Georg Freiherr von Ompteda
Die Tafelrunde
Georg Freiherr von Ompteda

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Die Tafelrunde

Nichts regte sich vor Paris über dem dichten Schneemantel, der in diesem harten Kriegswinter das sonnenfrohe französische Land bedeckte.

Der Park von Lesgranges dehnte sich in breitem Ausblick vor den Fenstern. Des Schlosses steiles Schieferdach sah dunkel aus all dem Weiß. Nichts Besonderes hatte das Gebäude: sie glichen einander ja alle, diese Landsitze reicher Pariser in der Bannmeile der eingeschlossenen Riesenstadt, mit ihrem Hauptbau, ihren Seitenflügeln, die den Ehrenhof umfaßten, von der Straße durch ein hohes schmiedeeisernes Gitter getrennt.

Täglich bei Einbruch der Dunkelheit wurden die Flügel des großen Tores geschlossen. Dann fanden sich die fremden neuen Bewohner des »Château« gesichert gleichsam wie in einem Gegenwerke der Belagerer. Freilich war es gerade nach der Stadt zu offen, denn da gab es manchen Kolonnenweg durch Schneemassen, Hecken und wirres Vorland zu den Vorposten hinaus.

Aus den Marmorkrippen des Stalles taten sich jetzt winterhaarstruppige Ostpreußen gut, im Waschhaus, wo einst feine Damenwäsche, zärtlich, wie es ihrer Kostbarkeit zukam, behandelt worden, bemühten sich derbe Soldatenfäuste, das Drillichzeug dienstlich einwandfrei zu gestalten. In der »Concierge-Wohnung« lag nun die Wache, und das große Gewächshaus der Gärtnerei diente zu Ziel- und Anschlagsübungen, denn die Sieger hielten straffen Dienst.

Über ein Wasserbecken hinweg, in dem ein paar Kalksteinnymphen einen Neptun umneckten, öffnete sich frei die Aussicht auf Paris. Jeder, der zur Meldung oder auf Besuch herüberkam, wurde von den Herren dorthin geführt und blieb mit staunendem »Donnerwetter« stehen. Ja, die Offiziere der Einquartierung, nun längst an den Blick gewöhnt, pflegten trotz der bitteren Kälte des strengen Feldzugswinters jeder, ehe er zur Nachtruhe sein Zimmer aufsuchte, die Saaltür zu öffnen, hinauszutreten und das überwältigende Bild noch einmal einzusaugen in Hirn und Augen: über der weiten Schneefläche des Parkdurchblickes, von hohen kahlen Bäumen eingefaßt, die in Erd- und Eisen- und Menschenfesseln geschlagene gewaltige hungernde Stadt und der dunkle sternenverhüllte Himmel, über den die Feuergarben krepierender Geschosse zogen.

Es waren acht Herren im Schloß einquartiert: der Regimentsstab, bestehend aus Oberst von Kranich, mit seinem Adjutanten Premierleutnant Heydrich, Oberstleutnant Runge sowie der Oberstabsarzt und der Regimentszahlmeister. Dazu die Offiziere der neunten Kompagnie, nämlich Premierleutnant von Bugk (der Hauptmann war gefallen) sowie die Sekondeleutnants Eschborn und von Krebs. Und diese Herren fanden sich allein, denn Lesgranges war von seinen Besitzern so fluchtartig verlassen worden, daß man nur das Silberzeug und die notwendigsten Kleidungsstücke mitgenommen, Wäsche, Bücher, Bronzen und dergleichen kleinen Zimmerschmuck dagegen hatte liegen lassen. Selbst Briefe und Heimlichkeiten der Schreibtische und Schränke waren, offenbar im Schreck vor dem nahenden Feinde, zurückgeblieben. Daß auch der mit edeln Marken wohlgefüllte Weinkeller nicht gerettet worden, schien den Herren kein Fehler.

Ihre Zahl pflegte mittags zu schwanken, denn von den Frontoffizieren war dieser oder jener auf Vorposten, den Zahlmeister hielten bisweilen Verpflegungsschwierigkeiten, den Oberstabsarzt aber seine Verwundeten und Kranken fern. Abends dagegen waren meist alle versammelt. Darüber wachte schon der Oberst mit einer gewissen Eifersucht. Als Rheinländer einem Glase Wein nicht abgeneigt, fand dabei ein gutes Wort eine gute Statt. So hob er denn die Tafelrunde nicht so bald auf, und wenn ältere Herren verschwanden, stichelte er tagelang, jüngere aber ließ er einfach durch den Regimentsadjutanten zurückholen.

Nun war aber der Dienst anstrengend und nicht etwa, wie die im lieben Vaterland sich die Belagerung wohl ausmalten, ein faules Franzosenaushungern. Kam es auch selten zu großen Ausfällen, so lebten doch gerade die in Lesgranges, das sehr weit vorgeschoben lag, in ständiger Beunruhigung. Eben hier wurden die verzweifeltsten Versuche unternommen, die Verbindung mit der Außenwelt herzustellen. Das gelang nun zwar nicht, doch solcher »Scherz« pflegte meist ein paar Leute, zum mindesten aber die Nachtruhe zu kosten. Als nun bei zunehmendem Hunger der Eingeschlossenen die Beunruhigungen der Vorposten einen immer größeren Umfang annahmen, fand es sich, daß die Herren ein paar Tage hintereinander nicht aus den Kleidern gekommen waren.

Man erwartete den »großen Ausfall«, in dem die verzweifelten Belagerten den letzten Ausweg suchen würden.

Da klangen Signale im Dorfe Lesgranges.

Premierleutnant von Bugk kam die Treppe heruntergelaufen, mit seinen langen Beinen schief drei Stufen auf einmal nehmend, und der Säbel, den er vergeblich versuchte während des Eilens umzuschnallen, schleppte klirrend nach. Der Kompagnieführer schimpfte laut:

»Gottesdonnerwetter nee! Keinen Augenblick hat man Ruhe!«

Auf dem Ehrenhof, wo man den Schnee zur Seite geschaufelt, war die Mannschaft schon angetreten. Leutnant Eschborn, ein kleines Kerlchen mit keckem blondem Schnurrbart, teilte nun schon zum zweitenmal die Rotten ab, denn der ewig eschrige Mensch hatte sich verzählt, worüber Leutnant von Krebs, in die Front eingetreten, still vor sich hinschmunzelte.

Als die Leute eben abmarschiert, wurden Pferde vorgeführt, und Oberst von Kranich, groß, mit noch jugendlich schlanker Gestalt, saß auf und ritt zum offenen Gittertor mit den vergoldeten Lanzenspitzen hinaus, gefolgt von seinem Adjutanten, der in der Eile den rechten Bügel nicht erwischt hatte und nun auf dem nachzappelnden Pferde danach angelte. Oberstleutnant Runge, ein hagerer Mann, schon fast weiß, mit wenigen grauen Härchen auf der geknifften Oberlippe, ritt bedächtig hinterdrein.

Ein paar Stunden lang blieb das Tor offen, der Ehrenhof lag verlassen, darüber der graue, wolkenverhangene Winterhimmel, dann klang bei einfallender Dämmerung Pferdegetrappel, der Stab kehrte zurück, gefolgt von der neunten Kompagnie. Sie hielt, trat weg, und das hohe Gittertor mit den vergoldeten Lanzenspitzen fiel zu. Dahinter schritt der Posten auf und nieder.

Oberst von Kranich und Oberstleutnant Runge gingen nebeneinander über den bordeauxroten Teppichläufer die Treppe hinauf:

»Wieder umsonst!« sagte ärgerlich der etatsmäßige Stabsoffizier, der sich um sein Nachmittagsschläfchen betrogen fühlte. Der Kommandeur meinte mit leichtem Spott:

»Na, lieber Runge, bis zum Essen können Sie ja noch 'n Stündchen schlummern!«

»Werde ich auch!«

Scherzend gab der Oberst zurück, doch seine Mißbilligung solcher »Schlafsucht« klang daraus:

»Na, wenn mich meine Kugel ereilt und Sie's Regiment führen müssen, ist's mit der Ruhe aus!«

Der Oberstleutnant zog die Augenbrauen empor:

»Berufen Sie's lieber nicht!«

»Sind Sie etwa abergläubisch, Runge?«

»Wenn auch nicht das...aber...«

»Aber doch!«

Sie nickten sich zu, und jeder verschwand in sein Zimmer. Dann sagte der Kommandeur zu seinem Adjutanten, ehe er die vorgelegten Papiere unterschrieb, und der gesunde schöne Mann strich sich die Schläfenhaare, die er nach preußischer Sitte vorgebürstet trug:

»Der reist an keinem Freitag!«

Auf der Treppe begegnete der Regimentsadjutant dem Oberstabsarzt, der ihm erzählte, wie eben ein Mann der neunten Kompagnie mit einem Kopfschuß eingeliefert worden:

»Wissen Sie, lieber Heydrich, der rotblonde Gefreite, der uns neulich abend so prächtig das Rheinweinlied vorsang. Sie erinnern sich!«

»Kommt er durch?«

»Eben gestorben!«

»Gott, ach Gott! Und seine Mutter schrieb noch neulich dem Kommandeur so'n netten naiven Brief, er solle auf ihren Jungen ,gut aufpassen'!«

»Nur'n Streifschuß!« meinte der Oberstabsarzt, gleichsam, als sähe er das nicht für voll an. »Nur'n Streifschuß!« Aber einer Mutter Sohn lag tot.

So ging es täglich. Für den Riesenkörper des Heeres waren es sozusagen Nadelstiche, aber sie entnervten durch ständige Wiederkehr.

Die Herren lehnten am Fenster und sahen in den tiefverschneiten Park hinaus, aus dessen Mitte der Neptun ragte, eine weiße Schneemütze auf dem lockigen Haupt, und die nackten frierenden Wasserjungfern, notdürftig durch flimmernde Polster vor der Kälte geschützt. Nur Regimentszahlmeister Lattmann hielt sich bescheiden zurück. Er richtete eben eine der Kerzen, die, in leere Flaschenhälse gesteckt, zur Beleuchtung des Tisches dienten, gerade, denn sie hatte getropft, und der Zahlmeister war an Ordnung gewöhnt.

Als Oberstleutnant Runge vom Fenster herüberkam und die zarten Hände wärmend gegen die Glut hielt, sah er den kleinen Leutnant von Krebs am Kamin stehen, wie er mit ständigem Lächeln und seligem Ausdruck in die Flammen starrte. Auch die andern Herren näherten sich. Man kannte den jungen Offizier, der immer eine Schwärmerei im Herzen trug und sie nach einem Glase Wein, unter dem Siegel tiefsten Geheimnisses, allen – sogar dem Kommandeur, der sie schmunzelnd entgegennahm – mitzuteilen pflegte. So entsprach es nur dem allgemeinen Gedanken, als Doktor Donner, der Kriegskorrespondent eines großen Bismarckblattes, ein bebrilltes Männchen, das schon 64 und 66 mitgemacht, leise flötend fragte:

»Nun, Herr von Krebs, ist sie denn schön?«

Aber Premierleutnant von Bugk brummte mit seinem mächtigen Baß:

»Gottesdonnerwetter nee, in dem Saunest habe ich noch keinen Unterrock gesehen!«

»Und doch war es eine reizende Begegnung!« antwortete ruhig Leutnant von Krebs. Die Herren, durch die lange Belagerung förmlich ausgehungert nach allem, was langes Haar trug, zärtlich redete, runder war und weicher, drängten ihn, zu erzählen. Schon wollte er beginnen, als die Tür zum Treppenhaus sich auftat. Der Regimentsadjutant rief:

»Der Herr Oberst!«

Und wie beim Eintritt der Herrschaften zu höfischer Veranlassung verstummte alles.

Und siehe da: als habe man nur ein weibliches Wesen zu erwähnen brauchen, erschien eine Dame. Dunkel gekleidet, schimmerte auf der Brosche, die sie trug, das Johanniterkreuz. Mit Oberst von Kranich folgte ein hochgewachsener Herr in grauem Vollbart, gleichfalls das Abzeichen des Ordens auf der linken Brust. Die Herren wurden vom Kommandeur der Gräfin Viktoria Vellin vorgestellt, einer Johanniterkrankenschwester,eben erst in Lesgranges eingetroffen, um am andern Morgen die Pflege im Feldlazarett zu übernehmen. Der Johanniter Kammerherr von der Seeben hatte sie abgeholt.

Zuerst floß die Unterhaltung nur spärlich, als schlösse die schon ungewohnt gewordene Gegenwart einer Dame den Soldaten den Mund. Und noch ein anderes lähmte die unbesorgt plätschernde Rede rauher Feldzugskrieger: die Frau kam ihnen beinahe unwahrscheinlich herrlich vor.

Als die Speisen abgeräumt, wurde man sich der Bärenkälte noch mehr bewußt und stand auf, dem Feuer näher zu sein. Die Gräfin wollte sich zurückziehen, vielleicht lag eine anstrengende Fahrt hinter ihr, oder zartfühlend hielt sie es für besser, die Herren allein zu lassen, doch Oberst von Kranich gab es nicht zu. Nein, nein, er hatte das Zimmer, das sie nur für diese Nacht beherbergen sollte, eben erst heizen lassen. Es sei noch wie ein Eiskeller. Vor ein paar Stunden war nicht daran zu denken, daß die »gnädigste Gräfin« oder vielmehr »Schwester Viktoria«, wie er sie auf ihre Bitte nennen mußte, es benutzen könnte, ohne sich den Tod zu holen.

Übrigens schien er heute mehr denn je zu langer Sitzung entschlossen. Leise sprach er mit seinem Adjutanten. Der zog sich des Herrn Oberstabsarztes Doktor Lampe chemische Rezeptkenntnisse zunutze, und bald brauten die beiden zusammen eine Bowle. Man schob die Tafel mit vereinten Kräften zurück, dafür die Stühle im Halbkreis eng um das Feuer, und wo vielleicht einst die zarten Seiden- oder Lackschuhchen hübscher Frauen und Mädchen gegen die Glut wärmeheischend sich gestreckt, standen jetzt rundum die Sohlen derber rindlederner Schaftstiefel allein empor, denn die Schwester – neben dem Obersten – hatte ihre Füße unter dem schwarzen Kleide verborgen. Nur ab und zu hob sie ein Paar kleine, schlanke Hände, an denen kein Schmuck war als ein doppelter Trauring und die selten edle Form der Finger.

Die Pfeifen dampften, behaglich lagen die Offiziere mit den wilden Kriegsbärten in den gebrechlichen Sesseln im Stile Ludwigs XV. und redeten vom rauhen Krieg wie von ferner Heimat. Und dann versanken sie in Sinnen und heimliche Sehnsucht. Manch verschlossene niedersächsische Seele verbarg sich scheu, und da der Tag müde gemacht, verstummte bald einer nach dem andern.

Als das Gespräch nun drohte zu verglimmen wie die Scheite im Kamin, auch der Kommandeur, der Anstifter des Abends, kein Wort mehr fand, als alle Träume spannen, vielleicht von Heldentat und Eisernem Kreuz, von Pour le mérite oder stolzem Sterben für das Vaterland unter den Augen des Königs, am Ende gar von Friedensschluß und Rückkehr eichenkranzbelaubt zu den Lieben daheim, klang plötzlich des Oberstleutnants Stimme:

»Übrigens, Krebs, Sie wollten uns doch was erzählen?«

Der junge Offizier fuhr empor aus süßseligem Sinnen, man sah ihm an, daß er gern gesprochen hätte, doch in dem allgemeinen Schweigen, wie des Stabsoffiziers Worte eben, einem Echo gleich, unter der hohen Wölbung des Saales verklangen, schien er die Keckheit nicht zu finden, als Jüngster das Wort zu führen. Unwillkürlich streiften seine Blicke den Kommandeur, gleichsam sich erst dessen Zustimmung zu vergewissern. Der Oberst nickte lächelnd:

»Schießen Sie man los! Aber...«

Er vollendete nicht, nur sein Auge glitt, Rücksicht heischend, über die Gräfin, die neben ihm saß, zurückgelehnt, die feinen Hände ineinandergeschlossen, sicher in Frauenwürde und Schwesternberuf und doch voll leiser Zurückhaltung als einziges Weib unter all den Männern.

Leutnant von Krebs rückte vor im Stuhl, nun schärfer das junge Gesicht mit den Blauaugen und dem blonden Bärtchen von den Flammen beleuchtet, und da er als Jüngster auf dem äußersten linken Flügel saß, wandte er sich ganz nach rechts, ließ den Blick schnell über die Hörer laufen, als stünde er vor seinem angetretenen Zuge, und hub an:

Von süßen Frauen.

Wo sind sie hin, die Abende von Lesgranges? Die holden Abende, wenn die Sonne sank hinter den Türmen von Notre-Dame, wenn ihr letzter Strahl wie eine wirbelnde Säule rotgoldenen Staubes durch die hohen Bäume fiel, der reine Sommerhimmel Mittelfrankreichs in unwahrscheinlichsten Farben stand, blutbrennend, lila, nächtig-blau? Die stillen Abende, wenn die Felder schwiegen, der Park verstummte, nicht einmal zitternde Blätter rauschten und nur leise, wie verträumt, die Wasser rannen im breiten Becken vor dem Schloß? Wo sind sie hin, die Abende von Lesgranges? Wenn süße Frauen atmend schwiegen, schweigend atmeten, tief die warme Luft des Tages einsogen in irgendeiner irren Sehnsucht? Wenn sie die Hände falteten hinter dem rabenschwarzen Haar und auf den Kieswegen schritten, das Haupt zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen! Wenn neben ihnen einer ging, stumm wie sie, die Seligkeit des Abends mit plumpen Worten nicht zu stören? Dann saßen sie auf Bänken längs des Weges, noch unter dem Schatten hoher Bäume und doch mit freiem Blick über das herrliche französische Land, wo in der Ferne jetzt die Lichter der Weltstadt flammten in all dem unerhörten, seligen Abendschweigen.

Die Züge verschwammen, nur das Weiß der Kleider schimmerte noch, und Glühpunkte von Zigaretten, die verglommen zwischen den Hecken, die schwebten über dem weiten Durchblick, überstrahlt von den fernen Lichtern des großen Paris, die irrten bis ans Schloß, die davonflogen, aufzuckend, wenn sie einen Zweig in den Büschen gestreift.

Wo sind sie hin, die Abende von Lesgranges? Die holden Abende, wenn man saß im Grandsalon unter zartbemaltem Wolkenplafond, zwischen seidenbespannten Wänden, in weicher Bergère, rund um den Kamin, auf dem steil und still die Kerzen brannten und all die süßen Frauen ihre schwarzen, großen Augen im Spiegel wiederfanden?

Dann sahen sie manch Männerauge ihren Blick in dem silbernen Glase fangen. Von den Guéridons lächelten die Marmorbüsten dazu, und wenn gar eine unversehens dem fremden Auge zu lange standhielt, hob gewiß gerade die Uhr auf dem Konsoltisch aus, und die drüben antwortete auf dem Bahut, das man durch die offene, weißgoldene Tür sah. Kam dann noch die Pendüle vom Kamin hinzu, so hielt sich wohl Berthe – denn sie hieß Berthe, die mit den hochgeschwungenen Augenbrauen und den langen seidenen Wimpern – die kleinen rosaroten Ohren zu, machte ein bitterböses Gesicht und stieß mit dem kleinen Lackschuh ein-, zwei-, dreimal auf den Boden.

Ein junger Mensch, die Augen schwarz wie Tintenflecken und glänzend, feucht immer, ging lässig vorüber. Sie aber folgte ihm im Spiegel. Gerade über dem Kaminrand sah sie ihn, und immer runder, höher stiegen die schwarzen feinen Linien über den Augen mit den langenen seidenen Wimpern.

Im Sessel saß der Marquis, unbeweglich, das breite Riesenblatt seiner Zeitung aufgespannt. Der Marquis rundlich, der Marquis kahl, der Marquis mit seiner engen Modetoilette, der Marquis, der das halbe Jahrhundert überschritten; in der Causeuse Berthe – die mit den hochgeschwungenen Brauen und den langen, seidenen Wimpern – Berthe, die Frau Marquise.

Da trat eine ans Klavier. Als sie sich setzte, bauschte breit ihr Kleid, daß der Chasseuroffizier, der die Noten wendete, ganz seitwärts stehen mußte, die Seide nicht zu zerdrücken und die schnellenden Reifen. Und eben dadurch, weil er sich hinüberbeugen mußte, streifte, als ihre weichen Finger in Akkordenfolgen hinaufglitten zum höchsten Diskant, Haar an Haar. Marguerite – denn sie hieß Marguerite, die rund war und doch fein dabei – Marguerite griff daneben in einem schrillen Laut, daß Großmama am Kamin auffuhr, um sich blickte und alle lächelnd ansah: Berthe, den Marquis, Marguerite, den Offizier, den mit den Tintenflecken-Augen. Dann fielen wieder schwer die Lider zu.

Marguerite spielte und bekam rote Wangen. Wie sie nun abermals danebentraf, sagte sie, heftig fast, zum Jägeroffizier, ungezogen, wie nur eine schöne Dame sein darf:

»Sie wenden immer zu spät! Gehen Sie. Sie stören nur!«

Sie hob den Blick zu ihm, sie runzelte die glatte Stirn, sie sah ihn strafend an. Strafend?

Ihre Augen gingen über, und in ihrem Blick lag Jammer, aber sie spielte weiter, wenn sie auch nichts sah. Unter ihrem falschen Griff schlug Großmama die Augen wieder auf: »Mein Kind, war das auch richtig?«

Dann glitten der alten Dame Blicke freundlich im Kreis über Tante Claire, ihr gegenüber, mit dem strengen Gesicht und den Bartstoppeln an Kinn wie Lippe, und Herrn von Garivet-Ledroux, der seiner jungen Frau so gar entzückt gelauscht, daß er finstere Falten nicht gesehen noch tränende Augen.

Als Marguerite die Hände sinken ließ und nun plötzlich tiefe Stille war, allein gestört vom Knistern der Zeitung, die der Marquis umbrach zu bequemerer Größe, trat Herr von Garivet zum Klavier. Wie er sich zu der kleinen runden Frau beugte, der mit den weichen Fingern:

»Marguerite, spiele doch einmal das von Beethoven!« (er sagte Bätoow), sprang sie unwillig empor. Eben gewann er noch Zeit, zur Seite zu treten, denn der Reifrock schnellte auseinander. Sie rief:

»Ich spiele gar nicht! Na!«

Sie rauschte an ihm vorüber, der sich ängstlich zwischen zwei Möbel gedrückt. Er sah ihr nach mit seinen guten, guten Augen und seiner großen, großen Nase und sagte zum Chasseuroffizier in lächelnder, trauriger Verlegenheit: »Sie ist nicht zufrieden!«

Der junge Mann aber stammelte:

»Ja ... ich glaube!«

Der große Seidenschirm über der Lampe mit dem Porzellanbecken auf fein durchbrochenem Bronzefuß warf tiefen Schatten in die Ecke. Dort saß Jeanne – denn sie hieß Jeanne, die mit dem matten Perlenteint unter dem blauschwarzen Haar, die mit den Wangen gleich altem Elfenbein, die mit den Mandelaugen, weitauseinanderstehend, unter geraden, wie mit dem Pinsel gezogenen Brauen – und ihre Mandelaugen folgten dem jungen Offizier – er sah sie nicht. Und ihre Mandelaugen glitten zu dem mit den Tintenfleckenpupillen – er blickte in den Spiegel, wo Berthes Bild stand, just neben dem Rand der großen Zeitung, die leise knisterte, denn der Marquis hatte das Zittern in den Händen.

Da klappte Großmama wieder mit den Augen:

»Spiele das noch einmal, Marguerite!«

Niemand saß am Klavier. Als sie die Lider mühsam aufzwang, sah sie den leeren Stuhl. Jeanne aber, die kleine Jeanne, das einzige Mädchen noch, kam schon zu Großmama, kauerte nieder an ihrem Stuhl und sagte mit ihrer tiefen Stimme, langsam, wie sie immer sprach:

»Ich will etwas deklamieren, Großmama!

Die Mandelaugen blitzten. Mitten im Salon stand die kleine magere Mädchengestalt, und sie begann »Grab und Rose« von Viktor Hugo. Der weiche Klang ihrer Muttersprache führte sie dahin, mit ihrer Rasse natürlichen Gebärden unterstützt sie tönende Worte, nach allen Seiten gewandt, an alle Hörer gerichtet, sich durchzusetzen, daß auch sie lebte wie Berthe, wie Marguerite. War die eine wohl von süßerem Rund, die andere mit hochgeschwungenen Brauen und seidenen Wimpern, sie hatte Mandelaugen, sie den Perlenteint! Ihre Nasenflügel bebten, ihre Stimme hob sich schwingend. Als sie geendet, blickte sie sich atmend um.

Großmama war eingenickt. Großmama war alt. Großmama war müde. Der Marquis schielte über die Zeitung zu seiner Schwägerin:

»Sehr nett, kleine Jeanne, sehr nett!«

Dann las er weiter. Berthe sah im Spiegel des jungen Mannes feuchte, schwarze Augen glänzen, tief verstrickt im süßen Glück, daß einer ihrer dachte. Marguerite erhob sich. Die Reifen ihres neuen Abendkleides sprangen auseinander, daß die Seide knisternd den Türrahmen strich. Der Offizier ging ihr nach, den Blick gesenkt, gleichgültig, wie es schien, und doch im großen Saal, gierig an ihrer Seite, bis sie durch die offene Tür des Balkons untertauchten in die zärtlichlaue Dunkelheit der Nacht.

Kerzengerade saß Tante Claire mit ihrem strengen Altjungferngesicht, Bartstoppeln schwarz und hart am Kinn, und starrte ihnen nach. Sie fand kein Wort für Jeanne, deren Lippe zuckte, deren Mandelaugen glänzten. In all dem Kosen, Schöntun, Flüstern hatte sie umsonst gesprochen.

Eine Nase tauchte auf neben ihr, eine große, große Nase: Herr von Garivet-Ledroux, ihr Schwager, sagte ein paar bescheidene Worte und nickte, und seine Nase nickte mit. Jeanne hörte nicht darauf: von dem mit den feuchten Tintenfleckenaugen sollten sie kommen – der schwirrte um Berthe; der Chasseurleutnant hätte sie sagen müssen – der flüsterte mit Marguerite. Jeannes Lippe zuckte, ihre Mandelaugen glänzten.

Wie sie nun keine Antwort gab, wandte der Schwager seine große Nase ab. Er meinte, er sei lästig. Zwischen den Sesseln irrte er hin und spähte in den Salon daneben. Dort saß Berthe, lässig zurückgelehnt, und hörte mit weichen, langen Blicken dem mit den polierten Augen zu, geschmeichelt leise und doch kühl, wie er girrte vor ihr und redete mit heiserer Stimme süßen Unsinn. Unsinn, denn ihm mangelte Zusammenhang und Veranlassung, süß ... nun, war's nicht süß, zu fühlen, wie einer sich im Netze fing, einer, den man zappeln ließ und wieder fortwarf? Herr von Garivet-Ledroux wich scheu zurück und steuerte durch die offene Flügeltür in den Saal. Tante Claire hob hoch den Kopf, lang wuchs ihr Hals, langsam stand sie auf, plötzlich schoß sie fort, schräg durch den Saal, darin auf dem Kamin die hohen Leuchter brannten, vorüber an der großen, großen Nase. Die alte Jungfer hatte knapp vor ihm das gähnend schwarze Loch erreicht, aus dem die weichen Abenddüfte zogen.

Sie waren süß, die Abende von Lesgranges, wenn es von den Akazien wehte, wenn im großen Schweigen nur ein Plätschern traulich klang, dort unten vom Neptun. Sie waren dunkel, die Abende von Lesgranges, wenn den Himmel nur der ferne Schein erhellte von Paris, dessen Summen man zu vernehmen meinte gleich dem Rauschen in der Muschel am Ohr. Und doch sah man gegen die Lichter von Paris, über das Gitter gelehnt, zwei Gestalten, Haar an Haar, wie beim Notenwenden.

Tante Claires strenge Hand riß sie vonsammen. Der Nichte – sie hieß Marguerite – zischte sie ins Ohr: »Willst du dich unglücklich machen für dein ganzes Leben?«

Ein Schatten trat hinter ihnen in die Tür, und die beiden vorn am Gitter rückten auseinander, gleich Menschen, die sich weh getan. Tante Claire sagte, kurz, hart, schneidend, und deutete empor zur Sternensaat, hinüber auf den Lichterschein, den Himmel heilend, als brenne unten eine ganze Stadt:

»Sehen Sie, René – ist das schön!«

Eine große, große Nase hob sich, und eine gute, gute Stimme sagte: »Ja, mein Gott, ist das schön!«

Die Tür ging auf im Salon. Jeanne lief dem kleinen Herrn entgegen mit grauem Schnurr- und Kinnbart, der stehen blieb, den Stock in der Hand. Er streifte seiner Tochter Wange rechts und links mit den Lippen. Aus Mandelaugen strahlte sie ihn an:

»Nun bin ich nicht mehr allein!«

Verstand er es nicht? War er verstört, war er müde von der Reise? Etwas rang ihm die Seele ab, doch als guter Sohn trat er zuerst an den Kamin, seiner Mutter weißen Scheitel zu küssen:

»Ein bißchen geruht, Mama?«

»Nein, nein, ich hatte nur die Augen zugemacht!«

Nun rief er laut, immer die kleine Jeanne am Arm: »Berthe, René, Marguerite, he – he – he ....«

Von allen Seiten kamen sie. Jetzt sah man erst des Papas rote Wangen, und daß sein Atem keuchend ging, wie er die scharfen braunen Augen im Kreise laufen ließ:

»Wißt ihr's denn schon? Na? Was? Nicht? Nun denkt euch ... Es ist famos ... Ich komme eben aus Paris zurück! Eben ist die Nachricht da! Wie ein Feuer lief's herum! Denkt euch ... Denkt euch ... Also ... wir haben den verdammten Preußen den Krieg erklärt!«

Papa blickte sich um. Großmama lächelte freundlich. Der Leutnant rief: »In acht Tagen sind wir in Berlin!«

Marguerite befahl ihm, aber ängstlich fast:

»Sie bleiben hier!«

Tante Claire, mit ihrem strengen alten Gesicht, sagte nur:

»Sie gehen!«

Der junge Offizier wandte ein, er habe noch keinen Befehl, doch die alternde Jungfer rief hart:

»Es ist Ihre Pflicht!«

Dann führte sie ihn fort, der zögernd Abschied nahm, und drängte Marguerite zurück an der Tür:

»Vielleicht hat dir dein Mann etwas zu sagen!«

Berthe, die mit den hohen Brauen und den langen seidenen Wimpern, sah in glänzend feuchte Augen. Es tat ihr gut, im grausam süßen Spiel dem weichen Zögerer zu sagen: »Sie Armer – leben sie wohl!«

»Aber ... gnädige Frau, ich ... ich bin nicht Soldat.«

»Das Vaterland bedarf gewiß Ihrer ... eilen Sie!«

Als er ihre schmale Hand an seine Lippen zog, tauchten ihre Augensterne zum letztenmal tief in unergründlich schwarze Pupillen, darum, wie mit dem Pinsel hingewischt, die Wimpern standen. Dann trat Berthe ans Fenster, biegsam, hüftenwiegend, und trällerte im Lächeln vor sich hin:

»Marlborough s'en va-t-en guerre!«

Sie dachte an die Abende von Lesgranges, die holden Abende, wenn manch lieber Blick auf ihr ruhen würde, sei's auch ein anderer, ein neuer, der eines Prussien – war's nur einer mit tiefer Stimme, breiter Brust und Haar unter der Nase.

Der Marquis las den Absatz in der Zeitung unbewegt zu Ende. Dann faltete er das Blatt zusammen:

»Also, verehrtester Papa, wie ist denn das gekommen mit dem Krieg?«––-

Wo sind sie hin, die Abende von Lesgranges? Wo jener letzte, da sie saßen im Petit Salon und Papa erzählte, der junge Chasseuroffizier, der einst so schnell nach Berlin gewollt, habe einen braven Soldatentod gefunden, nicht in Feindesland, nein, nahe, ganz nahe von Lesgranges! Sie fanden alle Worte des Bedauerns, nur Großmama lächelte freundlich dazu und nickte wieder ein. Marguerite – die rund war und doch fein dabei – stand auf. Als sie im dunkeln Saal am Fenster lehnte, die Stirn an den Scheiben, das kleine Batisttuch zwischen die Zähne gepreßt, und hinaussah in den finstern Park, wo der Neptunbrunnen rauschte, leise wie Weinen, lag eine harte Altjungfernhand auf ihrer runden, weichen Schulter, und eine strenge Stimme sprach:

»Marguerite, mein armes Kind, glaube mir, es ist besser so – für dich!«

Wo sind sie hin, die Abende von Lesgranges? Die holden Abende, wenn die Sonne sank hinter den Türmen von Notre-Dame? Ob Großmama noch immer freundlich lächelt? Ob der Marquis die Zeitung liest? Ist jener mit den Tintenfleckenaugen nun auch von einer bösen Preußenkugel fortgerafft? Und Tante Claire, das harte, ach, so weiche alte Mädchen?

Wo sind sie hin, die Abende von Lesgranges? Und wo die süßen Frauen? Ist Jeanne – die mit den Mandelaugen, mit dem Perlenteint – noch so allein? Hält jener gute Gute mit der großen, großen Nase wohl seine Marguerite mit festerer Hand? Und Berthe, sieht sie jetzt etwa böse Preußen an im Spiegel?

Wo sind sie hin, die süßen Frauen von Lesgranges? Wo sind sie hin?


Der junge Offizier lehnte sich zurück in seinen Stuhl. Ein Augenblick war Schweigen, dann fragte der Oberst:

»Krebs, Sie Deubelskerl, wo haben Sie denn das her?«

Leutnant von Krebs' Gesicht erschien wieder im Feuerkreis rot angestrahlt von der Glut; ein lustiges Zwinkern ging um seine Augen:

»Herr Oberst, ich wohne nämlich in der kleinen Jeanne Mädchenzimmer!«

»Aber sie hat es Ihnen doch nicht erzählt?«

»Verzeihen, Herr Oberst, doch. Das heißt, sie hat in der Eile ihre Briefe, ihr Notizbuch, ihr Tagebuch, kurz alles Schriftliche liegen lassen!«

Oberstleutnant Runge streckte seine durchsichtigen Hände wärmend dem Feuer entgegen: »Ihre Jeanne, lieber Krebs, scheint also wenig Wert darauf gelegt zu haben.«

»Es ist auch nicht viel dran, Herr Oberstleutnant. Die Aufzeichnungen sind nicht geistreicher als der Gesichtskreis etwa eines gleichalterigen deutschen Mädchens.«

Plötzlich fuhr Premierleutnant von Bugk los, der auf den kleinen Krebs sowieso nicht gut zu sprechen war wegen des Träumers »Unaufmerksamkeit beim Dienst«:

»Na, hören Sie mal, Sie mit Ihren windigen Französinnen! Da ist doch so'n rechtes deutsches Mädel was ganz anderes. Nee, nee, die Oogenschmeißerei auch noch verteidigen? Meinen Sie nicht, gnädigste Gräfin?«

Alle Blicke wandten sich zur Johanniterschwester, als erwartete man, sie würde ihren Standpunkt festlegen, diese schöne Frau, für oder gegen die französischen Damen. Und alle die Männer beugten sich im Kreis in ihren Stühlen vor, rechts und links, vom nur noch glimmenden Feuer im Kamin beschienen. Die schöne Frau zuckte nur leise die Achseln und starrte sinnend in die Glut, deren matter Schein die Augen nicht mehr blendete. Dem Premierleutnant aber schienen die süßen Frauen von Lesgranges noch immer die Laune zu verderben. In seiner Erregung stand er auf, sechs Schuh hoch, mit seinem teutonisch rotblonden Feldzugsbart, und sein gewaltiger Baß klang, als stünde er vor der Kompagnie, zum Bajonettfechten auseinandergezogen, daß sie den ganzen Ehrenhof von Lesgranges füllte:


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