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Polizisten im Bücherschrank

Traute und Dieter saßen bei ihren Schularbeiten. Sie hatten es sich angewöhnt, ihre Heimarbeiten häufig gemeinsam zu machen. Traute konnte von den Arbeiten ihres älteren Freundes lernen, und Dieter konnte belehrend eingreifen, so daß Traute manchen Fehler unterließ. Mitten in den Schularbeiten sagte Traute plötzlich:

»Sage mal, Dieter, hatten wir uns nicht für heute mit Doktor Kleinermacher verabredet? Er wollte uns doch in ein neues Abenteuer führen!«

»Oh, du, das hätte ich nie vergessen«, lächelte Dieter. »Aber zuerst müssen wir unsere Schularbeiten fertigmachen!«

Fleißig fuhren die Federn raschelnd über das Papier. Ab und zu blickte der Junge nachdenklich in die Luft, wenn es eine etwas schwierige Aufgabe zu lösen galt. Traute aber schaute ihn dann und wann heimlich von der Seite an, ob er nicht schon fertig wäre. Denn sie hatte einen besonderen Plan mit dem Doktor Kleinermacher vor.

So, sagte sie, als Dieter seine Hefte und Bücher zuschlug: »Weißt du, Dieter, was ich dem Doktor einmal vorschlagen möchte?«

»Nun?«

»Er soll doch mal mit uns, wenn wir so geheimnisvoll klein sind, auf den Büchern im Regal spazieren gehen. Da sie alle verschieden groß sind, müßte das doch wild romantisch sein.« Ganz rote Bäckchen hatte die Traute vor Begeisterung bekommen. Und Dieter war auch sofort Feuer und Flamme.

Als sie wenig später dem Doktor Kleinermacher ihren Plan vortrugen, stimmte dieser überraschend schnell zu.

»Gut so, gut so, Traute«, meinte er. »Du kannst offenbar meine Gedanken direkt erraten.«

»Tiere werden wir, glaube ich, zwischen den Büchern aber nicht finden. Darauf werden wir bei diesem Ausflug verzichten müssen.«

»Hast du eine Ahnung, Traute. Tiere gibt es überall, auch zwischen den Büchern. Die Sache hat aber eine andere Schwierigkeit. Wie kommen wir da hinauf?«

»Aber Doktor«, meinte Dieter vorwurfsvoll, »wie wir da hinaufkommen? Du müßtest nicht Doktor Kleinermacher sein, um dafür keinen Weg zu finden. Du hast doch den Fahrstuhl, die Rolltreppe und dann unsere Saugnäpfe gebaut. Auf die Bücher hinaufzukommen, sollte doch für uns eine Kleinigkeit sein!«

»Leicht gesagt für einen Dreikäsehoch. Aber, aber ... Wir müssen nämlich so klein werden wie Flöhe, sonst ist es nichts mit dem Spaziergang zwischen den Büchern, Heften und losen Blättern. Und für Flöhe sind unsere Fahrstühle, Rolltreppen und Saugnäpfe viel zu gewaltig. Neue Instrumente für so kleine Wesen anzufertigen, ist aber zu mühsam. Denke dir mal, wenn Flöhe mit Saugnäpfen die Bücherregale emporklettern würden. Ehe wir oben wären, würden wir schon wieder groß sein, so lange dauert diese Klettertour.«

»Ja, was machen wir denn da?«

»Nur keine Angst, Kinder, der Doktor Kleinermacher hat schon für alles gesorgt.« Und dann zeigte der Doktor den staunenden Kindern seine Vorbereitungen.

Ein ganz kleiner Luftballon, nicht viel größer als eine Glasmurmel, lag auf der Erde bereit. Am Luftballon war eine Gondel befestigt, und was in der Gondel lag, war kaum mit Vergrößerungsgläsern zu erkennen. Da lagen drei winzige Eispickel, Seile, wie sie von Bergsteigern benutzt werden, aber viel dünner noch als Zwirnsfäden, drei Spieße, unendlich kleine Steigeisen und sogar ein richtiger Anker im Miniaturformat. An jedem Bücherbrett war eine kleine Schlinge befestigt, die man benutzen wollte, wenn der Luftballon an einem Bücherfach verankert werden sollte. Alles war fix und fertig und gut vorbereitet. Das Abenteuer konnte beginnen. Es fehlte nur noch der Schluck aus der Wunderflasche.

»Prost, Dieter!« sagte der Doktor, und dann tat er einen kräftigen Schluck. Die beiden Kinder machten es ihm nach und schrumpften genau so wie der Doktor zusammen. Das Zimmer wuchs und wuchs für die drei Abenteurer und wurde für sie so groß wie eine unendliche Welt. Bestürzt dachten die Kinder daran, daß es damals beim ersten Abenteuer im Wassertropfen für sie genau so gewesen war. Schließlich waren sie so klein, wie sonst die Flöhe sind.

»Wo ist denn der Luftballon?« fragte Traute verwirrt.

»Da hinten!« zeigte der Doktor. »Wenn wir so springen könnten wie Flöhe, dann wären wir bald da, aber so müssen wir einige Zeit wandern, ehe wir unseren Luftballon erreichen. Also los!«

Die Wanderung war gar nicht so einfach. Jede Dielenritze wurde zur Schlucht, die man nur kletternd überwinden konnte. Manchmal waren die Dielenritzen sogar unpassierbar, und die drei mußten an den Ritzen entlanglaufen, um eine geeignete Stelle zum Durchklettern zu finden. Einmal mußte der Doktor den Dieter sogar auf die Schultern nehmen, damit er den oberen Rand ergreifen konnte, so tief war die Schlucht. Auf die gleiche Art mußte Traute emporklettern. Die Wanderung über den Fußboden war eine Wanderung auf einer weiten, von vielen Schluchten durchzogenen Hochfläche.

Endlich stand der Luftballon vor ihnen. Groß und gewaltig. Schnell stiegen sie hinein, jeder warf sein Bergsteigerseil über die Schulter, nahm seine Klettereisen, ergriff den Spieß, und dann machte der Doktor die Seile los, damit der Luftballon steigen konnte. Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, strebte der Ballon nach oben. Es ging so schnell, daß der Doktor sofort nach dem Anker greifen mußte, um den Ballon festzumachen, wenn er in die Nähe der ersten Schlinge am Bücherregal kommen sollte.

Aber o weh! Der Doktor hatte geglaubt, daß der Ballon kerzengerade nach oben steigen würde. Jedoch auch in der windgeschützten Bücherstube gab es Winde und Luftströmungen. Der Ballon trieb ab und stieg so weit entfernt von der Schlinge am Regal vorbei, daß der Doktor den Ballon nicht verankern konnte. Bei der nächsten Schlinge, so hoffte der Doktor, würde es besser klappen. Aber was war denn mit dem Ballon los? Immer weiter trieb er vom Bücherregal ab, und eine Landung an den vorgesehenen Stellen erschien ausgeschlossen. Mit so unsinnigen Luftströmungen in der Stube hatte der Doktor nicht gerechnet. Selbst ihm war der Begriff Mikroklima noch unbekannt geblieben. Was nun?

Der Ballon stieg und stieg und trieb immer mehr vom Bücherregal weg. Was sollte man nur machen? Jetzt ging es an der Hängelampe vorbei, die Bücherregale des Zimmers lagen schon tief unter dem Ballon. Immer höher ging es, und jetzt plumpste der Ballon sanft an die Zimmerdecke an. Trotzdem gab es einen Ruck in der Gondel, dann stand sie still. Nur wenn eine Fliege vorbeibrummte, dann schaukelte die Gondel leise in dem Windstrom.

Heiliger Bimbam, was sollten die drei dort oben anfangen? Dieter fragte, ob der Doktor nicht Fallschirme mitgenommen habe? Man müsse abspringen und das Abenteuer noch einmal beginnen. Schließlich könnte man doch oben nicht warten, bis man größer geworden sei.

Der Doktor gab keine Antwort. Er dachte scharf nach und überlegte. Dann tippte er sich an die Stirn. »Ich hab's! Aus dem oben in die Rundung des Ballons eingebauten Ventil ließ er durch Ziehen an einer Leine etwas Gas ab, bis der Ballon langsam wieder zur Erde schwebte. Immer noch war der Seitenwind groß, und beim Absteigen wurde der Ballon an die andere Seite der Bücherstube gedrängt. Aber, wundervoll, dort standen auch Bücher und Bücherregale. Hatte doch der Doktor 2000 Bücher und noch etwas mehr in seiner Studierstube. Dieter hatte sie früher einmal gezählt. Fast an allen Wänden standen Bücherregale. Als beim langsamen Absteigen der Ballon in die Nähe der Bücher kam, warf der Doktor den Anker aus, der sich im Rücken eines Einbandes verfing. Und dann stand der Ballon still.

»Aussteigen, bitte!« Am Seil kletterten die drei zum Regal hinüber und standen nun endlich auf festem Boden. Das war noch einmal gut gegangen.

»Wo sind wir denn eigentlich?« Die drei standen vor einem großen Bucheinband, und Dieter versuchte, die Schrift zu lesen. Aber die Schrift war so gewaltig, daß der Junge sie nicht entziffern konnte. Der Doktor überlegte und sagte: »Nach meiner Schätzung müssen wir zu Füßen des Buches stehen: Brehms Tierleben, 1. Band. Genau kann ich das aber nicht sagen, man findet sich im Flohformat ja kaum in seiner eigenen Wohnung zurecht.« Aber auch der Doktor irrte sich. Die drei standen vor einem Buche, das sie selbst erlebt hatten, nämlich vor »Doktor Kleinermacher führt Dieter in die Welt«.

Auf der anderen Seite stand eine große Kiste aus Holz im Regal. Was konnte das sein? Da ging dem Doktor ein Licht auf: »Kinder, früher sammelte ich einmal richtige Käfer und Schmetterlinge, tötete sie ab und spießte sie auf. Das ganze nannte sich hochwissenschaftlich Insektensammlung eines Naturfreundes. Jetzt habe ich das Sammeln schon längst aufgegeben. So wie früher die Jäger in fremden Erdteilen alles niederschossen, was ihnen vor die Flinte kam, und im Namen der Wissenschaft die Natur plünderten, so habe auch ich früher gesammelt und getötet. Jetzt gehen aber die wissenschaftlichen Jäger schon lange erfolgreicher mit Kamera und Film auf die Jagd. Die Kamera ist für die Wissenschaft eine der wohltätigsten Erfindungen, die es gibt. Auch ich betäube und spieße nicht mehr auf, ich beobachte und lasse die Tiere leben. Hier nebenan, die große Bretterwand, das ist eine Seite meines Kastens mit aufgespießten Käfern und Schmetterlingen. Oben ist ein Glas drüber, von oben kann man hineinsehen. Wollen wir hinaufklettern?« Dieter entdeckte aber an der Ecke des Kastens eine Fuge, durch die man unter einigen Mühen hineinschlüpfen konnte. Er rief die beiden heran und war schon im Loch verschwunden, so daß die anderen nur noch seine krabbelnden Beine sehen konnten. Traute kroch hinterher, und der Doktor machte sich auch zum Hineinkriechen fertig. Die drei hatten schon ihre bestimmte Reihenfolge, die war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Vorn und hinten mußte ein »Mann« sein. In der Mitte war immer die zarte Traute.

Drinnen im Insektenkasten sahen die drei ein merkwürdiges Bild. Säulen aus Stahl ragten nach oben und endeten mit einem richtigen Insektenleib. Am größten war der Körper des Hirschkäfers. Der Käfer war für die drei Flohzwerge ein unerhörter Riese. Manche Stahlsäulen waren stark verrostet, eine war sogar zerbrochen, und die Überreste eines kleinen Käfers, doppelt so groß wie die Flohzwerge selbst, lagen am Boden. Der Doktor wollte nähertreten, um zu sehen, was für ein Käfer denn da am Boden lag. Er wollte Namen und Art feststellen. Dann sprang er aber entsetzt zurück und ergriff seinen Spieß. Was war denn das? Der tote Käfer bewegte sich. Sollte der Käfer allen Leiden des Betäubens und Aufspießens überstanden haben? Das wäre zuviel der Wunder. Vorsichtig näherte sich der Doktor wieder und berührte den Käfer mit seinem Spieß.

Da zeigte sich die Lösung des Rätsels. Der Käfer war wirklich tot. Aber aus dem Innern des Käfers kam eine Larve. Das Tier war braun behaart und von flacher Körpergestalt. Am hinteren Körperende standen die Haarbüschel besonders dicht, wie zu einem buschigen Schwanz.

Jetzt konnte der Doktor wieder erklären:

»Kinder, den Kerl, den ihr da seht, das ist ein Räuber erster Güte. Es ist die Larve des sogenannten Kabinettkäfers. Der zerstört alle Insektensammlungen und Museumsschätze, zu denen er Zutritt findet. Wo der wütet, da kann die Wissenschaft einpacken. Die Museumsleiter müssen ihre Kästen mit Schwefelkohlenstoff ausräuchern. Aber die Larven kommen schon hervor, wenn man die toten Käfer beklopft, denn die Tiere leben und fressen gern im Innern der toten Käfer. Wir wollen das Scheusal töten, das ist Ungeziefer.«

Jetzt ging der Doktor mutig mit seinem Spieße vor und rannte die Spitze tief in das Fleisch der Larve hinein. Dieter fühlte sich nicht recht wohl dabei, aber er ergriff auch seinen Spieß und half dem Doktor bei der Schlächterei. Traute wandte sich entsetzt ab. Aber die Larve wollte ihr Lebenslicht nicht gleich aushauchen. Die Verwundungen durch die Zwerge waren zwar sehr böse, führten aber nicht sofort den Tod herbei. Insekten haben ein zähes Leben. Traute fragte bedauernd: »Doktor, warum hast du denn nicht die Gewehre mitgenommen: Mit einem Gewehrschuß geht doch alles viel schmerzloser und rascher ab.«

»Meine liebe Traute, die Arbeit war mir doch zu umständlich, so kleine Gewehre anzufertigen, wie sie für uns Flohzwerge passend wären. Wir müssen uns schon mit Spießen begnügen.« Dann gab er der Larve den Todesstoß.

Der Doktor bemerkte noch, daß sich hier hoffentlich die einzige Larve des Museumskäfers aufhielte. Sonst sei die gesamte Sammlung futsch. »Morgen müssen wir mal genauer nachsehen.« Dann verließen die drei wieder den Insektenkasten, denn sie wollten sich ja die Bücher ansehen.

Auf ihrer Wanderung kamen die drei an einem kleinen Wall vorüber. Was mochte das sein? Die Kinder überlegten und der Doktor auch, schließlich lachte der Doktor laut auf: »Kinder, wißt ihr, was das ist? Jetzt fällt es mir ein. Es ist meine Zigarre, die ich hier im Bücherregal vor längerer Zeit einmal liegen ließ. Jetzt können wir einmal sehen, wie diese Zigarre aussieht, wenn sie von einem Floh betrachtet wird. Ist das nicht putzig?« Der Doktor hatte kaum ausgesprochen, als Traute aufschrie: »Doktor, da kommt eine Spinne an, eine gelbe Spinne?«

Die braungelbe »Spinne« krabbelte auf die Zigarre zu, beobachtete die drei Zwerge gar nicht, sondern begann, munter an der Zigarre herumzuknabbern, als ob das eine Riesentorte sei.

»Wieviel Beine haben Spinnen eigentlich?« fragte der Doktor. Dieter antwortete prompt: »Acht Beine natürlich. Ich sehe schon, die Spinne hier hat nur sechs Beine. Sicher hat sie zwei Beine irgendwo verloren.«

»Nein, sie hat keine Beine verloren, die ›Spinne‹. Es ist nämlich gar keine Spinne, sondern ein Käfer, ein merkwürdiger Käfer, der nur wie eine Spinne aussieht. Und dieser Käfer heißt Messingkäfer. Er ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein kleiner Provinzler Weltbürger werden kann. Und zwar unter zwei Voraussetzungen. Wenn er vom menschlichen Verkehr erfaßt wird und wenn er alles zu fressen bereit und imstande ist, was ihm vor den Mund kommt.

Der Messingkäfer wurde erst 1836 in Kleinasien entdeckt, kam aber schon ein Jahr später mit einer Schiffsladung Schweineborsten von dort nach England. 1840 kam er mit Rhabarberwurzeln nach Dresden. 1855 tauchte er in Nordfrankreich, 1862 in Hamburg, 1865 in Greiz und etwa gleichzeitig in Schweden auf. 1874 erschien er in Württemberg, 1875 in Norwegen und 1899 in Nordamerika.

Und seine Bereitschaft, so ungefähr ›alles‹ zu fressen, kann man schon großzügig nennen. Er wurde an Knochen, Federn, Bürsten, Badeschwämmen, Garn, Kunstseide, Wolle, Filz, Lederwaren, Schnupftabak, Zigarren, Tee, Tollkirschenblättern, Kleister, Getreide, Haferflocken, altem Brot und Spiegelbelag gefunden. Die pflanzlichen Stoffe werden mehr von den Larven, die tierischen mehr von den Käfern gewählt. Und wo sich der Messingkäfer eingenistet hat, da kann er zur ganz großen Plage werden.«

Mit ihren Spießen konnten die drei den Messingkäfer nicht töten, der Messingkäfer war, obwohl er nur vier bis viereinhalb Millimeter lang ist, viel zu groß für sie. So zogen die drei weiter, näher den Büchern zu, denn sie wollten ja eine Wanderung durch die Bücher machen.

Endlich erreichten sie einen dicken Band. Der Lederrücken war schon etwas geplatzt, und so schlüpften sie in das Buch hinein. Innen war es zwar recht dunkel, aber etwas Licht kam doch noch von oben herein. Der Doktor und die Kinder schnallten sich ihre Steigeisen an, und dann ging die echte Gebirgskraxelei mitten im Bücherrücken los. Der Doktor ging diesmal voran, wo seine Steigeisen in der Pappe keinen Platz fanden, hielt er sich mit seinem Eispickel fest. Angeseilt folgte Traute und zum Schluß kam der Dieter. Manchmal war die Schlucht am Bücherrücken sehr eng, man mußte sich hindurchzwängen, dann aber war wieder genug Platz zum Klettern. Ehe Traute weiterkletterte, mußte der Doktor immer einen sicheren Halt gefunden haben. So kraxelten sie wie echte Bergsteiger in drei Etappen nach oben.

Mitten im Klettern hielt der Doktor an und rief die beiden Kinder herbei. Nicht weit vom Doktor entfernt sahen sie am Felsen des Bücherrückens ein weißgraues Tier. Das Tier hieß Bücherlaus. Aber den Namen trug das Tier zu unrecht. »Die Bücherlaus ist nämlich gar keine Laus, das Insekt hat mehr Verwandtschaft mit den Termiten in Afrika, als mit unseren Läusen. Und die Termiten wiederum sind, es ist manchmal zu komisch in der Welt, gar nicht verwandt mit unseren Ameisen, obwohl sie ihnen so stark ähneln.«

Die Bücherlaus war ein weiches, wabbliges Tierchen ohne Flügel. Ihre Färbung wirkte auf dem Papier wie eine Schutzfarbe. Die Menschen sagen der Bücherlaus nach, daß sie im stillen Zimmer klopfe. Sie sprechen sogar von einer »klopfenden Bücherlaus.« Aber damit haben sie unrecht. Der manchmal auftretende Klopfgeist ist ein Käfer.

»Und was frißt so eine Bücherlaus?« Neugierig wollte Dieter alles wissen, was ihm zu fragen gerade einfiel. »Das ist sehr harmlos«, erklärte der Doktor, um dann fortzufahren: »Wo sich zwischen den Büchern manchmal ganz kleine Pilze ansammeln, da weidet die Bücherlaus sie ab. Im Staub befinden sich auch oft harmlose Bakterien, das ist so die Nahrung einer Bücherlaus. Und damit ist sie sehr nützlich, weil sie die Bücher vor der Zerstörung schützen hilft. Nur die Schmetterlingssammler klagen über das Tierlein, da die Bücherlaus oft die Schüppchen von den Schmetterlingsflügeln abfrißt. Und gerade die Schüppchen geben doch den Schmetterlingsflügeln Glanz und Ansehen.«

Durch die drei Gebirgskletterer fühlte sich die Bücherlaus beunruhigt. Der Doktor versuchte vergeblich, sich dem Tier zu nähern, immer wieder krabbelte es davon. Wie putzig das aussah! Die Bücherlaus lief nämlich vorwärts, rückwärts, seitwärts, geradeaus, gerade so, wie es ihr paßte.

Immer wieder versuchte der Doktor näherzukommen, und immer wieder rückte die Bücherlaus aus. Auf der Verfolgung, der sich auch die Kinder anschlössen, trafen die drei jetzt ein anderes Tier im Innern des Bücherrückens. Es war eine Art Mehlmilbe, oft als Büchermilbe bezeichnet. Nahezu eirund sah das Tier aus, dabei aber flach. »Die Büchermilbe ist blind und kann nicht sehen. Aber warum soll sie auch? Sitzt sie doch mitten in der Nahrung drin! Denn überall, wo der Buchbinder Kleister im Buchrücken zurückgelassen hat, da hat die Büchermilbe etwas zum Naschen!« erläuterte der Doktor.

Der Büchermilbe konnte man sich bequemer nähern. Schon wollte der Doktor alle Sorgfalt beiseite lassen, um das komische Wesen genauer zu betrachten, als ein anderes Tier in raschem Tempo herangepirscht kam. Es war etwas größer als die Flohzwerge. Wie ein Krebs trug es vorn zwei Scheren, im übrigen war das Wesen aber ebenso abgeplattet und flach, wie alle Tiere, die zwischen den Büchern lebten.

Der Doktor wußte sofort, wie der neue Geselle hieß: »Bücherskorpion, nennt man jene Tiere. Zwar hat ein Bücherskorpion keinen Giftstachel und auch nicht den länglichen Körper, dafür aber die beiden gewaltigen Scheren.« Und laufen konnte der Bursche! Fast so schnell wie die Feuerwehr. Wie die Bücherlaus lief er – es sah zu drollig aus – nicht nur vorwärts, sondern auch rück- und seitwärts.

Der Bücherskorpion hatte offensichtlich ein bestimmtes Ziel: die Büchermilbe. Das arme blinde Wesen konnte weder flüchten, noch sich wehren. Mit den Scheren wurde es gepackt, grausam gedrückt, und dann saugte der Bücherskorpion wohlgefällig und gierig die Büchermilbe aus. »Kauen kann das Tier nicht, es muß saugen, wenn es Hunger hat«, flüsterte der Doktor.

Kaum war der Bücherskorpion mit der Büchermilbe fertig, als er die drei Zwerge erblickte. Einen Augenblick stutzte das Tier. Gab es hier etwa noch etwas zum Fressen? Solche flohgroßen Tiere, die wie winzigste Menschen aussahen, waren zwar dem Bücherskorpion unbekannt, aber sicher waren sie auch etwas für den Hunger. Hatte doch der Bücherskorpion sich auch nicht gewundert, als er früher einmal eine stinkende Bettwanze erbeutete, die sich zwischen einem geliehenen Buch des Doktors verlaufen hatte. Gepackt und ausgesaugt, das war eins. Da konnte die Bettwanze noch so viel Gestank verbreiten, sie mußte daran glauben.

Die drei Zwerge befanden sich in größter Lebensgefahr. Mit Bücherskorpionen war nicht zu spaßen. Aber sobald sich das beutegierige Tier den Menschen nähern wollte, starrten ihm drei unheimliche Spieße entgegen, die es nicht zerbrechen konnte. »Vorsicht«, sagte der Doktor, »vertreiben müssen wir den Kerl, töten aber wollen wir ihn nicht, denn Bücherskorpione sind meine Polizisten im Bücherschrank und räumen unter dem nicht gewünschten Ungeziefer auf.«

Immer in der Abwehr stiegen die drei langsam abwärts. Bald hatten sie den Boden erreicht und schlüpften aus dem Buchrücken heraus. Da ließ der Bücherskorpion von den Zwerglein ab und zog sich zurück.

Die drei aber hatten genug und kletterten über das Seil zum Ballon hin. Dieter blieb als Letzter zurück, löste den Anker und mußte dann in freier Luft über das Ankerseil in die Gondel zurückklettern. Es war gefährlich, aber das hatte Dieter gerade gern. Das war so ein Stück Jungenromantik, wie sie der Dieter gern erlebte. Nun stiegen sie mit dem Ballon langsam abwärts.

»Wer hätte jemals gedacht, daß man mitten zwischen Büchern überfallen und ausgesaugt werden kann«, schüttelte sich Traute, »ja, ja, wissenschaftliche Forschungsreisen sind gefährlich.«

Der Doktor schmunzelte. »Nicht wahr, mein Polizist im Bücherschrank ist ein braver Geselle. Feige ist er nicht, bei dem heißt es immer drauf und dran wie Blücher! Aber Kinder, die Abfahrt geht mir viel zu langsam, ich werde noch etwas Gas durch das Ventil ablassen.«

Der Doktor war aber von dem Erlebnis mit dem Bücherskorpion vielleicht doch noch etwas zu aufgeregt. Er ließ zuviel Gas ab, so daß der Ballon merkbar zusammenschrumpfte, und die Fallgeschwindigkeit immer größer wurde. Wenn das man gut ging! Da plumpste auch die Gondel schon hart auf, so daß die drei ihre Haltung verloren und durcheinanderfielen. Zur gleichen Zeit aber fiel auch die Ballonhülle über dem Korb zusammen. Als sich die drei von dem Aufschlag endlich erholt hatten, waren sie gefangen. Die Ballonhülle lag drückend und schwer über ihnen, so daß sie nicht mal aufrecht stehen, geschweige denn aussteigen konnten. Wie sollte das enden?

Dieter und der Doktor versuchten, die Ballonhülle emporzuheben, aber es war alles umsonst, es ging über ihre Kräfte. Gefangen!

Da setzte bei den dreien gleichzeitig das Wachstum ein, das rettende Wachstum. Die größer werdenden Körper hoben die Ballonhülle spielend empor, und die Gondel krachte in allen Fugen und zerriß schließlich. Als die drei wieder in voller Größe in dem Zimmer standen, war von Ballon, Gondel, Eispickel, Spießen und Steigeisen nichts mehr zu sehen. Ob beim nächsten Großreinemachen der Doktor seinen Ballon wiederfinden würde?

Dieter stürzte auf einen Lederband zu, schlug das Buch auf und blätterte aufgeregt darin herum. Dann legte er es enttäuscht aus der Hand und meinte: »Schade, ich hätte zu gern den Bücherskorpion noch einmal gesehen, wenn ich groß bin. Aber der hat sich offenbar verkrochen, jetzt hat er Angst vor uns!«

»Ihr dürft nicht vergessen, daß alle Tiere, die wir auf diesem Abenteuer gesehen haben, in Wirklichkeit so klein sind, daß man sie kaum sieht!« lenkte der Doktor ab. »Aber jetzt trollt euch, Kinder. Auf Wiedersehen bis zum nächsten Male ...«


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