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Das achte Abenteuer unter Ameisen

Endlich, endlich waren die Kinder wieder in ihrer Heimatstadt. Wie kann man nur das Ende einer Ferienreise herbeisehnen? Aber Dieter und Traute wollten heim, wollten zum Doktor Kleinermacher, zu ihrem Freunde, mit dem sie immer gemeinsam zu den kleinen Tieren wanderten. Gab es einen besseren Freund, ein schöneres Vergnügen und eine reinere Freundschaft?

Gestern kamen die Kinder an, und am nächsten Tage klopften sie schon beim Doktor Kleinermacher an.

»Bist du uns immer noch böse? Hast du schon neues Zauberwasser? Ist schon ein neues U-Boot da? Hast du schon allein eine Abenteuerfahrt zu den kleinen Tieren gemacht? Bist du uns auch wirklich nicht mehr böse?«

Die Kinder überstürzten sich mit ihren Fragen, und der Doktor wehrte in froher Laune ab, freute er sich doch genau so über das Wiedersehen wie die Kinder:

»Ich bin euch schon lange nicht mehr böse. Neues Wunderwasser habe ich auch schon da. Aber stellt euch das nicht so einfach vor. Am alten Wunderwasser, das damals durch den Strandsand sickerte, habe ich Jahre gearbeitet, ehe ich die wunderbare, einzige Flüssigkeit zusammengebraut hatte. Das Wasser war hin, aber nicht das Rezept. Und so brauchte ich nicht mehr Jahre, um neues Wunderwasser herzustellen, sondern nur noch Wochen. Ein neues U-Boot habe ich noch nicht gebaut. Wo denkt ihr hin, Kinder? Ich kann doch die Wunderwerke nicht so aus meinen Ärmeln schütteln. So ein U-Boot ist feinste Arbeit, seid zufrieden, daß ich das Wunderwasser bereit habe.

Zu den Tieren bin ich allein noch nicht gegangen. Nein, mit euch will ich alle Wunder und Freuden erleben. Aber es ist schon alles bereit, morgen soll es gleich losgehen. Paßt mal auf, wir treffen uns wieder beim Imker. Wir gehen diesmal zu den Ameisen. Doch muß ich zwei Vorbereitungen treffen. Die Ameisen nämlich sind noch erbitterter und angriffslustiger auf jeden Fremdling als die Bienen. Da genügt es nicht, so ein bißchen über eine betäubte Ameise zu streicheln und sich dann einzureiben. Wir müssen uns sorgfältiger vorbereiten, um nicht von den Ameisen totgebissen zu werden. Nun, Traute, bekomme keine Angst, ich habe etwas sehr Grausames machen müssen. Von dem Nest, das wir besuchen wollen, habe ich mir ein paar Ameisen genommen und habe sie getötet. Davon bereite ich für uns Extrakt, und in diesem Extrakt müssen wir baden. Es ist nicht schön, Tiere zu töten, ich habe es nicht gern getan, aber es ging nicht anders.«

Traute bedauerte den Tod der Ameisen. Hätte sie aber jetzt schon gewußt, wie klug die Ameisen sind und was die Tiere alles leisten können, sie hätte noch mehr getrauert. Jetzt holte der Doktor noch eine Überraschung hervor. Drei winzige Schnipsel legte er auf den Tisch, und erst unter der Lupe erkannten die Kinder, daß der Doktor drei kleine, niedliche Fallschirme gebaut hatte. Dieter wollte wissen, warum man denn bei den Ameisen Fallschirme brauche. Aber der Doktor vertröstete ihn mit der Erklärung bis auf morgen. Er hätte noch einige Vorbereitungen zu treffen, und morgen könnten sie alles erfahren.

Wieder hatte man sich beim Imker verabredet. Pünktlich waren die drei zur Stelle, und der Imker fragte lächelnd, was die drei Naturforscher denn nun betrachten wollten? Der Doktor sagte nur, daß man Ameisen beobachten wolle. Lächelnd ließ der Imker die drei wieder allein. Hatte man so etwas schon gehört?

Aber der Imker wußte nicht, daß der Doktor die große Kunst erfunden hatte, den Kindern die kleine Welt ganz nahe zu bringen.

Kaum war der Imker fort, so stellte der Doktor eine Leiter an einen Baum des Gartens. Auf einen dicken Ast tröpfelte er von feinem Ameisenextrakt drei kleine Tröpfchen. Dann legte er den Behälter mit den drei kleinen Fallschirmen daneben. So, jetzt konnte die Reise beginnen. Dieter wunderte sich, daß sie die Leiter besteigen und auf einen dicken Ast klettern mußten. Wäre es nicht besser, auf dem Erdboden einen Schluck aus der Wunderflasche zu nehmen? Aber der Doktor Kleinermacher mußte ja alles am besten wissen. Willig ließ er sich mit Traute auf dem Ast nieder, und dann tranken alle einen wohlgemessenen Schluck. Sie mußten alle noch kleiner werden als damals bei dem Besuche der Bienen.

Voller Erwartung beobachtete Dieter sein Kleinerwerden. Wirkt das neue Wunderwasser auch genau so wie das alte? Geht es wieder so durch alle Glieder, als wenn der Körper eine Selterflasche wäre? Richtig, genau so wie das letztemal. Der Dieter schrumpfte zusammen, und die Welt wurde immer größer. Auch Traute und den Doktor sah er nun als kleine Zwerge. Auf dem dicken Ast konnte er spazierengehen wie auf einer großen breiten Straße. Nur war die Straße nicht so eben und glatt, sondern voller Risse und Unebenheiten. Aber der Doktor gab keine Zeit zum Betrachten. Er sagte: »Das Wichtigste ist jetzt unser Ameisenextrakt. Jeder eile so schnell wie möglich zu seinem Tropfen und bade tüchtig darin. Wer es versäumt, den holt der Tod, nämlich die Ameisen.«

Die Kinder ließen es sich nicht zweimal sagen. Sie hatten ihre Tropfen bald erreicht, die für sie so groß wie kleine Luftballone waren. Tüchtig bespritzten sie sich mit dem Wasser, bis sie von der Flüssigkeit ganz durchtränkt waren. Nun erst sahen sie sich die Welt auf den Bäumen an.

Was krochen denn da für platte, grüne Wanzen umher? Oh, der ganze Baum schien ja voller Wanzen zu sein! Das waren sicher Blattläuse, die den Pflanzen so lange Saft aus den Blättern saugen, bis die Blätter verwelken und der Baum eingeht. Der Pflanzensaft, den die Blattläuse saugen, ist gar nicht süß. Aber die kleinen Tiere haben Zuckerfabriken in ihrem Körper. Denn alles, was sie bitter und sauer aufsaugen, das verarbeiten sie zu einem süßen Zuckersaft, den die kleinen Dinger mutwillig von sich spritzen. Dieter bekam so eine Ladung ins Gesicht, und als er sich ekelnd das Zeug abwischen wollte, kam auch etwas davon in den Mund, und zu seinem Erstaunen stellte er fest: das Zeug schmeckt ja zuckersüß. Er gab der Traute ein Zeichen, auch von dem Zuckerzeug zu kosten, das da überall auf den Zweigen und Blättern umherlag. Denn die drei waren schon mitten auf ihrer Wanderung und kletterten zwischen Blättern und Zweigen umher.

»Das ist Honigtau«, erklärte der Doktor, »schaut mal, wie die Fliegen und Bienen alle das süße Zeug ausschlecken. Was die Blattläuse da so übermütig wegspritzen, schmeckt den anderen Tieren wundervoll. Auch die Bienen tragen viel von dem Honigtau in ihr Nest. Sie bereiten auch davon Honig, nicht nur von dem Nektar der Blüten. Aber der Honigtauhonig soll nicht so gut sein wie der echte Honig. Mein Freund, der Imker, ist gar nicht so erbaut von der Nascherei. Früher wußten die Menschen gar nicht, woher die süße Glasur kam, die Blätter und Blattstiele wie Zuckerguß überdeckte. Die Menschen nahmen damals an, daß vom Himmel Tau falle, und der sei so süß. Man ist erst sehr spät auf den Gedanken gekommen, daß die dummen Blattläuse das Zeug verspritzen.«

Inzwischen naschten die grünen Blattläuse weiter an den Blättern, sogen den sauren Pflanzensaft heraus und verspritzten süßen Zuckersaft. Jetzt aber kam Aufregung unter die wehrlosen Blattläuse. Ein dicker Marienkäfer kam angebrummt, ließ sich auf einem Blatt nieder, ergriff die nächste Blattlaus, biß sie tot und verzehrte sie. Dann ergriff er die nächste.

»So ein Mörder!« schrie Traute laut auf. »Laß doch die kleinen grünen Blattläuse in Ruh! Was haben sie dir denn getan, du kleiner dicker Käfer?«

Traute war noch nicht fertig mit ihrer Entrüstung, als eine herrliche grüne Florfliege angesaust kam. Auch die schöne Florfliege ergriff die nächste Blattlaus und knabberte sie an. Traute suchte nach Waffen, um die beiden Mörder zu vertreiben. Aber der Doktor beschwichtigte sie: »Laß nur den guten kleinen Marienkäfer, er ist Goldes wert, und von den Blattläusen gibt es so viele, viel zuviel. Auch die Florfliegen habe ich gern. Sehen sie nicht schön aus, wenn sie abends ans offene Fenster heranfliegen und die Lampe im Zimmer umschwärmen? Ihr müßt bedenken, die Blattläuse vernichten unsere Bäume. Es gibt viel zuviel von den Zerstörern. Kaum ist so eine Blattlaus geboren, so ist sie schon wieder Großmutter. Nein, Kinder, da müssen die Marienkäfer und Florfliegen aufräumen, sonst gäbe es bald kein Grün mehr in der Natur. Mein Freund, der Imker, ist ein großer Freund der Marienkäferchen und Florfliegen, und er hat recht damit. Aber Achtung, Kinder, da kommen die Ameisen!«

Wild rannten die Ameisen die Äste, Stengel und Blätter empor. Die Blattläuse sind in Gefahr, tapfere Ameisen, vertreibt die Feinde der Blattläuse! Noch saßen Marienkäferchen und Florfliegen auf den Blättern und bissen die grünen Blattläuse tot, als die erste Schwadron der Ameisen heranstürmte. Rettet die Blattläuse, teure Ameisen. Tod den Marienkäferchen und Florfliegen! Zwickt sie, zwackt sie, beißt sie! Von allen Seiten kamen die Ameisen, und immer näher rückten sie den Schlächtern. Jetzt erreichten die ersten Ameisen den Kampfplatz. Was sollten die paar Marienkäfer und Florfliegen gegen eine Legion von wilden Beißern? Kampf wäre Wahnsinn. Die Florstiegen stürzten sich in die Luft und verschwanden, und auch die Marienkäferchen probierten ihre Flügel. In die Lüfte konnten die Ameisen nicht folgen. Aber wartet nur, Blattläuse, wir kommen wieder, wenn eure Verteidiger, die Ameisen, nicht bei euch sind! Der Imker wird sich freuen und der Gärtner auch, viel zuviel Blattläuse gibt es, viel zuviel, wir müssen mal ein bißchen unter euch aufräumen.

Immer noch krabbelten die Ameisen um die Blattläuse herum. Wenn sie nur einen Feind erwischt hätten, einen dicken Marienkäfer oder eine zarte Florfliege, aber die Feiglinge ließen sich nicht auf Kampf ein. Wehrlose Tiere morden, das konnten sie, aber sich zum Kampfe stellen, zum ehrlichen harten Kampfe, das fiel den Feiglingen nicht ein.

Endlich beruhigten sich die Ameisen. Dann gingen sie näher an die Blattläuse heran, betrillerten freundlich die Rücken der Tiere, und zum Dank für die freundliche Behandlung spritzten die Blattläuse ihren süßen Saft heraus.

Gierig schleckten die Ameisen den Honigtau auf, tranken sich dudeldick voll und krabbelten dann den Baum hinunter.

Aber immer kommen neue Ameisen, die die gleiche Arbeit verrichten. Mit den Fühlern werden die Rücken der Blattläuse betrillert, die grünen Tiere fühlen sich geschmeichelt und spritzen ihren Honigtau heraus. Die Ameisen schlagen sich den Bauch voll, eilen zum unterirdischen Nest, und immer wieder kommen neue hungrige Ameisen nach oben.

Die Blattläuse sind nämlich die Haustiere der Ameisen, die Milchkühe, das liebe Vieh. Und diese kostbare Viehherde sollten sie nicht gegen Marienkäfer und Florfliegen verteidigen? Wie der Melker und die Kuhmagd nicht die Milch selbst trinken, die sie von der Kuh erhalten, so verzehren auch die melkenden Ameisen nicht allen Honigtau allein. Zwar haben die Ameisen keine Eimer und Kannen. Deshalb kommt vorläufig alles in den Magen der Melker hinein. Unten im Bau drücken sie dann, den Honigtau wieder heraus und lassen auch andere von dem herrlichen Zeug kosten. Machen es die Bienen nicht genau so?

Der Doktor erzählte den Kindern: »In Australien und Mexiko gibt es noch viel eigenartigere Ameisen. Die wollen ihren Honig sogar für lange Zeit aufbewahren. Milchkannen und Tonnen haben die kleinen Mexikaner nicht. Was machen sie da? Ein paar Ameisen bieten sich als lebende Honigtonnen an. Sie klammern sich an der Decke einer Höhle ihres unterirdischen Nestes fest, lassen sich mit Honig so vollstopfen, daß ihr Leib unheimlich anschwillt, wie kleine Luftballone kleben die lebenden Honigtöpfe an der Höhlendecke, halten immer still, rühren sich nicht und kommen nur dann zum Boden, wenn irgendeine hungrige Ameise aus dem lebenden Honigtopf trinken will. Ist das nicht putzig? Traute, möchtest du zeit deines Lebens in der Speisekammer stehen, von Honig so vollgeladen, daß du dicker wirst als dein Onkel Otto, der so viel Bauch hat, daß er kaum noch laufen kann?«

Traute schüttelte sich, Honig würde sie schon essen, eine Stunde möchte sie auch schon in der Speisekammer stehen, aber ein ganzes Leben lang, nein, das wäre zu langweilig.

Jetzt forderte der Doktor die beiden Kinder auf, mit ihm zur Erde zu kommen. Dieter schaute in die Tiefe, und er fürchtete sich, den tiefen Weg hinabzuklettern. Aber der Doktor erinnerte ihn daran, daß sie ja ihre Fallschirme hätten. Jetzt erst ging dem Dieter ein Licht auf. Schnell waren die Fallschirme entfaltet, und so weich wie Federn schwebten die drei zur Erde. Manchmal mußten sie sich von einem Blatt abstoßen, wenn der Weg nicht ganz frei war, aber es ging alles glatt. Nur einmal kam der Doktor einem Spinnennetz zu nahe. Aber er zappelte und schwenkte so lange mit seinem Fallschirm, bis er glücklich an dem Netz vorüberkam. Unbehelligt landeten die drei auf dem Erdboden.

Dieter fragte den Doktor, ob denn das Abenteuer schon zu Ende sei? Ihm sei die Zeit so schnell vergangen. Aber der Doktor meinte, jetzt gehe das Abenteuer erst los. Mit den Kindern packte er die Fallschirme schnell zusammen, und dann suchten sie die große Ameisenstraße auf, die vom Baum in das Nest führte. Da hinten lag sie ja! Und wie die Ameisen, es waren unheimlich viele, hin und her krabbelten! Es war ein Kommen und Gehen auf der Ameisenstraße. Ohne Aufseher und Antreiber gingen die geschäftigen kleinen Dinger zur Arbeit und eilten heim, den Honigtau abzuliefern. Da zog eine Ameise eine tote Fliege über Stock und Stein. Jetzt ging es etwas bergauf, und die tote Fliege rutschte immer wieder den kleinen Berg hinunter. Kaum hatten das ein paar andere Ameisen gesehen, so eilten sie ohne Aufforderung hilfsbereit herbei und zogen mit an der toten Fliege. Mit vereinter Kraft wurde die Arbeit vollendet. Dieter und Traute waren erstaunt über den Kameradschaftsgeist unter den Ameisen. Noch mehr als unter den Bienen galt hier der Spruch: Einer für alle, alle für einen. Wenn sich irgendeine Ameise beschmutzt hatte und sich säubern wollte, dann eilten andere in echtem Kameradschaftsgeist herbei und halfen mit bei der Säuberung. Ja, die Ameisen sind auch saubere Tiere. Voller Erstaunen gewahrte Dieter, wie die Ameisen sich gegenseitig verständigten. Mit ihren Fühlern betrommelten und betrillerten sie den Angeredeten, bis dieser die Tastsprache verstand und in gleicher Weise antwortete.

»Schade«, meinte Dieter, »daß ich die Ameisentastsprache nicht verstehe. Kannst du mir das übersetzen, Doktor Kleinermacher?« Aber der Doktor verstand die Ameisensprache auch nicht. So gelehrt war er denn doch nicht, hat doch noch kein Mensch mit den Ameisen sich verständigen können. Das wäre eine Sache, wenn man hören und aufschreiben könnte, was sich die Ameisen erzählen. Man weiß noch nicht mal, ob die Tiere eine regelrechte Sprache haben oder ob sie sich nur allgemeine Gefühle mitteilen können. Da sagt zum Beispiel eine Ameise zur anderen: Hunger!, und die andere antwortet: Kein Essen da. Wieder eine andere fordert eine vorübereilende auf: Hilf mir!, und die aufgeforderte antwortet: Ja! Vielleicht haben sich die Ameisen auch viel mehr zu sagen, vielleicht haben sie genau so eine kunstvolle Sprache wie die Menschen? Wer weiß das, wer kann das wissen? Die Gelehrten sind sich darüber noch nicht einig, es gibt nämlich unter den Gelehrten Ameisenprofessoren, die sich nur mit den Ameisen beschäftigen. Meist wird allerdings eine kunstvolle Ameisensprache bestritten.

Jetzt forderte der Doktor die Kinder auf, an der Ameisenstraße entlang den Eingang zum Nest aufzusuchen. Die Ameisen taten den dreien nichts, denn die Menschenzwerge rochen ja genau so wie die Ameisen, das genügte den Tieren. Die Gestalt war nicht so wichtig, die Hauptsache war der Geruch.

Nun kamen sie zum Eingang des Ameisenbaues. O weh, Dieter und Traute hatten gar nicht daran gedacht, da drinnen war es ja wieder dunkel wie im U-Bahn-Tunnel des Maulwurfs. Sollte der Doktor daran nicht gedacht haben? Aber an dem Doktor zu zweifeln, ist unrecht! Denn kaum waren die drei in den Ameisentunnel eingetreten, so verbreiteten die drei zusammengeklappten Fallschirme ein mildes Licht. Der Doktor hatte die Fallschirme mit einer phosphoreszierenden Masse bestrichen, die im Dunkeln leuchtet. Der Doktor war wirklich ein Tausendkünstler. So zogen die drei Weltenbummler denn durch die unterirdischen Gänge und sahen nur Ameisen, geschäftig hin und her huschende Ameisen.

Bald wurden die Gänge geräumiger und weiteten sich zu Höhlen aus. »Was sind denn das für Tiere?« rief Traute voller Erstaunen. Sie deutete auf Insekten, nicht viel größer als Ameisen. Die eigenartigen Wesen hatten aber Flügel. Der Doktor lachte: »Das sind auch Ameisen. Da staunt ihr, was? Ja, es gibt auch Ameisen mit Flügeln. Was ihr bis jetzt gesehen habt, waren wohl auch Ameisen, aber keine Männchen und Weibchen, sondern Arbeiterinnen. Die echten Männchen und Weibchen seht ihr hier. Sie sind kaum aus den Puppen gekrochen und putzen sich noch ihre Flügel. Die Tiere wollen gerade auf die Hochzeitsreise gehen. Kaum geboren, so denken sie schon an Ausflug und Hochzeitsreise.«

Kaum hatte der Doktor ausgesprochen, als die beflügelten Männchen und Weibchen schon durch den Tunnel dem Ausgange zustrebten. Im Ameisenstaat ist vieles anders als im Bienenstaate. Die Bienenkönigin, das einzige Weibchen, duldet keine Konkurrenz. Die Ameisenweibchen aber tun sich nichts zuleide und gehen gemeinsam auf die Hochzeitsreise. Die Arbeiterinnen aber blieben wie bei den Bienen zurück und gingen weiter ihrer Arbeit nach. Dieter sah in einer größeren Höhle kleine Blattläuse sitzen. »Haben die Ameisen ihr Hausvieh auch im Keller?« fragte er den Doktor. Aber er mußte sich belehren lassen, daß die Tiere keine Blattläuse, sondern Wurzelläuse sind, den Blattläusen sehr verwandt. Wie jene auf Blättern, sitzen diese auf unterirdischen Wurzeln und saugen den bitteren Wurzelsaft der Pflanzen. Auch die Wurzelläuse verspritzen schönen süßen Honigtau, nach dem die Ameisen so begierig sind. Viel besser als oben auf die Blattläuse können die Ameisen auf die Wurzelläuse aufpassen. Die Nahrung wächst in den Stall hinein, und die beschwerliche Reise nach dem Baumwipfel ist nicht notwendig.

»Hier sind ja Mäuse im Ameisennest«, schrie Dieter auf, und er leuchtete nach unten, wo ihm etwas flink wie ein Wiesel durch die Beine gerannt war. Dann aber fiel ihm ein, daß ja Mäuse viel größer sein müssen. Er hatte ganz sein Zwergendasein vergessen. Aber was waren das für kleine Dinger, die zwischen den Beinen dahinraschelten.

Der Doktor leuchtete mit seinem Fallschirm die Wand ab und sah kleine, sehr feine Öffnungen in der Tunnelwand. Sofort wußte er, was hier vorging. Das waren die kleinen winzigen Diebesameisen, die viel kleiner als gewöhnliche Ameisen sind und ihre Gänge zwischen den großen Gängen der anderen Ameisen haben. Wie Ratten hausen sie im Ameisenbau. Haben die Ratten doch auch in den Wänden der Menschenwohnungen ihre kleinen besonderen Gänge. Ein Ameisenstaat im Ameisenstaat!

Die kleinen Diebesameisen gehen nie nach oben. Wenn sie Hunger haben, dann bestehlen sie die Vorräte der großen Ameisen und nehmen sogar die Bissen den größeren Brüdern vom Munde weg. Die großen Ameisen können sich nicht wehren. Erstens sind die kleinen Dinger viel flinker, und dann können sie auch nicht in die winzigen Gänge der Diebesameisen hinein. Außerdem beißen die Diebesameisen tüchtig und besitzen sogar Gift. Das Ungeziefer ist immer im Vorteil. »Ärgert mir die Diebesameisen nicht«, warnte der Doktor, »sie wissen sich tüchtig zu wehren, und wir verlassen dann nicht mehr lebend den Bau. Laßt sie in Ruh, die großen Ameisen lassen das Gesindel auch in Ruhe. Insektenpulver haben sie noch nicht erfunden.«

Vorsichtig gingen die drei den Diebesameisen aus dem Wege und wanderten weiter durch den dunklen, weiten Bau. Jetzt kam wieder Aufregung in den kleinen Staat am Boden. Die Hochzeiter kamen zurück! Aber es waren lange nicht mehr soviel wie bei dem Auszug. Viele wurden von den Vögeln gefressen, andere von Libellen, wieder andere blieben in Spinnennetzen hängen, und die Männer blieben überhaupt draußen. Von der Hochzeitsreise kamen die Männer nicht mehr zurück. Ihre Aufgabe war mit der Hochzeit erfüllt, und draußen mußten die Herren der Schöpfung sterben. Etliche Weibchen bezogen auch nicht mehr das gleiche Nest und wurden von anderen Ameisenstaaten aufgenommen. Wieder andere wollten sich selbständig machen, fingen von vorn an und gründeten ein eigenes Nest. Den paar Weibchen, die zurückkamen, hingen die Flügel schlaff herunter. Die Arbeiterinnen eilten herbei und bissen die matten Flügel ab. Jetzt waren auch die Weibchen ohne Flügel. Nur einmal, im Hochzeitsfluge, dürfen die Flügel benutzt werden, und dann geht es an die Arbeit, an das Eierlegen.

Was die Menschen als Ameiseneier verkaufen, sind gar keine Eier. Die echten Ameiseneier sind viel kleiner. Kaum ist so ein winziges Ei gelegt, dann eilen schon die Arbeiterinnen herbei, säubern das Ei, belecken es, und bei der liebevollen Pflege wachsen sogar die Ameiseneier. Ei für Ei wird in den tieferliegenden Keller getragen, bei Sonnenschein aber wieder nach oben geschleppt, dicht unter den Erdboden. Die Eier sollen Luft atmen können und eine Sonnenkur machen. Aus den Eiern kriechen hilflose kleine Larven, die wie Würmer aussehen. Von den Arbeiterinnen-Ammen werden die Larven gefüttert und gepflegt. Die Ammen gönnen sich keine Ruhe. Nach einiger Zeit verpuppen sich die Larven, und diese kleinen Ameisenpuppen werden von Menschen eingesammelt und als Ameiseneier verkauft.

Wenn die Puppen fertig sind und die Ameisen im Innern der Puppen sich entwickelt haben, knabbern die Ammen vorsichtig von außen die Puppen auf, und heraus klettert eine fertige, neugeborene Ameise. Was hatten doch die fleißigen Ammen für Mühe mit ihren Kindern! Jeden Sonnenmittag werden die Eier und Puppen zur Sonnenkur nach oben geschleppt, und sowie es kühler wird, müssen die riesigen Pakete wieder nach unten transportiert werden. Die Ameisen müssen sich wirklich ehrlich abrackern. Die Bienen sind fleißig, die Ameisen aber auch. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang wird immerzu gearbeitet, und wie die Biene opfert sich eine Ameise bedenkenlos auf, wenn es gilt, den Staat zu retten.

Die drei sahen dem geschäftigen Treiben zu, und niemand störte sie in ihrer Betrachtung. Feinde duldete der Ameisenstaat nicht, aber die Ameisen taten ihnen nichts zuleide, weil sie ja den Nestgeruch an sich hatten.

Nun aber mußte wieder irgend etwas los sein im Ameisenstaate. Wild und aufgeregt betrommelten sich die Ameisen mit ihren Fühlern. Jedes Tier sagte es dem anderen Tier weiter. Eine ganz wichtige Parole mußte durch den Bau gehen. Was hatten sich die Ameisen nur zu sagen? Viele Arbeiterinnen sammelten sich und strömten durch den Tunnel dem Ausgange zu. Der Doktor schloß sich den Kolonnen an, und die beiden Kinder folgten ihm. In aller Hast wurden die Gänge durcheilt. Jetzt waren sie am Ausgange angelangt, und draußen kribbelte und krabbelte es von lauter Ameisen. Er kämpfte sich zu den vorderen Reihen durch, immer von den Kindern gefolgt. Und jetzt sah er die Gefahr. Größere Ameisen, aber bei weitem nicht so zahlreich, waren in die Nähe des Ameisenbaues geraten und wurden nun wild angegriffen. Die Großen wehrten sich tapfer und bissen viele Kleine tot, aber immer wieder stürzten sich die Kleinen auf die Großen. Wütend hatte sich da eine Kleine in das Bein einer Großen verbissen, die Große drehte sich herum, biß die Kleine tot, aber die Kleine hatte so fest zugebissen, daß sie nun tot am Beine hing und selbst im Tode das Bein nicht mehr losließ. Die Große mußte im Laufen immer eine kleine Ameise nach sich schleppen, als wenn sie einen Klotz am Bein hätte.

Bald sahen die Großen ein, daß gegen die Übermacht nichts auszurichten war. Vorsichtig traten sie den Rückzug an, von den Kleinen immer verfolgt. Dann verschwanden sie in Richtung ihres Nestes.

Jetzt wollte Dieter umkehren und wieder das Nest aufsuchen. Aber der Doktor hielt ihn zurück: »Kinder, es ist Zeit, unser Wachstum muß bald beginnen. Wir wollen das Größerwerden außerhalb des Ameisenbaues erwarten.«

Die drei gingen auf und ab und warteten auf ihr Wachstum. Da die Zeit noch nicht herum war, stellten Dieter und Traute einige Fragen. Dieter war erstaunt, daß die Ameisen sogar Haustiere hatten. So etwas hatten ja nicht einmal die Bienen. Der Doktor erzählte:

»In Brasilien gibt es sogar Ameisen, die sogenannten Blattschneiderameisen, die pflanzen sich kleine Pilzgärten an. Die Blattschneiderameisen betreiben also Ackerbau. Sie räubern und plündern die Natur, schneiden überall die Blätter von den Bäumen ab, daß Sträucher und Bäume ganz kahl werden. Wenn sie die kleinen Blattschnipsel über dem Kopfe tragen und heimgehen, dann sieht das sehr possierlich aus. Die Brasilianer sprechen daher auch von Sonnenschirmameisen. Die Blattschnipsel werden unter der Erde zerkaut, und diese zerkaute Masse ist der Nährboden für die Pilzkulturen. Die kleinen Pilze unter der Erde in den Ameisengärten sehen wie Kohlrabiköpfe aus. Von diesen Kohlrabiköpfen, und nur davon, leben die Blattschneiderameisen. Wenn eine Ameisenkönigin einen neuen Staat gründen will, dann nimmt sie in ihrem Maule immer etwas Pilzkultur mit.«

Dieter sagte: »Wenn die Blattschneiderameisen so die Natur verwüsten, dann muß es ja in Brasilien gar keinen Baum mehr geben?«

Der Doktor antwortete: »Die Natur weiß sich zu helfen. Gegen Ameisen helfen Ameisen. Viele Bäume sind hohl. In diesen Höhlungen wohnen wieder andere Ameisen, sogenannte Aztekenameisen, und diese Aztekenameisen sind furchtbar bissig und angriffslustig. Kommen die Blattschneiderameisen empor, dann stürzen sich die Aztekenameisen mit Hallo auf die Blattschneider, verbeißen sie und treiben sie in die Flucht.«

Der Doktor wollte noch weitererzählen, aber da merkten die drei, wie sich das Wunderwasser in ihnen meldete. Langsam und langsam wuchsen sie und wurden immer größer. Und merkwürdig, entweder war Dieter zu sehr in das Gespräch vertieft, oder das neue Wunderwasser war doch nicht ganz dem alten gleich. Dieter fühlte sich nicht als normaler Mensch, sondern als Riese, der in eine neue Welt mit Bäumen und Sträuchern hineinwächst. Das Gras und die Blumen unter ihm erschienen ihm so weit, daß er schwindlig werden konnte. Bei jedem Schritte war ihm so, als wenn er Berge versetzte. Dem Doktor und der Traute ging es genau so. Nur langsam gewöhnten sich die drei wieder an ihre Normalgröße.

Auf dem Heimweg wollten Dieter und Traute noch mehr von den Blattschneiderameisen wissen, aber der Doktor wußte noch von vielen anderen Ameisen zu erzählen. Gibt es doch unzählig viele Arten auf der Welt, in unserer Heimat sogar schon viele hundert Arten. So begann der Doktor wieder:

»In Amerika und Afrika leben die Jagdameisen. Das sind sehr gefährliche Biester, kann ich euch sagen. Die bauen keine Nester und legen keinen Tunnel an. Immer sind sie auf Wanderung, und was sie auf ihrem Wege treffen, beißen sie tot. Wenn sie auf ihrem Zuge auf eine Menschenhütte treffen, dann merken die Bewohner sehr bald, daß die Jagdameisen unterwegs sind. Denn die Schaben und die Ratten rennen aus ihren Löchern heraus und aufgeregt hin und her. Die ersten Jagdameisen sitzen im Pelz und haben tüchtig zugebissen. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Wohnungen zu verlassen. Ist der Zug vorüber, dann können die Menschen wieder ihre Wohnung beziehen. Dafür ist die Hütte aber von oben bis unten ungezieferfrei, denn die Jagdameisen räumen tüchtig auf, töten alles, beseitigen sogar Schlangen. Nur die Vögel in den höchsten Baumwipfeln sind sicher, so hoch steigen die Jagdameisen nicht.«

Jetzt wurde in Dieter wieder die alte Abenteuerlust nach fremden Ländern wach, er fragte, ob Indien auch besondere Ameisen habe?

»Aber tüchtig«, antwortete der Doktor. »Die merkwürdigste Ameise in Indien ist wohl die Weberameise. Wie bei uns die Ameisen Blattläuse als Hausvieh haben, so haben die Weberameisen Schildläuse als Hausvieh. Denen bauen sie ein Blätternest, das ihnen gleichzeitig zur Wohnung dient. Viele lebende Blätter werden zu einem Bündel zusammengezogen und dann mit Spinnenfäden zusammengehalten. Aber die Ameisen können nicht spinnen. Was nun? Die Ameisen wissen sich zu helfen. Ihre eigenen Larven können nämlich einen Spinnenfaden ausdrücken wie die echten Spinnen. So halten die Ameisen ihre eigenen Kinder in ihren Mäulern, streichen mit den Larven wie mit Weberschiffchen hin und her, bis das Blätternest zusammenhält. Ist das nicht sonderbar?

Aber ihr sollt nicht denken, daß nur in fremden Ländern die Ameisen merkwürdig sind. Die Diebesameisen und das Blattlausvieh habt ihr ja gesehen. Nun gibt es in mehreren Ameisenstaaten auch Sklaven. Die Blutrote Raubameise zum Beispiel überfällt fremde Ameisenstaaten, raubt dort die Puppen, aus denen dann Sklaven gezogen werden. Die Sklaven wissen nichts von ihrer Heimat, kennen nur ihren Dienst und verrichten den freiwillig. Wenn ihre Herren zum Raub ausgehen und später zurückkommen, dann erwarten sie diese freudig, nehmen ihnen willig die Puppen ab und ziehen die Sklaven, ihre Blutsverwandten, groß. Die Blutroten Raubameisen können noch ohne Sklaverei auskommen, sie können sich zur Not auch allein ernähren. Bei den sogenannten Amazonen aber ist es ganz faul. Die Amazonen haben sich so sehr auf Sklaverei eingerichtet, daß sie ohne diese gar nicht mehr leben können. Sie würden bei vollen Vorräten verhungern, denn sie können sich ohne fremde Hilfe, ohne Bedienung, gar nicht mehr selbständig ernähren. So sehr wurden die Amazonen durch die Sklavenwirtschaft verweichlicht.

Jetzt kamen die drei an dem großen Haufen der Waldameisen vorüber. Der Doktor erzählte, daß die Waldameisen sehr nützlich seien, sie züchten keine Blattläuse, vertilgen aber viel Ungeziefer. Die großen Waldameisen stehen deshalb unter Naturschutz. Dann hielt der Doktor seine Hand ganz dicht über den Haufen. Sofort stürzten Hunderte von Ameisen hinzu und spritzten ihr Gift gegen den vermeintlichen Feind. Dann zog der Doktor seine Hand wieder zurück und führte sie an seine Nase. Die Kinder forderte er auf, gleichfalls daran zu riechen. Ein eigenartiger, eindringlicher Geruch ging von der Hand aus. »Das ist eine Försterprise«, erklärte der Doktor.

Der Doktor hatte auf dem Heimwege noch viel zu erzählen. »Es gibt auch Gäste im Ameisenstaate. Da ist zum Beispiel ein Käfer, ein sogenannter Ameisengast. Da er süße Ausschwitzungen von sich gibt, ist der Bursche sehr beliebt bei den Ameisen, und sie pflegen ihn wie eine Blattlaus. Der undankbare Geselle frißt den Ameisen dafür die Larven und Puppen weg. Aber die sonst so ordentlichen Ameisen fallen dem Käfer nicht ins Mörderhandwerk, vernachlässigen sogar die Aufzucht ihrer eigenen Brut und denken nur an die Pflege der Kinder des Käfers. Der Ameisenstaat würde todsicher zugrunde gehen, wenn die Ameisen nicht in übergroßer Liebe bei der Aufzucht des Käfers Fehler begehen würden. Ihre eigenen Eier und Puppen verlangen nämlich nach der Sonnenkur, wie ihr vorhin beobachtet habt. Das aber können die Käferlarven nicht vertragen, und sie gehen bei der liebevollen Pflege ein. Nur die Käferpuppen, die zufällig unbeabsichtigt unten im Keller liegenbleiben, wachsen zu Käfern heran.

Nun aber, Kinder, ist es Zeit zum Trennen. Wir sind angelangt. Geht schnell nach Haus und laßt euch euren Kaffee vorsetzen.«

Die Kinder bedankten sich bei ihrem Doktor, und Dieter konnte es nicht unterdrücken, zu sagen: »Heute haben wir mit einer alten Sitte gebrochen, nämlich immer schweigend nach Hause zu gehen. Auf Wiedersehen, Doktor Kleinermacher!«


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