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Achtes Kapitel.
Ein zerstörtes Traumgebild

Flucht auf gefährlichen Pfaden – Eine unerwünschte Begegnung – Die Lagerstelle beim Wasserfall – Forsters Verwundung – Eine Unwetternacht – Zusammentreffen mit John Harland – Mann gegen Mann – Das Ende der Wunderorchideen und des Intriganten – Mit den Farmern ins Tal zurück – Wieder in Mayas Hütte – »Aus der Jugendzeit ...«


Es war am Nachmittag dieses ereignisreichen Tages. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand schon seit einiger Zeit überschritten, und die Schatten begannen länger zu werden, als die Reisenden sich wieder mitten im Hochgebirge befanden. Ihre Gruppe bestand jetzt nur noch aus drei Personen. Bolivars Überreste waren schon längst an einer geeigneten Stelle am Waldesrand beigesetzt worden. Antonio, der bei seiner braven Gesinnung voller Empörung über den schmählichen Verrat seines Kollegen war, begriff zwar nicht, weshalb mit diesem noch lange Umstände gemacht wurden, hatte dann aber auf Bitte seines Herrn doch schnell ein flaches Grab und darin dem Toten die letzte Stätte auf Erden bereitet.

Dann war man weiter geritten, jeder seinen Gedanken überlassen, Albert Forster wortkarger und einsilbiger als je. Nur einmal sagte er: »Ich bin überzeugt, daß John Harland sich noch in der Nähe aufhält. Und wäre es denn nicht möglich, daß er schon vor uns den Fundort der Orchideen in Erfahrung gebracht und das Prävenire gespielt hat?«

Die Paßstraße senkte sich nicht sofort zu den Niederungen der Llanos hinab, sondern mußte sich noch einmal in die Höhe winden, um einen ziemlich bedeutenden Gebirgskamm zu überschreiten, der sich hier zwischen dem Hauptmassiv der Kordillerenkette und dem Flachlande in den Weg schob. Sie verengerte sich dabei immer mehr und ging schließlich in einen jener halsbrecherischen schmalen Saumpfade über, wie man sie schon vor einigen Tagen beim Aufstieg auf der anderen Seite der Kordilleren zur Genüge kennengelernt hatte.

Auch hier war das Landschaftsbild wieder von erhabener Schönheit. Unten, im tiefen Abgrund zur Seite des Pfades, der sich unter Benützung der balkonartigen Gesteinsvorsprünge, zum Teil aber auch in den Stein hineingehauen, wie ein schmales Band um die fast kerzengerade aufsteigenden Felswände zog, brauste dumpf ein wildes Gewässer; fernes Donnern verkündete, daß sich dort der Gebirgsstrom als Wasserfall in die Tiefe ergoß. Je höher man stieg, desto großartiger entfaltete sich das Panorama der höchsten Kordillerenkette mit ihren Massen von leuchtendem Schnee. Aber die Reisenden hatten diesmal kein Auge und keinen rechten Sinn für die Reize der einsamen Hochgebirgswelt. Ihr Geist war zu sehr erfüllt von den Geschehnissen das Tages, überdies verlangte der höchst schwierige Pfad die größte Aufmerksamkeit, denn er war stellenweise durch Abbröckelungen des morsch gewordenen Gesteins an der äußeren Kante in einer so gefährlichen Weise verengert, daß selbst die schwindelfreien ruhigen Maultiere stutzten und sich nur zögernd mit größter Behutsamkeit vorwärts bewegten. Walter Brockhusen konnte sich öfter nicht eines unheimlichen Schauers erwehren und mußte die Zähne gehörig zusammenbeißen, um nicht den Mut zu verlieren.

Das Donnern des Wasserfalls verstärkte sich, man kam ihm näher und sah bereits in der Ferne die irisierend leuchtende Nebelwolke des von der stürzenden Flut aufgewirbelten Wasserstaubes. Da konnte die Paßhöhe nicht mehr weit sein, denn sie befand sich, wie die Reisenden von Maya erfahren hatten, dicht bei dem Wasserfall, und von dort sollte es dann auf wieder breiterem, besserem Wege zum Tiefland hinuntergehen.

Die Reiter, die bei der Enge des Saumpfades selbstverständlich nur hintereinander reiten konnten – Forster voran, Antonio zum Schluß – befanden sich jetzt kurz vor einer neuen Biegung des Pfades und an einer besonders unangenehmen Stelle, denn hier war die Abbröckelung des Gesteins am Boden so stark, daß es wie ein akrobatisches Kunststück und ein unerhörtes Wagnis erschien, darüber hinwegzureiten. Obwohl der Naturaliensammler ebenso wie Antonio schwindelfrei war, machte er doch halt und überlegte, ob es nicht, schon mit Rücksicht auf Walter, ratsam wäre, aus dem Sattel zu steigen und, dicht an die Felswand gedrückt, hinter den Tieren zu Fuß zu gehen, da man dann ein größeres Gefühl der Sicherheit hatte. Seitliches Absteigen kam hier freilich nicht in Frage, das war bei der Schmalheit des Pfades kaum möglich; man mußte sich nach hinten über die Kruppe der Maultiere hinabgleiten lassen.

Während Forster das überlegte, war es den Reisenden, als ob vor ihnen, hinter der Biegung des Pfades, Stimmen ertönten. Gleich darauf drang ein lauter, langgezogener Signalruf an ihr Ohr. Solche Rufe werden von den Benützern der Kordillerenpfade dort, wo der Pfad nicht auf größere Strecken übersehbar ist, an den Ausweichstellen ausgestoßen; sie haben den Zweck, sich mit etwa in umgekehrter Richtung kommenden Passanten zu verständigen. Denn da mit bepackten Tieren ein Ausweichen nur an den verbreiterten Ausweichstellen möglich ist, muß, wenn der Signalruf erwidert wird, die bergab wandernde Partei an der Ausweichstelle so lange warten, bis die bergauf ziehende Partei herangekommen ist.

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Es befand sich also hinter der Biegung des Pfades offenbar eine Ausweichstelle, und die Reisenden stimmten deshalb in laute Rufe ein. Bald darauf erschienen zu ihrer Überraschung an der Kurve Gestalten – und zwar »wilde« Indianer, Indios bravos, mit Speeren bewaffnet. Ob es Motilons waren, konnte Forster nicht sogleich erkennen. Jedenfalls sahen sie aber nicht sehr vertrauenerweckend aus, und ihre ganze Haltung, als sie jetzt, ebenfalls verblüfft, auf die Fremden starrten, war so wenig einladend und freundlich, daß Walter Brockhusen es für ratsam hielt, seinen Revolver hervorzuholen, während der Naturaliensammler sich damit begnügte, zum Zeichen der friedlichen Gesinnung eine Hand emporzuheben. Er stellte zugleich einige Fragen, auf die aber nur mürrische, unverständliche Antworten zurückkamen. Gleich darauf verschwanden die Indianer wieder hinter der Felsenecke.

Die Situation war für die Reisenden so unbehaglich wie nur möglich. Albert Forster wußte nichts was er daraus machen sollte. Wieviel Eingeborene befanden sich dort hinter der Felswand und welche Absichten hegten sie? Waren es vielleicht doch Motilons, die sich auf einem anderen Pfade hierher begeben hatten, um ihnen den Weg zu verlegen? Wie sollte man sich unter diesen Umständen verhalten? Rückten die Reisenden weiter vor, so mußten sie gewärtig sein, hinter der Biegung des Pfades überfallen zu werden, und dabei war aller Vorteil auf seiten der Angreifer, denn an einen erfolgreichen Widerstand ließ sich hier, wo die geringste unvorsichtige Bewegung oder jeder einigermaßen kräftige Stoß des Gegners den sicheren Sturz in die grausige Tiefe bedeutete, kaum denken.

Aber mochte dort vor ihnen hinter der Kurve auch Tod und Verderben lauern – es half nichts, man mußte es jetzt auf alles ankommen lassen, man mußte das Äußerste wagen.

Auf ein Zeichen Forsters sprangen die drei Reiter behutsam nach hinten über die Kruppe der Maultiere ab und ließen diese vorangehen, um durch ihre Körper gedeckt zu sein. Forster und Brockhusen folgten, dicht an die Felsenwand gedrückt, mit vorgehaltenem Revolver unmittelbar hinter den Tieren, Antonio machte den Beschluß.

»Mein verlorenes Amulett – mit ihm verloren wir unser Glück,« das war der einzige Gedanke, der Walter Brockhusen in diesem kritischen Augenblick durch den Kopf ging.

Jetzt bog das erste Tier mit gewohnter Sicherheit um die Ecke, ohne daß irgend etwas geschah – gleich darauf das zweite – dann das dritte ... Den Revolver im Anschlag und bereit, sofort abzudrücken, schob sich Forster hinter dem letzten Tier ebenfalls rasch um die Ecke – – und ließ starr vor Staunen die Waffe sinken, denn der Weg, der sich plötzlich verbreiterte und eine beträchtliche Strecke weit überblicken ließ, war vollkommen leer – kein einziger Mensch befand sich auf ihm!

Forster, Brockhusen und Antonio standen in Verblüffung still. Wo waren die Indianer, die sie soeben vor sich gesehen, deren Stimme sie gehört, mit denen sie gesprochen hatten? ... Hatte sie denn ein Trugbild genarrt? Waren sie Opfer ihrer überreizten Nerven gewesen? ... Einsam lag vor ihnen der nur noch mäßig ansteigende Pfad, einsam wie das ganze Gebirge ringsum, und nur das starke Geräusch des Wasserfalls klang in die tiefe Stille hinein.

Endlich brach Albert Forster das Schweigen und sprach:

»Da ich unmöglich an Zauberei glauben kann, läßt sich die Sache nur so erklären, daß die Indianer rasch zurückgelaufen sind, um sich weiter vor uns auf einem günstigeren Gelände irgendwo zu verstecken. Ein Zusammenstoß mit uns auf diesem halsbrecherischen Saumpfad war ihnen doch wohl zu riskant. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben; wir müssen also weiter oben auf einen Angriff aus dem Hinterhalt gefaßt sein.«

Die Reisenden setzten ihren Marsch unter Beobachtung aller Vorsicht fort und gelangten, ohne das Geringste von den so rätselhaft verschwundenen Indianern zu sehen oder zu hören, auf die Paßhöhe, die sich in unmittelbarer Nähe des Wasserfalls befand. Der abgeplattete Gebirgskamm bildete hier eine schmale Hochebene, die gleich den Páramos der Sierra Nevada von Santa Marta mit Gras und verkrüppeltem Gehölz bestanden war. Mächtige Felsblöcke von unregelmäßiger und zerklüfteter Form lagen über die Fläche zerstreut, so daß es schien, als ob ein Geschlecht von Riesen sie als Wurfgeschosse benützt hätte. Dort, wo der Gebirgskamm steil zur Schlucht des wilden Bergstromes abfiel, eröffnete sich ein wundervoller Ausblick auf den großen Wasserfall, über dessen donnernden Fluten und hoch aufsprühendem Gischt man wie auf einer vorgebauten Kanzel stehen konnte. Jenseits der Hochebene senkte sich der Paßweg zum Tiefland hinab, das in seinem goldig-dunstigen Flimmerglanz auf große Ausdehnung hin zu übersehen war.

»Die Sonne verschwindet bald, und es ist nicht daran zu denken, daß wir den Abstieg bis zum Anbruch der Nacht bewerkstelligen,« sagte Albert Forster. »Überdies sind wir wohl alle gründlich erschöpft. Es bleibt nichts weiter übrig, als hier die Nacht zu verbringen und morgen mit frischen Kräften weiterzuziehen.«

Auf der Suche nach einer geeigneten Lagerstätte stießen die Reisenden auf eine Felsengruppe unweit des Wasserfalls, die einen kleinen, mit Gras bewachsenen Raum umschloß und wo man vor den kalten Nachtwinden am besten geschützt war. Hier wurde mit Hilfe der Zeltbahnen ein schützendes Obdach aufgeschlagen, und Antonio trug dürres Holz für das Feuer zusammen. Aber bevor man sich an die Abendmahlzeit machte und zur Ruhe begab, stiegen Forster und Brockhusen noch einmal in den Sattel, um aus Gründen der Sicherheit die ganze Umgegend zu kontrollieren und abzusuchen.

»Wie sehr bedaure ich es, daß wir nicht einen verläßlichen, scharfen Hund auf die Reise mitgenommen haben, er wäre von größtem Nutzen für uns,« sagte der Naturaliensammler.

Die beiden Genossen ritten über den Gebirgskamm in weiter Ausdehnung und untersuchten alle Felsengruppen, die sich zum Versteck eigneten, aber nirgends war eine Spur von den Indianern zu sehen. Schon wollten sie zur Lagerstätte zurückkehren, als Forster hinter einem Gebüsch eine verdächtige Bewegung wahrzunehmen glaubte. Er spornte sein Maultier an und ritt, den Karabiner im Anschlag, auf jene Stelle los, Brockhusen hinterdrein.

Sie befanden sich noch in einiger Entfernung von dem Gebüsch, als plötzlich vier oder fünf Indianer, die hinter der Deckung gelauert hatten, hervorsprangen und die Flucht ergriffen. Ihre geschmeidigen Gestalten wandten sich dem Paßwege zu, der in der Nähe steil bergab zu führen begann. Bevor sie dort aber hinter den Felsen verschwanden, blieb einer der Eingeborenen einen Augenblick stehen, spannte den Bogen und schoß seinen Pfeil auf die Verfolger ab.

Zu gleicher Zeit gaben auch Forster und Brockhusen Feuer. Es schien, als ob eine der Kugeln getroffen hatte, denn man hörte einen lauten Schrei. Als die Deutschen, ihre Tiere anspornend, den Indianern nachsetzten, waren diese wieder spurlos verschwunden. Sie waren offenbar in rasendem Lauf, wie eben nur diese Söhne der Wildnis rennen können, den Paßweg bergab geflüchtet und hinter den zahlreichen Kurven des stark gewundenen Pfades längst unsichtbar geworden. Eine weitere Verfolgung wäre zwecklos gewesen. Die Maultiere konnten auf dem steil abschüssigen Pfade nicht so schnell vorwärts kommen, wie die Indianer, auch schien es nicht ratsam, Antonio mit dem Gepäck für längere Zeit allein zurückzulassen.

»Ich glaube nicht, daß wir von den Burschen noch etwas zu befürchten haben,« sagte der Blumenjäger. »Die Nacht bricht bald herein, und nächtliche Unternehmungen lieben sie nicht.«

Erst jetzt bemerkte Walter, daß sein Freund und Mentor verwundet war. Der Pfeil hatte, ähnlich wie morgens bei Bolivar, den rechten Oberarm durchbohrt, die Spitze des abgebrochenen Schaftes steckte noch in der Wunde. Obwohl Albert Forster ersichtlich starke Schmerzen empfand, biß er doch die Zähne zusammen und ließ nicht den geringsten Klagelaut vernehmen. Dieselbe heroische Standhaftigkeit bewies er, als ihm Walter mit Antonios Beistand gleich darauf an der Lagerstelle die Pfeilspitze aus der Wunde zog und diese reinigte, desinfizierte und verband, wobei Forster in größter Ruhe die nötigen Weisungen gab. Seine Selbstbeherrschung war um so bewunderungswürdiger, als man nicht wissen konnte, ob der Pfeil nicht vergiftet war. Das hatte sogar die größte Wahrscheinlichkeit für sich, und war es der Fall, so gab es bei der furchtbaren Wirkung der Pfeilgifte, die man ja eben erst bei dem Mulatten beobachtet hatte, kaum eine Rettung.

Minuten und Viertelstunden banger Zweifel verstrichen in folternder Langsamkeit für Walter, der angstvoll den Zustand des Verwundeten verfolgte, während der Naturaliensammler selbst keinen Augenblick seinen Gleichmut verlor. Als aber eine Stunde vergangen war, ohne daß sich Anzeichen einer Vergiftung bemerkbar machten, fühlte sich der junge Mann von einer furchtbaren Last befreit und sandte im stillen ein Dankgebet zum Himmel.

Der Sonnenuntergang erfolgte unter Lichterscheinungen, die nichts Gutes für die Nacht erwarten ließen. Der westliche Himmel war von einem fahlen Schwefelgelb übergossen und schweres Gewölk wälzte sich über die Berge hinweg. Man mußte sich auf ein Unwetter gefaßt machen, wie es in dieser Höhenlage auch in der Trockenzeit nichts Seltenes ist. Walter und Antonio dichteten das Zeltdach über der Lagerstelle zwischen den Felsen so gut wie möglich ab, um auch bei dem heftigsten Regenguß einen trockenen Unterstand zu haben.

Und in der Tat, das Unwetter brach mit dem ganzen Ungestüm eines echten Kordillerenregensturmes los. Es war um die neunte Abendstunde, als das Vorspiel einzelner jäher Windstöße begann und in Pausen prasselnde Regenfluten herniederstürzten. Die Reisenden, die, durch die Strapazen und Aufregungen des vergangenen Tages übermüdet, bereits einige Zeit geschlafen hatten, wurden wieder aufgerüttelt und lauschten dem wilden Aufruhr der Natur. Aber es war erst die Ouvertüre zu der gewaltigen Musik der entfesselten Elemente, die bald darauf einsetzte und sich nach einer halben Stunde zum Fortissimo steigerte. Ein wütendes Brausen, Heulen und Pfeifen, als wären alle bösen Geister der Bergwelt losgelassen, dazwischen, in den oft plötzlich einsetzenden Pausen des Sturms, das prasselnde Rauschen der Regenflut. Welch ein Glück, daß man das kleine Lager an einer so gut geschützten Stelle zwischen den hohen Felsen hatte aufschlagen können! Sie stellten einen vorzüglichen Windschutz dar und hielten den Regen so gut ab, daß es im Innern des Zeltes beinahe völlig trocken blieb.

Als gegen Mitternacht die Gewalt des Sturmes gebrochen und das Unwetter vorüber war, fanden die Reisenden wieder den erquickenden Schlaf, den sie so dringend benötigten.

Wie es nach solchen heftigen Wetterattacken in jenen Zonen meistens der Fall ist, brach ein besonders schöner Morgen mit wunderbar reiner, frischer Luft an. Die starken Niederschläge der Nacht hatten den Wasserstand des Gebirgsstromes so erhöht, daß sein Brausen wilder als vorher ertönte. Walter Brockhusen trat aus dem Zelt ins Freie hinaus und sog in tiefen Zügen die köstliche Morgenluft ein. Auch Albert Forster hatte ganz gut geschlafen, und bei der Erneuerung des Verbandes schien es, als ob die Heilung der Wunde einen günstigen Verlauf nahm. Aber ohne daß er darüber sprach, fühlte sich der Naturaliensammler doch sehr matt; es war der Zustand, der, wie er schon aus Erfahrung wußte, einem Fieber voranzugehen pflegt. Nicht nur der leidende körperliche Zustand, auch eine seelische Verstimmung, die unbestimmte Ahnung neuen Unheils bedrückte ihn, und es war ihm deshalb sehr recht, als Walter den Vorschlag machte, daß er mit Antonio ausgehen wollte, um vielleicht ein paar Wildhühner zu erlegen, die eine willkommene Verbesserung des nicht gerade üppigen Speisezettels bieten würden. Da konnte er ein halbes Stündchen oder länger sich selbst und seinen Gedanken überlassen bleiben.

Als die beiden gegangen und bald darauf seinen Blicken entschwunden waren, holte Albert Forster die Orchideen aus ihrem sicheren Lager von Laub und Moos hervor, brachte sie an die Sonne und versenkte sich mit neuem Entzücken in ihre wundervolle, fremdartige Pracht. Orchideenblüten erhalten sich bei richtiger Behandlung wochenlang frisch; diese, die noch keinen vollen Tag von ihrem Standort getrennt waren, hatten also noch nicht das geringste von ihrer Saftfülle, von der Leuchtkraft ihrer berückenden Farben eingebüßt. Ein schwärmerischer Glanz trat in die für gewöhnlich fast streng blickenden Augen des Blumenjägers, als er minutenlang die weißen, rotgesprenkelten Wunderblüten der heiligen Pflanze betrachtete, derselbe Ausdruck hingebender Andacht, der Weltentrücktheit, den Brockhusen bei seinem Mentor beobachtet hatte, als er die Sobralia mystica von ihrem Felsensitz herunterholte.

Albert Forster vernahm aus weiter Ferne einen Schuß. Walter schien also Erfolg zu haben und für den Mittagstisch war vielleicht schon gesorgt. Forster lächelte bei dem Gedanken an Walter. Der gute, frische Zunge! Zeder Tag bedeutete ihm einen neuen Gewinn, eine neue Lust, ihm, vor dem das Leben noch lag wie der Blumenteppich einer weiten, von treibenden Säften geschwellten Wiese ... Die Pflanzen im linken, gesunden Arm, wandte sich Forster langsam dem Wasserfall zu. Er wollte dort den erquickenden feuchten Hauch des aufgewirbelten Gischtes einziehen, zugleich auch die Orchideen damit erfrischen. Beim Gehen spürte er so recht, wie müde er war und wie es ihm im Blute lag, etwas Lauerndes, Feindliches – das heranschleichende Wundfieber oder was es sonst sein mochte.

Auf der Felsterrasse angelangt, die sich wie ein natürlicher Balkon über den Abgrund und den wilden Gebirgsstrom hinausschob, weidete Albert Forster seine Augen an dem erhabenen Schauspiel des Wasserfalls, der rasenden, schäumenden Flut zu seinen Füßen, deren ungebändigte Wut das Urgestein erzittern ließ, und der im Morgensonnenglanz leuchtenden Firne der höchsten Kordillerenkette. Begierig sog seine Brust den belebenden Dunst der Wirbel ein.

Als sich Forster wieder zur Umkehr wandte, machte er, wie versteinert vor Staunen, plötzlich halt. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen ...

Vor ihm, nur wenige Meter von ihm entfernt, stand John Harland ... Ein paar Sekunden lang zweifelte Forster an der Wirklichkeit der Erscheinung. Hatte ihn schon das Fieber befallen, narrten ihn Trugbilder der erhitzten Phantasie? ... Aber nein, der Mann dort war von Fleisch und Blut, und als er jetzt einige Schritte näher trat, sprach er mit gezwungenem Lächeln:

»Wie geht es Ihnen, lieber Kollege? Ein Zusammentreffen unter seltsamen Umständen, nicht wahr?«

Albert Forster übersah die ihm hingestreckte Hand. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen, und mühsam gegen die zunehmende Körperschwäche ankämpfend, sagte er:

»Wie kommen Sie hierher, Harland, und was wollen Sie von mir? Was soll die Komödie? Ihre neuen Ränke und Umtriebe gegen mich sind mir zur Genüge bekannt. Wie können Sie es wagen, mir vor die Augen zu treten? Wenn Sie noch einen Funken von Ehrgefühl im Leibe haben, so entziehen Sie sich meinen Blicken. Wir beide haben nichts miteinander zu schaffen.«

Mit seinem halb verlegenen, halb unverschämten Lächeln erwiderte Harland:

»Wozu die Aufregung, lieber Forster? Da sieht man wieder den unverbesserlichen Deutschen. Sie nehmen die Dinge viel zu ernsthaft und schwer. Fassen Sie doch unsern Wettlauf als fröhlichen Sport auf, als redlichen Kampf.«

»Sport? Redlicher Kampf?« wiederholte der Deutsche entrüstet. »Nennen wir das, was Sie treiben, lieber ein hinterlistiges Intrigenspiel!«

John Harland zuckte die Achseln. »Um zur Sache zu kommen,« sagte er, »will ich Ihnen nur kurz mein plötzliches Auftauchen hier erklären. Ich befand mich mit meinen Begleitern auf dem Abstieg zu den Llanos, als wir in der Nacht, unter freiem Himmel kampierend, von dem furchtbaren Unwetter betroffen wurden. Die Regenflut schwemmte unser Lager einfach fort, die Maultiere wurden durch einen Blitzschlag scheu, rissen sich los und galoppierten davon. Mein Kamerad, der noch in der Nacht die Tiere suchen ging, muß sich verirrt haben, er ist bis jetzt nicht zurückgekehrt. Und meine Träger sind mir weggelaufen. So bin ich augenblicklich allein. Ich sah Sie, auf der Suche nach meinem Genossen, von weitem und glaubte nichts Anstößiges zu tun, wenn ich Sie begrüßte. Sie tragen, wie ich sehe, den Arm in der Binde. Keine schwere Verletzung, wenn ich hoffen darf?«

Mochte das, was Harland erzählte, wahr sein oder nicht, jedenfalls blieb es ohne Eindruck auf Forster. Der Naturaliensammler erwiderte nach kurzem Besinnen:

»Nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist, damals in Guatemala und jetzt hierzulande, lehne ich jede Berührung mit Ihnen ab. Sie werden Ihren Weg zur nächsten Ansiedlung, die Sie in wenigen Stunden erreichen, wohl allein finden. Jedes weitere Wort zwischen uns erscheint mir überflüssig.«

Damit wandte sich der Deutsche zum Gehen. Aber in John Harlands Minen und Haltung ging jetzt eine Veränderung vor. War er bisher bemüht, den Höflichen, fast Unterwürfigen zu spielen, so entschied er sich, durch die schroffe Abweisung aufs höchste gereizt, plötzlich für eine andere Rolle.

»Holla, lieber Freund, nur nicht zu hochmütig, verstehen Sie mich?« rief er mit schneidendem Hohn. »Wir stehen hier Mann gegen Mann und ich habe keine Lust, mich von Ihnen wie einen Schulbuben abkanzeln zu lassen. Uebrigens, wozu eigentlich der Groll? Sie haben ja die Wunderorchidee erbeutet, wie ich sehe, also Ihr Ziel erreicht. Sie waren glücklicher als ich. Ich gratuliere. Wollen Sie nun nicht großmütig sein und mir wenigstens ein einziges Exemplar der Pflanzen überlassen, damit ich nicht ganz mit leeren Händen weiterziehe?«

Albert Forster schrak insgeheim zusammen. Er befand sich allein diesem Mann gegenüber, dem alles zuzutrauen war. Gerade jetzt ertönte wieder ein Schuß aus Walters Karabiner, aber aus so weiter Ferne, daß auf eine baldige Rückkehr des jungen Freundes nicht gerechnet werden konnte. Wäre er, Forster, heil und gesund gewesen, so hätte er es bei seiner Körperkraft und Gewandtheit selbst mit zwei Gegnern wie Harland ausgenommen. Aber sein rechter Arm war wehrlos und er fühlte sich krank und matt. Was konnte er tun, wenn es diesem skrupellosen Mann einfallen sollte, Gewalt anzuwenden?

»Das ist ein eigentümlicher Scherz, den Sie da machen, Harland,« sagte Forster kühl und wandte sich wieder zum Gehen. »Selbstverständlich werde ich meine schwer errungene, wohlverdiente Trophäe nicht mit Ihnen teilen.«

»Nein, es war kein Scherz, das will ich Ihnen auf der Stelle beweisen!« schrie Harland, der jetzt auch die letzte Maske abwarf, in heller Wut. »Geben Sie mir freiwillig etwas von Ihrem Schatz, oder ich eigne es mir selber an.«

Als der Deutsche voller Empörung eine abwehrende Bewegung machte, suchte John Harland ohne weitere Umstände nach den Pflanzen zu greifen, die Forster in der Linken trug. Es entstand ein verzweifeltes Hin und Her, ein Drängen und Sträuben, eine Art Ringen, wobei Albert Forster bei seiner körperlichen Behinderung bald unterliegen mußte. Das Handgemenge brachte die beiden auf dem von Wasserdampf feuchten, schlüpfrig glatten Boden der Felsterrasse in immer gefährlichere Nähe des Abgrundes. Forster fühlte, daß seine Widerstandskraft erlahmte, daß ihm Harland im nächsten Augenblick die Pflanzen, die seine Hand noch krampfhaft umklammert hielt, entreißen würde. Sollte er die kostbare Beute, die Erfüllung seiner sehnsüchtigen Wünsche, diesem Schurken überlassen? Nein, tausendmal nein! Lieber wollte auch er auf die Pflanzen verzichten, lieber sollten sie für immer verschwinden!

Und mit jähem Entschluß schleuderte der Orchideenjäger die weißen Wunderblüten, die heiligen Blumen, weit in den Strom hinein, in die tosenden Wellen

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Mit einem Wutschrei hatte John Harland Forsters erhobenen Arm zu packen, das Fortwerfen der Pflanzen zu verhindern gesucht. Aber vergebens. Und als er im Sprung noch eine der Orchideen erfassen wollte, verlor er auf dem glatten Gestein den Halt, glitt aus, stürzte über den Rand des Abgrunds – und war im nächsten Augenblick verschwunden.

*

Zwei Tage waren seit diesem Ereignis vergangen, da schlug Albert Forster nach langem, von wirren Träumen erfülltem Schlaf die Augen auf.

Wo befand er sich? Sein schwerer, dumpfer Kopf vermochte keine klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte lange, bis er allmählich zur Besinnung kam und die Gesichter Walters und Mayas erkannte, die sich über sein Lager beugten. Hinter den beiden sah er dann auch Antonio.

»Wie fühlen Sie sich, lieber, guter Freund?« fragte Walter Brockhusen in herzlichem Ton.

»Danke – so leidlich. Aber wollen Sie mir nicht erklären ...? Wo bin ich hier? Und Maya? Wie kommt Maya hierher?«

»Das ist sehr einfach,« sagte Walter lächelnd, während das Indianermädchen voller Mitgefühl die Hand des Kranken drückte. »Sie befinden sich hier in Mayas Hütte und in bester Pflege. Alles andere werden Sie bald erfahren. Vorläufig sollen Sie aber noch ganz ruhig liegen und an gar nichts denken.«

Am Abend dieses Tages fühlte sich der Naturaliensammler so weit gekräftigt, daß er im Zusammenhang vernehmen konnte, was sich seit den furchtbaren Augenblicken des Ringens mit Harland und seit dem Verschwinden des Ränkeschmieds in den wilden Wassern des Bergstromes ereignet hatte. Denn seine eigenen Erinnerungen waren infolge des Fiebers nur verworren und lückenhaft. Walter erzählte:

Als er und Antonio auf dem Gebirgskamm von der Jagd in gehobener Stimmung – sie hatten einige feiste Wildhühner erlegt – zur Lagerstelle zurückkehrten, fanden sie dort zu ihrer Bestürzung Albert Forster halb bewußtlos vor. Nur in abgerissenen Worten konnte der Kranke von der Begegnung mit Harland am Wasserfall und seiner Überrumpelung durch den Intriganten berichten, dann verwirrten sich seine Sinne, und er fiel in heftige Fieberdelirien.

Der junge Mann war ratlos und fassungslos. Er machte sich die bittersten Vorwürfe darüber, daß er den Verwundeten, der schon vorher leidend gewesen war, allein gelassen hatte. Was sollte man nun tun? Albert Forster zur nächsten Ortschaft in den Llanos hinabtransportieren? Aber das ging doch nur in der Weise, daß man den Kranken aufs Maultier setzte und dort festhielt, und war das bei seinem Zustand überhaupt möglich?

In dieser grenzenlosen Verlegenheit nahte sich ungeahnte Hilfe. Als Walter Brockhusen mit Antonios Unterstützung noch um Forster bemüht war, so gut die beiden es eben verstanden, tauchte zu ihrer Überraschung von der Seite der Llanos her ein großer Zug von Weißen und Mestizen auf, eine schier endlose Reihe gutbewaffneter Leute, teils beritten, teils zu Fuß, in Begleitung von Gepäcktieren, im ganzen etwa 200 Mann. Es stellte sich bald heraus, daß es Ansiedler aus den Llanos waren, die sich mit Unterstützung der Landpolizei im Vormarsch gegen die »Indios bravos« des Gebirges befanden, um mit ihnen wegen zahlreicher Viehräubereien und anderer Gesetzlosigkeiten einmal gründlich abzurechnen.

Dem jungen Deutschen fiel es jetzt ein, daß die Motilons von der Absicht einer Strafexpedition gegen sie bereits Kunde erhalten hatten; standen doch Forster und er, wie es vorgestern der Häuptling Tortuga offen ausgesprochen hatte, im Verdacht, für die weißen Ansiedler Späherdienste zu leisten. Brockhusen ließ sich dem Führer des Expeditionskorps, einem verständig dreinblickenden alten Farmer, vorstellen und berichtete in Kürze von den Ereignissen der letzten Tage. Vor allem aber bat er um schleunige Hilfe für den Kranken.

Diese wurde sofort auf das bereitwilligste und, da sich bei dem Expeditionskorps ein Arzt nebst einigen Samaritern befand, in so sachkundiger Weise gewährt, daß Forsters Zustand beim Wiederaufbruch der Expedition, die auf dem Gebirgskamm einige Stunden gerastet hatte, erheblich gebessert war.

Der Expeditionsführer schlug den Deutschen vor, nicht zu den Llanos hinabzusteigen, sondern sich der Truppe anzuschließen und mit ihr zur Siedelung der Motilons zurückzukehren. Der Naturaliensammler genösse auf diese Weise alle Vorteile eines möglichst bequemen Transports und könnte dann unten im Tal der Indianer, die man sicherlich rasch zurückwerfen würde, gute Unterkunft in einer Hütte und weiteren ärztlichen Beistand erhalten.

So geschah es denn auch. Da Albert Forster zu schwach war, um sich auf dem Maultiere halten zu können, richteten die Samariter, die sich des Kranken aufs liebevollste annahmen, rasch eine Bahre für ihn her. Auf demselben schmalen Saumpfade, den die Reisenden tags zuvor hinaufgezogen waren, ging es nun wieder bergab, Forster von ein paar stämmigen Männern auf der Bahre getragen und Brockhusen hinterdrein.

Es begann schon zu dunkeln, als die Expedition im Tal anlangte und unter Beobachtung aller Sicherungsmaßnahmen gegen die Niederlassung der Motilons vorrückte. Aber Gelegenheit zum Kampf fand die Truppe nicht, wenigstens vorläufig nicht. Denn wie sich bald herausstellen sollte, waren die Indianer durch ihre Späher vom Nahen der Ansiedler rechtzeitig in Kenntnis gesetzt worden und hatten in Anbetracht der großen Kopfzahl und starken Bewaffnung des Korps es für vorteilhafter gehalten, sich tiefer in die Wildnis zurückzuziehen, da sie bei einem Zusammenstoß im freien Gelände wahrscheinlich doch zu schlecht davongekommen wären. Nur eine kleine Anzahl alter Leute, Frauen und Kinder waren im Vertrauen darauf, daß ihnen die Weißen nichts zuleide tun würden, im Tal geblieben, im übrigen lag die Siedelung völlig verlassen da, und die Indianer hatten auch alles mitgenommen, was nur einigermaßen wertvoll für sie war.

Als die Mitglieder der Expedition sich auf die einzelnen Hütten verteilten und in ihnen Quartier bezogen, wurde Forster auf seinen Wunsch mit Brockhusen und Antonio bei Maya untergebracht, die mit ihrem kranken Großvater ebenfalls zurückgeblieben war. Ein trauriges Wiedersehen! Das arme Mädchen, das sich infolge des Abzugs der Stammesgenossen und wegen der Ungewißheit seines künftigen Schicksals ohnehin in tiefster Niedergeschlagenheit befand, war durch den leidenden Zustand des Deutschen so erschüttert, daß es in Tränen ausbrach. Es überwand aber seinen Schmerz und zeigte sich mit rührender Hingabe um den Kranken bemüht.

Nun folgten bange, schwere Stunden für Walter und Maya, nicht minder auch für den braven Burschen Antonio, der seinem Herrn mit aufrichtiger Treue ergeben war. Albert Forsters Zustand verschlechterte sich von neuem, das Fieber schüttelte seinen Körper, der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht. Gegen Abend wurde es besonders schlimm. Tiefbekümmert umstanden die Pfleger das dürftige Lager, auf dem sich der Kranke unruhig wälzte. Sein Geist wanderte in ferne Jugendtage zurück, und worüber der verschlossene Mann in seinen gesunden Tagen niemals gesprochen hatte, das verrieten jetzt bei den Phantasien des Fiebernden zusammenhanglose, abgerissene Worte.

Etwas anderes Schweres stand noch bevor. Walter hatte die Absicht gehabt, zum Ersatz für die von Forster weggeworfenen und der Vernichtung geweihten Orchideen neue Exemplare zu besorgen. Er war deshalb, mit der Schutzsalbe versehen, in Begleitung Antonios nach dem Fundort im Walde ausgezogen. Aber nach einigen Stunden kam er enttäuscht mit leeren Händen zurück. Alle Orchideen waren verschwunden! Die Priester der Motilons hatten die heiligen Blütengewächse also vom Felsen heruntergeholt und entweder an eine andere, verborgene Stelle verpflanzt oder auf der Flucht mitgenommen. Was würde der Orchideenjäger sagen, wenn er das erfuhr!

Ob er jedoch wohl überhaupt noch etwas in dieser Welt erfahren und sagen würde? ... Sein Befinden verschlechterte sich gegen Abend so, daß man auf das Schlimmste gefaßt sein mußte.

»Ich fürchte, er wird hinübergehen – dorthin, von wo es keine Rückkehr gibt,« sagte Walter Brockhusen mit tonloser Stimme zu Maya.

Aber das Mädchen schlug die Augen auf, blickte den Jüngling an und erwiderte fest und überzeugt:

»Nein, er wird genesen; ich weiß es, er wird genesen.«

*

Und in der Tat, es hatte den Anschein, als ob Maya mit ihren prophetischen Worten recht behalten sollte. Das Fieber ließ nach, eine entschiedene Wendung zum Besseren machte sich kund, langer und tiefer Schlaf förderte die Kräfte des Kranken. Am Abend des zweiten Tages war Albert Forster wieder im vollen Besitz seiner geistigen Frische, der Heilungsprozeß nahm einen befriedigenden Verlauf, und nur eine große Mattigkeit, die Nachwehen der schweren Erkrankung, war noch zu überwinden.

Brockhusen hielt es für richtig, dem Genesenden nicht zu verschweigen, daß die Orchideen von der bisherigen Stelle ihres Wachstums verschwunden waren, und daß kaum noch Hoffnung bestand, sie jemals wiederzufinden.

Der Naturaliensammler nahm die Nachricht mit Ruhe auf. Er lächelte nur wehmütig und versank in langes, stilles Sinnen. Dann sagte er:

»Es würde mir Freude bereiten, wieder einmal ein deutsches Lied zu hören. Wollen Sie etwas zum Besten geben, Walter?«

Der junge Freund verfügte über eine hübsche, wohlklingende Stimme und hatte im Verlauf der Reise schon so manches ernste oder fröhliche Lied gesungen. Ohne zu zögern, kam er dem Wunsch des Genossen auch jetzt mit Vergnügen nach. Er überflog in Gedanken rasch sein nicht eben allzu umfangreiches »Repertoire« und stimmte dann – war es Zufall, war es Eingebung? – Friedrich Rückerts gemütvolle Weise an:

»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar,
Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
Was mein einst war ...«

Als Walter zu jener Strophe des Liedes kam, wo es heißt:

»Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst ...«

sah er, wie der Patient, halb aufgerichtet auf seinem Lager, sich abwandte und das Gesicht mit der Hand bedeckte. Erschrocken und verlegen hielt der Jüngling inne, aber Forster hatte sich rasch wieder gefaßt und winkte ihm lächelnd zu, fortzufahren.

Die letzten Klänge des Liedes waren verhallt, da griff der Naturaliensammler nach Brockhusens Hand und sprach in weicherem Ton, als es sonst seine Art war:

»Haben Sie Dank, lieber Walter. Sie wußten nicht und konnten es auch nicht ahnen, welche Empfindungen gerade dieses Lied in mir erwecken mußte. Da drängt es mich plötzlich, Ihnen, als dem ersten und einzigen Menschen, zu dem ich mich darüber äußere, etwas von meiner Jugend zu erzählen, und wie es kam, daß ich das wurde, was ich bin.

Es läßt sich mit wenigen Worten sagen. Es ist auch eigentlich eine sehr simple Geschichte ... Ich war ein junger Mann, etwas älter als Sie, mein Freund, und lebte in einer Universitätsstadt Mitteldeutschlands. Ich lernte ein junges Mädchen kennen, schön und rein. Wir faßten die herzlichste Zueignung zueinander, wir liebten uns innig, wir hatten das sichere Gefühl, vom Schicksal füreinander bestimmt zu sein. Niemand zweifelte daran, daß wir eines Tages, sobald ich meine feste Anstellung erhalten hatte, den Bund fürs Leben schließen würden.

Es sollte anders kommen. Ein Fremder trat in unseren kleinen Kreis. Er näherte sich meiner Erwählten – – er bewarb sich um sie. Das Schicksal hatte uns beide ungleich bedacht. Ich war ein frühzeitig verwaister, unbemittelter Botaniker, er, ein schon älterer Mann, war begütert und unabhängig. Die Eltern des Mädchens entschieden sich für ihn – und das Mädchen hat sich nach hartem Kampf dem Willen der Eltern gefügt, es ließ mich ziehen. Leicht ist es ihm nicht gefallen ...

Sicherlich hätten tausend andere junge Leute das Leid bald verschmerzt. Ich konnte es nicht, ich hatte zu tief gefühlt, zu schwer war meine Enttäuschung. Es litt mich nicht mehr in der Heimat. Ich hatte dort nichts mehr zu verlieren und zu gewinnen. Mein Bündel war rasch geschnürt, ich wanderte nach Nordamerika aus.

Dort habe ich mich, auch die gröbsten Dienstleistungen nicht scheuend, im Gärtnerfach von unten herauf langsam emporgearbeitet, bis ich endlich meinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und als Blumenjäger auf Reisen gehen konnte. Seltenen Blütenpflanzen nachzustellen, sie zu entdecken und der Gartenkultur zuzuführen, dahin zielte mein ganzes Sinnen und Trachten, das wurde mein Lebensberuf, mein Lebenszweck. Mir waren die kostbaren Blumen, besonders die Orchideen, aber mehr als lediglich Gegenstände geschäftlicher Ausbeutung. Sie wurden mir zu Sinnbildern dessen, was ich so heiß geliebt, so heiß erstrebt hatte – zu Sinnbildern jener Unerreichbaren, und des schwer zu Erringenden überhaupt ... So bin ich ein einsamer Mann, ein Freund der Wildnis geworden. Und jetzt, mein lieber Kamerad, verstehen Sie wohl besser, was Ihnen bisher an mir vielleicht nicht immer klar gewesen sein mag.«

Der Naturaliensammler faßte die Hand Mayas, die natürlich kein einziges seiner deutschen Worte verstanden hatte und dennoch ihren Sinn zu erraten schien, und fügte nach einer Pause leise hinzu:

»Es ist seltsam, wie sehr mich dieses gute Indianerkind an jene ferne Jugendliebe erinnert, die inzwischen, wie ich erfahren habe, nach kurzer, unglücklicher Ehe längst gestorben ist. Es ist derselbe Klang der Stimme, derselbe Blick. Sollen wir an eine Wanderung der Seelen, an eine ewige Wiederkehr glauben, Walter?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Walter Brockhusen in Ergriffenheit, »aber daß wir uns auf die Ewigkeit und Allmacht der Güte verlassen dürfen, das glaube ich fest.«

*

Maya sollte recht behalten. Albert Forsters starke Natur überwand die schweren Folgen der Verwundung und des Fiebers schneller, als Walter gedacht hatte. Schon nach einigen Tagen war er wieder wohlauf und im Vollbesitz seiner Kräfte.

Hatte ihm das Schicksal versagt, die so heiß begehrte, mühevoll errungene Wunderorchidee zu behalten und sich Lovendaals Prämie zu verdienen, so ließ er sich durch diese bittere Enttäuschung, diese Zerstörung eines schönen Traumbildes doch nicht zu Boden drücken.

Nachdem er dafür gesorgt hatte, daß Maya zu einem Farmer in den Llanos kam, wo sie gut untergebracht und ihre Zukunft gesichert war, setzte der Sammler, neue Pläne und Ziele verfolgend, mit Walter Brockhusen und Antonio die Reise ins Gebiet des Amazonenstroms fort. Reiche Ausbeute an seltenen Pflanzen und anderen Naturalien ward dort sein Lohn und bot ihm Entschädigung für den Verlust der Sobralia.

Es ist wohl möglich, daß wir noch einmal die Wege dieses braven deutschen Pfadfinders und seiner Begleiter im tropischen Urwald kreuzen und dann von ihren weiteren Erlebnissen und Abenteuern erfahren!

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