollte sich auf die Arbeit stürzen. Er verabschiedete beide, und am nächsten Tage waren seine kleinen Freunde wieder pünktlich zur Stelle.

»Doktor, sind die Saugnäpfe fertig?«

»Aber gewiß, es kann losgehen.«

Der Doktor holte die Wunderflasche herbei, diesmal hatte er nicht vergessen, auch drei kleine Maßgläser bereitzuhalten, damit Dieter nicht wieder zu tief in die Flasche gucke, und dann legte er zwölf winzige Saugnäpfe und drei Miniatur-Gewehre auf die Erde. Nun konnte das Abenteuer beginnen.

Jeder trank sein Glas wie eine Medizin aus, und dann schrumpften sie zusammen, bis sie so klein wie Stecknadeln waren. Dann schnallten sie sich die Saugnäpfe an und probierten sofort ihre Kletterkünste. Zuerst machte der Doktor die Handgriffe vor, denn er hatte in Abwesenheit der Kinder schon allein fleißig geübt. »Schschscht, schschscht, schschscht ...«, machten die Saugnäpfe und sicher kletterte er die Wand empor. Es war lustig anzuschauen. Nun mußte Dieter seine Kunst zeigen. Es ging entsetzlich langsam, man mußte beim Klettern mit Saugnäpfen an der Wand gewaltig aufpassen. Manchmal zerrte er mit einem Fuße oder mit einem Arm, weil er vergessen hatte, auf das Ventil zu drücken. Es war gar nicht so einfach, die Wände emporzuklettern. Aber bald hatte er die Kunst heraus, wenn auch noch nicht so sicher, wie der Doktor.

Nun mußte Traute ihre Geschicklichkeit zeigen. Es ging noch viel schlechter als beim Dieter. Einmal drückte sie in ihrer Angst und Zerstreutheit auf alle vier Ventile. Da wäre sie beinahe abgestürzt, wenn der Doktor sie nicht, hinter ihr herkletternd, aufgefangen hätte. Alle Verzweiflung nutzte nichts, Traute mußte von vorn anfangen. Endlich hatte sie den Kniff begriffen, und die Reise konnte beginnen.

Voran kletterte Dieter, in der Mitte Traute und zum Schluß der Doktor. Wenn Dieter oder Traute irgendwie unsicher werden sollten, dann wollte der Doktor sie auffangen. Aber ein Unfall ereignete sich nicht, die Kletterei ging immer besser und flotter, und schließlich bediente Dieter seine Ventile genau so gut, wie der Doktor. »Schschscht, schschscht ...«, so ging es die Küchenwand bis zum Fensterbrett empor.

Dieter gelangte zuerst oben an. Er entdeckte eine Tüte mit Backpflaumen und kraxelte an der Tüte empor, um von oben hineinzuschauen.

»Ah, Backpflaumen, da können wir ja nachher tüchtig essen. Und einen schönen Zuckerguß haben die Backpflaumen an manchen Stellen! Der Zuckersaft quillt den Pflaumen ja förmlich aus allen Poren.«

Traute und der Doktor kletterten auch auf die Tüte und sahen von oben hinein in die süße Pracht.

»Ist das wirklich richtiger Zuckerguß, Dieter?« fragte der Doktor. Dieter sah genauer hin, und da entdeckte er, daß sich der Zuckerguß irgendwie bewegte. »Pfui Spinne, da sind ja lauter ... na, wie heißen doch die Tiere? Da sind ja Milben, Hunderte von Milben! Wie gern habe ich Backpflaumen mit dem süßen Zeug gegessen. Ich dachte immer, das wäre Zucker, und jetzt sind es – Milben. Ich danke schön, unser Abenteuer fängt gut an.«

Bei genauer Betrachtung beobachteten die drei, daß nicht alle Milben von gleichem Aussehen waren. Da krabbelten hochbeinige, flinke Milben umher (der Doktor sagte, es seien sogenannte Laufmilben) und dann waren da noch Tiere mit kürzeren Beinen zu sehen, die offenbar bedeutend fauler waren. »Dörrobstmilben« nannte der Doktor die trägen Tiere. Und dann begann der Doktor, auf der Tüte zu dozieren:

»Glyciphagus nennt der Wissenschaftler diese kleinen Spinnentiere oder Milben, auf Deutsch so viel wie Süßmaul. Süßmaul-Milben finden sich auch an Heu, Stroh und Futtermehl, an getrockneten Kräutern und Samen, an eingemachten Früchten, in der Polsterung von Sesseln und Matratzen. Zuweilen in so ungeheuren Mengen, daß sie wie lebender Staub erscheinen und die Besitzer der befallenen Räume zur Verzweiflung bringen können. Um so mehr, da sie durch Fliegen Mäuse und die Kleider vorübergehender Menschen leicht verschleppt werden. Haustieren darf stark mit Milben verseuchtes Futter nur gedämpft und mit ›gesundem‹ gemischt gegeben werden. Vor allem sind Pferde gegen milbenverseuchtes Futter empfindlich und können sogar daran sterben ...«

Plauz! Beim Erzählen hatte der Doktor versehentlich alle vier Ventile geöffnet und rutschte die Tüte hinunter mit einem Gesicht, als wenn es abwärts in den Höllenrachen ginge. Aber er kam unten heil an und blieb auf seinem Unaussprechlichen sitzen. Als die Kinder oben merkten, daß der Doktor bei seiner Rutschpartie heil geblieben war, mußten sie laut lachen. Warum sollten sie als Kinder nicht auch bei jeder Gelegenheit lachen? Bei den Backfischen, den Mädchen über vierzehn Jahren, ist das kichernde Lachen geradezu typisch.

Aber der Doktor war nicht gekränkt: »Na wartet ihr Racker. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Kommt nur auch hinunter, aber besser als ich.«

Dieter wurde übermütig und rutschte wie der Doktor die Tüte hinunter, nur Traute ging vorsichtig und langsam mit ihren Saugnäpfen abwärts. »Schschscht, schschscht ...«

Lachend gingen die drei auf dem Fensterbrett auf einen Blumentopf zu, kletterten dort empor und wollten die Pflanzen ersteigen.

Dabei entdeckten sie wieder Blattläuse. Das waren doch jene Tiere, die einen süßen Saft verspritzen, wie sie von ihren Abenteuern im vorigen Jahr noch wußten. Wo Dieter jetzt solche Kunsthonigtropfen fand, da leckte er mit Wonne daran, und Traute machte ihm die Schleckerei nach. Ein herrliches Zeug! Da konnte man ja gar nicht auf die Blattläuse böse sein.

Aber hatte da nicht doch jemand auf die Blattläuse Absichten? Eine wunderschöne Florfliege kam durch das offene Fenster hereingeflogen. Wunderbar grün war der Körper, glashell und fein leuchteten die großen Flügel, und große goldige Augen hatte das Tier. »Goldauge« hießen ja auch die schönen Geschöpfe bei den Menschen. Daß die Florfliege Blattläuse frißt, wußten die Kinder schon. Aber jetzt kümmerte sich das Goldauge nicht um die fette Beute. Sie drückte ihren Hinterleib an ein Blatt und klebte dort einen Faden fest, hob ihren Hinterleib wieder empor und zog einen feinen Faden aus ihrem Körper, an dessen Oberende ihr kleines Ei hing. Das wiederholte sie so sechs- bis zwanzigmal, und die Fäden mit den Eiern standen dicht nebeneinander. Das Ganze sah aus, wie ein feiner Rasen von Pilzen.

Der Doktor mußte wieder erklären: »Seht, so legt die Florfliege ihre Eier ab. Früher hielten selbst Gelehrte das Wunder für eine Pflanze und glaubten, eine neue Pilzart entdeckt zu haben. Sie hatten sogar sofort einen hohen gelehrten Namen bereit. Ascophora ovalis nannten sie jenen ›Pilz‹. Erst später entdeckte man, daß der Pilz kein Pilz sei, sondern von Florfliegeneiern auf Stengeln vorgetäuscht worden war. So können sich auch Gelehrte manchmal irren. Das kommt sogar häufiger vor, als allgemein angenommen wird.«

Die Florfliege war beim Eierlegen und nicht beim Fressen. Auf dem Nachbarblatt aber machte sich ein bräunlich-violettes Ungeheuer gierig über die Blattläuse her. Mit den Zangen packte der Blattlauslöwe, so nennt man jenes Ungeheuer, die armen Blattläuse, saugte sie mit den gleichen Zangen, die feine Löcher haben, aus und warf die leeren Hülsen fort. Und der violette Blattlauslöwe war – das Kind der schönen Florfliege.

Die drei kletterten weiter auf dem Blumentopf herum und entdeckten noch eine Larve. Diese hatte sich mit ihrer Schwanzspitze an einem Blatt festgeklebt und bewegte sich nur schwach. Der Doktor frohlockte über diesen Fund: »Hier will sich die Larve eines Marienkäferchens verpuppen. Wenn die Verwandlung fertig ist, kommt ein kleines, dickes, rundes Marienkäferchen zum Vorschein. Mit sieben kleinen Punkten auf dem roten Körper. Nicht alle Marienkäfer sind rot, und nicht alle haben sieben Punkte; ihr müßt nämlich wissen, daß es unheimlich viel Marienkäferchenarten gibt. Ja, manche fressen sogar nicht einmal Blattläuse, sondern nur Blätter. Es gibt also auch Vegetarier unter den Marienkäferchen ...

Habt ihr übrigens schon einmal darüber nachgedacht, warum der Marienkäfer so grell bemalt ist? Andere Tiere haben doch unauffällige Schutzfarben. Pst ... da kann ich es euch sofort zeigen!«

Auf einem Blatt hatte der Doktor einen voll entwickelten Marienkäfer entdeckt. Er kletterte dorthin, die Kinder folgten ihm, und jetzt gab der Doktor einen Schuß ab, der dicht über den kugelrunden Käfer dahinknallte. Der Käfer warf sich herum, krampfte seine Beine zusammen und stellte sich tot. Aus seinen Gelenken aber quoll ein öliger gelber Saft, der fürchterlich roch und sicher noch viel schlechter schmeckte.

»Seht, so wehrt sich das Marienkäferchen gegen Feinde. Seine Farbe ist keine Schutzfarbe, sondern eine Warnfarbe. Achtung! Vögel, freßt mich nicht, ich rieche abscheulich und schmecke noch viel abscheulicher. So etwa sprechen die auffallenden Warnfarben zu den Vögeln.«

Die drei ließen jetzt den Marienkäfer in Ruhe und kletterten wieder am Blumentopf herab. »Man soll Marienkäfer nicht unnütz ärgern, denn sie sind äußerst nützlich«, berichtete der Doktor weiter. »Sie fressen sich kugelrund und räumen mächtig unter den Blattläusen auf. Die Pflanzen können wirklich aufatmen, wenn die Marienkäfer kommen. Im Winter ziehen sich die Käferchen zurück, halten ihren Winterschlaf, und im Frühling kann das Aufräumen wieder beginnen. Gärtner und Blumenfreunde lieben und schätzen Marienkäferchen und Goldaugen sehr.«

»Schschscht, schschscht ...« Dieter kletterte mit seinen Saugnäpfen wieder die Wand empor, bis er an das geöffnete Fenster kam. Traute und der Doktor immer hinterher. »Dieter, sieh dich vor! Draußen könnte uns irgendein Vogel für gutes Futter halten. Sieh dich vor!« Der Doktor warnte, aber Dieter war schon an der Außenmauer des Hauses. »Schschscht, schschscht ...« So kraxelte Dieter den beiden von dannen. Was sollte man da machen? Der Dieter war wirklich zu wagehalsig. Traute gab ihrem Herzen einen Ruck und kletterte hinterher ... Da blieb auch dem Doktor nichts weiter übrig. »Schschscht, schschscht ...«, tönten die zwölf Saugnäpfe der drei Gebirgskraxler an der Außenmauer des Hauses vom Doktor Kleinermacher.

»Was ist denn das?« sagte Traute, »da haben doch die bösen Buben dein Haus mit Lehm beworfen. Da, schau nur hin, Doktor, da klebt noch so ein Lehmklumpen am Hause. Diese Rangen ..., bewerfen dir dein Haus mit Lehm!«

Der Doktor sah sich die Sache etwas genauer an: »Nein, Traute, das ist kein gewöhnlicher Lehmklumpen. Hier hat eine Mörtelbiene gearbeitet. Bienen haben oft große Sorgen. Sie sammeln Honig und Blütenstaub für ihre Kinder, bauen Waben, mühen sich ab, und dann kommen freche Schmarotzer legen ihre Eier in das warme Nest, und alle Mühe und Sorge der fleißigen Bienen war für die fremde Brut. Da bauen sich die Mörtelbienen mit Geduld und Spucke, ja wirklich mit Spucke, vermischt mit Lehm, Felsennester für ihre Kinder, damit kein Schmarotzer in das Haus komme. Fast so hart wie Beton ist jetzt das Nest, die Kinder liegen darin so sicher, wie in Geldschränken. Da soll man ein Schmarotzer kommen.«

Als der Doktor noch sprach, kam die Mörtelbiene angeflogen. Sie sah mehr einer Hummel ähnlich als einer Biene. Schwarz war der ganze Körper und schwarz waren sogar die Flügel. Nur die Männchen schmücken sich mit roten Farben. Der Rücken ist dicht mit Haaren bedeckt, auch der Bauch, denn mit den Bauchhaaren sammeln die Mörtelbienen den Blütenstaub ein, also anders als es die Honigbienen tun. Zehn Zellen baut die Mörtelbiene ungefähr in einem Lehmklumpen an der Hauswand. Die Zellen ähneln einem Fingerhut. Die Innenflächen sind sauber glatt poliert, die Außenflächen bleiben aber rissig, so daß Traute einen solchen Lehmklumpen wirklich für ein Geschoß böser Rangen halten konnte. Die Zellen werden mit Bienenhonig gefüllt, und oben auf den Honig kommt dann das Ei. Hat sich die Bienenlarve zur Biene entwickelt, dann beißt sie sich durch das inzwischen morscher gewordene Felsennest und fliegt fort. Gleich nach der Geburt wird Hochzeit gefeiert. Die Bienen müssen sehr schnell leben, denn ihr Leben ist kurz.

Jetzt entdeckten die drei noch weitere Lehmklumpen ähnlicher Art. Es gab also mehrere Mörtelbienen, die ihre Felsenwiegen am Hause bauten. Aber die Mütter vertrugen sich nicht gut. Eifersüchtig flog eine Mörtelbiene auf eine andere zu. In der Luft prallten die Köpfe zusammen, daß es nur so brummte. Der Zusammenstoß war gewaltig; beide Bienen fielen zu Boden und kämpften dort unten weiter. »Vertragt euch doch, ihr Festungsbaumeister und fleißigen Mütter.« Aber die beiden Kämpferinnen ließen nicht locker.

Die drei waren noch beim Beobachten der kämpfenden Bienen, als eine Schmarotzerwespe angesaust kam. Sie ließ sich auf dem Felsennest nieder und bohrte mit ihrem Legestachel ein feines, haardünnes Loch in die Felsenwiege. Das Haus war zwar fest wie aus Stein, aber stahlhart war auch der Bohrer der Schmarotzerwespe. Die Arbeit war sauer, aber es ging langsam vorwärts. Das konnte der Doktor nicht mit ansehen. Er legte sein Gewehr an und schoß auf die Schmarotzerwespe. Die Kugel traf nicht tödlich, aber die Schmarotzerwespe flog von dannen. Der Doktor war entrüstet: »Da soll man sich nicht ärgern. Soviel Mühe von der Mörtelbiene, und dann kommt eine Schmarotzerwespe und bohrt ein haardünnes Loch in die Felsenburg. In einer Stunde ungefähr hätte sie es geschafft, und dann würde das Ei der Wespe in das Nest der fleißigen Biene kullern, gerade auf das Ei der Hausbesitzerin. Die Kindesunterschiebung wäre gelungen, die Biene betrogen. Das Ei der Wespe entwickelt sich nämlich schneller als das der Biene; Ei und Honig der wirklichen Hausbesitzerin werden aufgefressen, und zum Schluß kommt statt einer Mörtelbiene eine Schmarotzerwespe zum Vorschein. Schmarotzer sollte man ausrotten.«

Der Doktor war noch ganz aufgebracht und konnte sich nicht beruhigen. Da flog eine Schmarotzerfliege herbei. Aber was sollte schon eine Fliege ohne Bohrer und Stachel dem Felsennest antun? Nur flüchtig berührte die Schmarotzerfliege mit ihrem Hinterleib das Nest, dann flog sie wieder von dannen. Lächerlich, so ein Fliegenangriff.

Aber der Doktor war auf dem Posten. Rasch kraxelte er mit den beiden Kindern zum Mörtelnest der Biene, suchte die Fläche ab und fand ein ganz kleines, sehr kleines Ei. Mit einer Fußbewegung ließ er das Ei herunterkullern. Aus diesem Ei kröche nämlich, so erzählte der Doktor, eine ganz winzige Larve, durchsichtig wie Glas und so fein wie ein Haar. Diese Larve hätte auf dem Mörtelnest alle Ritzen und Fugen solange durchsucht, bis sie doch irgendwo einen Einlaß finden würde. In der Bienenzelle angelangt, fräße sich die Larve dick und fett, bis sie eine fußlose Made geworden wäre. Aber die fette Fliegenmade könne nicht beißen und nicht stechen. Wie sollte die kleine Leberwurst das Bienenkind umbringen? Sie würde sich so an dem Bienenkind festsaugen, daß es sein Leben aushauchen müßte.

Aber der Doktor hatte ja die Gefahr verhindert, und die beiden Kinder waren beruhigt. Da baute sich die Mörtelbiene ein Felsennest, und doch können die Schmarotzer und Räuber in das Haus. Genau so wie bei den Menschen. Die Geldschränke würden immer stabiler, aber auch das Räuberhandwerkzeug wurde immer besser ...

Der Doktor führte die beiden Kinder auf das Fensterbrett zurück. Er hatte am Tage einen toten Vogel gefunden und ihn auf das äußere Fensterbrett gelegt, den Kopf des Vogels aber hatte er in eine Papiertüte gesteckt und zugebunden.

»Ich will doch mal sehen, wo jetzt die Schmeißfliege ihre Eier ablegt! Schmeißfliegen heißen jene dicken Brummer, die oft an unseren Fensterscheiben so einen Spektakel machen. Sie pflegen ihre Eier an Leichen und Fleisch abzulegen. Selbst an menschliche Wunden wagen sie sich, um ihre Eier loszuwerden. Die Brummer selbst naschen nur von Blüten. Ihre Maden aber wollen Fleisch fressen, gleichgültig, ob frisch oder schon verfault. So finden sich die Maden, man nennt sie auch Leichenwürmer, in totem Fleisch. Die alten Römer hatten das auch schon beobachtet und glaubten, die Leichenwürmer entständen von selbst. Aber so ist das nicht. Die Brummer legen die Eier, und aus den Eiern kommen die Maden. Ohne Schmeißfliegen gibt es keine Leichenwürmer.

Am liebsten legen die Schmeißfliegen bei toten Vögeln ihre Eier am Schnabel, an Wunden, oder an den Augen ab, damit die Maden sich leicht in das Fleisch hineinbohren können. Die Maden können nämlich nicht beißen, sie lutschen gleichsam nur, aber ihr Speichel ist so scharf, daß das Fleisch davon aufgelöst wird. Den entstandenen Fleischextrakt saugen sie dann ein. Wenn sie ausgewachsen sind, verpuppen sie sich, sie verlassen die Leiche und überwintern in der Erde. Im Frühling gibt es dann wieder neue Brummer, die wohl draußen ihre Nahrung finden, aber zu gern in unsere Wohnungen kommen, weil sie dort Fleisch riechen, Fleisch zum Eierablegen. Das helle Fenster halten sie dann für den Weg zurück ins Freie, können aber durch das Glas nicht hinaus, und brummen entsetzlich die Fensterscheiben auf und nieder.«

Der Doktor war noch mitten im Erzählen, da kam schon eine Schmeißfliege angesaust. Sie ließ sich sofort nieder und war offensichtlich sehr erstaunt, statt des Vogelkopfes eine Papiertüte vorzufinden. Sonst fand sie immer einen offenen Schnabel, in den sie die Eier hineinlegen konnte. Wenn das nicht ging, dann waren die Augen da, wo die Haut auch nicht dick war. Aber auf eine Papiertüte hatte sie noch nie Eier abgelegt. Sie untersuchte den Vogel von allen Seiten, nirgends konnte sie eine Öffnung oder eine Wunde entdecken. Der Brummer schien ratlos. Schließlich legte die große Fliege ein paar Eier unter der Flügeldecke ab, wo die Haut noch am dünnsten war. Sie schien etwas vom Körperbau zu verstehen. Aber alle ihre Eier legte sie doch nicht ab, vielleicht fand sie doch noch eine Leiche, die statt einer Papiertüte einen richtigen Kopf mit einem offenen Schnabel hatte.

Die Schmeißfliege wollte wegfliegen, da kam ein gewaltiges Ungetüm angesaust. Das Tier sah ungefähr wie eine Wespe aus, war aber viel größer. Eine Hornisse. Die Hornisse stürzte sich über den Brummer her, biß dem Tier die Flügel und die Beine ab und flog mit der verstümmelten Beute von dannen.

»Was soll denn das? Doktor, was soll denn das heißen? Ich denke, Hornissen trinken Honig und fressen Blütenstaub«, fragte Traute.

»Ja, gewiß, aber ... ich werde euch das noch erklären. Aber ich habe Sorge, daß wir abstürzen und uns das Genick brechen, wenn wir hier draußen anfangen zu wachsen. Wir wollen doch lieber beizeiten unsere Küche wieder aufsuchen.«

Die drei gingen hinein und kraxelten dann die Küchenwand bis zum Erdboden wieder hinab. »Schschscht, schschscht ...«, so machten dabei die zwölf Saugnäpfchen. Auf dem Erdboden setzten sich die drei hin, warteten auf ihr Größerwerden, und die Kinder lauschten wißbegierig dem Doktor:

»Die Hornissen sind unsere größten Wespen. Ihr Gift ist so gefährlich, daß schon etliche Stiche genügen sollen, um einen Menschen zu töten. Und dabei sind die Tiere immer angriffslustig und wild. Es soll gut sein, nach einem Stich die Wunde mit Zwiebelsaft einzureiben. Ich habe es aber noch nicht probiert, denn ich bin noch nicht gestochen worden. Ihr Nest bauen sie sich ganz anders als die Honigbienen. Sie nagen vom Baum die Rinde ab, zerkauen sie, und bauen aus der mit Speichel durchgekneteten Rinde ein Nest, das wie von Papiermaché aussieht. Wie bei den Bienen sind die Waben sechsseitig, die Öffnung ist aber nach unten gerichtet. Darum muß die Hornissenkönigin ihre Eier in den Waben festkleben.

Die erwachsenen Hornissen leben wie die Bienen von süßen Stoffen, manchmal überfallen sie auch Honigbienen, reißen diesen den Kopf ab und saugen den Honigmagen aus. Die Hornissenkinder vertilgen aber noch Fleisch. Darum gehen die Hornissen auf Jagd, fliegen auch manchmal in Fleischerläden und holen sich von dort die Kinderspeise. Wenn eine Hornisse geboren wird und aus der Zelle krabbelt, dann reinigt sie zuerst ihre Wiege, um neuen Kindern Platz zu schaffen. Die Königin legt fortlaufend Eier, aus denen aber nur Arbeiterinnen kommen. Erst im Herbst werden echte Männchen und Weibchen geboren. Die Königin allein aber überwintert und gründet im Frühjahr einen neuen Hornissenstaat. Das ist so der Lauf ... «

»Ich wachse!«

»Ich auch.«

Der Doktor konnte gar nicht mehr sagen: »Ich auch«, denn es zerrte und rauschte durch seinen Körper so plötzlich, daß er gar keine Zeit mehr fand, die Kinder zu verständigen, daß auch er wachse. Das war auch gar nicht notwendig. Jeder hatte mit sich selbst zu tun. Sie kamen erst wieder zu sich, als sie ihre Normalgröße erreicht hatten. So endete das Abenteuer mit der Gebirgskraxelei am Küchenfenster.


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