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Das neunte Abenteuer unter Schnecken und Heuschrecken

Der Tag der Zensuren kam heran. Trautes Eltern und auch Dieters Eltern waren nicht zufrieden mit ihren Kindern. Die beiden trieben sich zuviel herum. Die Kinder wanderten immer durch Feld und Wald. Ihre Schularbeiten machten sie zwar, aber sie sollten mehr im Hause bleiben. Na, die Zensuren würden schön aussehen! Und dann kam der Tag der Zensuren. Dieter stürmte aus der Schule und traf auf dem Wege seine Traute: »Hast du auch soviel Einsen? Zeig doch mal her. Naturkunde: I! Heimatkunde: I! Physik: I! Da werden sich aber unsere Eltern wundern.«

Und die Eltern wunderten sich. Immer gehen die Kinder durch Feld und Wald, bleiben kaum im Hause und legen uns die besten Zensuren vor. Was treiben die Kinder nur?

Dieters Vater ging einst mit seinem Sohne spazieren. Ein paar Wildgänse flogen mit schwerem Flügelschlag über die beiden dahin. Der Vater zeigte mit seinem Finger auf die Vögel und sagte: »Sieh mal, dort oben die beiden Enten.«

Dieter hatte die Vögel längst gesehen. Er antwortete: »Aber Vater, das sind doch Gänse, Wildgänse.«

Der Vater war beinahe erschrocken: »Junge, du kannst ja wirklich etwas. Übrigens, deine Zensur ist tadellos.« Er griff in die Tasche, holte eine Mark hervor und gab sie seinem Jungen. Noch mehr erstaunte der Vater, als er in seiner Wohnung eine Steckdose der elektrischen Leitung reparieren wollte und sein Sohn vorher zur Sicherung ging und diese herausschraubte. »Vater, ich habe die Sicherung herausgeschraubt, es ist besser, du kannst dir sonst leicht einen elektrischen Schlag holen, und das tut sehr weh.«

Der Vater konnte nur staunend sagen: »Junge, von wem hast du denn das alles?« Beinahe hätte der Dieter geantwortet: Das habe ich vom Doktor Kleinermacher. Aber er biß sich auf die Zunge und sagte nichts.

Ähnliches erlebte Trautes Mutter mit ihrer Tochter. Die Mutter wollte ein Kleidungsstück reinigen und goß etwas Benzin in eine Schale. Sofort war Traute dabei und sagte: »Mutter, Benzin verdunstet sehr schnell. Die Benzindämpfe sind schwerer als Luft, fallen nach unten und kommen dabei in das Feuerungsloch des Badeofens. Dann gibt es einen Knall, und wir sind alle tot. Wo Feuer ist, darf man kein Benzin offenstehen lassen.« Auch Trautes Mutter war erstaunt über soviel gelehrte Kenntnisse. Dann fiel ihr ein, daß in den Zeitungen oft von Benzinexplosionen berichtet wurde. Schnell goß sie das Benzin zurück und schloß die Flasche.

»Aber Traute, von wem hast du denn das alles?« Auch Traute wollte antworten: Von unserem lieben Doktor Kleinermacher. Der hat mir viel mehr erzählt. Aber sie schluckte die Worte hinunter und sagte: »Ach, das habe ich mal gelesen.«

Mit ihren Zeugnissen rannten die Kinder bald zum Doktor Kleinermacher. Soviel Einsen auf einem Blatt, das gibt es ja gar nicht wieder. Der Doktor machte Augen, so groß wie Insektenaugen, und als die Kinder erzählten, daß jeder eine blanke Mark erhalten habe, legte der Doktor auch jedem eine Mark in die Hand. Dann sagte er: »Aber ich habe eine noch viel größere Freude für euch. Daß es wieder ein Abenteuer sein wird, könnt ihr euch denken. Wir wollen uns die Tiere auf dem Felde ansehen. Ich möchte nicht immer unter der Erde im Keller mit euch sein. Wir wollen uns die Tiere im Sonnenschein ansehen. Das ist aber viel gefährlicher, denn unzählige Tiere werden uns sehen und wollen uns dann wegschnappen. Mit einem Nestgeruch können wir uns nicht schützen.«

Der Doktor holte wieder einige Sachen hervor, die er in Abwesenheit der Kinder gebastelt hatte. Zuerst drei kleine Gewehre, noch kleiner als die Gewehre beim Besuch im Maulwurfstunnel. Die Gewehre und die folgenden Sachen konnte man nur unter der Lupe erkennen. Er holte drei kleine Regenschirme hervor. Grün wie das Gras waren die Regenschirme von oben unter der Lupe anzuschauen. Zuletzt legte der Doktor eine Glasplatte, etwas größer als seine Hand, auf den Tisch. Die Glasplatte konnte man schräg aufstellen. Nun noch die Wunderflasche, und sie gingen aufs Feld, draußen vor der Stadt.

Auf dem Feld ließ der Doktor nach einer Schnecke suchen. Als Traute eine Schnecke gefunden hatte, stellte der Doktor die Glasplatte auf dem Boden schräg auf. Mitten darauf setzte er die Schnecke, und dann gab er jedem einen Schluck aus der Wunderflasche zu trinken. Die Kinder wurden so klein wie Käfer, und beim Zusammenschrumpfen dachten sie: Was wird uns wohl der Doktor heute zeigen? Von den Vorbereitungen hatte er etwas erzählt, aber was eigentlich los sei und wozu die Vorbereitungen dienten, das hatte er ihnen nicht gesagt. Kaum waren die Kinder kleiner geworden, so eilten sie zur Glasplatte, um die Schnecke zu sehen. Aber der Doktor rief beide zurück:

»Wollt ihr denn jetzt schon sterben, jetzt, wo ihr so gute Zensuren erhalten habt? Ihr wißt ja gar nicht, wie viele Tiere hier umherstreichen und uns fressen wollen.«

Zuerst drückte er jedem Kinde einen Regenschirm in die Hand. Die Heuschrecken sind grün und die Laubfrösche auch, damit sie nicht gesehen werden. Die grünen Schirme sollten die Kinder im Grase unsichtbar machen. Besonders die Vögel fliegen nach allem, was sich bemerkbar macht. Ist Gefahr in der Nähe, dann zuerst stillhalten, mäuschenstill.

Dann drückte der Doktor jedem Kinde ein Gewehr in die Hand. »Wenn die Gefahr nicht vorübergeht und näher kommen will, dann wird geschossen, verstanden?« Nun erst gingen die drei auf die Glasplatte zu. Die Schnecke rückte nicht aus. In einer Minute kam sie nur einen Zentimeter vorwärts. Sie wanderte immer noch behäbig auf der Glasplatte. Der Doktor kroch unter das durchsichtige Gestell und forderte Dieter und Traute auf, das gleiche zu tun. Jetzt sahen sie von unten die Schnecke kriechen, wunderbar sah das aus.

Auf der breiten Sohlenfläche kroch die Schnecke langsam dahin. Auf ihrem Wege breitete sie ihren Schleim aus und schmierte so ihre Straße. Die Sohlenmuskeln machten kleine wellenartige Bewegungen, die mit bloßem Menschenauge gar nicht zu sehen gewesen wären. Jetzt kamen ein paar Ameisen die Glasplatte hinaufgerannt. Die Schnecke zog sich etwas in ihr Haus zurück und zog vorher die Fühler ein. Das erste Fühlerpaar sind die Nasen der Schnecke, und das zweite Fühlerpaar trägt die Schneckenaugen. Durch Blutdruck werden die Fühler herausgedrückt und durch Muskeln eingezogen. Als die Ameisen immer frecher wurden, schäumte die Schnecke ihren Schleim heraus, und die Ameisen nahmen ekelnd Reißaus. Pfui, was die Schnecke für ein Zeug herausschäumte, das war ja bösartig!

Der Doktor hatte auf die Glasplatte etwas Grünes gelegt, damit die Schnecke darauf zukroch und die Glasplatte nicht verließ. Kaum waren die Ameisen fort, so kam die Schnecke wieder aus ihrem Haus heraus und erreichte bald das Grünzeug. Mit ihrer Raspelzunge rauhte sie das Grüne auf und fraß davon.

Nun hatten die drei die Schnecke genug von unten gesehen. Sie krochen hervor und besahen sich das Tier von der Seite. Immer deckten die Regenschirme die Zwerge von oben gegen Fliegersicht. Vorsichtig hatte der Doktor drei Löcher in den Schirmen angebracht, damit man nach oben blicken konnte, ohne die Schirme zu bewegen. Die Kinder waren zu neugierig auf die Schnecke, ihre Blicke gingen immer zu ihr hin, der Doktor aber blickte von Zeit zu Zeit durch die Löcher nach oben, das Gewehr immer schußbereit in der Hand.

Plötzlich rief Dieter: »Was hat denn die Schnecke da für einen komischen Fühler?« Richtig, der eine Fühler war dick und angeschwollen und eigenartig gefärbt, nämlich in Querstreifen grün und weiß. Lebhaft wurde der eine große Fühler immer hin und her bewegt. Das sah so komisch aus, daß Traute und Dieter laut lachen mußten.

»Vorsicht!« rief der Doktor. »Von oben kommt ein Vogel, der scheint uns erblickt zu haben, denn er umkreist uns. Wenn ich nicht irre, ist es ein Wiesenpieper. Vorsicht, Kinder, der Wiesenpieper will uns fressen. Macht die Gewehre schußfertig.«

Auch die Schnecke hatte den Wiesenpieper erblickt. Sie machte verzweifelte Anstrengungen, so schnell wie möglich in ihr Haus zu kommen. Aber der böse, angeschwollene, grün-weiße Fühler war zu dick, um sich in das Haus zu quetschen. So ein Pech! Dabei bewegte sich der grünweiße Fühler so stark hin und her, als wenn er den freßgierigen Vogel herbeiwinken wolle.

Der Wiesenpieper achtete gar nicht auf die drei Zwerge, seine Aufmerksamkeit war ganz der Schnecke gewidmet. Dicht neben dem Schlammtier ließ er sich nieder und schaute mit schiefgehaltenem Kopf neugierig auf den dicken, grün-weißen Fühler, der sich lebhaft hin und her bewegte. Dann biß er zu, knipste mit seinem Schnabel den Fühler ab, fraß ihn auf und flog von dannen.

»Was das bedeuten soll, ist mir nicht klar geworden«, sagte Dieter zum Doktor. »Der Fühler bewegte sich ja so lebhaft hin und her, als ob er gefressen werden wollte. Andere Tiere verbergen sich, kuschen sich, wenn ein Feind naht, aber der Schneckenfühler lockte mit seinen auffallenden Farben den Feind an und war nicht eher ruhig, bis er gefressen wurde. Das verstehe ein anderer, nicht ich.«

Der Doktor sing an zu erklären und fand lange kein Ende: »Was dir so rätselhaft erscheint, war auch den Gelehrten lange rätselhaft. Sie nannten das Tierlein ›Rätselhaftes Grün-Weißchen‹, natürlich auf lateinisch, das hört sich viel vornehmer an. In dem Fühler steckt nämlich ein Wurm, und dieser Wurm heißt so. Rätselhaftes Grün-Weißchen.

Wie kommt der Wurm dahin, und warum will er gefressen werden? Das ist eine lange Geschichte. Im Darm des Wiesenpiepers schmarotzt ein Wurm. Der frißt sich im Vogel den Bauch voll, auf Kosten des Wiesenpiepers. Dann legt er Eier, die mit dem Unrat aus dem Vogel herauskommen. Wenn nun aus den Eiern neue Würmer werden, dann wollen sie wieder in einen Vogeldarm hinein. Aber wie kommen sie dahin?

Die Würmer machen einen langen Umweg. Der Unrat der Vögel gelangt zufällig auf Blätter, und da liegen nun auch die Eier der Würmer. Die Blätter werden von den Schnecken gefressen, und dabei kommen die Eier in den Schneckenmagen hinein. Wenn sich jetzt die kleinen Würmer entwickeln, dann wandern sie durch die Schnecke, bis sie in einen Fühler gelangen. Nun wachsen sie, werden dick und fett, daß der Fühler anschwillt und nicht mehr in das Schneckenhaus hineinpaßt. Nun färben sich die Würmer grün und weiß, in Querstreifen, so wie ihr es gesehen habt. Die Färbung ist so stark und schreiend, daß sie kräftig durch die Schneckenhaut hindurchschimmert. Damit noch nicht genug, jetzt bewegen sich die Tierlein so lebhaft hin und her, daß die Vögel aufmerksam werden und das lebhafte Ding abbeißen. Das wollte das kleine Grün-Weißchen nur, jetzt gelangt der Wurm wieder in den Vogeldarm hinein und kann da weiterschmarotzen. Die Schnecke aber ist ihren Plagegeist los und lebt frisch und munter weiter. Ist das nicht wunderbar, wie verwickelt und mühselig manchmal die Wege in der Natur gehen?«

Inzwischen war die Schnecke von der Glasplatte heruntergekrochen, und die drei folgten ihr. Dabei kamen sie an einer Erdgrube vorüber, die mit Vogeleiern gefüllt war. Richtige Vogeleier, dachte Dieter, denn alles war da, die Kalkschale ... aber nein, gab es denn so kleine Vögel, die so winzige Eier legen?

Der Doktor war sofort mit seiner Erklärung bereit. Es waren Schneckeneier. Traute fragte, ob denn die Schneckenfrau die Eier auch ausbrüte und ob der Schneckenvater sich um das Nest kümmere?

Da mußte aber der Doktor lachen: »Liebe Traute, das kannst du natürlich nicht wissen. Es gibt weder Schneckenmänner noch Schneckenfrauen, oder besser, es gibt nur Schneckenmänner, die zugleich Schneckenfrauen sind. Das könnt ihr nicht verstehen. Es gibt in der Natur sonderbare Tiere, die kennen keine Männchen und Weibchen, sondern nur Zwitter. Die Zwitter sind Männchen und Weibchen zugleich. Könnt ihr das fassen? Zum Beispiel ist der Regenwurm ein Zwitter und auch die meisten Schnecken. Trotzdem feiern die Schnecken Hochzeit. Da geht es sogar sehr romantisch zu bei den Schnecken. In Märchenbüchern habt ihr vielleicht schon einen kleinen Knaben abgebildet gesehen, der Amor heißt. Wenn zwei junge Leute sich verlieben sollen, dann schießt der Amor mit seinem Bogen einen Pfeil auf die jungen Leute ab, einen Liebespfeil, und darauf verlieben sich dann die Königskinder. Das ist natürlich ein Märchen. Einen Liebesgott Amor gibt es nicht, und auch der Liebespfeil ist erdichtet. Bei den Schnecken aber gibt es Liebespfeile, wirkliche kleine Pfeile. Wenn zwei Schnecken sich, Sohle an Sohle gepreßt, küssen, dann drücken sie beide einen kleinen Kalkpfeil ab, der in das Fleisch des anderen Tieres eindringt. Darauf haben sich die Schnecken noch mal so gern. Ist das nicht romantisch?«

Der Doktor erzählte noch viel, von den Weinbergschnecken, die von den Menschen gezüchtet und eingesammelt, dann verkauft und als Leckerbissen verspeist werden. Die Menschen essen nicht nur Austern, sondern auch Schnecken.

Jetzt aber zirpte ein Herr Heuschreck durch das Gras, und die Kinder schlichen vorsichtig näher, um sich den grünen Gesellen anzusehen. Da saß er mitten im Grase und zirpte sein Lied in die große Welt. Mit seinen Hinterbeinen strich er immer an der Flügeldecke entlang, wie man mit einem Fiedelbogen über die Geige streicht. Dabei entstanden so liebliche Töne, daß Traute ganz entzückt war.

Aber nicht nur die drei Menschenzwerge krochen vorsichtig auf den Herrn Heuschreck zu. Eine Frau Heuschreck hörte das Liebeslied, ihr Herz hüpfte, und sie konnte nicht anders und mußte dem grünen Musikanten guten Tag sagen. Aber ach, das angebetete Heuschreckenfräulein konnte nicht sprechen. Die Insekten alle können mit ihrem Munde nicht sprechen, da sie mit dem Munde nicht atmen. Ihre Atmungsöffnungen befinden sich an der Seite des Leibes. Deswegen kann ein Maikäfer nie ertrinken, wenn er seinen Kopf ins Wasser steckt. Wenn er aber schwimmt, den Körper vom Wasser bedeckt und den Kopf in der frischen Luft, dann muß er elendiglich ertrinken.

Herr und Frau Heuschreck können mit dem Munde nicht sprechen. Aber Herr Heuschreck kann mit seinen Beinen wie mit einem Fiedelbogen Musik machen, daß alle Tiere staunend lauschen. Frau Heuschreck kann aber auch das nicht. Sie hat keinen Fiedelbogen an den Beinen, und wenn sie mit ihren Waden an ihrem Flügel kratzt, dann kommt kein Laut heraus. Deshalb versucht Jungfer Heuschreck das erst gar nicht.

Doktor Kleinermacher wurde sehr poetisch, als er das Konzert hörte: »Hört mal her, Kinder, ein griechischer Dichter wußte etwas von dem Konzert der Heuschreckenmänner und dichtete:

»Glücklich leben die Heuschrecken, denn sie haben stumme Weiber.«

Doktor Kleinermacher wußte, daß es nicht ganz stimmte, was er sagte, der alte griechische Dichter sprach anders:

Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber.

Aber dann hätte er erst den Kindern erzählen müssen, was Zikaden sind. Das war ihm zu umständlich, und da es bei den Heuschrecken genau so ist wie bei den Zikaden, verbesserte er einfach den alten griechischen Dichter.

Jetzt fragte Dieter: »Wo sitzen denn die Ohren der Heuschrecken? Den Gesang muß doch Fräulein Heuschreck hören, sonst würde sie doch gar nicht auf den Heuschreckenjüngling zukommen.«

Der Doktor antwortete: »Die Ohren der Heuschrecken sitzen nicht wie bei uns am Kopf. Die Ohren der Tiere – Kinder, haltet euch fest! – die Ohren der Heuschrecken sitzen an den Beinen.«

Dieter konnte nur sagen: »Es ist zum Piepen.«

Und richtig, ein ganz feines, kleines Loch befand sich am Bein der Heuschreckenmadam. Aber sie saß nicht auf ihren Ohren, sie hörte gut das Konzert ihres Anbeters. Schon wollte sie liebkosend sich ihrem Jüngling nähern, da passierte ein Unglück ... schrecklich!

Nicht weit von den beiden saß eine Gottesanbeterin im Grase. Das heuchlerische Tier sieht ungefähr wie eine Heuschrecke aus. Zum Verwechseln ist die Ähnlichkeit aber nicht, denn immerfort hält das Tier seine Vorderbeine nach oben, als wenn es einen Gott anbete. Daher erhielt es auch seinen Namen. Aber das ist alles Heuchelei, mit ihren Raubbeinen betet die Gottesanbeterin nicht zu Gott, sondern wartet auf Beute, die dicht vorüberzieht und die sie dann packen will, um das Opfer zu verzehren. Ganz dicht saß die Grausame bei dem zirpenden Heuschreckenjüngling, die beiden Kinder und der Doktor hatten die Gottesanbeterin auch nicht bemerkt; aber nun kam der Jüngling im Taumel seines Gesanges der Gottesanbeterin zu nahe, die Falsche packte zu, biß, und die arme Heuschrecke zappelte zwischen den Raubbeinen der Räuberin.

Traute war ganz entzückt von dem Gesangsidyll des Heuschreckenpaares. Was sich aber jetzt ereignete, war ihr zuviel. Voller Zorn legte sie ihren grünen Schirm beiseite, ergriff das Gewehr, legte an, schoß, und die Gottesanbeterin ließ ihr Opfer fahren, schwerverwundet ergriff sie die Flucht.

Aber es war zu spät für den armen Heuschreckenjüngling. Zwischen Rumpf und Kopf hatte die Gottesanbeterin so kräftig zugebissen, daß der Kopf wie an einem Faden hing. Dabei zappelte das arme Tier, rannte hin und her und zeigte Bewegungen des größten Schmerzes. Jetzt gedachte Dieter einzugreifen. Traute hatte mit einem Schuß die Gottesanbeterin vertrieben, jetzt wollte Dieter den Gnadenschuß abgeben und die Heuschrecke von ihren Qualen befreien. Er legte an, zielte lange, und dann krachte es im Grase. Dieter hatte so gut getroffen, daß der Kopf vom Körper getrennt wurde. So, nun hatte die liebe Seele Ruh, vor Aufregung wischte sich Dieter den Schweiß von der Stirn.

Aber was mußten die Kinder sehen! Am Kopf bewegten sich noch weiter lebhaft die Fühler, und der kopflose Rumpf sprang verzweifelt im Grase umher. Es war ein Anblick zum Erstarren. Traute richtete ihre Augen entgeistert auf die lebende kopflose Heuschrecke. Nur der Doktor blieb ruhig: »Kinder, ihr habt ja gar keine Ahnung, wie zäh ein Insektenleben ist. Stundenlang muß sich das arme Tier noch abquälen, ehe es tot ist. Ein Glück, daß wir schneller sterben können. Wir wollen das Trauerspiel verlassen.«

Ihre Schirme hochhaltend, gingen die drei durch das Gras, immer weiter von der kopflosen Heuschrecke fort. Sie waren so in Gedanken versunken, daß sie kaum das Leben um sich herum bemerkten. Eine ganze Zeit gingen sie schon, da hielt der Doktor die Kinder zurück und gebot ihnen Ruhe.

Da vorn ging die Gottesanbeterin, die an der Schußverletzung bei weitem nicht so zu leiden hatte wie ihr Opfer. Traute wollte wieder anlegen, aber der Doktor verbot ihr die Schießerei. Er erwartete irgend etwas, und auch die Kinder beobachteten die Umgebung, denn wenn des Doktors Augen halb zugekniffen in eine bestimmte Richtung gingen, dann kam todsicher ein besonderes Ereignis.

Dahinten raschelte etwas. Es war wieder eine Gottesanbeterin, nur etwas kleiner als die erste. Der Doktor flüsterte den Kindern zu, daß das zweite Tier ein Männchen sei. Die Männer seien unter den Insekten oft kleiner. Der Gottesanbeter dort geht auf die Brautschau und will seiner Riesendame imponieren.

So schön singen wie der Heuschreckenjüngling konnte der Gottesanbeter nicht. Er drehte sich hin und her, versuchte es von jener Seite und dann von dieser, endlich sprang er auf seine Herzallerliebste zu. Aber die Gottesanbeterin war nicht bei guter Laune. Brutal packte sie mit den Raubbeinen ihren kleinen Mann, klammerte ihn fest, das arme Männlein zitterte und zappelte, und dann fraß sie ihn Stück für Stück auf.

Traute konnte sich kaum beherrschen, immer wieder wollte sie ihr Gewehr anlegen, aber der Doktor verhinderte es. In der Natur ist nicht alles Gesang und Liebe, wer die Natur verstehen will, muß sich auch mit Mord und Totschlag abfinden. Da er die kleine Traute kaum beruhigen konnte, führte er sie endlich von der Kannibalenhochzeit fort.

Wieder gingen die drei durch das Gras, und wieder waren die beiden Kinder voller Erregung. Jetzt aber hielt der Doktor an und wies mit seiner Hand nach oben. Kleine Insekten krochen aus kleinen Eiern, die in der Erde lagen, und krabbelten an Blumenstengeln empor. Oben in den Blüten ließen sie sich nieder und taten nichts. Sie saugten keinen Honig und fraßen keinen Blütenstaub. Was wollten die Tierlein in den Blüten, wenn sie dort oben nicht ihren Hunger stillten? Was ging hier wieder vor?

Der Doktor sagte: »Wenn ich mich nicht irre, dann sind das die sogenannten Bienenläuse. Wir wollen warten, was hier geschieht.«

Die drei beobachteten angestrengt die Blüten und die kleinen Gäste, doch nichts wollte sich ereignen. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Schon wollte Dieter die Beobachtung aufgeben und weitergehen, als er etwas in seinem Körper spürte, das sein Größerwerden ankündigte. Den anderen erging es ebenso. Kaum konnten sie sich verständigen, als die drei schon als normale Menschen wieder dastanden. »Das ging mir eigentlich zu schnell«, meinte der Doktor. »Übermorgen wollen wir uns hier wieder treffen und sehen, was die Bienenläuse machen.«

Die drei packten ihre Sachen zusammen, der Doktor nahm Wunderflasche, Gewehre und Regenschirme mit, und alle gingen nach Haus. Die Eindrücke des Nachmittags ließen Zensuren und Geld vergessen. Aber in der Stadt dachten die Kinder wieder daran, daß sie ja Geld bei sich hatten. Eine Mark von den Eltern und eine Mark von dem Doktor Kleinermacher. Das Geld wollten sie sich sparen, aber eine Kleinigkeit konnte man doch vernaschen. Traute zögerte noch, aber dann kauften sich die Kinder je eine Tafel Schokolade. Wer soviel Einsen mit nach Hause bringt, kann sich auch Schokolade leisten, das ist keine Verschwendung.


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