Georg Freiherr von Ompteda
Die Tafelrunde
Georg Freiherr von Ompteda

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Die Hand

Von etwas ganz Seltsamem möchte ich erzählen, etwas Gräßlichem und Unerklärlichem zugleich. Und dennoch genau so geschehen, wie ich es mitteilen will. Hätte ich es nicht selbst erlebt und mit eigenen Augen gesehen – ich würde es nicht glauben. Sobald Sie, gnädigste Schwester und meine Herren, was ich berichte, zu Ende gehört haben, könnte ich mich nicht wundern, wenn ich in Verdacht käme, kurz vor dem Ereignis einen Weinkeller entdeckt oder sogar nur geträumt zu haben. Wahrhaftig, zu beidem war keine Möglichkeit, denn es geschah an jenem Tag von Grigneux-les-avants, wo unser Regiment die stärksten Verluste hatte im ganzen Feldzuge bis heute. Das lange Liegen in Reserve, endlich der Sturm auf das brennende Dorf und jenes Gemetzel von Hof zu Hof, von Haus zu Haus – Gemetzel nannte es der Herr Oberst selbst – ist Ihnen ja allen noch im Gedächtnis. Für unsere Gäste, die den blutigen Tag nicht erlebt haben, möchte ich nur mit ein paar Worten die Situation nach dem Gefecht erklären:

Wir standen auf dem äußersten rechten Flügel. Der Vormarsch sollte auf der weit links, das Zentrum der Stellung durchschneidenden schnurgeraden Chaussee stattfinden, die nach Sedan ... wie meinen, Herr Oberstleutnant?... ach so, jawohl, also die nach Paris führt. In geradezu kopfloser Flucht hatte der Gegner nach heldenmütigem Widerstand Grigneux- les-avants verlassen. War vorher jede Hecke, jede Gartenmauer wütend verteidigt worden, so schien nun mit einem Mal aus den Helden, wie wir die Franzosen, die uns gegenüberstanden, wohl nennen dürfen, eine disziplinlose Horde von Räubern geworden zu sein. Ja, Räubern, denn die Überlebenden aus dem ›Gemetzel‹ benahmen sich nicht anders. Offiziere schienen sie nicht mehr zu haben, die waren verwundet oder gefallen, und als wir nun Herren des Dorfes geworden, kam über den Rest der Rothosen, Linieninfanterie und Zuaven, das Sauve-qui-peut, panikartig sich verbreitend. Als ob ein Signal gegeben worden wäre, rissen die Kerls plötzlich aus dem letzten Verhau an der Straße aus. Wir sahen, wie sie den gefallenen Kameraden die Feldflaschen vom Riemen schnitten. Sie schmissen die Gewehre fort, sie rannten um die Wette.

Bald blieb das brennende Dorf hinter uns. Wir waren den Fliehenden hart auf den Fersen. Alles drängte dem Zentrum, der großen Chaussee zu, der Fluchtlinie der Franzosen, auf der sie am schnellsten vorwärts kommen konnten, der Etappenlinie für uns. Grigneux-les-avants lag nun ganz verödet auf dem rechten Flügel, nichts davor, nichts hinter dem Dorf. Und da fast allein die kahlen Mauern der abgebrannten Gehöfte gen Himmel ragten, die Einwohner aber schon vor dem Gefecht die Ortschaften der ganzen Gegend verlassen hatten, so schien es allein den Toten zu gehören, denn die Verwundeten waren im Laufe des Nachmittags auf der ›Grande Route‹ in die Feldlazarette zurückgeschafft worden.

Als das rauchende Grigneux-les-avants längst unsern Augen entschwunden war, wurde haltgemacht. Die erschöpften Mannschaften warfen sich hin, wo es eben war. Kleine Kommandos gingen Wasser holen. Die andern lagen todmüde im Straßengraben. Nur ab und zu tauschten sie siegesfrohe Zurufe mit Kameraden, die auf der rechten Straßenseite Trupps von Gefangenen zurückführten: einzelne wilde, wütende, finstere Kerls, meist aber dumme französische Bauernjungen, denen man vom Gesicht zu lesen glaubte, daß sie eigentlich mit ihrem Schicksal nicht weiter haderten, denn sie hatten genug vom Schießen und Laufen. Sie sahen verhungert aus und verlangten vor allem zu trinken.

Nun, wir, die dritte Kompagnie oder vielmehr, was von uns noch übrig war, konnten ihnen nicht helfen, denn eben kam der Befehl: ›Dritte Kompagnie zurück nach Grigneux-les-avants, die Gefallenen zu begraben.‹ Das traurigste, das schwerste Kommando und doch das ehrenvollste: den Brüdern ein ehrliches Grab bereiten! Wer hätte es sonst tun sollen? In Grigneux- les-avants war niemand, niemand als die Toten. Und weit ab der Etappenlinie – kam auch sobald wohl keiner hin. Sollten wir sie den Tieren überlassen?

Ich führte die Kompagnie. Der Hauptmann war schon verwundet. Der Premierleutnant, unser lieber Mahlknecht, tot. Wir marschierten die ›Grande Route‹ zurück, und jetzt erst sah ich mit wachen Augen, was um mich war, denn das erstemal, als wir ihr gefolgt, war in uns noch die Kampfeswut gewesen und der Gedanke: Gefangene machen, sie aufreiben, sie nicht zum Sammeln kommen lassen! Vor und hinter uns zogen Trupps von Gefangenen, zu Tode ermattet, manchmal angetrieben von irgendeinem Unteroffizier, der im Recht war, zu fluchen, zu hetzen, denn schon sank die Sonne, bisweilen aber auch von einem blonden, grobknochigen, norddeutschen Bauernsohn, das schwarze Turkogesindel, die gelben dunkeln Rothosen um Haupteslänge überragend, sie betreuend wie eine Mutter. Sie kriegten Verbandzeug, einen Schluck aus der Flasche, ja, ein braver Pommer hatte einem französischen Spahioffizier, der humpelte, sei es, daß er angeschossen war oder des Gehens so ungewohnt, fast respektvoll wie einer Dame den Arm gereicht.

Rechts und links der Straße lagen Protzen, demontierte Mitrailleusen, Fouragewagen mit Achsenbruch, die Räder flehend gen Himmel gestreckt, Tornister, Koppel, Epauletten, da ein Feldstuhl, ein Köfferchen, dort Spielkarten, in alle Winde geblättert, ein Toilettennecessaire mit allen möglichen Bürstchen und Fläschchen, fortgeworfene Gewehre, Patronentaschen und auch hier und da Leichen der Gefallenen. All das war gewaltsam beiseite geräumt worden, die Straße freizumachen für die flüchtende Armee.

Bald bogen wir ab, dem immer noch glühenden, schwelenden Dorf zu, aus dessen in Brand geschossenen Häusern ab und zu hoch die Flammen emporschlugen. Krachend, prasselnd stürzten Balken nieder, und eine Sternensaat von Funken schoß empor, um bald wieder dumpfem Qualm zu weichen, der als schwere Wolke über dem Dorf lagerte. An dem windstillen Tage fand er sich nicht fort. Er verdunkelte die Luft, je näher wir kamen, und immer stärker wuchs der Dunst von Rauch und der Geruch nach verbranntem Menschenfleisch und nach Blut. Schon auf den zertretenen und zerstampften Wiesen und Feldern vor dem Dorfe fanden wir Tote. Keine Verwundeten mehr. Die Krankenträger hatten bereits alles abgesucht. Wir trugen die Gefallenen in einen Garten, der hinter dem verbrannten Haus, zu dem er gehörte, fast unberührt mitten in all der Zerstörung lag, wie ein kleines Eden. Nach ein paar Fußtritten stürzte der zierliche Zaun um, dann häuften wir die Leichen unter dem friedlichen Grün der Bäume. Ein wenig welk waren die Blätter wohl, verdorrt, versengt, ängstlich zusammengerollt, als hätten sie sich schützen wollen vor der dörrenden Hitze des brennenden Dorfes. Auf Blumen betteten wir links die Franzosen, auf Blumen rechts unsere Kameraden. Und mancher meiner Leute fand just den braven Jungen wieder, neben dem er wochenlang in Reih und Glied marschiert. Aber wenn er auch dem Freunde vielleicht die starre gelbe Hand zum letztenmal noch drückte, zu Jammern und Wehklagen war keine Zeit. Wär auch eines preußischen Soldaten nicht würdig gewesen.

Also rechts lagen die Preußen, links die Franzosen, und da nicht viel Platz war, eng gebettet, ja wohl fast übereinandergeschichtet hier und da. Nun galt es, das Grab schaufeln. Ein gemeinsames, großes. Ich bestimmte dazu das Feld, das dicht an den Garten stieß, damit wir sie nicht weit zu tragen hätten. Und während meine Leute hackten, gruben, schaufelten, ging ich mit dem Feldwebel noch einmal durch die glimmenden, wie ein Meiler rauchenden Trümmer des Dorfes, um nachzuforschen, ob auch kein Toter übersehen worden. Furchtbar sah es da aus. Auf der Straße, – es hatte ja die Tage vorher geregnet – liefen Fußspuren durcheinander, etwa wie an einem Markttage. Tief waren die Gleise der zurückgeschleppten Geschütze eingeschnitten. An einzelnen Stellen lagen Sprengstücke umher, Blindgänger guckten aus dem Boden gleich Spargelköpfen, Blutlachen, erstarrt, aber dunkelrot, als sei da ein Tier geschlachtet worden. An den abgedeckten, eingerissenen Mauern sah man die Spuren der Arbeit der Verteidiger, die sich Schießscharten ausgesprengt, an den zerschossenen Fenstern, den zerbrochenen Toren und Türen die Gewalt, mit der unsere Leute sie eingerannt. In der ärmlichen Dorfkirche, durch deren Dach unsere den Sturm vorbereitenden Granaten geschlagen waren, trauerte der Altar am Boden, die Wände waren mit Löchern förmlich gemustert. Aber unsere Leute hatten gute Arbeit getan: Wohl lagen Montierungsstücke umher, Patronen, Gewehre, aber wir fanden keinen Gefallenen. Freilich, was da etwa unter den Trümmern, unter Asche, Balken, Steinen der Häuser lag? Wie sollten wir da suchen? Und wenn es Kameraden gewesen wären? Wir hatten keine Zeit! Ich hatte den Befehl, für die Nacht Ortsbiwak zu beziehen mit meinen Leuten, und am nächsten Morgen sollten wir auf der ›Grande Route› zum Regiment stoßen.

Aber erst galt es, die Toten zu begraben. Als ich zurückkam an den Garten, hatten die Leute ihre traurige Arbeit schon fast beendet. Der für das Massengrab abgesteckte Raum war beinahe ausgeschaufelt. Freilich nur eben tief genug, die gefallenen Kameraden, in der Mutter Erde gebettet, dem Licht des Lebens zu entziehen. Ich trug Bedenken: die Grube schien mir gar zu flach ... aber meine Leute hatten einen schweren Gefechtstag hinter sich, vorher einen gewaltigen Marsch, heute Verfolgung, Rückmarsch, und morgen mußten wir schon vor Tagesanbruch stellen, sonst erreichten wir am Ende das Regiment nicht mehr. Immerhin mahnte ich noch einmal, und die Kerls fingen wieder an zu schaufeln, während dicht neben ihnen, nur durch die Trümmer des niedergetretenen Zaunes getrennt, die Reihe der Gefallenen lag, die Füße uns zugewendet wie eine Mauer von Stiefeln.

Ich blieb bei der klirrenden, stumm getanen Arbeit stehen und starrte hinaus dem Laufe der ›Grande Route‹ entlang, ein paar einzelne Bäume mir einzuprägen als Richtpunkte für den Marsch morgen früh. Tiefes Schweigen lag über der Ferne, kein Schuß, kein Laut auch nur, der die Anwesenheit zweier Armeen verraten hätte. Da, wie ich so hinüber sah, gerade über die gelben, in der Abendsonne leuchtenden Halme eines Kornfeldes hinweg, fiel mir irgend etwas auf. Es flimmerte. Ich blickte schärfer hin: etwas blitzte. Nun war es verschwunden. Doch im gleichen Augenblick zuckte es wieder auf: etwas Glänzendes, darauf ein letzter Sonnenstrahl fiel. Da mit einem Male hatte ich es erkannt, und zugleich zeigte der Feldwebel hinüber mit den Worten:

›Herr Leutnant – eine Hand!‹

Wahrhaftig, eine Hand. Eine dunkle, sonnenverbrannte Männerhand. Daran blitzte ein Ring, auf den das Licht fiel. Die Hand ging leise hin und her. Nein. Ein Irrtum. Im Abendwind neigten sich nur die Halme. Zugleich eilten der Feldwebel und ich hinüber. Und ich gestehe es ruhig, mir war ein wenig eigen zu Sinn. Wie ein Winken schien es mir, ein grausiges Winken, denn diese Hand, wir sahen es, je näher wir kamen, diese Hand, gelbbraun mit den blutlosen Nägeln, gehörte einem Toten. Einen Augenblick darauf löste sich das Rätsel: das Kornfeld, in dessen Ähren wir uns der gespenstischen Hand genähert, lag tiefer als der nächste, daran stoßende Acker. Auf dem Feldrain nun ruhte ein gefallener französischer Offizier. Sein Gesicht war durch den Tod entstellt. Der Feldwebel sagte: ›Der liegt schon länger, Herr Leutnant!‹

Und er deutete auf die Spuren der Zersetzung. Vielleicht war der Franzose bei einem Patrullengefecht am Tage vorher gefallen, möglicherweise von einer verirrten Kugel getroffen. Oder – wer mochte es wissen – die Sonne hatte das Werk der Zerstörung beschleunigt, sie, die den Lebenden doppeltes Leben bringt, den Toten doppelt schnelles Verschwinden. Nun löste sich auch das unheimlich Gespenstische der emporgehobenen Hand: an einem Grenzstein am Felde lehnte sie, durch ihn war sie noch in der Erstarrung aufrecht festgehalten worden. Der Ring aber daran trug keinen Stein, wie ich zuerst gemeint, sondern war ein einfacher goldener Reif. Auf dem Golde hatte die Sonne geblitzt, ohne die wir ebensowenig etwas von dem Gefallenen bemerkt hätten wie vielleicht hundert andere zuvor, die in unmittelbarer Nähe – die niedergetretenen Halme bewiesen es – fliehend oder verfolgend vorübergekommen waren.

Eben wollten wir beide den Toten aufheben, ihn zum Massengrabe hinüberzutragen, als ich auf der linken Manschette etwas gekritzelt fand. Nur wenige Worte, schwer zu entziffern. Endlich las ich: ›Prière d'envoyer ma bague à ...‹ ›Bitte, meinen Ring zu senden an ...‹ Damit brach es ab. Ich übersetzte es dem Feldwebel, und wir suchten nach dem Bleistift. Da lag er, der Hand entfallen, im Grase. Mir war ganz bewegt zu Sinn, zugleich schmerzte es mich, des toten französischen Kameraden Wunsch nicht erfüllen zu können. Der Feldwebel öffnete die von einer Kugel zerfetzte Uniform – kein schöner Anblick eben, denn der Tote ging schon in Verwesung über. Doch keine Brieftasche, nichts war zu finden, das uns den Namen genannt hätte. Einen Augenblick überlegten wir, doch es mußte gehandelt sein. Die Sonne sank. Da ergriff der Feldwebel die erstarrte Hand und mühte sich, den Ring abzuziehen. Es wollte nicht gehen. Er versuchte es noch einmal, mit aller Gewalt, so daß ich es ängstlich verbot, denn ich fürchtete, er möchte ihm den Finger abreißen. Der Feldwebel meinte – und es entsprach ja eigentlich auch meinem Gefühl – man müsse ihm doch den letzten Wunsch erfüllen! Aber Zeit war nicht zu verlieren, so trugen wir den Toten hinüber zum Massengrab. Dort aber lagen die Gefallenen schon so eng, daß kein Platz mehr für ihn war. Die Leute schaufelten auch bereits die Grube zu. So ließen wir den Offizier liegen, bis die trübe Arbeit beendet wäre. Ich stand dabei, wie die Erdklumpen prasselten und die Schollen flogen und der endlose Hügel sich wölbte, anzuschauen wie jene langgestreckten Erdhaufen auf herbstlichen Feldern, in denen die Bauern die Kartoffeln überwintern. Ich stand dabei, und immer fiel mein Auge auf den französischen Kameraden in den zertretenen Blumen des Gartens, den erstarrten Arm erhoben mit der gelbbraunen Hand, an der jener Ring blitzte, nach letzter Bitte zurückzusenden. Wem? Einer Dame? Seiner Frau vielleicht? Da trat ich noch einmal heran. Nein, ein Ehering war es nicht. Gewunden schien er, und wie ich mich niederbeugte zu der gespenstisch wie im Schwur erhobenen Hand, erkannte ich, daß Gestalten darauf waren, zwei Körper, fein in Gold ziseliert, Mann und Frau, ein Ritter und eine Edeldame, rund um den Ring. Sie streckten sehnsüchtig die Arme nacheinander aus. Das Weib hatte die Augen geschlossen, als handele es nur im Traum, gleichsam ohne zu wissen, was es tat. Er aber schlug groß die Lider auf. Fast berührten sich ihre Fingerspitzen. Fast. Nicht ganz, denn zwischen ihnen – die einzige Stelle, wo der Ring durchbrochen schien – blieb ein leerer Raum. Sie konnten zueinander nicht kommen.

Ich war so vertieft gewesen, die Rätselgestalten auf dem Ringe zu deuten, daß ich erschrocken aufsah, als die Stimme des Feldwebels neben mir klang. Er meinte wiederum, man müsse den letzten Wunsch des Gefallenen erfüllen. Nun wurde ich selbst ganz erregt darüber: wie? Ja, wie denn nur? Schon höhlten die Leute eine flache Orube für den Letzten, den toten Offizier. Und dann packten sie ihn, und müde, von der traurigen, ekeln Arbeit abgebrüht, vielleicht auch wegen des vorgeschrittenen Verwesungszustandes, warfen sie ihn hastig in das Loch. Wiederum war es nicht tief genug, wie mir schien. Wie sie die Erde darauf häuften, blieb, noch lange nachdem der Körper schon zugeschüttet, die aufgehobene Hand mit dem Ringe grausig stehen, als wolle der Tote an seine letzte Bitte erinnern. Das quälte mich so, daß ich befahl, den Gefallenen wieder auszugraben. Die Grube mußte tiefer sein. Da geschah etwas Gräßliches. Ein riesiger Tambour, wie wir wußten ein rüder Kerl, sprang mit einem Male wütend zu: ›Warte, dir wollen wir schon helfen!‹ Ehe ich es hindern konnte, hatte er den Arm gepackt, mit der Gewalt seiner mächtigen Fäuste niedergezwängt und unter den Körper des Toten gedrückt. Ich stellte den Tambour zur Rede, aber es hatte geholfen: von der Hand war nichts mehr zu sehen. Die Schollen fielen, der Hügel türmte sich. Die Arbeit war beendet. Ein paar roh zusammengezimmerte Kreuze und Tafeln, halb verkohlt, denn kein Stück Holz war in Grigneux-les-avants unversehrt geblieben, wurden auf den Hügeln in die Erde gesteckt, nur mit der Anzahl der Toten und dem Truppenteil. Bei den Franzosen, so gut wir es eben wußten.

Die schreckliche Arbeit war beendet. Ich ließ antreten, und durch die noch immer glimmenden, rauchenden Trümmer des Ortes marschierten wir zur Kirche. Darin sollte biwakiert werden. Vorposten wurden eingeteilt. Ich ging mit ihnen, um sie selbst aufzustellen. Währenddessen streckten sich die Leute hin. Bänke, Altarstücke mußten als Kopfstützen dienen. Bald lag alles in tiefem Schlummer, denn da wir nichts zu essen hatten, die Brotbeutel leer, die Taschen noch leerer waren, konnte nicht abgekocht werden. Auch zu trinken gab es nichts, denn die Franzosen hatten, ehe sie das Dorf aufgeben mußten, in sinnloser Wut die Brunnen verunreinigt. Da man nun gerade an jener Stelle, wo das Massengrab lag, den weitesten Überblick hatte, so stellte ich dort den Schnarrposten auf. Er kam an einen Feldweg zu stehen, etwa zwanzig Schritte nur vom Einzelgrabe des französischen Offiziers, dessen Hügel sich vor dem andern langgestreckten wölbte. Ich instruierte den Mann über das Terrain, zeigte ihm noch einmal, wo etwa in der Ferne die Grande Route lief und wahrscheinlich das Regiment Biwak bezogen hatte. Freilich, viel konnte man nicht sehen, denn die Dunkelheit war schon zu tief. Nur die hellere, frisch geschaufelte Erde von den Gräbern schimmerte herüber, vom halben Schein der noch immer schwelenden Balken der eingestürzten Dachstühle bestrahlt. Dann kehrte ich todmüde zur Kirche zurück, wo wild durcheinander die Leute in totengleichem Schlummer am Boden lagen. Die ewige Lampe, aufgefüllt oder noch mit einem Rest von Öl, das einzige fast, das der Wut unserer Granaten nicht zum Opfer gefallen war, brannte in rötlichem Schein, eben noch hell genug, um unfern der Tür das letzte freie Plätzchen zu zeigen.

Ich streckte mich aus, öffnete die Kragenheftel, lockerte den Säbelgurt und legte den Kopf auf den Arm. Aber seltsam: ich konnte nicht einschlafen. Immer dachte ich an die Hand, die so gespensterhaft über den Halmen erhoben mir entgegensah mit dem Blitzen des Ringes, als wolle sie mahnen an des Sterbenden letzten Wunsch. Sie stand vor mir, die braungelbe Hand, sobald ich die Augen schloß, und wenn ich sie öffnete, war es mir, als sähe ich sie über all den in rötlicher Halbdämmerung auf dem Boden der Kirche Ruhenden erhoben. Sie verfolgte mich wie Alpdrücken. Die Vision quälte mich mit ständiger Gegenwart. Die Bilder des Tages, alle Szenen des Gefechtes beschäftigten noch meine Phantasie, denn, Herr Oberst, ich bin ein junger Offizier, und es ist mein erster Feldzug, aber immer, immer wieder quälte mich die Hand, die überall emporragte, als fände sie keine Ruhe im Grabe. Da suchte ich die Gedanken abzulenken, indem ich allein an den Ring dachte, mit seinen sehnsüchtig ausgestreckten Gestalten, die sich einander näherten und doch geschieden schienen, symbolisch getrennt durch einen Einschnitt im Ring. Ich sah die geschlossenen Augen des Weibes, ich sah die zu ihr aufgeschlagenen des Mannes. Allerlei Vermutungen kamen mir. Irgendein Geheimnis fühlte ich, und wirklich, durch andere Gänge der Gedanken, bannte ich so die quälende Gegenwart der Hand. Nur einschlafen konnte ich nicht. Immer kam mir wieder die Frage: wer mochte jene sein, der sein letzter Wunsch gegolten, jenes Mädchen, von dem er geschieden war, wenn ich den Ring recht verstand, durch die auf dem Ring angedeutete Kluft. Meine Einbildungskraft sah sie vor mir – warum, vermöchte ich nicht zu sagen – mit tiefdunkeln Flechten um den runden Kopf gesteckt, und unter den hochgeschwungenen Augenbrauen waren die Lider geschlossen wie auf dem Ring. Aber – seltsam – Haar und Züge glichen denen des toten französischen Offiziers. Meine Gedanken verwirrten sich, ich schlief ein.

Als ich aufschreckte, erblickte ich das rote Dämmerlicht der ewigen Lampe über den Schläfern, die den ganzen Raum der kleinen Kirche füllten. Bleierne Müdigkeit lag auf mir, und doch konnte ich nicht wieder einschlafen. Ich dachte an die gespenstische Hand, und es half mir nichts, daß ich mir sagen mußte, wie ein natürlicher Vorgang mir nur rätselhaft wurde durch die Einbildung. Ich blickte nach der Uhr. Noch eine Stunde, bis wir stellten zum Abmarsch. Ich erhob mich. Vorsichtig über die Körper meiner Leute steigend, gewann ich den Ausgang. Es war stickig heiß in der kleinen Kirche gewesen: die glimmenden Gehöfte rundum heizten bei der lauen Nacht nach heißem Tage, dazu verdarb der Atem so vieler Menschen wie der Brandgeruch, der über dem ganzen Dorfe schwebte, die Luft. Draußen blickte ich mich um. Nicht finster mehr war die Nacht wie gestern am Abend, zwar zogen schwere schwarze Wolken am Himmel hin, doch die schwellende Mondessichel leuchtete nieder. Das Dorf lag in tiefem Frieden, auch das Feuer schien erstorben. Wir hatten noch gestern abend nach Kräften gelöscht durch Einreißen der Trümmer und indem wir Erde auf die Brandstätten warfen, wenigstens in der Nähe der Kirche. Als nun aber der Mond hinter einer jagenden Wolke sich verbarg, es plötzlich finster wurde, da glühte und glomm es geheimnisvoll in den schwelenden Trümmern. Und mir kehrte dabei jäh die Erinnerung zurück an das, was mich gleich einer Zwangsvorstellung bis zum Einschlafen gequält: die Hand mit des Ringes Leuchten.

Der Posten, der die Kirche umschritt, damit nicht etwa wieder lebendig gewordene Glut die Schlafenden bedrohe, kam eben bei seinem Rundgang an mir vorüber und machte Ehrenerweisung. Ich fragte, ob er Schüsse gehört – nein. Dann ging ich langsam die breite Dorfstraße hinab bis zur Feldwache. Ab und zu warf der Mond seine Schleier ab, aber auf Sekunden nur, dann hatten ihn die vor dem Sturm dort oben segelnden Wolken überdeckt. Der Sergeant meldete, daß vom Feinde nichts erblickt worden war – wie nicht anders zu erwarten, mochte er doch meilenweit auf der Grande Route entflohen sein. Auch Geschützfeuer hatten sie nicht gehört. Aber ... aber ... und der Sergeant sprach leiser, schneller, wie um etwas zu sagen, was kein anderes Ohr hören sollte. Zuerst verstand ich ihn nicht. Ich ließ wiederholen, und er meldete: es sei etwas Seltsames geschehen, etwas Schauerliches. So stark schien er davon gepackt, daß aus dem Ton dienstlicher Meldung mehr Erzählung wurde und Geständnis:

›Herr Leutnant, als ich den Schnarrposten ablöste um eins, war der Mann janz ... na ... fast wie'n Soldat eigentlich nich sein darf. Müller II war's. Der ist ja nu so'n bißcken dumm, Herr Leutnant. Sagt der da zu mir, der eine der Toten, den wir jestern begraben haben, der wäre jar nich tot. Ick sage zu ihm: »Müller!« sage ich, »Sie sind 'ne rechte Bangebüchse, wie soll denn dat sint? Ick habe sie doch alle jesehen und der Herr Leutnant ooch!« Er sagt nee, der könne nich tot sein ... der eene! Warum? »Nu, wenn er mir jewinkt hat!« »Jewinkt hat er Sie?« sage ich. Und ick höhne ihn noch: »Mit wat denn?« Und Müller II antwortet und macht jroße Oogen und blickt sich um: »Mit die Hand! Ja wahrhaftig, mit die Hand aus dem Jrabe raus!« Ick sage zu ihm: »Junge, laß dir nich auslachen!« Aber der Mensch zittert am janzen Leib, und, Herr Leutnant, der Müller II, wenn er ooch nich gerade sehr wif ist, jeschlagen hat er sich wie der Deubel – ick bin doch beim Sturm auf das Lausenest immer neben ihm jewesen. Sofort kehr ick also mit ihm um; wenn eener die Hand aus dem Jrabe streckt, wird sie wohl noch da sein, denn er will doch raus! Wir kommen zum neu anjetretenen Posten, und da sah ick schon, wie ooch er dasteht, als ob Gott weiß was passiert wäre. Ick schiebe die beiden Kerle beiseite: »Na, wo is' denn nu der Kinderschreck, wat?« Aber Herr Leutnant, ich bitte jehorsamst um Verzeihung ... Herr Leutnant wahrhaftig, die Hand is da. Keen Zweifel kann nich sein. Aus dem Jrabe sieht sie raus, aus der Erde und ... und sie bewegt sich ...‹

Ich sprach kein Wort, sondern lief voraus die paar Schritte bis an die Gräber. Die Wolken hatten wieder den Mond verdeckt, es war undurchdringliche Nacht. Der Posten, der uns nicht sehen konnte, denn hier glühten keine glimmenden Trümmer, rief uns an, als er Tritte hörte: ›Halt, wer da?‹ Meine Augen suchten in der Finsternis die Gräber. Es war nicht möglich, etwas zu erkennen. So tastete ich mich hin. Da. Halt. Da war das noch stehengebliebene Stück Zaun und da die Latten am Boden, die wir niedergebrochen hatten, und – halt, beinahe, als ich ausschritt, wäre ich der Länge nach hingefallen – ich stieß an etwas, eine Stufe, eine Bodenerhöhung – das Grab. Ich tastete daran hin; war ich soweit seitwärts abgekommen? Es war das lange, das Massengrab. In diesem Augenblick wurde es heller, als ob einer mit der Lampe ins Zimmer tritt. Ich blickte unwillkürlich auf: da lugte der Mond durch das Gitterwerk der Wolken. Als ich die Augen wieder senkte, sah ich erst, wie lächerlich weit ich vom einzelnen Grabhügel, zu dem ich natürlich gewollt, abgekommen war. Langhin streckte sich der Totenwall, auf dem das rohe Kreuz und die Bretter mit der Inschrift im Mondlicht leuchteten. Und drüben erst erhob sich der einzelne Hügel. Darauf glänzte etwas: das Holz mit der Bezeichnung, hier läge ein französischer Offizier? Ja – nein – und doch – nein daneben, nicht so hoch, dicht über dem frisch aufgeworfenen Erdhaufen gewahrte ich etwas, etwas – – – ja unzweifelhaft: eine Hand. Bis zum Daumenansatz steckte sie in der Erde. Und da – eben schien das Mondlicht besonders hell: blitzte der Ring.

Der Sergeant sagte: ›Sie hat sich bewegt!‹

Und doch mochte es gewiß nur so scheinen, weil wir einen Schritt weiter rechts getreten waren und dort das Licht anders fiel. Aber ich konnte den Gedanken nicht bannen, so lächerlich, so unmöglich er war: der Tote habe aus dem Grabe heraus uns an seinen letzten Wunsch erinnern wollen. Unerklärlich blieb es immer, denn der französische Offizier war tot. Bestimmt, bestimmt tot. Doch nun gab es keinen Zweifel: wir mußten das gespenstische Wunder lösen, mußten das Grab öffnen. Ich ging darauf zu, und vor meinen Augen stand immer deutlicher, immer größer jene Hand, die mich am Abend verfolgt gleich einem Alpdrücken, wie ich ärgerlich meinte, eines preußischen Offiziers unwürdig. Die Hand wuchs, der Ring blitzte. Nun stand ich fast daneben. Da wurde es just in dem Augenblick, als ich sie sah, die Hand, als ich sie wirklich sah, jäh dunkel: der Mond war durch eine stürmische Wolke überrannt worden. Und noch im Schreiten stieß ich an den Erdhaufen, kippte vornüber und, unwillkürlich die Arme beim Fallen vorstreckend, sank meine linke Hand tief in die frisch aufgeworfene, noch weiche Erde. Die Recht aber traf tastend etwas... etwas... Steifes und doch etwas, das federnd ausbog unter dem Druck: die Hand.

Ich gestehe es ohne Scham, mit einem Ruck fuhr ich zurück, und mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich ließ Schanzzeug holen. Während der Sergeant fort war, stand ich regungslos am Grab, in dem der französische Kamerad lag – tot – tot – unweigerlich tot. Aber die Hand? Immer kehrte der unmögliche Gedanke wieder: er hatte mahnen wollen, seine letzte Bitte zu erfüllen. Lächerliche, alberne Gedanken, erzeugt von der halb schlaflosen Nacht, den angestrengten Wochen vorher, der ungewöhnlichen Lage ... was weiß ich. Als der Sergeant mit noch zwei Mann wiederkam, trat der Mond eben ruhig und klar aus den Wolken. Und nun sah ich den Arm aus der Erde wachsen und den Leib. Die gräßlichen Dünste schlugen uns entgegen, des Körpers, der wieder zu dem wird, davon er genommen. Nein, hier konnte ein Zweifel nicht sein: in diesem Menschen war kein Leben mehr. Wir hatten hastig gearbeitet, hielten inne, und der Sergeant blickte mich an, als wollte er sagen: Nee, Herr Leutnant! Der rührt sich nicht mehr! Nun mußten wir den Körper, nachdem die Grube ein wenig tiefer gehöhlt worden, der Erde wieder übergeben. Aber sollte ich ihm ein zweites Mal seinen Wunsch nicht erfüllen? Es schien mir unmöglich. Und ich überlegte auch nicht, daß es ja doch nichts helfen würde, ihm den Ring abzuziehen, denn wem ihn senden? Ich erzählte von dem Zettel, den wir bei dem toten Offizier gefunden. Sofort griff der Sergeant zu und versuchte, den Ring abzustreifen. Unmöglich: die Hand war gedunsen wie der ganze Leib des Gefallenen. Der Sergeant wußte Rat. Von Skrupeln und Zweifeln sind Leute, die – er war Ackerknecht gewesen – heute ruht er vor Sedan – ich meine Leute, die mit allem Natürlichen dieser Erde zu tun gehabt haben, nicht geplagt wie zartfühlende Städter und – wir. Irgendwo hatte er eine Feile gesehen. Die ging er holen. Ich hinderte ihn nicht. Als er dann das Gold durchsägt hatte, gab er mir den Ring, und während die Leute den Toten in die vertiefte Grube betteten, betrachtete ich den durchfeilten Reifen. War es ein Zufall, war es, daß der Sergeant sich bewußt die dünnste Stelle ausgesucht – er hatte dort, wo die sehnsüchtig gegeneinander gestreckten Arme sich nicht fanden und ein Zwischenraum blieb, ihn durchschnitten. Nun konnten sie nimmermehr zueinander kommen. Wie hier die mechanische Gewalt des Instruments, so hatte der Tod sie getrennt. Während ich das Gold in der Hand hielt, kam mir der Gedanke, dem Regiment des Toten, das wir ja festgestellt, den Ring zu schicken und den Ort anzugeben, wo wir den Gefallenen gefunden, und wo er jetzt lag. Vielleicht hätte irgendein Kamerad etwas gewußt. Der Sergeant riß mich aus meinen Gedanken. Er meldete, die Arbeit sei beendet. Da wölbte sich der Hügel, höher als vorher, denn sie hatten vom Felde her Erde darauf geworfen. Ein paar Steine schleppten sie noch herbei, und der Sergeant preßte sie in die weiche Oberfläche des Grabes, während er brummte: »Na, nu wird er woll stille liegen!« Dann wurde das Kreuz wieder zu Häupten eingerammt, und in der Absicht, die Stelle noch sicherer kenntlich zu machen, zeichnete ich mit Bleistift einen Kreis auf das Holz, gleich einem Ring.

Inzwischen trat schon die Kompagnie an. So leise es geschehen sollte, hörten wir doch gedämpfte Stimmen, ab und zu das Öffnen und Schließen der Gewehrschlösser und das Rasseln eines Kochgeschirres, offenbar, wenn der Tornister übergenommen wurde. Ich verließ das Grab. Alles Grausen war gebannt. Mir war, als könne die Hand sich nicht wieder aufwühlend emporstrecken aus der Erde, um zu mahnen, denn der letzte Wunsch des toten Offiziers war nun erfüllt, oder sollte es werden. Lautlos marschierten wir an den Gräbern vorüber, dem Feldweg folgend, querfeldein, den gestern von mir festgestellten Richtungspunkten zu. Jetzt, beim Dämmern des anbrechenden jungen Morgens, sah man sie schon deutlich. Und angesichts des Lichtes waren alle gespenstisch grausigen Gedanken der Nacht bald wesenlos zerronnen. Erst als ich mich beim Herrn Obersten gemeldet hatte, fand ich Zeit, denn es wurde abgekocht, den Ring noch einmal zu betrachten. Wie ich die Gestalten darauf betrachtete, fiel mein Blick auf einen Buchstaben, irgendeinen Buchstaben, und ich entdeckte, daß im Innern des Reifs etwas stand. Bei der Dunkelheit der Nacht hatte ich nichts davon gesehen. Die Adresse war es nicht, nur ein Vorname und wenige Worte, die nichts verrieten und dennoch alles zu sagen schienen, was zwischen zwei Menschen gestanden, nun gelöst und frei geworden war durch den Tod: ›Marguerite. Jamais – hélas pour toujours!‹ Oder, wie es wohl gedacht ist von jener Unbekannten, Fernen, Armen: ›Auf ewig, ach von Dir getrennt!‹ Ja, nun auf ewig. Denn er war tot! Vielleicht war es besser so, da doch jene, die ihm offenbar den Ring geschenkt, schon damals solche Worte der Hoffnungslosigkeit darin hatte eingraben lassen, vielleicht besser, vielleicht ...«


Mehr sprach er nicht. Des Ringes Verbleib, der Sehnsüchtigen Schicksal blieb im Dunkel. Man redete von der Hand. Der Oberst meinte lachend, der eschrige Eschborn habe geträumt, als sie nach den Anstrengungen des damaligen Gefechtstages eingenickt wären. Es half dem jungen Offizier auch nichts, daß er sich ein wenig erregt wehrte: alle die Herren, die doch atemlos gelauscht, schienen nun, wo sie dem Banne der Erzählung entschlüpft, zu meinen, der gute kleine Kamerad habe ihnen etwas aufgebunden, und es nützte ebensowenig, daß der Oberstabsarzt den Vorgang als durchaus möglich hinstellte, ja eine, wie er betonte, ganz einwandsfreie wissenschaftliche Erklärung gab: Gase, durch die Zersetzung des Körpers erzeugt, hätten den Körper aufgetrieben und veranlaßt, daß der unter den Leib gezwängte Arm frei geworden sei. Da er vorher durch die Totenstarre nach oben gebogen, sei er nun unter dem Druck der Gase in die alte Stellung emporgeschnellt und so wäre die Hand aus der Erde emporgewachsen. Die Herren, im langen Kriege gegen Grausen und Schrecken abgestumpft, begannen den jungen Kameraden fröhlich zu necken, als sei die ganze Geschichte nur ein Gebilde seiner nervösen Einbildungskraft. Da griff Leutnant Eschborn in die Tasche, zog etwas hervor und hielt es hoch, mitten in den Halbkreis der Tafelrunde hinein. Vom sterbenden Herdfeuer eben noch beglänzt, blitzte es wie einst über dem Ährenfeld und auf dem nächtlichen Grabe: der Ring. Bald ging er von Hand zu Hand, nun fast scheu betrachtet. An der Stelle, wo die sehnsüchtig gegeneinander gestreckten Hände sich nicht ganz trafen, klaffte der Einschnitt, durch die Feile gerissen.

Unwillkürlich fragte die Gräfin, dem Worte verleihend, was wohl alle dachten:

»Und Sie haben sie nicht gefunden?«

»Nein.«

Premierleutnant von Bugk wurde ganz aufgeregt:

»Gottes Donnerwetter, nee, was soll denn nu werden?«

Ehe Leutnant Eschborn antworten konnte, erdröhnte die Luft, die Wände zitterten, die Scheiben des Saales klirrten wieder leise, und unwillkürlich blickten sich die zehn Ritter der Tafelrunde, zu denen sich eine Dame gesellt, um. In der nun folgenden Stille sprach der Oberst:

»Na, nun wird wohl vom Neptun nichts mehr übrig sein.« Doch da er ruhig sitzen blieb, folgten auch die andern seinem Beispiel von Kaltblütigkeit, und niemand erhob sich.

Als der Ring zu dem jungen Offizier zurückkehrte, wurde wiederholt die Frage gestellt, aber Leutnant Eschborn konnte nichts anderes sagen, als daß er dem Regiment des Gefallenen geschrieben, doch bisher keine Antwort erhalten habe.

Oberstleutnant Runge schien sich damit nicht begnügen zu wollen. Er riet seinem jugendlichen Regimentskameraden, sich möglichst bald so oder so des Ringes zu entledigen, der nur Unglück bringen könne. Dabei machte er ein so ernstes Gesicht, daß der Oberst schon wieder auf des andern Aberglauben zu sticheln begann. Und nun, wo das Wort gefallen war, griff es der Oberstleutnant auf, gab allerdings einen gewissen Aberglauben zu, führte Beispiele an für das Bedenkliche, am frühen Morgen auf der Straße als erstem Menschen einem alten Weibe zu begegnen, an einem Freitag eine Reise anzutreten oder gar zu dreizehn bei Tisch zu sitzen. Unwillkürlich begannen die Herren zu zählen. Der Oberst rief:

»Gnädigste Gräfin Nr. l, Oberstleutnant, Herr von Seeben, Oberstabsarzt, Heydrich, Bugk, Krebs, Eschborn – 8. Doktor Donner, Zahlmeister, ich – 11, also keine Bange. Überhaupt die Geschichte mit der 13 ist ja ausgemachter Unsinn!«

Und er lachte gutmütig und dröhnend. Der Oberstleutnant aber verfocht seine Anschauungen, indem er behauptete, die Angst vor der fatalen Nummer sei derart verbreitet, daß die Hotels sie nicht einmal zu führen wagten. Dieser und jener wußte irgendein Beispiel, wie die Dreizehn Unglück gebracht. Ein paarmal setzte der Kriegskorrespondent, der bei den Herren Gastfreundschaft genoß, an, etwas Gegenteiliges zu erzählen, doch in dem Wirrwarr von Meinungen vermochte er nicht zu Worte zu kommen. Der immer bescheidene Mann, der durch Zurückhaltung und Takt bei den sonst gegen Journalisten ein wenig mißtrauischen Herren sich eine vorzügliche Stellung gemacht, schwieg. Oberst von Kranich hatte gemerkt, daß er offenbar gegen den Aberglauben der Dreizehn eine Lanze brechen wollte, und rief, die allgemeine Unterhaltung unterbrechend, kraft des Gewichtes seiner Stellung, wie unterstützt durch seine gewaltige Stimme:

»Meine Herren, der Doktor hat das Wort.«

Der Kriegskorrespondent drückte seinen Kneifer zurecht. Gewohnt, vermöge seines Berufes Wirkungen vorzubereiten, erhöhte er die Spannung durch Zaudern, räusperte sich, lächelte seine Zuhörer an, stand endlich sogar auf und stellte sich in die Mitte des flachen Halbrundes vor das Fenster. So tief war es niedergebrannt, daß es ihn nicht glühend anstrahlte, sondern nur seine kleine Gestalt als dunkeln Schatten erscheinen ließ.

Endlich war Stille eingetreten. Die Aufmerksamkeit schien genug gespannt, und er wollte eben beginnen, als ein Füsilier dem Kommandeur die Meldung überbrachte: Premierleutnant von ... von ..., er hatte den Namen nicht verstanden, vom Korpsstabe habe dem Herrn Obersten einen Befehl zu bringen. Der Kommandeur ließ bitten. Nun war für den Augenblick jedes Erzählen abgeschnitten. Es dauerte eine Weile, und da in die Stille des Wartens unausgesetzt das Dröhnen der gewaltigen Festungsgeschütze klang, zu immer ohrenbetäubenderem Donner anschwellend, flüsterten sich die Offiziere zu, es handle sich nun endlich um den großen Ausfall, den sie so lange schon erwarteten. Da öffnete sich die Tür, ein langer, schlanker Ulanenoffizier nahm Stellung, verbeugte sich, blickte sich um, dann ging er auf den Obersten zu. Der trat mit ihm in eine Fensternische. Beim Tosen der Kanonen draußen hätte ohnedies keiner ein Wort verstanden.

Nach ein paar Augenblicken kamen die Herren quer über das spiegelnde Parkett des Saales zum Kamin, und Oberst von Kranich stellte den Ordonnanzoffizier, den das Korpskommando geschickt, erst der Gräfin-Schwester, dann den Herren insgesamt vor. Man erwartete den Befehl zum Alarmieren des Regiments. Die Nacht war doch mal angebrochen, auch fühlten sich alle von der Spannung erlöst, müde des ewigen Lungerns und Lauerns, der falschen Alarme, der Unsicherheit dieses sozusagen Sitzens auf dem Pulverfaß. Endlich kam eine große Entscheidung.

Es schien dennoch nichts dergleichen zu sein, denn Oberst von Kranich gab dem Adjutanten einen Wink, etwas zu essen zu besorgen, vor allem einen kräftigen Schluck. Dann forderte er den Ordonnanzoffizier auf, den völlig steifgefrorenen Mantel abzulegen. Er brauche gewiß nicht sofort zur absendenden Stelle zurückzureiten, und ein Glas guten Stoffes würde ihm bei der Bärenkälte der Nacht gewiß keinen Schaden tun.

Der Ulan nahm die liebenswürdige Einladung gern an. Sein Pferd könne ein Stündchen Ruhe wohl brauchen, denn leider sei er damit auf der spiegelglatt gefrorenen Straße gefallen. Er habe nämlich einen Gefangenen gemacht. Das war nun etwas Alltägliches und würde bei der Tafelrunde weiter kein Aufsehen erregt haben, hätte der Premierleutnant nicht mit Stolz hinzugefügt:

»Es ist ein General, Herr Oberst!«

Er erzählte, wie ihm das geglückt. Um den Weg abzuschneiden, war er mit dem Wagemut der Jugend über die deutschen Linien hinausgeritten, hatte plötzlich Feuer bekommen und war Galopp querfeldein über den tiefen Schnee in ein Dickicht gejagt. Ein paar Schüsse der feindlichen Vorposten, ihm auf gut Glück nachgesandt, hatten nun nicht ihn, dagegen ein dort angebundenes Pferd mit französischer Offizierszäumung niedergestreckt. »Ich dachte, wie kommt denn der Gaul dahin? Da wird wohl der Reiter auch nicht weit sein, und wahrhaftig, ein Offizier, ein General, der im Schnee gekniet, sein Fernglas in der Hand, richtete sich auf. Bauz, bum, bum, hatte ich meine Schüsse weg. Sie saßen aber nicht, der Herr General hatte Löcher in die Luft gebohrt. Und nun lief er davon, was er Beine hatte. Ich auf der gefrorenen Chaussee ihm nach. Dabei bin ich hingeschmiert, Herr Oberst, war aber gleich wieder auf und habe ihn doch noch eingeholt. Zu Fuß. Plempe raus. Er ooch. Eins – zwei – eins – zwei. Dann habe ich ihm eins auf die Finger gekloppt, daß sein Schwert im großen Bogen fortflog. Überhaupt – fechten war's nicht, dazu war mir der Arm noch zu steif vom Hinfliegen auf der knüppelharten Straße. – Nee, 's war die reine Holzerei. Ich gehauen, er gestochen. Na, und wie er nun keinen Degen mehr hatte und keine Kugel mehr in der Knarre, habe ich Monsieur le général gefangen genommen. Mein erster Gefangener, Herr Oberst.«

Er sagte es stolz, und seine von Ritt und Kälte roten Wangen glühten. Der Oberst klopfte ihm lachend auf die Schulter:

»Vivant sequentes. Aber wollen Sie nicht mal Ihren Arm nachsehen lassen, Herr von Zerbitz? Der Herr Oberstabsarzt hat gewiß die Liebenswürdigkeit.«

Doch der Ordonnanzoffizier meinte, ihm fehle gar nichts, aber der Gefangene, der habe »was auf die Vorderhufe« gekriegt.

»Wo ist er denn?« fragte nun der Oberstabsarzt, der sich schon bereitwillig dem Ulanenoffizier genähert hatte. Premierleutnant von Zerbitz lachte:

»Herr Oberst, ich mußte doch den Befehl überbringen, da habe ich den Herrn General natürlich mitgebracht.«

Sofort bat der Kommandeur den Oberstabsarzt, nach dem Verwundeten zu sehen:

»Und bitte, wenn er verbunden ist und es sein Zustand gestattet, bringen Sie ihn nur her. Ein Schluck Rotspon wird ihn wieder auf den Damm bringen. Lieber Heydrich, sorgen Sie mal für was zu essen. Fett wird er in Paris nicht geworden sein.«

Der Oberstabsarzt ging. Die Tafelrunde nahm nicht wieder Platz. Auch des Doktors Erzählung schien für den Augenblick vergessen, denn bald mußte der gefangene General eintreten. So benutzte denn der Oberst die knappe Zeit, die man möglicherweise noch unter sich war, und rief:

»Meine Herren, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.« Das Gewirr der Stimmen schwieg. Es mußte wohl etwas Wichtiges sein, denn der Kommandeur schien ernster als sonst. Jeder meinte zu erraten, um was es sich handelte. Offenbar hing es mit der Ankunft des Ordonnanzoffiziers zusammen: jetzt kam die lang erwartete große Aktion: Sturm oder Ausfall, besonders angezeigt durch den gefangenen französischen General, der, beobachtend, sich so weit vorgewagt. Der Oberst begann noch einmal:

»Meine Herren, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen. Für mich trauriger Art, denn ich liebe unser schönes Regiment, und ich kann sagen, ich bin stolz auf unser schönes Regiment! Morgen muß ich es verlassen. Eben ist der Befehl gekommen. Wie wir schon gestern hörten, ist Exzellenz von Reinsberg dem Lungenschuß, den er vor zwei Tagen erhielt, erlegen. Seine Majestät hat mich ausersehen, an die Stelle des nun aufrückenden Generalmajors Bronner zu treten. Herr Oberstleutnant Runge wird das Kommando des Regiments übernehmen. Meine Herren, es fällt mir sehr schwer, das Regiment zu verlassen. Ich werde morgen Gelegenheit nehmen, vom Offizierkorps und den Mannschaften Abschied zu nehmen. Heute abend aber bitte ich Sie, meine Herren von der Tafelrunde, und auch Sie, gnädigste Gräfin, und Sie, Herr von Seeben, darum, mir zum letzenmal noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Und ich denke, wir wollen nicht zu zeitig ...« er wandte sich schmunzelnd zum Oberstleutnant:

»Lieber Runge, Sie haben ja nachmittags Ihre Ruhe gehabt.« Alle lächelten, auch der etatsmäßige Stabsoffizier selbst. Der Oberst fuhr fort:

»Also ich bitte, noch mit mir ein wenig zusammenzubleiben. Unser Doktorchen wird seine Geschichte erzählen. Der Herr Zahlmeister ist uns die seinige noch schuldig geblieben, und wenn der Oberstabsarzt wiederkehrt, muß auch er heran, denn wenn wir auch gegen den gefangenen Kameraden artig sein wollen, so wird es uns wie ihm gewiß lieber sein, er zieht sich bald zurück. Ehe er nun etwa erscheint, möchte ich Ihnen aber, meine Herren, sagen, wie ich weder Sie noch unser schönes Regiment jemals vergessen werde. Es gibt einen Kitt, der uns doppelt bindet. Nicht nur den, daß wir den gleichen Rock des Königs tragen, sondern daß wir in diesem Rock miteinander im Feuer gestanden haben. Unserm Regiment, unserm Rock wollen wir Ehre machen allezeit, und das geloben wir, indem ich Sie bitte, mit mir einzustimmen in den Ruf, mit dem wir nach echter, alter Soldatensitte jedes Zusammensein feiern. Meine Herren, erheben Sie mit mir das Glas: Seine Majestät, unser oberster Kriegsherr und allergnädigster König, lebe hoch! hoch und zum drittenmal hoch!«

Die Gläser klirrten aneinander, und jeder einzelne ging zum Obersten. Jedem sagte er ein passendes, freundliches Wort, jedem reichte er die Hand, und jeder einzelne auch fühlte das Bedürfnis, dem Kommandeur zu zeigen, wie gern man ihn gehabt. Alle Unbequemlichkeiten gerade der letzten Tage, das lange Aufbleiben an der Tafelrunde, über das mancher im stillen geflucht, schienen vergessen. Die jungen Offiziere warfen die letzten Holzscheite noch in die Glut, und man kehrte an die Tafel zurück, auf deren feinem weißem Gedeck die Kerzen in ihren Flaschenhälsen brannten.

Da erhob sich der Oberstleutnant: langsam, fein und zart, wie sein Wesen war, pflegte er auch zu sprechen. Den Fuß seines Glases mit den schlanken Fingern umspannt haltend, die Augen im Anfang auf das Tischtuch gesenkt, begann er:

»Meine Herren, gestatten Sie mir, im Namen von Ihnen allen zu reden. Der Herr Oberst hat uns eben mitgeteilt, daß er uns morgen leider verlassen werde. Geschieht es auch aus dem ehrenvollen Anlaß, eine Brigade zu übernehmen, so ist es dennoch traurig für uns. Wir haben in früheren Jahren unter des Herrn Obersten Befehl bei allen Besichtigungen vorzüglich abgeschnitten, haben im Manöver die besten Kritiken im Armeekorps gehabt. Während früher verhältnismäßig nur wenige von uns aus der Front kamen, wurde, sobald unser Herr Oberst an die Spitze des Regiments trat, eine wachsende Anzahl Kameraden zu Kommandos bestimmt. Jeder von uns weiß, wem wir das zu verdanken haben. Dann kam der Feldzug, und erst da hat sich gezeigt, was wir an unserm Kommandeur besitzen oder – heute muß ich ja sagen – besaßen. Seine überlegene Ruhe und Sicherheit hat sich, wie immer, wenn Truppen unter den Befehlen eines ganzen Mannes stehen, dem Regimente mitgeteilt. Viele der Herren haben mir begeistert gesagt, daß sie bei den fünf Schlachten und über ein Dutzend Gefechten, in denen unser Regiment die Ehre gehabt hat, ins Feuer zu kommen, stets mit unerschütterlicher Ruhe und Sicherheit vorgegangen sind. Meine Herren, am Biwakfeuer habe ich einmal zufällig einen Füsilier sich in seiner einfachen Weise so ausdrücken hören: ›Mit unserm Oberschten kann uns nischt passieren.‹ Wir Offiziere würden sagen: ›Unter unserm Herrn Obersten kann das Regiment nur eins: vorwärts und siegen!‹ Die Ehrentage, die unserm Regiment in den Monaten des Feldzuges Gott sei Dank beschert worden sind, darf sich unser Herr Oberst zum großen Teil als sein Verdienst anrechnen und wir mit ihm. So weiß ich, meine Herren, daß ich nur Ihrer aller Gedanken wiedergebe ...«

Er blickte sich in der Tafelrunde um, als wolle er die einzelnen Köpfe zählen:

»... wenn ich sage, am liebsten möchten wir in stiller Trauer unser Glas leeren wegen des Verlustes, den wir erleiden. Aber, meine Herren, das ist nicht Soldatenart! So will ich lieber unsere Gefühle zusammenfassen, die von uns elf ... bitte, Herr Oberstabsarzt, Sie kommen eben noch zurecht – lieber Heydrich, schnell noch ein Glas – also, meine Herren, von uns zwölf – unsere verehrten Gäste bitte ich Sie einzuschließen – nicht wahr, Frau Gräfin, Herr von Seeben und Herr von Zerbitz: – Unserm lieben, verehrten Herrn Oberst, den wir mit Schmerz scheiden sehen, danken wir und wünschen ihm Glück und Erfolg auf dem Felde der Ehre! Herr Oberst von Kranich lebe hoch!«

Die Herren waren aufgestanden, und durch den hohen Saal klang ein donnerndes Hoch! Ein zweites Mal hob der Oberstleutnant sein Glas:

»Hoch!«

»Hoch!«

Eben wollte er zum drittenmal die Stimme erheben, als ihm das Wort fast in der Kehle stecken blieb: »H ... o ... o ... ch!«

Wie entgeistert blickte er zur Tür. Die Herren aber hatten fröhlich gerufen und ließen nun die Gläser aneinanderklirren. Der Kommandeur leerte seinen Kelch, dann reichte er dem Oberstleutnant die Hand. Der stand noch immer mit vollem Glase. Der Oberst rief:

»Na, Runge, trinken Sie doch aus! Sonst bringt mir's kein Glück, und Sie sind doch so abergläubisch.«

Er lachte fröhlich. Nun wandten sich alle Augen zum Oberstleutnant. Der aber sagte nur, und der Mund blieb ihm offenstehen, über dem man die kleinen, weißen, wenigen Härchen des Schnurrbärtchens sah:

»Wir sind – dreizehn!«

Man blickte sich erstaunt um. Unwillkürlich begannen die Herren zu zählen, bis sie dem Auge des Oberstleutnants folgten, der starr zur Tür sah. Dort stand ein französischer General, den rechten Arm in der Binde. Eben mußte er eingetreten sein. Lang, schlotterig, hager, hing die Uniform nur an ihm. Die Schultern waren etwas nach vorn gesunken, den kleinen Schädel mit einer Riesenglatze, an der kaum ein Haar saß, trug er gesenkt. Der bartlose Mund schien grimmig zu grinsen, und doch lag verbissener Ernst auf seinen Zügen.

Die Herren blieben stehen, das Glas noch in der Hand, und statt des Händedruckes, den der Kommandeur mit jedem der Tafelrunde getauscht hätte, ging er nun artig auf den gefangenen französischen General zu, ihn zu bitten, an dem Tisch der deutschen Kameraden Platz zu nehmen.

Der General verbeugte sich und machte mit der Linken, die er allein gebrauchen konnte, eine Gebärde, während er in seiner Muttersprache sagte:

»Herr Oberst, das Kriegsglück war gegen mich ... ohne Pferd ... mit der Hand, die ich nicht mehr brauchen konnte.«

Oberst von Kranich antwortete sehr liebenswürdig in seinem guten Französisch:

»Herr General, Ihre Truppen haben sich immer brav geschlagen, darf ich bitten, den Umständen Rechnung zu tragen. Ich bedaure Ihre Lage für Sie, aber seien Sie versichert, daß wir uns bemühen werden, Sie, Herr General, kameradschaftlich aufzunehmen.«

Nachdem er den Namen des Gefangenen erfahren, machte er die Tafelrunde mit dem Fremden bekannt. Beinahe, als ob er als Gast ins Kasino gekommen sei. Doch der General lehnte es eisig höflich ab, Platz zu nehmen. Er sehe, es würde eine Festlichkeit begangen, da wolle er nicht stören. Auch sei die Lage für ihn nicht derart, daß er sich im Kreise der Gegner niederlassen könne. Er wiederholte:

»Herr Oberst, das Kriegsglück hat gegen mich entschieden, ich bin Ihr Gefangener.«

Rundum standen die Herren, ärgerlich ein wenig, und Premierleutnant von Bugk flüsterte dem Adjutanten zu:

»Viel zu liebenswürdig gegen den Lümmel! Einsperren! Gottes Donnerwetter ja!«

Leutnant Eschborn aber sagte zu seinem Kameraden Krebs:

»Der Kerl sieht aus wie der leibhaftige Tod.«

Und der Oberstleutnant, der die Worte gehört, blickte die beiden jungen Offiziere an mit bedeutungsvollen großen Augen, während immerfort von den dröhnenden, zersplitternden gewaltigen Zuckerhüten die Scheiben klirrten.

Der Oberst war mit dem General abseits geblieben. Sie standen dicht an der Balkontür. Dem Franzosen schlotterte die Uniform auf dem Gebein. Eben zog ein breites Grinsen über den bartlosen Mund, der fast keine Lippen zu haben schien, während der Schein der Kerzen auf dem haarlosen, blank polierten Schädel spiegelte.

Oberst von Kranich wollte wohl, in fast übertriebener Artigkeit, die gesellschaftlich-kameradschaftliche Seite betonend – wie er nun einmal war – dem gefangenen Gast, dem Dreizehnten der Tafelrunde, den Blick zeigen über den Park auf Paris, von dessen Forts die Riesengranaten herüberkamen – kurz, er öffnete die Tür. Die Eisluft der Nacht strömte sofort bis in den Saal, und man sah draußen am nächtlichen Himmel leuchtend die Geschosse wie Sternschnuppenschwärme ihre Bahnen ziehen.

Der Oberst und der General verschwanden durch die offene Tür auf den Balkon. Eine Sekunde, da schmetterte es und krachte, als schlüge der Blitz ein. Die Balkontür, aus den Angeln gehoben, flog in den Saal. Glasscherben, Holzteile, Mauersplitter spritzten umher. Der große Spiegel über dem Kamin barst klirrrend in Stücke. Vom Kronleuchter rieselten regengleich die Glasprismen nieder. Der Luftdruck blies die Herren an, wie wenn in unmittelbarer Nähe eine Granate krepierend ihren Trichter wirft. Schwefelgeruch, Pulverdampf zog in Wolken durch den Saal.

Der Oberstleutnant war der erste, der zusprang. Die andern folgten, hinauszutreten auf den zerschossenen Balkon.

»Achtung! Zurück!« rief er. Er hatte recht. Vom Austritt, den sie beschritten hätten, war kaum mehr etwas zu erblicken, nur ein paar Steinplatten hingen noch frei hinaus. In der Ecke, dicht an die Hauswand geworfen, lag eine unförmliche Masse, allein an der Uniform konnte man noch erkennen, daß sie vor Sekunden erst Oberst von Kranich gewesen. Der französische General war verschwunden, als habe ihn die Erde verschluckt. Seine Leiche mochte in den Park hinuntergestürzt sein.

Die Johanniterschwester Gräfin Viktoria Vellin fragte, während Rauch über die Köpfe zog:

»Um Himmels willen, was war das?«

»Eine Granate vom Mont Saint-Valérien« sagte irgend jemand. Die tapfere Frau, die so stolz von des eigenen Mannes Tod fürs Vaterland erzählt, sprach nun, wo sie das erstemal den Krieg in unmittelbarer Nähe erblickte, entsetzt vor sich hin:

»Es muß ja sein, und der endliche Sieg wird unser werden, aber ... es ist furchtbar.«

Die Offiziere hatten nicht Zeit gehabt, darüber nachzudenken: Alarm tönte von Quartier zu Quartier, von Ort zu Ort! Endlich: der lang erwartete große Ausfall.

Die Leiche des Obersten zu bergen, war keine Zeit. Erst als das Regiment wiederkehrte, nachdem man die Belagerten in das hungernde Paris zurückgetrieben, bestattete man die Reste.

Vom französischen General aber, dem Dreizehnten, fand man nie eine Spur, und hätte der Ordonnanzoffizier ihn nicht gefangen genommen, die Tafelrunde ihn nicht erblickt, der Oberstabsarzt ihn nicht verbunden, man hätte meinen müssen, er sei nichts gewesen als ein Gebilde nächtlich überwachter, nervös gereizter Phantasie.



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