Georg Freiherr von Ompteda
Die Tafelrunde
Georg Freiherr von Ompteda

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Vom verlorenen Sohn.

Nicht von jenem der Schrift will ich sprechen, nein, von einem, der mitten unter uns gewesen ist, meine Herren, wenn er auch vielleicht keinem von Ihnen begegnet sein mag. Kennen wir nicht alle jene frischen jungen Leute, denen das Leben aus den Augen lacht, die beide Arme zum blauen Himmel strecken und zur hellen Sonne jubeln: ›Erde, wie bist du schön!‹? Kennen wir sie nicht, die es nicht über sich bringen, am Becher nur zu nippen, sondern die ihn leeren müssen bis zum Grund? Mancher Kommandeur mag gestöhnt haben über sie, denn er schuldet Eltern wie dem Könige Verantwortung. Dem obersten Kriegsherrn, daß das Offizierkorps untadelig sei, den Eltern, die ihm den Sohn anvertraut, daß er nicht an den Klippen zu heiß gelebten Lebens vorzeitig zerschelle.

Und wie mancher junge Offizier ging nicht ›um die Ecke‹, wie wir es prosaisch nennen, nur weil er in übermächtigem Lebensdrang – es braucht nicht immer reiner Leichtsinn zu sein – sich nicht zu bändigen wußte. Ein Krieg im rechten Augenblick, und er bleibt der Armee und seiner Familie erhalten. Gerade jene – die Kommandeure wissen es – pflegen oft die besten Feldsoldaten zu sein, weil das Außergewöhnliche, das Riesenhafte, das alles Erschütternde eines Feldzuges ihrer lebensdurstigen, unruhigen Seele Wechsel, Beschäftigung, Abkühlung genug bietet. Ein langer, fauler Frieden – und sie sind unweigerlich verloren. Am Garnisondienst, an notwendiger Strenge und Einförmigkeit gehen sie zugrunde. Auch der königliche Dienst würde zugrunde gehen an ihnen. Darum ist es harte Notwendigkeit, sie auszuscheiden, wenn sie drohen, dem gesunden Körper der Armee verderblich zu werden.

Und dennoch, wenn man sie gehen läßt, mag man ihnen die Hand drücken zum letztenmal und braucht nicht in Bitterkeit von ihnen zu scheiden, sondern wird sprechen: ›Du paßt nur nicht in den Frieden, mein Sohn, denn das oberste Gesetz des Soldaten hast du dir nicht zu eigen gemacht, das da heißt: Selbstzucht!‹ Man wird einwerfen: gerade im Felde bedarf es doppelter Haltung. Gewiß, aber eben der Krieg kommt solchen Naturen auch doppelt entgegen, indem er den Indianerinstinkten ihrer Seele Nahrung gibt, indem er sie ganz anders in scharfe Schule nimmt als je der Frieden. Was ihnen daheim ein unnützer Zwang erschien, dem sie sich nur schwer oder gar nicht beugten, zeigt ihnen der Krieg als eiserne Notwendigkeit. Wie es Knaben gibt, die auf der Schule nicht guttun und im Leben später an erster Stelle stehen. Kommen uns nicht in jedem Berufe Männer vor, die zu Dingen der Theorie nicht Geduld haben, ja sie nicht fassen mögen, und wenn man sie vor die praktische Wirklichkeit stellt, wertvoller sich erweisen als jene andern, die sich am grünen Tisch als Helden gefühlt?

Wohl etwas lang mögen Ihnen, meine Herren, diese Worte vorkommen, die den Anschein erwecken, als wären sie schon halb die Geschichte, die ich erzählen will. Dabei brauche ich meine Gedanken nur in Fleisch und Blut zu kleiden. Denn solche Leute lebten und leben noch.

In der Rangliste stehen noch heute Hunderte von Namen, die einst den großen Friedrich umklungen. Namen seiner Generale, Obristen, Kapitäns, Leutnants und Junker, Namen mit Siegen wie ehrenvollen Niederlagen so eng verwebt, daß, wenn man sie nennt, vor unserer Phantasie die ›Potsdamer Wachtparade‹ mit klingendem Spiel anzugreifen scheint. Namen, derart mit dem Könige verknüpft, daß wir uns an den heutigen Träger förmlich erst gewöhnen müssen, denn unwillkürlich setzen wir ihn um hundert Jahre zurück. In diesen Familien wurde der Dienst Seiner Majestät förmlich zum ›Metier‹. Einer, der nicht das Portepee trüge, wäre beinahe aus der Art geschlagen. Diese Männer sind der Grundstock der Armee, auf ihnen fußt das Offizierkorps noch heute in Sitte wie Geist.

Ich denke nun an einen aufgeschossenen, schlanken Menschen. Körpermaß: erstes Bataillon Garde des großen Königs, an einen mit blauen, klaren Augen, dunkelblondem Haar und kleinem, hellem Schnurrbärtchen im von Luft und Sonne gebräunten Gesicht. Ein Gesicht, das ewig zu lächeln schien, über dem ein Strahlen lag wie endloser Feiertag. Jeden gewannen diese Züge, so einnehmend, so offen, daß man fühlte, wenn man sie nur sah: du bist von deinem Schöpfer in einer Feierstunde geschaffen. In diesem Menschen gab es keinen Hinterhalt, solche Seele hielt nichts verborgen zu ihrem Vorteil, sie gewann den Kommißstiebel wie den galligen Brummbär. Ein naives, sieben Schuh hohes, zwanzig und etliche Jahre altes Kind lachte aus großen klaren Augen, die alles bestaunten wie am ersten Tage. Seinem Kommandeur nach einer dienstlichen Meldung glückselig mitzuteilen, er habe draußen im Gras das erste Veilchen gepflückt – es dann aus dem Innern des Helmes zu holen, wo er es vorsorglich verwahrt, und es dem Obersten anzubieten wie der Jüngling dem errötenden Mägdelein – es ist geschehen. Dabei war jener Oberst kein Naturschwärmer und Zärtling, nein, bei Gott, nein – sondern ein Eisenfresser, dem die Natur kein Farbenauge geschenkt, dessen Herz der königliche Dienst in Reglements geschlossen hatte.

Und eben dieser Oberst nahm das Veilchen. Ja, er roch daran. Das erste, das er an die Nase geführt. Wird auch wohl nie wieder geschehen sein, bis zum heutigen Tage. Dieser Oberst, der bei einem andern die Veilchenepisode vielleicht mit Arretur beendet hätte, wischte sich fast verlegen ob solch unmöglicher Geschichte den grauen, endlosen Schnurrbart, wurde rot wie sein Kragen, schlug den Leutnant auf die Schulter und schrie ihn, dienstlich überwunden, menschlich gepackt, an, mit funkelnden Augen:

›Sie sind eigentlich ein doller Kerl!‹

Geschah dem Leutnant aber nichts. Gar nichts. Das konnte nur er, kein anderer. So war er.

Unmilitärisch bis in die Knochen wird man sagen! In die Knochen von gleicher Struktur wie die des Urgroßvaters, geblieben als Oberst beim Überfall von Hochkirch, des Großvaters, im Befreiungskampf gefallen, als wir damals wie heute vor Paris lagen, des Vaters, in langer Friedenszeit zwar zum ›Stadtsoldaten‹ geworden, wie er sich selbst zu nennen pflegte, doch 1864 noch zum Krüppel geschossen von dänischem Kartätschenhagel. ›Meines Lebens Ehrentag‹ nannte der alte Soldat jene Stunde, die ihn aus der Reihe der Fußgänger gestrichen, denn sie nahm ihm beide Füße. Und eben dieser alte Soldat mußte mit beißendem Kummer erleben, wie sein Sohn, sein einziger Sohn, den Weg ging der Unehre, den Weg, den noch nie einer geschritten, seit man von dem Namen wußte, den Weg hinaus aus der Armee. Ohne die Armee schien dem alten Herrn das Dasein ausgeschlossen, wie ihn die Armee unmöglich dünkte wenn nicht von seiner Familie in der Rang- und Quartierliste eine erkleckliche Zahl stand. Sie waren alle hin bis auf ihn und den Sohn. Zur Zeit des großen Friedrich hatten achtzehn ihres Geschlechtes einmal gleichzeitig gedient. ›Wenn ich tot bin, steht keiner mehr drin!‹ sagte der General. Das täte ganz anders weh, meinte er, als damals, wo er vor den dänischen Schanzen stundenlang mit seinen blutenden Stummeln gelegen, bis man ihn auflas.

Aber noch trug er ja, der Leutnant, den Rock des Königs, und ich muß erzählen, wie es geschah, daß er ihn verlor. Der dunkelste Tag seines Vaters, seiner Mutter, seiner Schwester. Denn nicht der General allein war Soldat, nein, Frau und Tochter fühlten gleich ihm. Des Leutnants Mutter, selbst ein Soldatenkind, hatte nie anderes gesehen als Soldaten, als Dienst. An ihrer Mutter wieder hatte sie den eisernen Trauring erblickt, den sie wie Tausende deutscher Frauen eingetauscht, indem sie all ihr bißchen Schmuck auf dem Altar des vom Korsen zertretenen Vaterlandes niedergelegt. Von ihrem Vater wußte sie es nicht anders, als daß die Frau Kameradin sei des Mannes, so er des Königs Rock trägt, in Entbehrung und Unterordnung. Einem andern zu folgen als einem Soldaten – undenkbar. Ihm brauchte sie sich nicht erst anzubequemen, denn sie dachte, wie ein Soldatenkind denkt. Höher hinauf als Freiheit und Reichtum! Wozu? Mehr Geld – Verweichlichung, Abkehr von Selbstzucht. Mehr Freiheit – Müßiggang, Laster Anfang. Und was tun? Was erstreben? Ihrem Manne hatte sie das einfache Essen bereitet, wenn er heimkehrte vom Dienst. Sie redete mit ihm vom Dienst, sie schwärmte mit ihm von Heldentaten und Soldatentod. Ihrer Familien Geschichten lasen sie an langen Abenden: schlugen mit dem Großen Kurfürsten Fehrbellin, bissen die Zähne aufeinander ob Friderici regis Not und Niederlage, richteten sich aber auf mit ihm von Schlacht zu Schlacht, von Sieg zu Sieg. Auf der Terrasse von Sanssouci sahen sie ihn sitzen wie einen Gott, und in Gedanken ließen sie den Säbel salutierend sinken. Dann empörten sie sich über Fall und Niedergang der stolzen Armee. Zornestränen weinten sie um Jena. Und blickten auf zum »Marschall Vorwärts«, der einen Namen trug wie sie, in Ehren, zahlreich, siegreich, in Preußens Heer.

Mit ihnen saßen abends zwei Kinder am bescheidenen Tisch. Der Sohn, der einzige Sohn, der den alten Namen in der Rangliste fortsetzen sollte. Stolz waren sie auf den Sohn, den lieben, einzigen Sohn. Daneben verschwand wohl ein wenig das Töchterlein, denn es konnte ja nicht in der Rangliste stehen. Von Kindheit an kannte die Schwester nur eins: den Bruder. Er war der verwegenste aller Bengel, der schönste aller jungen Leute. Alles, was sie dachte und sprach, mündete bei dem Bruder. Älter als er, hatte sie ihn mit aufgezogen. Ihr hatte er alles anvertraut wie dem besten Kameraden. Sie schaute in die letzten Falten seiner Seele. Und dem Bruder jedes Opfer zu bringen, war sie bereit. Daß sie zurückstehen mußte, erwartete sie nicht anders. Sah sie es nicht an der Mutter? Wie einfach ging die immer gekleidet neben Papa in der blitzenden Uniform. Wenn die Ausgaben besprochen wurden: Mama ein neues Kleid oder Papa den Waffenrock, weil bei der Parade die erste Garnitur verregnet war. Konnte es zweifelhaft sein? Gehörte nicht die Uniform zum Dienst, auf den das ganze Haus gestellt blieb? Papa mußte avancieren zu Ehren des Namens, zum Glück seiner Frau, die nur immer daran gedacht, ihn zum General zu bringen. Und da nicht gut angezogen sein? Vielleicht wäre bei der Besichtigung der durchschwitzte Kragen aufgefallen oder der nicht ganz frische Vorstoß!

Als echtes Soldatenkind beschied sie sich, daß für den Bruder alles aufgewendet wurde. Nicht anders erschien es ihr als beim Majorat, dem Sohne nur zufallend, während die Töchter zurückstehen mußten. Stand sie nicht gern zurück? Für den schönen, den lachenden, den strahlenden Bruder? Er hätte wie der Papa bei der Infanterie dienen müssen, das entsprach den Verhältnissen. Aber da fand es sich, er liebte Pferde so sehr. Sein Vater war kein Reiter, oft hatte ihm die mangelnde Fähigkeit sogar dienstlichen Verdruß bereitet. Die Gäule, die er sich halten mußte, gingen nicht unter ihm. Hatte aber der Bengel vorher darauf gesessen, zuerst nur aus Scherz im Stall vom Burschen daraufgehoben, dann mit halber Zustimmung, bald sogar auf Befehl des Vaters, so gehorchte der Schinder ganz anders. Sollte man derart ausgesprochenes Talent verkümmern lassen? Und nun kamen Bitten, Kämpfe. Ja, Kämpfe, denn eines Tages, als es im Kadettenkorps Arrest gesetzt wegen unmilitärischen Benehmens und Papa den Jungen hochnahm, erklärte der Sohn, der einzige Sohn, er sei überhaupt zum Soldaten nicht geeignet.

Es war nur Trotz, denn einer der Familie nicht Soldat? Doch es schlug ein. Papa wurde weich. Es traf ihn, als ob ein anderer sein Vermögen verlöre. Mama begriff nicht, die Schwester aber, die ihn am besten verstand, fühlte, was den schönen, den schlanken, den einzigen Bruder verdroß: nur Pferde konnten ihn mit dem Dienst, dem trockenen, ledernen, versöhnen. Papa sah es ein: Der Urgroßvater hatte beim Regiment Gensdarmes gedient, Großpapa – da hing noch das Bild, das schönste, das die nüchtern bescheidenen Räume zierte – Großpapa war Totenkopfhusar gewesen. Nur Papa mußte zur Infanterie. Der Junge sollte Reitersmann werden! Aber die Pferde und der hohe Zuschuß? Sie ließen alle drei die Köpfe hängen.

Doch der Gedanke bohrte in ihnen. Berechnungen wurden angestellt. Am Ende, wenn Papa erst Oberst war, dann vielleicht. Und wenn – wenn Ännchen ... Ännchen brauchte nicht viel ... Ännchen sagte es selbst. Eines Tages erklärte sie, da sie doch im Hause bliebe ... könne der Bruder bessergestellt werden. Papa sah sie an, dem Vaterauge schien sie nicht übel. Verlangte sie nicht wie jeder arme Mensch den Anteil am Glück? Konnte es nicht sein, daß einer, der sie einmal zur Frau begehrte, das Kommißvermögen selbst nicht ganz besaß? Da hätte sie beisteuern müssen. Wurde aber für den Bruder alles vertan, so blieb ihr nichts. Mama sah den Sohn schon als Kürassier. So groß – Kürassier natürlich. Vor ihrem Traum verblaßte alles andere. Papa aber nahm Ännchen ins Gebet, Ännchen, die schon verzichtet. Er war weich dabei wie nie. Zwar sprach er von Tradition, ja sogar Pflicht dem Hause Hohenzollern gegenüber, dem sie nun so viel hundert Jahre gedient, zog aber doch die Tochter an sein Vaterherz und bat sie, sich zu prüfen, ernst zu prüfen, Herz und Nieren. Aber das Mädchen blieb dabei. Und der Sohn, der geliebte, einzige Sohn spann Pläne, machte große Worte, wie er sich einschränken würde. Da bewunderten sie seine Bescheidenheit. Der Reihe nach fielen sie ihm um den Hals, dem guten Sohn und Bruder.

So kam er zur Kavallerie, zwar nicht zu den Kürassieren, aber das Dragonerregiment an des Landes Grenzen war immerhin teuer genug. Und der junge Mann, entlassen aus der Zucht des Korps in Gottes ungebundene Welt, entlassen als Selektaner nun in die Freiheit des Offiziers, stand nach dem Dienst plötzlich mitten im Leben, das er nicht kannte. Zuerst dachte er an Daheim, Papa, Mama, Ännchen, die sich opferte für ihn; wie ein Fels ragte er in der Brandung und rührte sich nicht. Aber die Wellen leckten an ihm empor, und täglich spülten sie von dem Stein der Vernunft etwas davon, bis sie eines Tages über ihm zusammenschlugen. Als er einmal vom Baum der Erkenntnis genascht, aß er die süßen Früchte weiter.

Er war groß und gut gewachsen – sollte er in abgetragenen Uniformen gehen? Der Schneider redete ihm Zivil auf. Was er da trug, sei für einen so gutgewachsenen, schneidigen Herrn schlechterdings nicht möglich. Aber die Rechnung? Ach, es brauchte nicht gleich zu sein – vielleicht bei der nächsten Bestellung. Und dann kam ein Regimentsdiner. Der junge Offizier bedurfte wahrhaftig nicht des Weines, um in Stimmung zu geraten. Ihm hing der Himmel so schon voller Geigen. Mit einundzwanzig Jahren! Und einen spiegelglänzenden Fuchs im Stall und eine schnelle Braune, mit der er trotz seines Gewichtes das Regimentsrennen für Chargenpferde heute gewonnen? Und der hellblaue Rock mit dem roten Kragen, von dem die jungen Dächse unter sich behaupteten, es sei die schönste Uniform der ganzen Armee. Und hatte ihm nicht manch roter Mund schon mit sich öffnenden Lippen gestanden, daß er nur anzuklopfen brauchte, und es würde ihm aufgetan?

Und schlug nicht nach dem ersten Glase schon, auf das Wohl des Königs geleert, sein Herz? Strömte nicht nach dem zweiten und dritten auf gute Kameradschaft alle Lebensfülle ihm brausend durch die Adern? Und wie ihm dann der Rittmeister zutrank, leise drohend mit dein Finger, hieß das nicht: halte die Ohren steif, du leichtsinniger, junger Schnapper? Heute früh kamst du zum Dienst ganz verschlafen, aber wie du den Schinder, der nicht springen wollte, über die Hürde gebracht – bravo! Aus dir wird noch mal ein Reiter! Aber – bessere dich! Zucht, Ordnung, Pünktlichkeit, du Tausendsapperlöter! Immerhin, dein alter Schwadronschef kann dir nicht bös sein!

Sparen wollte der junge Kerl, nur leichten Mosel trinken, und eine halbe Flasche! Aber die Musik! Und all die braungebrannten netten Kerls! Huih! Siehe da, die Veuve Clicquot schäumt im Glase. Er wurde rot, als er auf der Weinkarte noch einmal den Preis las, aber Teufel, einmal lebt man nur! Prost! Prost! Prost!

Und dann ein Jeu! Plötzlich an einem Abend! Nach leichtem Schwips. Nur einem, der die Erdenschwere forthebt. Was ist das dumme Geld? Dreck! Aber, als alles verspielt war, schien es kein Dreck mehr zu sein. Und eines Tages, als er zahlen sollte, erst recht nicht. Mit schwerem Kopf kam er heim, zu beichten. Erst sagte er es Ännchen, denn nur sie war zu Haus, als er unerwartet erschienen. Die Schwester hielt sich erschrocken beide Ohren zu, als wolle sie das Entsetzliche nicht hören. Doch es half nichts Vogel Strauß spielen, und Ännchen tat sich zusammen, mit dem Bruder es erst einmal Mama beizubringen. Wie schön er war, der Junge! Wie die Uniform ihm stand! Und so frisch, so stark, wie ein junger Gott! Da ging denn mit der beiden Hilfe die Beichte besser vorüber, als der leichtsinnige junge Offizier gehofft. Papa donnerte zwar los, daß Ännchen ganz bleich wurde, aber wie sein Junge zu erzählen wußte, wo er alles gespart, wie geschickt er sich eingerichtet, und daß nur einmal, ein einziges Mal die Schwäche einer unseligen Stunde das Unglück verschuldet, da beugte Papa den grauen Kopf und sann ob der Entscheidung. Die andern warteten totenstill, den Atem angehalten. Der junge Offizier war bleich. Minuten verstrichen. Plötzlich fuhr Papa auf und öffnete beide Arme. Da lag auch schon der Junge, der einzige, geliebte Sohn an seiner Brust. Lange ließen sie sich nicht, Vater und Sohn. Dann saßen sie alle vier eng beisammen, und der Leutnant erzählte mit gedämpfter, ein wenig beschämter Stimme von allerlei Dienstgeschichten, vom Regiment, von den Kameraden. Sie horchten auf. Jede Kleinigkeit wollten sie wissen. Und immer mehr schwand der trübselige Ton, immer lauter, natürlicher wieder klang seine Stimme. Bald kamen Scherze, Ulk, Verwegenheit, Abenteuer, ja unerhörte Begebenheit, daß Mama und Ännchen große Augen machten. Papa schüttelte wohl den Kopf: ›Nein, nein, bei uns im Infanterieregiment ist das nicht möglich! Aber der Reitergeist! Nun ja, der Reitergeist!‹ Und allmählich fing Papa sogar an zu schmunzeln. Nun glänzten des Leutnants Augen, die jeden anblicken konnten ohne niederzusinken, auch die Exzellenz im Dienst, und die schönen Zähne traten lachend zwischen den Lippen hervor. Der junge Offizier sprang auf: jeden, von dem er erzählte, führte er leibhaftig vor, wie er ging und stand und sprach, daß die drei aus dem Lachen nicht herauskamen. Nur Papa wurde manchmal zwischen zwei Sätzen ernst. Sein Auge starrte zu Boden, als dächte er: wie deck ich die Schuld? Doch gleich war der Sohn wieder bei etwas, das den Vater interessierte: ›Nicht wahr, Papa, das ist so?‹ Es war Kavalleristisches zwar, doch Papa nickte ein wenig geschmeichelt und gab die Antwort, die der Sohn vielleicht besser wußte. Ännchen tat, als verstünde sie nicht, ließ sich belehren, zog den Vater ganz ab von trüben Gedanken. Und bald lachte wohl selbst Papa.

Als dann der Leutnant zurückfuhr in die Garnison, war er heiter, als gäbe es keine Schulden auf der ganzen Welt. Nur einen Augenblick wurde er wieder ernst, wie der Papa ihn umarmte beim Abschied und ihm ins Ohr flüsterte die heiße Bitte:

»Nicht wahr, mein Junge, du läßt es dir zur Lehre dienen? Das tust du mir nie wieder! Du weißt, wir haben es nicht!«

Der Sohn aber, der einzige, der geliebte, sprach, und dem schnell von Stimmungen Geworfenen wurden die Augen dabei naß:

»Nie, nie, nie wieder!«

Es war ihm Ernst. In der Eisenbahn auf der Rückfahrt zersann er sich den Kopf: wie sparen? Er nahm sein Notizbuch heraus und begann zu rechnen. Rechnen, das er nie gekonnt! Mathematik, daran er fast im Examen gescheitert. Dann ging er mit dem stolzen, sicheren Bewußtsein schlafen: am ändern Morgen begann ein neues Leben!

Eine Woche hielt es an. Dann blaute an irgendeinem dummen Tage der Himmel so unerhört, so süße Düfte zogen von den Gärten herüber, so würzig wehte die Waldesluft, und am Abend verblutete die alte Sonne sich in den Wolken voll so unglaublicher Farben, daß ihm das Herz pochte und die kleine Stadt zu eng ihm schien. Und weil es Sommer war und die Welt so bestrickend schön, nahm er sich vor, sie einmal, einmal nur anzusehen. Er kannte den Rhein nicht, von dem alle sprachen, nicht einmal die Umgegend kannte er, denn Reisen, Urlaub war teuer! Und doch war es so billig zu machen! So lächerlich billig, wenn man's nur richtig anfing!

Er flog aus über Sonntag. Und weil es so herrlich gewesen, den nächsten Sonntag wieder. Aber die Zeit war zu kurz, man mußte wenigstens über Nacht bleiben können. Also Urlaub genommen für Sonnabend und Sonntag. Einmal wurde er gewährt. Ein zweites Mal wieder. Beim drittenmal macht der Oberst ein bedenkliches Oesicht: ›Haben Sie keinen Dienst?‹

– ›Nein, Herr Oberst!‹ – ›Dann sollen sie sich beschäftigen! Für einen jungen Offizier gibt's mancherlei zu lernen! Stecken Sie Ihre Nase ins Reglement, in die Felddienstordnung! Lesen Sie ...‹

Mit aller Unbefangenheit fragte der Leutnant, was er denn lesen sollte. Der Oberst wußte sich zuerst nicht zu fassen. Er wollte losschnauben, doch dies naive junge Gesicht entwaffnete ihn. Wirklich, wie einen Vater blickte es den Kommandeur an, treuherzig mit großen, fragenden Augen, daß der Gestrenge sich räusperte, brummte und schließlich Werke nannte: Kriegsgeschichte, Pferdekenntnis, Zuchtbücher, Reitlehre, Memoiren.

Der Leutnant entlieh sich allerlei aus der Regimentsbibliothek, aber er hatte nie lesen gekonnt. Wenn er nur ein paar Seiten durchblätterte, tanzten die Buchstaben vor seinen Augen, er bekam Kopfschmerzen oder schlief ein. Draußen dagegen im Dienst war er der Brauchbarsten einer: Reiten, reiten lassen

– das war sein Feld. Wenn beim Exerzieren die Schwadron über den Boden fegte, vor seinem Zuge angespannt auf die Kommandos lauern, weil jeden Augenblick eine Schwenkung kommen konnte, da stellte er seinen Mann. Mitten in den Staubwolken dahinjagen, wie die Schlachtjungfrauen im Gewölk, und lauschen auf die Signale, als ob der Blitz vom Himmel in die hundertfünfzig Pferde führe, das war Glück und Seligkeit. Und dann: weit dem Regiment voraus auf Patrulle den Feind bespähen, in endlosem Ritt, bei dem Mann und Pferd den letzten Nerv hingeben mußten – weit um die Flanken greifen – wer tat ihm das zuvor? Seine Meldung war zuerst da. Seine Meldung hatte sich noch immer als richtig erwiesen. Auf ihn bauten die Führer der Parteien, ihn baten sie sich förmlich aus.

Und das versöhnte Oberst und Rittmeister, mit dem es auch manchen Tanz gegeben wegen Unregelmäßigkeit beim Dienst. Aber Stiefelparade, wenn der Mai in den Kasernenhof lachte? Und Wachdienstinstruktion halten, wenn im Herbst die dampfende Erde zum Jagdritt lud? Da kamen die Ausflüge wieder. Auch ohne Urlaub. Und eines Sonntagsmorgens zur Kirchenparade war der Leutnant nicht da. Arrest. Nun bäumte er sich auf. Jetzt fuhr er gerade fort. Eines Tages war er davon: nur eine kleine Lustreise! Was war dabei? Mehr als eine Nase konnte es nicht geben. Aber schon fand er den Zettel mit dem Befehl, sich nach Rückkehr sofort beim Herrn Oberst zu melden. Da gab es wieder Arrest. Es war, als begriffe der junge Offizier die Strafe nicht. Über Sonntag? Er hatte nichts versäumt! Der Kommandeur fragte, ob er sein Unrecht einsähe? – ›Nein!‹ – ›Was, nein?‹ – Und der alte Soldat, sein Vorgesetzter, zugleich aber seinem Vater verantwortlich für die junge Menschenexistenz, geriet außer sich. Das war der Mangel an offiziersmäßigem Fühlen, das war Verständnislosigkeit für den Ehrenpunkt. Er schrieb an Papa. Der kam. Zuerst wollte er Partei nehmen für den Sohn. Er begriff das alles nicht. Dann brach er zusammen. Sein Sohn, sein einziger geliebter Sohn, für den sie alle Opfer brachten, für den sie darbten, sollte so weit sein, daß sein Oberst riet, einen andern Beruf zu ergreifen?

Angesichts des Vaters, der dreinschaute in seiner Uniform, als sei er irre, der da saß, er der vor dem Regiment so scharfe Mann, als habe er keinen Willen mehr, fiel der junge Offizier auf die Knie wie ein gefällter Stier und schrie laut auf im Jammer über solches, das er angerichtet. Er gelobte, sich zu bessern: alles sollte anders werden, ganz anders! Ein neues Leben würde er beginnen! Er stammelte, flehte, schwor, und der Vater glaubte ihm, glaubte, wie der Sohn selbst, glaubte, was er versprach.

Da erklärte der Kommandeur sich bereit, es noch einmal zu versuchen. Er tat es gern, denn er hoffte auf eine Wandlung, auch er konnte seinem besten Reiter, wenn auch unzuverlässigsten Diensttuer, seinem besten Patrullenführer, wenn auch ›unsichersten Kantonisten‹ nicht gram sein. Und der junge Offizier kämpfte mit sich einen ehrlichen Kampf. Aß Butterbrot und trank Wasser, hungerte und sagte, so oft es ging, im Kasino ab, das Mittagessen zu sparen. Er stürzte sich in den Dienst. In den Schwadronsstall lief er nachts, zu sehen, ob die Stallwachen auch nicht schliefen, die Mannschaftsstuben revidierte er, in die er sonst kaum einen Fuß gesetzt. Er ritt nach dem Dienst freiwillig beurlaubter Kameraden Pferde. Beim Fußdienst stand er, und wenn auch nur ein Mann nachexerzieren mußte oder zur Strafe mit seinen ungelenken Beinen die Kniebeuge machen. Finsterer wurde sein Gesicht im Kameradenkreise – wo blieb der Frischeste, Beliebteste des Regiments, der noch jeden in Stunden dienstlichen Verdrusses oder menschlichen Ärgers aufgeheitert? Wie ein Schatten schlich der junge Offizier einher, ja er verbiß sich förmlich in den Kommiß und kam sich bei unnötigem Abrackern als Märtyrer vor. Er gefiel sich darin, Trübsal zu blasen und sich abzuschinden am falschen Fleck.

Aber alles schien vergebens, denn eines Tages in tiefster Aschermittwochsstimmung, bei Kasteiung und Versagen, lag ein Brief des Schneiders da. An den hatte er seit Jahr und Tag nicht gedacht. Er riß den Umschlag auf. Was? So viel? Unmöglich! Das war ja mehr als sein ganzer Jahreszuschuß! Er warf die Rechnung in den Papierkorb. Lächerlich! Und der Leutnant schuftete weiter im königlichen Dienst vom Morgen bis zum Abend, wo er todmüde sich aufs Bett warf, angekleidet, wie er war, und schlief, bis ihn am Morgen der Bursche weckte. Und siehe da, auf dem Schreibtisch lag abermals eine Rechnung: der Sattler. So viel? Unmöglich! Er wurde betrogen! Rasch in den Papierkorb! Doch in den nächsten Tagen kam Rechnung auf Rechnung. Das schlimmste dabei: dieser und jener mahnte. Er könne nicht mehr warten. Richtig – der Jahresschluß! Dann kam sogar ein Postauftrag. Der Leutnant konnte nicht zahlen. Ihm wurde heiß. Ein Sonntag war's. Die Kameraden auf Urlaub. Nirgends hätte er Geld erhalten können, und der ›unverschämte Kerl‹ drohte, es dem Obersten anzuzeigen, falls nicht bezahlt würde. Da kam dann wirklich heraus, daß er schon ein Dutzend Rechnungen geschickt hatte. Ja, ja, dahin waren sie gewandert, in den Papierkorb, links neben dem Schreibtisch, an dem er nie saß, höchstens einmal, um Rechnungen fortzuwerfen.

Ach was, der Esel würde sich schon beruhigen! Nur eins sah der junge Offizier ein, alles Entsagen, alles Knausern, alles Sparen half ja doch nichts. Also lieber: hui! fröhlich gelebt und jung gestorben. – Nein, leben, leben wollte er! Und wieder packte ihn der Jubel des Daseins, das unbändige Glück, die Luft dieser schönen Erde zu atmen und jung zu sein! Er warf alles hinter sich. Zu Ende die Jammerzeit des Trübsalblasens. Hin ist hin, verloren ist verloren! Hatten die Dragoner, die braven Kerls, nicht schon verfluchte Gesichter gemacht, den Herrn Leutnant, ihren liebsten Vorgesetzten, für den sie durch die Hölle geritten wären, so herumstänkern zu sehen wie 'nen alten, verdammten Kasernenspion? Also los! Los! Hei, wie das gut tat, mal wieder 'nen Ritt hinaus ins Land, wenn auch kalt und winterlich! Und wie die Louison, die schwarze, die immer so französisch tat und doch den blonden deutschen Jungen am liebsten küßte, sich freute! Und dann Karneval – er fiel zeitig – in Mainz! Die schönste Maske war er; das sagten sie alle, die ihn anulkten auf der Rheinbrücke. Am Abend wurde gesungen und getrunken. Dann plötzlich lagen die Karten da. Wer mochte sie mitgebracht haben? Ei, war da nicht schönste Gelegenheit, den Hornochsen, den Schneider, zu berappen und das Mistvieh, den Sattler? Er war wirklich ein Mistvieh, denn der Baum von dem neuen schönen teuern Sattel war beim ersten Ritt gebrochen. Durfte gar nicht vorkommen bei anständiger, ehrlicher Arbeit! Aber der Mann sollte sein Geld haben.

Keine Bange! Und wenn er ihn zehnmal reingelegt: er würde zeigen, daß er anständig war! Alle sollten sie ihr Geld haben: da auf dem Tisch lagen die Hunderte nur so herum! Darum vorwärts: gesetzt. Ebensogut, wie andere gewannen, konnte er auch gewinnen! Irgendwoher kam Sekt! Er schien Gemeingut zu sein. Prost! Das Leben war so einfach, so leicht!

Und am ändern Morgen rieb er sich die Augen und stürzte zum Schreibtisch. Da lagen die Aufzeichnungen, was er verloren: Hunderte, Tausende! In der Reitbahn stand er und ließ seine Abteilung reiten. Mechanisch tönten die Kommandos. Der heitere, hübsche, junge Offizier war nicht zu erkennen. Er starrte auf die Pferde, auf die Dragoner, ohne zu sehen. Und – auch das noch – plötzlich kam der Regimentsadjutant, er solle dem Ältesten den Befehl übergeben und sofort zum Kommandeur kommen. Wußte der's denn schon?

Der Oberst empfing ihn mit strengem Gesicht, und der Leutnant stand zum erstenmal nicht lächelnd vor ihm, kein Veilchenanbieten wäre ihm in den Sinn gekommen, nicht einmal eine Frage hätte er an ihn zu richten gewagt. Wahrhaftig: jener, der damals den Postauftrag gesandt, den er nicht eingelöst, hatte dem Obersten geschrieben. Nur einen Satz sagte der Kommandeur: »Sie werden mir übermorgen melden, daß Sie keine Schulden haben, oder Sie reichen Ihren Abschied ein!«

Der junge Offizier fuhr nach Haus. Er traf sie alle daheim, seine Lieben. Papa, Mama, Ännchen saßen beim Nachtessen. Kein Sekt, kein lustiges Souper: Hering gab's und Pellkartoffeln. Der Oberst und die gnädige Frau und das gnädige Fräulein sparten für den lieben, einzigen Sohn, den Bruder. Der aber stand in seinem eleganten Zivil an der Tür und blickte sie an mit weit aufgerissenen Augen. Sein fröhliches Gesicht war ernst, und als er Eltern und Schwester beim bescheidenen Mahl sah, stürzten ihm jählings heiße Tränen aus den Augen. Der Vater stand auf. Wie damals, bei der ersten Beichte, hatte er beide Arme geöffnet, den Sohn zu empfangen. Da fielen sie ihm schlaff herab. Er blieb, den Mund offen, stehen. Die Mutter sank vor Schreck in den Stuhl zurück. Ännchen mußte sie halten.

»Was ist's ?«, fragte der Vater. Der Leutnant brachte es nicht über die Lippen. Ein paar Schritte taumelte er vor, dann fiel er seinem Vater um den Hals, und im Bewußtsein, daß es nun zu Ende sei, begann er zu schluchzen. Der Oberst klopfte seinem Jungen den Rücken, aber die Hand des alten ›Stadtsoldaten‹ zitterte, denn er ahnte, was geschehen. Die Mutter schob die Reste des Essens zusammen und schickte Ännchen hinaus, ob für den Sohn noch irgend etwas gemacht werden könnte, denn er mußte hungrig sein nach der langen Eisenbahnfahrt. Er sollte erst essen. Doch der wehrte ab, fast mit Entsetzen. Er bat, den Vater allein sprechen zu dürfen in seinem Zimmer. Da verschwanden die beiden im Nebenraum, und langsam schloß sich hinter ihnen die Tür. Die Mutter aber blieb mit gebeugtem Rücken am Tisch, faltete die Hände, horchte hinüber, wo man lange nichts vernahm, und begann zu beten. Ännchen ließ sich leise am Tisch nieder. Mutter und Tochter starrten einander an. Keine sprach ein Wort. Nur manchmal, wenn nebenan des Vaters Stimme lauter tönte, zuckten sie zusammen und wechselten ein paar Worte.

Da tat sich die Tür auf. Der Vater rief seine Frau und Ännchen hinein. Sein Überrock, der alte, abgeschabte, den er zu Hause anzog, war aufgeknöpft, und sein schon dünn gewordenes Haar stand wirr vom Kopfe ab. Der Sohn, der liebe, einzige Sohn hielt die Augen zu Boden geschlagen und blickte weder Mutter an noch Schwester. Nun sprach der Oberst. Mit ruhiger, halblauter Stimme. Nur ab und zu, wenn ihm der Ton umzuschlagen drohte, erhob er sein Organ, und obwohl er weich redete, klang es rauh und gewaltsam.

Vater und Sohn waren schon fertig miteinander. Der Junge mußte gehen. Zu Ende der Dragonertraum. Nur einer des Namens würde fortan noch in der ›Rang- und Quartierliste für die preußische Armee‹ stehen. Und es waren doch einmal achtzehn gewesen. Der Leutnant kehrte nicht mehr in die Garnison zurück. Der Vater würde es selbst ordnen mit dem Kommandeur. Seine Pferde sah er nie wieder, weder die Braune noch den Fuchs. Und nicht die Sachen, die er dort ließ. Nicht die Uniform, die er so stolz und schön getragen. Nicht den Säbel, mit dem in der Faust er einmal gehofft, hineinzureiten unter hellem Hurra in den Feind. Als hätte er das Ende schon geahnt, hatte er sein bißchen Zivil, Wäsche und was er mitnehmen konnte zur Reise über die ›große Pfütze‹, mitgebracht. Da rief Ännchen voller Verzweiflung, sie wolle Diakonissin werden, Erzieherin, irgend etwas, nichts brauche sie, nichts beanspruche sie für sich, nichts, nichts! Aber der Oberst stand wie leblos. Nun begann die Mutter vorzurechnen, wie sie an Anzug, Essen, an allem vielleicht noch sparen könne. Der Oberst stand wie leblos.

Der Sohn aber konnte all den Jammer nicht mehr ansehen. Mit einem Male schrie er laut auf, schrie, ja schrie, und warf sich zu Boden vor seiner Mutter, der alten Frau die Hände zu küssen, nein, den Saum des Gewandes. Sie hob ihn auf. Er war zu schwer, so kniete sie hin neben ihm, strich ihm das Haar, dem schönen, lieben, einzigen Sohn, den sie geboren, und flehte, als könne sie kraft ihrer Mutterliebe alles abtragen, was er hinausgeworfen wie wertlosen Dreck. Er sah ihr vergebliches Flehen, und es schnitt ihm so ins Herz, daß er laut die Summe rief, um die es sich handelte, und bat, bat flehentlich, bat, sie möge sich nicht umsonst quälen.

Da fuhr sie zurück. Nein, dann unmöglich, unmöglich ... und sie streifte seine klammernden Hände ab von sich und blieb auf einem Stuhl, ohne sich zu regen. Ännchen stand neben ihr. Der Vater aber sagte plötzlich hart als Soldat:

»Sei ein Mann! Nimm es auf dich! Wir wollen nicht rechten mit dir. Es ist aus. Und nun komm!«

Er führte den Sohn an den Schreibtisch, suchte selbst den Bogen Papier, gab ihm die Feder in die Hand. Dann hörte man, wie der Oberst mit gedämpfter Stimme dem lieben, dem einzigen Sohn das Abschiedsgesuch diktierte. Als er fertig war, nahm der Vater es auf und las es noch einmal. Laut las er es vor. Dann wurde es in einen Umschlag getan, gesiegelt und frei gemacht. Darauf befahl der Oberst mit Kommandostimme, denn leise hätte er nicht sprechen können bei den Tränen in seiner Kehle:

»Vorwärts, Ännchen, jetzt gib ihm zu essen!«

Und zu seinem Sohn gewandt:

»Reiche deiner Mutter den Arm, ihr wird das Gehen schwer!«

Der Leutnant taumelte fast, als er zum Stuhl schritt, seine Mutter aufhob, der die Knie versagten, und sie ins Eßzimmer führte, voraus vor den beiden andern. Als sie am Tisch saßen, still, denn keiner mochte ein Wort sprechen, klatschte mit einem Male der alte ›Stadtsoldat‹ in die Hände, daß es gellte. Und bei der ungewohnten Fröhlichkeit fuhren sie zusammen. Der Oberst aber rief:

»Ännchen, setze Rotwein auf! Du! Der Bursche soll nicht herein. Wir wollen alle Abschied nehmen von unserm Sohn! Ja, den Rotwein hole, den guten, unsern besten, zu zehn Silbergroschen. Ist freilich kein Sekt, mein Junge, den hat dein Vater nicht im Haus. Der wäre ihm zu teuer!«

Der Leutnant senkte tief die Stirn. Und nun wurde aufgetragen. Er wollte nicht essen, der Bissen quoll ihm im Munde. Doch der Vater nötigte:

»Es ist das letztemal, mein Junge, daß du an deiner Eltern Tisch sitzest!«

Sein Sohn sah ihn steinern an, der Oberst sagte ruhig:

»Morgen früh geht dein Zug nach Bremen. Du weißt, wir haben nachgesehen. Und morgen abend geht dein Schiff! Du erinnerst dich, mein Junge!‹

›Jawohl, Papa!‹

Die Mutter hob erschrocken die Hände, doch der Oberst bedeutete ihr, es sei abgemacht. Nun saß sie stumm da, dem Dienst, dem Befehl gegenüber, und sah ihren Sohn an, den lieben, einzigen Sohn. Endlich überwand sie sich zu sprechen: sie nötigte ihn, zu essen. Bei jedem Bissen redete sie ihm zu, während der Vater schwieg und Ännchen hin und her lief, dem Bruder zu bringen, was es nur in Küche und Keller noch gab. Endlich überwand er sich und aß, denn er hatte den ganzen Tag nichts bekommen. Als er fertig war, räumte die Schwester ab, und sie saßen am nackten Tisch. Das Gespräch ging nicht vorwärts. Immer wieder sank dem Leutnant in Scham und Verzweiflung der Kopf auf die Brust. Da sprang der Vater auf vom Stuhl, ging zu auf den Sohn, nahm ihn bei beiden Armen und sprach:

›Mein Junge, du hast in bodenlosem Leichtsinn dich schwer vergangen an deinen Eltern und auch an deiner Schwester, die ihr Glück geopfert hat für dich. Das bleibt, und ich kann es nicht von dir nehmen. Aber nicht nur wir, auch du wirst an deinem Schicksal noch schwer zu tragen haben. Du bist als Soldat zwar aus der Art geschlagen, aber soviel wirst du wissen, daß es militärischer Grundsatz ist, nie doppelt zu strafen. Nun, so wollen wir dich jetzt nicht quälen in den letzten gemeinsamen Stunden, die wir noch mit dir haben. Ich habe abgerechnet mit dir. Zweimal tue ich es nicht. Dein Schicksal ist bestimmt. Morgen früh verläßt du Vaterhaus, Dienst und Vaterland. Du weißt, ich werde alles ordnen, daß es nicht wie Fahnenflucht aussieht. So laß uns nun die letzten Stunden noch gute Freunde sein. Wir haben dich dreiundzwanzig Jahre geliebt und großgezogen, du sollst uns nun, wo wir uns trennen müssen, nicht sagen dürfen, wir hätten dich wie einen Hund aus dem Hause gejagt. Darum sei fröhlich. Deine Schulden werden wir abtragen, wie es eben geht. Gehen muß. An unserm alten Namen soll keine Unehre bleiben. Sei also fröhlich, mein Junge! Sei fröhlich!‹

Und der Vater bezwang mit soldatischem Mut seine Stimmung. Er sprach laut und lachte, wenn es auch ein wenig gezwungen klang. Und weil sie von der Gegenwart nicht reden wollten, begann er von der Vergangenheit, alte, immer wieder erzählte Geschichten von Vaters und Urvaters Heldentod fürs Vaterland, von Opfer und Treue, von Einfachheit und Kraft und Gesundheit. Preußische Entsagung, preußische Stärke, preußische Not, preußische Siege. Eine Wehmut lag darin über die lange Friedenszeit, eine Sehnsucht nach Krieg. Da gewann auch der Sohn Mut zu reden. Er sehnte sich nach dem Felde, dann, vielleicht dann könnte er bleiben und brauchte nicht fort. Das aber brachte sie wieder auf den Abschied, denn ob sie wollten oder nicht, dort mündete alles. Da es nun schon spät war in der Nacht, holten Ännchen und Mutter des Sohnes Sachen. Sorgfältig wurde die Wäsche durchgesehen, die erst die beiden sparsam und treu zur Leutnantsausstattung ausgesucht und die Schwester an manchem stillen Abend gezeichnet: kein Stück war mehr ganz, kein Dutzend vollzählig. Da nahmen die beiden Frauen Nadel und Zwirn und begannen zu flicken und zu nähen. Die Mutter, deren sonst so gute Augen begannen weitsichtig zu werden, setzte die Brille auf, nahm sie aber immer wieder ab, sie zu wischen. Der Oberst hatte ein Lexikon geholt, das er sich einst als Leutnant abgespart; es schlug die Häfen und Städte Amerikas auf und las laut vor, in soldatischem Ton, von ihrer Lage in Breite und Länge, ihrer Einwohnerzahl, ihrer Industrie, ihrem Klima. Dann wurden sie auf der Karte gesucht und die Entfernungen verglichen. Dazwischen hörte man nur das Rascheln beim Ausziehen des Fadens und das Klappern der Stricknadeln, denn die Mutter setzte an einem Strumpf eine neue Ferse an.

Schon dämmerte der Morgen. Sie waren fertig. Sorgfältig wurde gepackt. Der Oberst saß am Schreibtisch und zählte das Reisegeld für den lieben, den einzigen Sohn. Die Mutter aber hatte aus der Wirtschaftskasse noch das letzte zusammengekratzt und steckte es ihm zu. Drei kleine Paketchen wurden noch in die Ecken des Köfferchens gestopft, Paketchen, in der Eile mit Nähzwirn und Stopfgarn um*wickelt: ein wenig Schokolade, ein paar Zwiebäcke und die Bilder der Eltern wie Ännchens. Das der Mutter in silbernem Rähmchen. Einst stolzestes Weihnachtsgeschenk. Dabei flüsterte sie, dicht den Mund an des Sohnes Ohr:

›Wenn du in großer, großer Not bist, kriegst du vielleicht noch was dafür!‹

Es war aber nur Neusilber, sie wußte es nicht.

Da küßte der Leutnant seiner Mutter Hand:

›Eher will ich verhungern!‹

Wie es an den Abschied ging, gab Ännchen ihm noch ihre englische Grammatik mit und das Lexikon. Dann rief der Vater mit einem Male, kurz und grell, die Uhr in der Hand:

»Es ist Zeit!«

Als hätten sie nicht die ganze Nacht miteinander gesessen, schärfte ihm die Mutter noch allerlei ein, das sie vergessen. Aber schon stand der Sohn im Mantel da. Noch einmal lief er durch die bescheidenen Zimmer in brennender Hast, dann lag er an der Mutter Brust, schloß Ännchen in die Arme und konnte nichts mehr sagen, der stolze, schöne, stramme Offizier als: »Verzeih!« Auf der Schwelle wandte er sich zum letzten Male um und rief kurz, als sähe er sichere Zukunft vor sich:

›Wenn ich was geworden bin, sollt ihr von mir hören! Oder – wenn's mal Krieg gibt!‹

Dann standen die Frauen am Fenster und blickten auf die Straße hinab. Der Oberst ging mit seinem Sohn. Er, das Haupt gesenkt, grüßte nicht mehr. Kein Wort fiel bis zum Bahnhof. Als der Zug davonfuhr, blieb der Vater noch lange draußen am äußersten Ende, wo der Schienenstrang ins Ungewisse sich verlor, und wagte nicht, sich umzudrehen, denn er war in Uniform, und keiner sollte einen königlich preußischen Obersten weinen sehen.

An diesem Tage aber saßen Vater, Mutter und Ännchen beim Mittagessen stumm, bitter. Keinen Bissen brachten sie hinab, bis der Oberst aufstand, alles stehen ließ, in sein Zimmer ging und sich einschloß bis zum Abend. Die Frauen aber sahen nach der Uhr. Ännchen sagte:

»Jetzt ist er da!«

Und bald darauf:

»Nun geht das Schiff!«

Dann saßen sie wieder, die drei, täglich bei Tisch, und kein Wort fiel, bis eines Tages der Oberst sprach:

»Er ist drüben!«

Noch zwei Wochen warteten sie, dann kam der versprochene Brief, der Brief vom lieben, vom einzigen, vom verlorenen Sohn. Nur ein paar Zeilen: die Meldung, er sei angekommen; sobald er etwas erreicht hätte, würde er schreiben. Wie ein Schwur klang es: eher werdet ihr kein Wort wieder von euerm Sohn vernehmen, bis er euch in Ehren schreiben kann.

Monate strichen hin, die stolze Meldung traf nicht ein. Ein Jahr saßen die drei an dem Tisch, Ännchen gegenüber der vierte leere Stuhl, auf dem einst der Leutnant, ihr Bruder, der liebe, der einzige, der verlorene Sohn gesessen. Sie sprachen von ihm, der verschollen schien, fast nie, denn wenn eins ihn erwähnte, wurden der Mutter Augen naß; der Vater legte die Serviette hin und verschwand in seinem Zimmer. Als nun das zweite Jahr zur Rüste ging, hatten sie noch immer keinen Brief. Der Oberst stellte insgeheim Nachforschungen an – vergeblich. Da fingen sie an, wie alles auf der Erde gemildert wird durch die Zeit, ruhiger von dem verlorenen Sohn zu reden. Gleich einem fernen Bild erschien er ihnen. Die Schulden waren bezahlt, eine kleine Erbschaft hatte geholfen, und dazu war das Vermögen geopfert worden. Ännchen befand sich nicht mehr im Haus: untätig die Hände in den Schoß legen? Und dann, wenn der Vater etwa einmal nicht mehr lebte, der Mutter auch noch von der kleinen Pension nehmen? Nein, sie stand auf eigenen Füßen, als Erzieherin in England.

Da kam der Dänische Krieg, und der alternde ›Stadtsoldat‹, der schon daran verzweifelt, je Pulver zu riechen, zahlte mit beiden Füßen das ersehnte Glück, vor seinem Abschiede noch einmal im Feuer zu stehen. Er wurde zum Krüppel geschossen. In ein billiges, kleines Städtchen zogen der Herr Generalmajor a. D. und die Frau Generalin. Von dem verlorenen Sohn aber hörten sie nichts. Sie konnten ihm nicht mitteilen, wie der Vater jetzt Feldsoldat geworden, der aber im Rollwägelchen saß, kümmerlich und doch stolz, daß ihn die Mutter selbst auf die Promenade fuhr und in die Anlagen zum Militärkonzert. In der Beschäftigungslosigkeit, drückend nun auf den alten Herrn, weilten seine Gedanken öfter und öfter bei dem Sohn. Kummer, Groll, Bitterkeit verblaßten, der verlorene Sohn gewann leise das Gesicht zurück, das er früher getragen, da er der Eltern lieber Sohn, der einzige, ihr Stolz und ihre Freude gewesen. Wenn sie jetzt von ihm redeten, klang es fast verklärt, als lebe er nicht mehr. Atmete er noch? Sie wußten es nicht, aber konnten sie glauben, er würde so lange Jahre schweigen? ›Das Herzeleid tut er uns nicht an!‹ meinte die Mutter. Doch der General streckte sich auf seinen beiden Stummeln im Rollstuhl: ›Weißt du, was seine letzten Worte gewesen sind? Wenn ich was geworden bin, sollt ihr von mir hören!‹ Aber die Mutter schüttelte den Kopf: ›Oder, wenn's Krieg gibt!‹ Nun, es hatte Krieg gegeben, und er war nicht gekommen! Da ließ der alte Herr wieder den Kopf sinken. So sprachen sie alle Tage. Nein, es gab keine Hoffnung mehr. Der Sohn war tot.

Da loderte abermals die Kriegsfackel. Der General verfolgte mit brennenden Augen die Telegramme über die Siege in Böhmen. Sein altes Feldsoldatenherz schlug, und er wollte aufspringen, hinaus, bei Trommeln und Pfeifen mit gellendem Hörnerton, dem Signal ›Avancieren‹ dem Feinde entgegen. Kraftlos sank er in seinen Marterstuhl zurück. Nicht mehr dabei! Und da, da schmerzte es ihn, daß sein Sohn fehlte. Der erste Krieg seit Hunderten von Jahren, wo keiner seines Namens im Felde stand.

Der Sohn, der liebe, einzige, der verlorene Sohn war tot. Nun glaubten sie es beide. Sonst wäre er gekommen. Ganz still band die Mutter eine schwarze Schleife, gleichsam einen Totenschmuck, um das Bild, das auf ihrem Schreibtisch stand. Als nun Jahre nach dem Bruderkrieg Ännchen zu Besuch herüberkam aus England, hörte sie, wie seltsam die beiden Alten redeten von dem verlorenen Sohn, stolz, als sei er nur immer ihr Glück gewesen. Da empfand sie es ein wenig, daß man von ihr, die doch nach langer Abwesenheit wieder ins Vaterhaus zurückkehrte, nicht soviel sprach wie von ihm, der sie alle ins Unglück gestürzt und in Unehren gegangen war. Aber sie hatte ja nie in der Rangliste gestanden, hätte nur eine Soldatenfrau werden können – können – wenn sie nicht ihr Bißchen, das sie einmal erwarten konnte, für den Bruder geopfert.

Für Augenblicke nur empfand sie das, die dem Soldatenton im Vaterhaus fremd geworden in England, bald aber regte sich wieder das Blut ihres Namens, nun, wo sie daheim blieb, denn der Vater bedurfte der Pflege, und die Mutter, müde durch Schicksalsschläge, Arbeit und Sorge, konnte nicht mehr recht mit. Bald träumte auch Annchen mit den Alten jeden Abend von dem lieben, dem einzigen Bruder, wie schön er gewesen in seiner hübschen Uniform! Wie stolz er zu Pferde gesessen, wie er gelacht und ihnen erzählt von Reiterleben und Reitergeist. Er, der wiedergekommen wäre eines Tages als ganzer Mann, da drüben geworden ... und er war tot.

Wieder klangen Trommeln und Pfeifen, abermals gellten über das Schlachtfeld die Signalhörner: »Avancieren!« dem Feinde entgegen. Der alte General saß lahm in seinem Stuhl. Nicht mehr dabei! Und das zweitemal seit Hunderten von Jahren stand keiner seines Namens mehr im Feld!

Und doch stand einer draußen auf Frankreichs feindlicher Erde. Nur wußten es die Eltern nicht. Nur ritt er nicht vorm Zuge seines alten Regiments. Er ging in Reih und Glied auf langen Märschen, in unscheinbarer Linieninfanterieuniform, den Dachs auf dem Buckel, auf der Schulter das Zündnadelgewehr. Ein Kriegsfreiwilliger. Gern eingestellt nach furchtbaren Verlusten erster Schlachten. Einer, der erst, als er drüben überm Wasser vom Kriege gehört, herübergekommen war und eingetreten, wo man ihn eben nahm. Ein schweigsamer Mann. Körpermaß: Erstes Bataillon Garde des großen Königs. Einer mit mancher Sorgenfalte, vom Leben gezogen. Man wußte nichts von ihm. Er redete nicht. Wenn er aber den Mund auftat, hatte es einen leisen, fremden Klang, als ob er seine Muttersprache lange nicht gesprochen hätte. Er drängte sich nicht vor, er meldete sich nicht zu Besonderem. Wie jeder andere in der Kompagnie tat er seine Pflicht. Und wie mancher andere in der Kompagnie ist er auch gefallen. Nicht bei einer Heldentat, bei keinem Sturm, der ihn als ersten ins brennende Dorf geführt hätte, sondern ziemlich weit ab von den französischen Linien. Der Gegner hatte sich zurückgezogen, unsere Truppen saßen ihm auf den Fersen, und nur noch ganz aus der Ferne klang das Rattern der Mitrailleusen, der grelle Knall beim Platzen der Schrapnelle, das Rollen der Salven. Mit ein paar Krankenträgern suchte ich das Schlachtfeld ab. Noch war nicht viel zu spüren von dem wilden Ringen, das weiter vorn getobt. Nur hier und da zeigten die abgesplitterten Äste der Chausseebäume auf der weißen Straße die Wirkung französischer Artillerie. Kolonnenwege führten in frischen Spuren querfeldein: hier waren unsere Truppen abgebogen. Wir fanden einen Premierleutnant, einen kleinen beleibten Herrn, den Waffenrock aufgeknöpft, tot, blutbesudelt am Feldrain liegen. Einen Sergeanten konnten wir auf der Bahre zurückbringen: er hatte die Besinnung verloren durch starken Blutverlust. Dann kam eine lange Linie von abgelegten Tornistern, fast peinlich geordnet; ein paar leichter Verwundete hockten dabei, den Rücken gegen die Stämme einzelstehender Bäume gelehnt. ›Trinken, trinken‹, anderes verlangten sie nicht. Nachdem sie notdürftig verbunden worden, gingen sie selbst zurück. Einer mit dem Schuß im Bein, auf den Kameraden gestützt, der ein Stück Blei im Arm hatte. Die braven Kerls lehnten jede Hilfe ab. Nur: ob jemand bei den Tornistern bliebe, schien sie zu erregen. Und dann lag die freie Wiese wieder vor uns, drüben abermals von Bäumen eingefaßt. Nichts sah man als das zertretene Gras. Straßen wie auf einer Karte führten darüber. Und dann – ich erinnere mich noch genau der Kleinigkeiten – ein blutiges Taschentuch und ein toter Gaul. Ein Husarenpferd mit Muschelzäumung. Wohl von einem Ordonnanzoffizier oder Patrullenführer. Immer ferner klang der Lärm des Gefechtes. Zuzeiten war es ganz ruhig. Dann zirpten plötzlich die Grillen. Seltsam, wie einem das ins Ohr fiel. Hatte die Kreatur geschwiegen, solange der Herr der Schöpfung tobte und donnerte? Oder war nur unser Ohr, auf die Kriegslaute achtend, für die feinen Geräusche nicht empfänglich gewesen? Wir gingen langsam vorwärts; ab und zu klangen unsere Rufe, vielleicht lag einer irgendwo verborgen. Dann warteten wir, zu lauschen. Alles still. Nur immer wieder das schwingende, schwirrende Geräusch der Grillen und ganz selten einmal in der Ferne ein einzelner Schuß. Durch das Gras streifend, kamen wir von Abschnitt zu Abschnitt: nirgends etwas anderes zu sehen als der Trichter, den eine Granate aufgeworfen, und zertretene Halme. Eben hielt ich abermals inne in diesem erschütternden Schweigen, wo man doch wußte, hinter jener Hügelkette etwa, dort am Waldsaum oder in den tiefen Gräben der schnurgeraden Straße liegen vielleicht Hunderte unserer Brüder, als mein suchendes Auge an einer Stelle gebannt blieb. Ich blickte noch einmal hin: da lag einer. Das Koppel leuchtete und die sechs Knöpfe der Schöße des Waffenrockes wie sechs blinkende kleine Lichter. Ich schritt auf den Verwundeten zu: Ein auffallend großer, starker Mann. In der Rechten hielt er das Gewehr. Er lag auf dem Gesicht. Auf dem Gesicht und verwundet? Ich kniete nieder, packte ihn bei der Schulter und versuchte, den schweren Körper herumzudrehen. Dabei wurde ich gewahr, daß er den linken Arm halb ausgestreckt hielt, so daß in grausig rätselhafter Stellung der Leib auf der vorgeschobenen Hand wie auf einem dritten Fuße ruhte, hohl liegend, den Boden nicht berührend. Es kostete Mühe, den Grenadier umzuwenden. Als es mir gelang, fiel er wie ein Klotz auf den Rücken. Ich blickte in ein ruhig lächelndes Gesicht, als hätte er eben noch einen Scherz gemacht. Die Lippen standen unter dem blonden Bärtchen halb offen, daß man die blendenden Zähne sah. Und die blauen Augen blickten mich so freundlich an, daß ich ... mein Gott ... Erde klebte auf der einen Pupille! Und er schloß nicht das Lid? Nun sah ich erst auf der Stirn das Loch, das die französische Kugel gebohrt. Nur ein Blutstropfen war ausgetreten. Und jetzt erst wurde mir bewußt, warum der Körper so seltsam wie ein Dreifuß über dem Boden geschwebt: die Linke war auch jetzt noch, wie er auf dem Rücken lag, gerade vorgestreckt, als habe der Tote eben die Vorwärtsbewegung beim Schreiten mit dem pendelnden Arm gemacht. Die Rechte hielt das Gewehr. Der Schuß in die Stirn mußte ihn im gleichen Augenblick gelähmt haben. Gequält hatte er sich gewiß nicht. Ich faßte ihn an: das Leben konnte kaum lange entflohen sein, und ich drückte ihm die Hand auf die Augen, sie zu schließen. Es gelang nicht. Doch er lag vor mir ganz friedlich. Auch sein Lächeln störte mich nicht, und nicht, daß er mich ansah. Mir schien fast, als müsse es so sein.

Die Pflicht rief mich weiter! Ihm war nicht mehr zu helfen, aber vielleicht lagen andere noch stöhnend in der Nähe. Wir haben denn auch so manchen noch gefunden, der bei dem Rückzugsgefecht verwundet worden. Am Abend, als unsere braven Truppen längst weitermarschiert waren und nicht einmal ein ferner Schuß die unendliche Stille mehr unterbrach, führte ich das Kommando, das die Gefallenen zur Beerdigung zusammentragen sollte, auf die Wiese hinaus. Immer noch zirpten die Grillen, betäubend fast, nun, wo kein Menschenlaut sie störte. Das Gras hatte sich da und dort schon wieder aufgerichtet, denn am Nachmittag war ein erquickendes Gewitter niedergegangen. So konnten wir zuerst den Toten nicht finden. Da blitzte ein Gewehrlauf, und ein paar Augenblicke darauf standen wir neben ihm. Tageshitze und Regen hatten ihn bereits verändert: die blauen, fast fröhlichen Augen waren erloschen. Wie sie den Waffenrock öffneten, den Namen nach der Erkennungsmarke festzustellen, sah ich ihn nochmals an, und die Worte des einen Soldaten, der neben ihm kniete, gaben so genau wieder, was ich dachte, als hätte ich es selbst gesagt: ›Schade um den schönen Kerl!‹ Man nahm ihm seine Sachen ab. Bescheiden nur: eine Tombakuhr an stählerner Kette, die Geldtasche – der Unteroffizier schrieb alles auf – mit einem Taler und einigen Groschen, dazu ein paar fremde Münzen. Man zeigte sie mir, denn die Leute hatten solches Geld noch nie gesehen: Dollars! In der Brusttasche steckte, zum Schutz gegen Beschmutzung mehrfach in Papier eingewickelt, ein Brief, frankiert mit norddeutscher Bundesmarke und mit Adresse. Ich nahm ihn an mich zur Besorgung. An einen Generalmajor war er gerichtet. Und ich dachte im Augenblick: vielleicht sein einstiger Kommandeur.

Dann hoben sie ihn auf, nachdem sie nur mühsam ihm das Gewehr aus der verkrampften Hand gezwängt, und trugen ihn bis zur Straße, wo eine Grube offenstand, in der schon mehrere lagen. Es war dicht neben einem Chausseewärterhaus, das ein paar Granaten von Grund auf zerstört hatten. Ich sprach ein kurzes Gebet. Schnell wurde Erde darauf geschüttet. Wir bezeichneten die Stelle mit einem rohen Kreuz, aus den Türpfosten des zerschossenen Hauses gefertigt. Dann mußten wir weiter.

Todmüde warf ich mich in einem Schloß, wo sich das Feldlazarett befand, auf dem Treppenabsatz zum Schlafen nieder, denn als ich ankam, war jeder Fleck belegt. An den Brief hatte ich bei meiner, ich muß es gestehen, völligen Erschöpfung nicht gedacht. Bestimmt, einen Verwundetentransport zurückzuleiten, verließ ich am nächsten Mittag schon den Kriegsschauplatz. Erst auf der Eisenbahn kam ich dazu, die Papiere in meinen Taschen durchzusehen, dienstliche wie persönliche. Da fiel mir der Brief wieder in die Hände. Es war so dünnes, überseeisches Papier, daß man hindurchsehen konnte. Ohne es zu wollen, las ich die Anrede, die zufällig nach vorn gekehrt darinnen lag. Ich sehe sie noch zwischen dem Namen und dem ›Hochwohlgeboren‹. Sie lautete: ›Meine armen, geliebten Eltern!‹ Also der Sohn! Ein Grenadier? Und gewiß schon dreißig Jahre alt?

Da ich in Berlin ein paar Tage Zeit hatte, fuhr ich in das kleine Bad, wo der General wohnte, den Brief persönlich zu überbringen und zu erzählen, was kein anderer sagen konnte: wo und wie der Sohn gestorben. Da saßen sie am Tisch: der alte Herr im Rollstuhl, seitwärts angerückt, daß ihm das Licht von hinten in die Zeitung fiel, mit Nachrichten vom Kriegsschauplatz oder der Verlustliste, die er laut den Seinen vorlas, um dann von jedem, den er aus seiner Dienstzeit etwa kannte, zu erzählen. Da saß die alte Dame, die Brille weit auf die Nase vorgeschoben, und während sie mit Ännchen Scharpie zupfte für die Verwundeten, blickte sie immer ab und zu hinüber zu ihrem Mann.

Als ich nach Einleitungsworten suchte für meine traurige Botschaft, rührten sie sich nicht. Die beiden Alten hielten einander die Hände, wie Leute es tun, die eng geworden sind durch beschränkte Verhältnisse, Leute, die nicht mehr unter Menschen kommen, ja, denen ein Gast im Hause fast etwas Unmögliches geworden ist. Doch als sie nun ahnten, wohin ich steuerte, richtete der General sich auf und rief ein Mal über das andere zu seinen beiden Damen: ›Hört doch, höre, Ännchen!‹ Das Mädchen preßte das Taschentuch an die Lippen. Die Mutter starrte mich mit großen Augen an. Der alte Herr runzelte die Stirn und machte ein wildes Gesicht, daß er nur ja die Fassung behielte. Ich erzählte, wie ich den Sohn gefunden, wie er nicht gelitten, sondern gewiß sofort tot gewesen, als ihn die Chassepotkugel in die Stirn getroffen, wie er ehrlich sein Leben hingegeben für unsere deutsche Sache, wie wir ihn begraben und auch, wo er läge. Immer drohender wurden des Generals Mienen, immer enger ballte sich Ännchens Taschentuch, und die Mutter setzte plötzlich die Brille ab und legte sie vor sich hin auf den Tisch. Da gab ich den Brief. Der General betrachtete ihn lange, als wollte er ihn nicht öffnen. Endlich sagte er barsch: ›Ännchen, gib mir die Schere!‹

Nun schnitt er den Brief auf. Seine Finger zitterten ... Er überflog die Zeilen ... Mächtig zuckte es ihm um Auge wie Mund, und mit einemmal, als er ihn noch nicht zu Ende gelesen, reichte er ihn seiner Frau und herrschte sie fast an: »Lies vor!«

Die arme alte Dame brachte kein Wort heraus. Sie versuchte, mit der Brille zu lesen, aber die Gläser trübten sich vor Tränen. Plötzlich ließ sie den Brief fallen und legte den grauen Scheitel auf den Tisch. Da reichte mir Ännchen das entfaltete Papier. Ich sah den General fragend an. Der nickte. Nun las ich vor. Etwa so mag der letzte Brief des verlorenen Sohnes gelautet haben:

›Meine armen, geliebten Eltern,

wie wollte ich wiederkommen, wie bald und wie stolz! Und nun sind viele Jahre vergangen, und ich habe mich nicht unter Eure Augen getraut. Ja wahrlich, der verlorene Sohn bin ich geworden, aber nicht jener, der wiederkehrt, sei er auch noch so elend, arm und heruntergekommen. Ich kann zu Euch nicht zurück, kann Euch nicht einmal schreiben, denn ich schäme mich zu sehr. All meine Träume drüben sind zu Wasser geworden. Ich bin nicht vorwärts gekommen, ja ward ganz unter die Füße getreten, bis in – in den Schlamm. Nicht, daß ich es so nennte, niedrigste Arbeit getan zu haben, denn eins habe ich hier drüben gelernt: auch die bescheidenste, ja die schmutzigste Arbeit schändet nicht die Hand, sofern sie ehrlich geblieben ist. Aber ich selbst bin nicht ehrlich geblieben. Ehrlich nämlich gegen Euch, gegen mein Versprechen, gegen mich selbst. Ich habe zuerst, als ich hinüberkam, den alten Leichtsinn nicht abgetan, sondern spielte den Herrn Leutnant, solange der Notpfennig reichte, den der gute liebe Papa mir mitgegeben. Ja, liebe Eltern, ich hatte durch meinen Niederbruch noch nicht genug gelernt, ich mußte erst ganz gedemütigt werden, bis ans Ende. Meine armen geliebten Eltern, laßt mich davon schweigen. Euch, die Ihr in Ehren Euer bescheidenes Leben verbracht, bescheiden, um den Sohn bei der Kavallerie dienen zu lassen, soll nicht die Schamröte ins Gesicht steigen! Ich kann Euch nur sagen: Euer Sohn, auf den Ihr einst stolz gewesen, als er den schönen bunten Rock trug, hat gehungert und sich geschunden wie ein Hund, um nicht ganz umzukommen. Euern Sohn hat das Leben mit so harter Hand gepackt, daß nur Fetzen noch von seiner Kleidung blieben. Und so war er herunter, daß, als die Nachricht übers Wasser kam vom Sechsundsechziger Krieg, er das Geld nicht aufbringen konnte, um auch nur Newyork zu erreichen. Und dann war der Feldzug vorüber. Es wäre zu spät gewesen. Hätte mich das nicht wecken müssen? Liebe Eltern, Ihr drüben in so bescheidener, doch sicherer Lage ahnt nicht, wie schwer es ist für einen, der am Boden liegt, sich zu erheben. Wer einmal Spannkraft und Selbstvertrauen verloren hat, kommt nicht wieder hoch; nie wieder! Ich hatte nicht mehr den Willen emporzukommen. Ich war schlapp, feige, müde geworden. Müde, meine armen, lieben Eltern, das ist das Wort. Abends, wenn ich heimkehrte in mein elendes Quartier, war nur noch eins in mir: vergessen, schlafen, nicht an die Vergangenheit, nicht an die Zukunft denken. Und noch etwas, das Ihr vielleicht nicht begreifen werdet: ich konnte nicht mehr in die Höhe, weil ich nie einen Augenblick allein war. Mein elendes Zimmer im Boarding-House teilte ich mit drei andern. Bei der Arbeit war ich nicht allein, beim Essen war ich nicht allein, beim Schlafen war ich nicht allein. Mir war's, als könnte ich keinen Gedanken allein denken, denn da drüben von dem andern ärmlich-harten Bett glotzten mich zwei harte Augen an. Mir war's, als stünde ich wie ein Gefangener unter dem Bann der andern. Wenn sie schliefen, hörte ich ihre Atemzüge, und immer mahnten sie mich an die fremde Gegenwart. Wachten sie aber, war ich keinen Augenblick gewiß, daß sie nicht in meine Gedanken, meine Pläne einbrächen mit irgendeinem rohen Wort. Ich hatte keine Heimat mehr und kein Heim. Ich war Arbeitsvieh geworden; kein freier Mann, trotz allem Gerede von amerikanischer Freiheit. Da kam die neue Kriegserklärung. Und wie ich das alles, die ersten Schlachten, die ersten Siege in meinem prahlerisch reklamehaften Centblatt las, war es mir zum erstenmal, als könne ich wieder selbst denken. Wie ich mit roten Augen noch lange las und mir mein Gegenüber nicht einmal die Freiheit dieser Gedanken lassen wollte, sondern schimpfte, ich solle das verdammte Licht endlich löschen, da fand ich mit einem Male Gedanken, Worte, alles wieder und habe ihn angebrüllt in dem Redeton, wie er korrekt war unter uns elenden Schächern: ich schlüge ihm alle Zähne ein, wenn er nicht sein gottverfluchtes, ungewaschenes Maul hielte. Am nächsten Morgen war ich fort. Mein Arbeitszeug hatte ich verkauft, um die Fahrt zu zahlen. Als Kohlentrimmer arbeitete ich mir die Überfahrt ab. Einen Gedanken, mein armer, lieber Papa, habe ich nur gehabt: sie schlagen sich, sie fallen, und keiner deines Namens ist mehr dabei. Ich bin dabei, liebe Eltern. Zwar stehe ich nicht in der Rangliste, wie die Siebzehn unterm alten Fritz und wie du, Papa, so lange Jahre, und wie einmal auch ich. Ja, einmal auch ich. Dort gehöre ich nicht mehr hin. Die Achtung vor unserm preußischen Offizierskorps habe ich mir bewahrt, auch damals, als ich ... meine armen, lieben Eltern, ich will es Euch sparen. Und heute trage ich ja wieder des Königs Rock. Ihr wißt es nicht, aber vielleicht hole ich mir vorm Feinde das Eiserne Kreuz, darauf würde ich stolz sein, viel stolzer als auf die Achselstücke, die ich einst in schönen Tagen trug und abtun mußte. Ja, liebe Eltern, wenn ich das Eiserne Kreuz mir verdiente, und ich will alles daran setzen – dann sollt Ihr erfahren, daß der verlorene Sohn noch lebt. Früher nicht ... oder ... liebe Mama, deshalb schrieb ich diesen Brief – oder wenn mir mein größtes Glück zuteil würde, wenn ich bliebe auf dem Felde der Ehre. Der Brief ist darum fertiggeschrieben. Adressiert. Frankiert sogar, damit er Euch bestimmt erreicht. Ich trage ihn bei mir, und wenn ich fallen sollte, wird man ihn finden und Euch senden. Dann dürft Ihr wieder an Euern verlorenen Sohn denken, dann könnt Ihr wieder von ihm sprechen, liebe, liebe Eltern!

Lebt wohl. Auch Du, Ännchen, die Du umsonst Deine Zukunft für den Bruder geopfert hast, lebe wohl! Wenn Ihr dieses lest, habe ich für mich wie für Euch meine Ehre zurückerworben, dann war mein armseliges Leben doch zu etwas gut: für meinen König, für mein Vaterland, für meine Familie mein Blut zu lassen. Lebt wohl!‹

Als ich geendet, blieben die drei lange stumm. Das junge Mädchen – jung, ach jung war es nicht mehr – sah unbeweglich vor sich hin und immerfort, eine nach der andern, rollten ihm in kleinen glitzernden Kügelchen die Tränen über die Wangen. Die alte Dame hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gesenkt, daß man sah, wie dünn und breit der Scheitel in dem grauen Haar geworden war. Der General starrte ins Leere mit wildem, strengem Ausdruck. Plötzlich klang ein seltsames Geräusch vom Boden herauf, ein Stampfen, ein Trommeln. Dazu begann er zu pfeifen, und die Stummel der Füße mit ihren hölzernen Stelzen klopften den Takt zum stolzesten Signal, das unablässig wie eine Siegesfanfare klang, zum Signal, mit dem preußische Soldaten in den Feind brechen, zum Signal: ›Avancieren!‹ Und dann sagte er, die letzten Worte des Briefes seines nicht mehr verlorenen, nein, seines lieben, einzigen Sohnes wandelnd:

›Lebe wohl!‹«

 

Der Johanniterritter hatte längst geendet, und noch immer sprach keiner ein Wort. Der kleine Leutnant von Krebs, sonst lebendig und voller Phantasie, blickte zu Boden, vielleicht, als mahne die Erzählung den leichtlebigen jungen Mann an eigene Sünden. Premierleutnant von Bugk hatte alle seine Gottesdonnerwetter vergessen: dem polternden, nur äußerlich ein wenig rauhen Offizier, der doch im Grunde seiner Seele so weich war, tropfte es über die Wange, und er wandte sich zu seinem Nachbar, dem Regimentsadjutanten, gleichsam um Entschuldigung bittend: »Das weiß der liebe Himmel, 's geht mir immer so! 's ist ein Skandal!«

Leise sprach die Schwester mit dem Johanniter. Der Oberstabsarzt, der die Geschichte verpaßt und eben erst wiederkehrte, schenkte sich, hinter dem Kreis um das Feuer, an der Tafel ein Glas ein. Da nun der Oberstleutnant sich – mehr aus Angewohnheit – die feinen, stets wärmebedürftigen Hände rieb, so sprang der Zahlmeister auf, ein neues Scheit Holz auf die ersterbende Glut im Kamin zu werfen. Doch Oberstleutnant Runge meinte in seiner leisen, bedächtigen Sprechweise, indem er den Eifrigen dankend zurückhielt: »Ich glaube, es ist nicht mehr nötig. Es ist schön spät. Wir brechen ohnedies bald auf!«

Der Oberst hatte es gehört, zum wenigsten die letzten Worte, und sich bedroht fühlend in der Länge der Abendsitzung, erhob er die Stimme: »Aber, meine Herren, jetzt fängt es erst an gemütlich zu werden. Und eine ganze Reihe von Ihnen ist uns noch eine Geschichte schuldig. Erzählen! Meine Herren, erzählen!«

Er blickte sich um, als wollte er feststellen, wer sein Scherflein zur Unterhaltung noch nicht beigetragen. Dabei klatschte er fröhlich in die Hände.

Leutnant Eschborn, der wahrhaftig im Halbdämmer auf dem Flügel des Kreises vor den Flammen eingenickt war, fuhr erschrocken aus seinem Stuhl auf. Das war dem Kommandeur gefunden. Er lachte, schlug abermals laut schallend die Handflächen zusammen und rief: »Was, Eschborn? Ich glaube gar, der Herr Leutnant haben ein kleines Nickerchen gemacht? Oho! Sozusagen vor versammelter Mannschaft?«

Oberst von Kranich hielt inne, denn in dem Augenblick klang so gewaltig das Dröhnen einer krepierenden Granate durch die stille, träumende Nacht, daß die Fenster leise klirrten. Eine Sekunde darauf krachte, splitterte es von zerspellten, brechenden und niederstürzenden Ästen im Park. Die Herren rührten sich nicht auf ihren Stühlen, durch die Gewohnheit abgestumpft, wie man im Gewittertoben höchstens, wenn Blitz und Donner fast zusammen zucken und schmettern, etwa zu sagen pflegt, das sei ganz nahe gewesen. Sie horchten nur auf, und jemand meinte gleichsam so nebenbei:

»Vom Mont Saint-Valérien!«

Doch wenige Augenblicke darauf erhob sich abermals ein fürchterliches Getöse, diesmal ein Prasseln wie von Steinen. Unwillkürlich waren etliche aufgestanden, durch die hohen Scheiben in die Nacht hinauszuspähen. Da rief Leutnant Eschborn, nervös und eschrig wie immer, daß seine Worte sich nur so überstürzten:

»Der Neptun! Der Neptun ist futsch!«

Nun ließen auch die andern ihre Sitze, das Unheil anzusehen. In der Mondnacht, vom Schneeleuchten doppelt klar, gewahrten sie die Zerstörung, die ein paar der Riesenzuckerhüte angerichtet: ein gewaltiger Baumstumpf ragte in hellen Holzsplittern, gleich gotischem Fialenwerk, in die eiskalte Luft, während Stamm und Äste in schwärzlichem Gittergewirr quer über dem schneebedeckten Weg lagen. Der Neptunbrunnen war wild durcheinander geworfen, das Becken aufgebrochen, das Wasservolk in alle vier Winde zerstreut, und von ihrem Gebieter in der Mitte, der so stolz seinen Dreizack geschwungen, sah man nur noch die Beine bis zum Knie, als habe er dort seine Kanonenstiefel in der Eile stehen lassen.

Nun erwarteten sie im Grunde alle den nächsten Eisengruß, der etwa das »Château« getroffen hätte, und wohl jedem kam der Gedanke an die Erzählung der Gräfinschwester, wie die Franzosen begonnen, sich einzuschießen auf den hochgelegenen Friedhof, wo der Hauptmann beobachtend, seine Leute zu schützen, den Tod gefunden fürs Vaterland. Doch wenn auch das Dröhnen immer weiter die dünne, klare, eisige Luft der Nacht zum Schwingen brachte: in unmittelbarer Nähe schlug keine Granate mehr ein. So fanden die elf der Tafelrunde sich allmählich wieder am Feuer zusammen. Ein Schlafbedürfnis, dem stattzugeben der Oberst auch nicht geduldet hätte, war gewichen; die letzten Riesengeschosse vom St. Valérien, und dadurch die Wahrscheinlichkeit, daß in unmittelbarer Nähe abermals ein Ausfall vorbereitet werde, vielleicht sogar die Geschichten, die zum besten gegeben worden, mochten die Herren erregt haben. Man ahnte Alarm, und nun zeigte nicht einmal Oberstleutnant Runge sich geneigt, zur Ruhe zu gehen. Es wäre vielleicht nur auf Minuten gewesen.

Da entsprach es dem Wunsche aller, daß der fahrige, unruhige Eschborn fragte:

»Darf ich etwas ... etwas ganz anderes zum besten geben? Was die Herren erzählten, war so fein, so gesund und famos, so edel, so lustig und so ergreifend, daß ich mir erlauben möchte, mal einen andern Ton anzuschlagen.«

»Was denn?« klang des Leutnants von Krebs neugierige Stimme.

»Das werdet Ihr sehen! Gestatten, Herr Oberst?«

»Natürlich! Famos! Schießen Sie los, Eschborn! Aber, lieber Heydrich, erst schenken Sie mir noch ein Glas ein!«

Der Adjutant ging mit der Flasche zum Obersten von Kranich, dann von einem zum andern. Die Kerzen, die auf dem Tisch hinter den Herren in ihren Flaschenhälsen brannten, warfen auf die Köpfe einen gespenstigen Schein, und von draußen sah man das fahle Leuchten der Schneenacht, ab und zu durch das grelle Licht krepierender Geschosse erhellt. Dumpf klang Kanonendonner, die tägliche Musik der Belagerer, während der Erzählung des jungen Offiziers anschwellend, näher, gewaltiger, daß die Glasscheiben des Saales leise klirrten.


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