Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

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Elftes Kapitel

Es war drei Uhr und im Gerichtssaal fing es bereits an, dunkel zu werden. Eine ungeheure Menschenmenge füllte die Sitzreihen, drängte sich in den Korridoren und flutete selbst bis auf die für die Advokaten und Berichterstatter reservierten Tribünen. In einer Ecke der ersten Reihe, aber dennoch geschützt vor den Blicken Neugieriger, saßen Antoinette und Tante Isabella, von Beginn an der schrecklichen Verhandlung folgend, in der das Teuerste, das sie auf Erden besaßen: Roberts Ehre und sein Leben, auf dem Spiele standen.

Vor ihnen lag der erhöhte, leere Teil des Saales, in dessen Mitte sich die Schranken erhoben. Hinter denselben befand sich der Tisch, auf welchem die Ueberführungsbeweise: eine wollene Schärpe und ein seidenes Tuch, lagen, und ganz im Hintergrunde saßen die Richter, kalt und schreckenerregend in ihrem strengen Ernst. Links von ihnen die Geschworenen und rechts auf der Anklagebank zwischen zwei Gendarmen ein Clairefont!

Zu den Füßen seines Klienten, auf der Bank der Verteidiger saß Pascal in seiner schwarzen Amtstracht, mit dem Hermelin auf der Schulter. Die ganze Zuhörerschaft befand sich in leidenschaftlicher Erregung, seit dem Morgen schon währte der lebhafte Kampf zwischen Anklage und Verteidigung.

Das Verhör war für Robert günstig ausgefallen, er hatte sich auf Pascals Rat sehr gemäßigt und taktvoll benommen. Auch die Aussage des Arztes hatte einen guten Eindruck gemacht. Aber das Zeugenverhör beunruhigte die Geschworenen ernstlich. Tondeur und Fleury hatten dem jungen Grafen Ausbrüche schrecklichen Zornes nachgewiesen, und Pourtois hatte zitternd und zögernd die Mordscene geschildert. Dann waren die Tuboeufs, der Stallknecht und der entsetzliche Chassevent vom Präsidenten vernommen worden. Die Anklagen waren so geschickt miteinander verknüpft, daß sie ein schwer anzutastendes Ganzes darstellten. Darauf hatte Pascal mit großem Scharfsinne und unerschütterlichem Gleichmute Fragen an die Zeugen gerichtet, ihre Aussagen widerlegt und sich bemüht, sie in Widersprüche zu verwickeln.

Der Punkt, den er zumeist festzuhalten sich bestrebte, war die Feststellung des guten Einvernehmens, das stets zwischen Rose und Robert bestanden hatte. Sie war ihm freiwillig gefolgt, er hatte keine Anstrengungen zu machen gebraucht, um sie dazu zu überreden. Und insgesamt beeilten sich alle, dies zu bejahen, da sie darin den Anfang zur Ueberführung des Verbrechers erblickten. Ach ja, gewiß, das arme Kind war ganz heiter an seinem Arme fortgegangen; man hatte sie unterwegs noch lachen gehört; sie hatte sich nicht bitten lassen, mit dem Sohne des Marquis zu kokettieren ... Und er! Auf der eichenen Bank, die von langer Benützung wie poliert schien, saß Robert und hörte unbeweglich zu. Aus der Tiefe seines Herzens erhob sich grollend eine Stimme gegen die schwere Ungerechtigkeit dieser Verhandlung. Er dachte: »Oft genug stellte ich es in Abrede, daß die Justiz irren könne, ich war der Meinung, das sei unmöglich. Und jetzt stehe ich, der Unschuldige, unter einer Anhäufung unwiderleglicher Zeugenaussagen als Schuldiger da, und wenn die Männer, welche mir da gegenübersitzen, nicht durch die Beredsamkeit meines Verteidigers erleuchtet werden, so werden sie mich in vollster Ruhe nach Recht und Gewissen verurteilen.« Aeußerlich jedoch blieb er ruhig und setzte den Anklagen nur die stolze Festigkeit seiner Haltung entgegen. Einmal, als Chassevent ihn voll Wut immer mehr zu belasten versuchte, verlor er die Geduld und rief dem Wilddiebe heftig zu: »Das Verbrechen, dessen Ihr mich anklagt und das ich nicht begangen habe, ist nicht das einzige, das im Steinbruche begangen wurde ... Vor kurzem erst ist dort wieder ein Mordanfall versucht worden: aber von dem sprecht Ihr nicht ...«

Chassevent erbleichte. Der Präsident forderte Robert auf, sich näher zu erklären, aber der junge Mann versetzte, wieder ruhig geworden: »Ich stehe nicht hier, um anzuklagen, sondern, um mich zu verteidigen ... Der Mensch da weiß schon, was ich meine ...«

Es war unmöglich, mehr aus ihm herauszubringen; aber die Anklage hatte an Boden verloren. Ein beunruhigendes Dunkel breitete sich über dieselbe aus, und dem Zuhörer drängte sich die Ahnung eines Geheimnisses auf. Leider zerstörte das Plaidoyer des Anwaltes der klägerischen Partei diese günstige Meinung wieder. Fein und schlau, in gedrängter Kürze, verstrickte es Robert in ein Netz moralischer Beweise und überließ es der Staatsanwaltschaft, die materiellen Beweisstücke beizubringen.

Während dieses furchtbaren Angriffes war es Antoinette und Tante Isabella, als säßen sie auf glühenden Kohlen. Sie litten unbeschreiblich, denn sie hielten Roberts Sache nun für verloren. Pascal konnte unmöglich die Wirkung dieser fürchterlichen Kritik zerstören, welche Roberts Charakter mit großem Geschicke analysierte. Die gute, edle, großherzige Natur des Jünglings blieb ganz im Schatten, während die harte, heftige, herrschsüchtige Seite in hellstes Licht gesetzt wurde. So geschildert, war der Graf ganz der Mann, ein solches Verbrechen zu begehen und Rose in einem vielleicht nicht vorher berechneten, aber thatsächlichen Ausbruche seiner Brutalität erstickt zu haben. Der Antrag des Staatsanwaltes trieb das Entsetzen der beiden unglücklichen Frauen auf die höchste Spitze. Dieser Beamte mit seiner hohlen Stimme und seiner roten Tracht erschien ihnen wie ein Vorbote des Henkers; sie glaubten seinen drohend erhobenen Arm nach Roberts Haupt greifen zu sehen, und seiner schwülstigen Beredsamkeit schrieben sie eine unheilbringende Gemalt zu. Der theatralische Effekt des richterlichen Pompes übte seine Wirkung auf sie aus und stürzte sie in eine unüberwindliche Hoffnungslosigkeit. Und doch hatte der Staatsanwalt in seinem langen Geschwätz von wohlklingenden Worten mildernde Umstände gelten lassen. Er beantragte das Bagno statt des Schafotts, und dieser Gedanke erfüllte Tante Isabella mit solcher Wut, daß ihre Nichte Mühe hatte, sie zu beruhigen und zu verhüten, daß sie die Rede unterbrach und einen nicht gutzumachenden Skandal veranlaßte.

»Der Kerker! Niemals!« knirschte das alte Fräulein. »Ein Clairefont! Lieber würde ich ihm selbst mit meinen eigenen Händen Gift reichen!«

»Hören Sie doch zu, Tante,« murmelte Antoinette, »hören Sie doch, ich bitte Sie, und sehen Sie, wie ruhig Herr Pascal bleibt.«

»Das ist die Ruhe der Verzweiflung!«

Die Rede des Staatsanwalts schloß mit einem Appell an die Strenge der Geschworenen, der erleuchteten Schirmer der Gleichheit vor dem Gesetze, und einer kräftigen Geißelung des Müßigganges, welcher zum Verbrechen führt. Auf seine letzten Worte folgte ein entsetzliches Schweigen. Sodann sprach der Präsident mit langsamer Stimme den üblichen Satz: »Der Verteidiger hat das Wort!« und unter neugierigem Gemurmel erhob sich Pascal von seinem Sitze.

Er war sehr bleich, aber nie leuchtete eine feurigere Entschlossenheit von der Stirn eines Mannes. Er wendete sich dem Zuhörerraume zu, den er mit forschendem Blicke überflog, und als er Antoinette gefunden, ließ er sein Auge eine Sekunde lang auf ihr ruhen, wie um sich Begeisterung von ihr zu holen; dann fing er zu sprechen an. Anfangs sehr leise, mit einer Art Lässigkeit, als halte er es gar nicht wert, die Beweisgründe, welche seine Gegner angewendet, anzufechten, und in dieser gedämpften Tonart hatte sein Organ eine zum Herzen gehende Weichheit, welche die Hörer mit einem wonnigen Schauer durchdrang.

Noch ehe er die Gegenpartei zu widerlegen anfing, hatte der Zauber seiner Stimme schon seine Wirkung gethan; wie ein großer Musiker zu Beginn eines glänzenden Konzertstückes weiche Moll-Accorde anschlägt, so schien er zu präludieren. Dabei war er so augenscheinlich Herr seiner selbst, daß der berühmte Pariser Rechtsanwalt die Stirn runzelte und das Ordnen seiner Aktenstücke, das er mit affektierter Gleichgültigkeit vorgenommen hatte, unterbrach. Die Richter hatten sich aus den tiefen Sesseln, in denen sie lehnten, aufgerichtet und hörten gespannt zu. Die Geschworenen saßen unbeweglich da, ergriffen von jener inneren Erregung, wie sie Virtuosen mit der ersten Note oder dem ersten Bogenstrich den Hörern mitzuteilen verstehen. In dem weiten Raume, den die Schatten des Abends bereits zu verdunkeln anfingen, herrschte lautlose Stille.

Melodisch rollten Pascals Worte dahin, und die halbe Dämmerung verlieh ihnen noch einen besonderen poetischen Reiz. Antoinette lauschte mit bedrücktem Herzen und zuckenden Nerven, hingerissen und doch voll Angst auf diese Stimme, welche Roberts Ehre und Freiheit verteidigte, die aber, das wußte das junge Mädchen sehr wohl –nur aus Liebe zu ihr ertönte. Ja, alle diese Worte voll zauberischer Beredsamkeit waren einzig und allein an sie gerichtet: was Pascal sagte, hörte sie nicht, sie horchte nur auf den Klang seiner Stimme, und aus ihm hörte sie die Worte heraus: »Ich bete dich an, alles, was ich gethan und was ich noch thun werde, geschieht aus Liebe zu dir, um dir zu gefallen. Ich kämpfe für dich, für dich allein! Sei ruhig; da ich deine Sache verteidige, werde ich übermenschliche Kräfte finden und siegen!« Ein plötzliches Vertrauen bemächtigte sich Antoinettes, sie hegte keine Furcht mehr, sie befand sich in einer Art Erstarrung, in der sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Es war ihr, als ob eine Wolke sie einhüllte und ihr Bewußtsein von den Dingen um sie her schwinde. Sie sah sich in unbestimmte Weltenräume entrückt, in welchen sie eine göttliche Stimme hörte, und diese Stimme beschwor ihre und ihres Bruders Kindheit wieder herauf. Da lag der Park von Clairefont, in Sonnenglanz gebadet –eine zarte, leidende Frauengestalt stritt auf der Terrasse hin und her, es war die Marquise, die schon den Stempel des Todes auf der Stirn trug ... Arme Waisen, die frühzeitig die Zärtlichkeit der Mutterliebe entbehren mußten, welche zwischen ihrem ganz in seine wissenschaftlichen Arbeiten vertieften Vater und ihrer Tante, diesem Wesen mit dem feurigen und doch weichen Herzen, in fast wilder Freiheit aufgewachsen waren! Das ganze Leben der Familie in dem großen, stillen, vereinsamten Schlosse entrollte sich in seiner patriarchalischen Eintönigkeit; die Liebe und Verehrung der Kinder zu ihrem Vater, die geduldige Hingebung, mit der sie seinen Launen sich unterwarfen, der allmählich sich vollziehende Ruin und die durch Habgier genährte Feindseligkeit des ganzen Ortes, welche den Marquis mit stets wachsender Heftigkeit umgab.

Die Schilderung dieses stummen Kampfes zwischen den Verbündeten, die sich des Besitztums bemächtigen wollten, und dem armen, von seiner Manie besessenen Marquis war eine ergreifende, überwältigende; alle Kehrseiten des erschütternden Falles, in ihren verborgensten Falten bloßgelegt, singen an, sich vor den Zuhörern zu enthüllen. Jetzt klang Pascals Stimme nicht mehr einschmeichelnd und gerührt, sie hatte einen strengen, traurigen Ton angenommen, der, noch tiefer ergreifend, gerade zum Herzen ging. Harmonisch und farbenreich schwang sie sich empor, erfüllte das Ohr und bestrickte den Geist. Sein Vortrag wurde gedrängter, seine Argumente gleich stürmenden Angriffskolonnen dem Feinde entgegengeworfen. Und Antoinette lauschte regungslos, von glühender fieberhafter Neugierde beherrscht, in eins verschmolzen mit dem Redner, der ihr Ohr entzückte: sie lebte sein Leben mit, erwärmte sich an seiner Begeisterung, kämpfte an seiner Seite: sie ging völlig in ihm auf, half ihm, ermutigte ihn und gab sich der Täuschung hin, daß sie es sei, die ihren Bruder verteidigte. Dieses klare, gewaltige Wort war ja der Ausdruck ihrer eigenen Gedanken, und durch Pascals Mund sprach sie. Diese Empfindung war eine so mächtige, daß die Sinnestäuschung, welche das junge Mädchen gefangen hielt, plötzlich schwand und sie aus ihrem Traum erwachte. Sie öffnete die Augen, sah die Menschenmenge, ihre Tante, den Gerichtshof, ihren Bruder und Pascal. Er war nicht mehr bleich, eine gewaltige Erregung färbte sein Antlitz, seine Gebärden waren edel und kraftvoll. Er diskutierte mit beißender Ironie, und alle Fragen, die er während des Zeugenverhörs gestellt hatte, dienten ihm jetzt zur Verteidigung. Mann für Mann nahm er seine Gegner vor und erdrückte sie mit unwiderstehlicher Kraft. Die Anklagepunkte, das gegen Robert aufgeführte gefährliche Gerüst, brachen zusammen und nur Trümmer blieben übrig. In geistvoller Stufenfolge war er so weit gekommen, nach dem Beweggrunde zu forschen, der Robert zu dem Verbrechen hätte veranlassen können, und er bewies, daß es unmöglich sei, nur einen stichhaltigen Grund anzuführen. Weshalb hätte er den Mord begehen sollen? Zu welchem Zwecke? Aus welchem Grunde? Was für einen Vorteil konnte er davon haben?

Alle moralischen Vermutungen waren null und nichtig und konnten aufgeklärte Geister auch nicht einen Augenblick beeinflussen; die materiellen Beweise aber waren mehr als zweifelhaft. Wer hatte den Mord gesehen? Chassevent und Pourtois. Wie hatten sie ihn gesehen? Von weitem, im Dunklen und auf der Flucht. Und welchen Wert hatte die Zeugenaussage des Vaters, dessen Motiv bloße Habsucht war, was sich ja in seiner Schadenersatzforderung deutlich verriet? Der Schuldige mußte Herr von Clairefont sein, weil er zahlungsfähig war, und nicht der erste beste Bandit oder Strauchdieb oder ein geheimnisvoller Meuchelmörder, welchen sie schlecht gesucht hatten, weil sie ihn nicht zu finden wünschten. Und Pourtois, dieser zitternde, aufgeregte, kaum kenntliche Zeuge, aus dessen Zügen eine Angst sprach, die große Aehnlichkeit mit Gewissensbissen hatte, der seine Aussagen nur stotternd hervorbrachte, sich auf Chassevent berief und mit einem Worte nichts gesehen hatte als das, was der Vagabund ihm zu sehen befohlen. Und auf die Zeugenaussagen solcher Leute wollte man eine Anklage auf Leben und Tod stützen?

Mit ironischen, scharfen und treffenden Worten sprach er weiter über die gegen die Familie von Clairefont angezettelte Verschwörung; er zeigte die Falle, in welche man Robert geschickt zu locken verstanden hatte; er übte keine Schonung mehr, schlug mit verdoppelten Schlägen und seine raschen, tödlichen Sarkasmen sausten wie Flintenkugeln umher. Mit Schrecken sahen die Verbündeten alle ihre Positionen eine nach der anderen fallen. Er war jetzt Herr des Terrains, er hatte alles über den Haufen gestürzt und niedergeschlagen, so daß von der Anklage nichts bestehen blieb.

Fleury, Tondeur und Chassevent tauschten erschrockene Blicke aus; Pourtois stöhnte auf seiner Bank und war wie ein geplatzter Ballon in sich zusammengesunken. Pascals Sieg war entschieden. Die überzeugten, besiegten Zuhörer, hingerissen von dem Verlangen, ihre Zustimmung und ihren Beifall zu äußern, begannen sich zu regen.

Ohne jeden Uebergang kehrte der junge Mann hierauf zu den weichen, süßen Tönen der Anfangsrede zurück; innig und herzbesänftigend klang der Schluß, dessen Sätze sich gleich Weihrauchdämpfen in den Lüften schaukelten und wiegten.

Keine Vergeltung, kein Groll sprach aus ihnen, nur eine unendliche Zärtlichkeit, ein tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Mädchen, das so ungerechterweise gelitten hatte. Und so schien der Schatten des Opfers selbst flehend und beschwörend zu Gunsten des Unschuldigen über der Versammlung zu schweben.

Ein köstliches Gefühl der Erleichterung hatte sich aller Gemüter bemächtigt. Wie durch Zauber verschwand alle Verruchtheit, alles war unschuldig und rein! Pascals Stimme erstarb in Schweigen, und aus der Menge erhob sich ein leises Gemurmel, lang hingezogen und seufzend wie ein Schluchzen.

Antoinette und Tante Isabella sahen sich zum erstenmal seit dem Morgen frei ins Auge. Ihre Gesichter waren von Thränen überströmt, aber aus ihrem Schmerze war die Hoffnung triumphierend erstanden. Zitternd drückten sie einander die Hände, denn noch wagten sie nicht zu sprechen.

Ein wirrer Lärm störte sie plötzlich aus ihrer Begeisterung auf. Der Anwalt der klägerischen Partei hatte sich wütend zu einer Entgegnung erhoben. Da er die Notwendigkeit einsah, entscheidende Schläge zu führen, zog er diesmal die Persönlichkeiten in den Angriff. Mit teuflischem Geiste griff er das heraus, was Pascal über die Verschwörung gegen die Familie von Clairefont gesagt hatte, und erging sich in heftigen Anspielungen. Wie! Pascal war es, der diese Punkte anführte? Lag denn etwas Strafbares darin, da doch, wie es hieß, sein eigener Vater der Anstifter gewesen. Wollte man Finanzoperationen als lichtscheue Machinationen hinstellen? Der Wunsch, zu überzeugen, habe den Verteidiger zu weit geführt, er vergaß, was er der Gerechtigkeit, was er sich selber schuldig war, denn die Gründe, welche ihn bewogen hatten, die Verteidigung Roberts von Clairefont zu übernehmen, blieben besser unerklärt, und die Erwähnung dieses Zwistes war unstreitig nur ein Kunstgriff gewesen, um die Meinung der Geschworenen irrezuführen.

Diese wenigen, schneidend scharfen, kalten Sätze riefen eine unangenehme Stimmung in den Zuhörern hervor. Die Geschworenen sahen einander an. Antoinettes Herz krampfte sich zusammen, sie begriff, wie grausam diese Worte Pascal berühren mußten. Es war ihr, als müsse sich jetzt ein Kampf auf Leben und Tod entspinnen. Sie drückte Tante Isabellas Arm so heftig, daß sie ihr weh that, versuchte zu beten, brachte aber nur die Worte: »Mein Gott! Mein Gott!« hervor.

Pascal war aufgesprungen. Wie ein verwundeter Löwe schüttelte er den Kopf, seine Augen schossen Blitze, und mit geballten Fäusten auf die Schranken hämmernd, rief er wild: »Also da wollen Sie hinaus? Weil Sie selbst die Unmöglichkeit einsehen, den Mann, welchen ich verteidige, vernichten zu können, versuchen Sie es jetzt, mich zu treffen! Sie beschuldigen mich, daß ich, indem ich diesen Platz einnehme, vergesse, welchen Namen ich führe. Und Sie wagen es, an mein Gewissen zu appellieren! Gut! Es soll Ihnen Rede stehen. Ja, ich habe alles verlassen, alles verleugnet, alles vergessen, um Robert von Clairefont an dieser Stelle mit meinem Worte beizustehen, und das ist der glänzendste Beweis für seine Unschuld! Ich, der ihn verteidige, der ihn ermutige, ich, der Sohn des Feindes seines Vaters, was würde ich für ein verächtlicher Mensch sein, wenn er schuldig wäre? Seine Schuld zieht die meine nach sich, meine Ehre ist Bürge für die seine! Und alle Kräfte meines Wesens vereinigen sich in diesem Augenblicke, um Ihnen zuzurufen: Er ist nicht schuldig!«

Dies war ein solch verzweifelter Schrei, ein solch leidenschaftlicher Ausbruch, daß die beiden Frauen alles vergaßen und nur nach Pascal sahen, der in stolzer Entrüstung strahlend vor Erregung dastand.

Diese wenigen Sekunden hatten ihn vollständig verändert. Er warf seinem Gegner herausfordernde Blicke zu und schien bereit, den Kampf fortzusetzen, sein Herz bloßzulegen, sich selbst bis aufs Blut zu quälen, um seiner Sache zum Siege zu verhelfen. Um sich her sah er nur erschütterte, in Rührung schimmernde Gesichter, er erriet, daß die Schlacht gewonnen sei, und mit einer ausdrucksvollen Gebärde, die den ganzen Saal zu umfassen schien, schloß er: »Ich glaube nun, genug gesagt zu haben. Es hieße Sie beleidigen, wollte ich weiteres hinzufügen.«

Das war der letzte Schuß.

Der Präsident sprach mit mürrischer Stimme den Geschworenen die gesetzliche Formel vor, und da er einsah, daß die Anklage stark erschüttert war, stellte er als letzte Hoffnung die Frage auf unabsichtliche Tötung, herbeigeführt durch Mißhandlungen. Das hieß fast den Fall verloren geben. Der Gerichtshof zog sich zurück, die Geschworenen begaben sich ins Beratungszimmer, der Angeklagte wurde fortgeführt, und mit freudiger Lebhaftigkeit erhoben sich die Anwesenden, um sich die Beine wieder gelenkig zu machen. Die Richtertribüne wurde von den Advokaten überflutet, welche Pascal umringten und ihn mit enthusiastischem Beifalle beglückwünschten. Selbst der berühmte Pariser Rechtsanwalt durchbrach die Menge der Referendare, um seinem Gegner zu gratulieren. Mit verblüfftem Staunen sah Tante Isabella die beiden Männer lächelnd sich die Hände schütteln.

»Wie? Er spricht mit ihm! Ich glaubte, er würde ihn erwürgen, nach allem, was er ihm gesagt hat!«

»Worte, Tante. Worte, die der Wind verweht!«

»Ach, mein Liebling, hast du ihn gehört, unsern Pascal?... Ist das ein Mensch, was? ... Mir stockte der Atem ... Ich bekam meine Beklemmungen, und bald wurde mir heiß, bald kalt ... Ach, du mein Gott, welch ein Talent, die Leute so zu rühren! Hast du die Geschworenen angesehen? Sie waren ganz verdonnert! Ach, mein Kind, wie glücklich bin ich!«

»Warten Sie, Tante, noch sind wir nicht so weit!«

»Wie! Ist da noch ein Zweifel möglich! Sollten sich denn alle Carvayan verkauft haben? Die Geschichte ist doch klar wie die Sonne!« Das alte Fräulein sprang auf, wie von einer Feder emporgeschnellt. Pascal stand vor ihr. Er hatte seinen Platz verlassen, sich der Bewunderung seiner Kollegen entzogen und kam nun, um sich seinen Lohn zu holen –einen Blick, ein Wort von Antoinette.

»Nun, mein liebes Kind,« rief die Tante von Saint-Maurice mit Begeisterung aus, »er ist gerettet, nicht wahr?«

»Ich hoffe es,« versetzte der junge Mann. »Nach der allgemeinen Meinung ist er es ... Aber bei den Geschworenen ist man seiner Sache niemals sicher ... Warten wir es ruhig ab ...«

»Wie lang mir die Zeit vorkommt!« flüsterte Antoinette.

»Sie wird Ihnen kurz erscheinen, wenn Ihr Bruder Sie nach Hause begleiten wird ...«

»Ach, mein Gott, kann das denn möglich sein? Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben.«

»Sie werden es sogleich erfahren...«

Die Glocke der Geschworenen ertönte. Ein tiefes, für die beiden Frauen bedrückendes Schweigen breitete sich über den ganzen Saal aus. Mit neugieriger Ungeduld ließ sich das Publikum wieder auf die Sitze nieder, den Wahrspruch erwartend. Pascal hatte sich wieder an seinen Platz hinter den Schranken begeben, Robert erschien auf der Anklagebank, und ernst und streng trat der Gerichtshof ein. Während die Sitzung unterbrochen war, hatte man die Lampen angezündet, und nun hoben sich die finsteren Gesichter der Richter scharf von dem dunklen Tone des Täfelwerkes ab. Endlich traten auch die Geschworenen wieder ein, und alle hörten stehend, mit gewaltigem Herzklopfen die Urteilsverkündigung mit an. Die schrille, zitternde Stimme des Obmanns der Geschworenen sprach die Worte: »Bei meiner Ehre und auf mein Gewissen lautet die Antwort der Geschworenen einstimmig auf alle Fragen: Nein!«

Von allen Seiten wurde der Freispruch mit gerührtem, freudigem Beifall begrüßt. Als es dann wieder still ward, vernahm man schreckenerregende Töne, wie sie ein Tier ausstößt, das erwürgt wird. Fräulein von Saint-Maurice war zum erstenmal in ihrem Leben unwohl geworden. Die Worte des Präsidenten, welcher Roberts sofortige Freilassung anbefohlen, verloren sich in einem Tumulte, dem unmöglich Einhalt zu gebieten war. Zwanzig Personen bemühten sich um das alte Fräulein; der Gerichtshof zog sich zurück, die Geschworenen räumten ebenfalls ihre Plätze, und der Gerichtsdiener sagte: »Nun müssen Sie auch fortgehen!«

»Tante, wir wollen zu Robert eilen!« rief Antoinette.

Diese Worte gaben Tante Isabella die Besinnung wieder. Sie richtete sich rasch auf, schob ihren Hut mit erregter Gebärde zurecht und stammelte: »Wo ist das Kind?«

Von Pascal geführt, von ihrer Nichte halb gezogen, erreichte sie die Thür des Zeugenzimmers, und dort erblickte sie Robert, der ihr entgegenlächelte. Sie wollte auf ihn zueilen, er aber kam ihr zuvor, und sich seinem Verteidiger in die Arme werfend, rief er: »Er zuerst! Seid mir deshalb nicht böse, ihr, meine Teuersten!«

»O, mein Gott, er hat das wohl um uns verdient!« rief Tante Isabella mit Entzücken.

Der junge Graf zog seine Schwester und seine Tante an die Brust, lachte und weinte in einem Atemzuge, und indem er beide Frauen seinem Verteidiger zuschob, sagte er: »Umarmt ihn auch, ihm verdanke ich das Leben, denn ich war fest entschlossen, falls ich schuldig gesprochen würde, mir den Tod zu geben.«

Die zitternde Antoinette sah sich ganz dicht bei Pascal. Ein Schwindel erfaßte sie; sie fürchtete, niederzusinken, rasch ergriff sie seine Hand, drückte sie krampfhaft und geriet in eine köstliche Verwirrung, als sie fühlte, daß die Lippen des Retters ihres Bruders ihr Haar streiften.

Tante Isabella wurde nicht müde, Robert anzuschauen, es war ihr, als habe sie ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen.

»Gestern sahst du anders aus, mein armer Junge.«

»Heute, Tante, heute sehe ich aus wie ein zufriedener Mensch.«

»Mein lieber Graf,« fiel Pascal ein, »ich hoffe, Sie werden hier nicht länger bleiben wollen als nötig. Kommen Sie, wir wollen Sie aus der Gefangenenliste streichen lassen, und dann können Sie gleich mit dem Achtuhrzuge nach Neuville fahren. Unterdessen werden die beiden Damen an Herrn Malézeau telegraphieren, damit er Ihren Vater benachrichtigen kann. Man darf ihm die freudige Mitteilung nicht eine Minute länger vorenthalten.«

»Sie haben recht, wie immer! ... Aber werden diese braven Leute uns auch jetzt noch begleiten?« fragte Robert, auf die Gendarmen deutend, die in der Nähe warteten.

»Ja, Sie müssen von ihnen zurückgeführt werden, ebenso wie Sie von ihnen hergebracht wurden.« »Sie sind sehr gut gegen mich gewesen ... Tante, gib mir alles Geld, das du bei dir hast ...«

Er leerte die Börse des Fräuleins von Saint-Maurice in die Hände der erstaunten Soldaten; dann rief er, zu Pascal gewendet: »Gehen wir! Ich muß gestehen, ich dürste nach Freiheit!«

Um neun Uhr sahen sie Neuville vor sich liegen: auf der Brücke über das Flüßchen fuhr der Zug langsamer und pfiff anhaltend, bevor er in den Bahnhof einfuhr. Robert, der sich zum Fenster hinauslehnte, sah in der Ferne die Laternen des Städtchens wie glühende Punkte durch die Nacht leuchten. Er richtete sich in die Höhe und meinte erregt: »In einer halben Stunde werde ich meinen Vater umarmen!«

Auf dem Bahnhofe erwartete ihn eine Überraschung. Auf dem Perron sah er Herrn von Croix-Mesnil hin und her wandeln. Die beiden Freunde stießen einen Schrei aus, und ohne das Stillhalten des Zuges abzuwarten, sprang der junge Graf heraus. Es wurden nur einige hastige Worte zwischen ihnen gewechselt. Der Baron begrüßte Antoinette und Tante Isabella mit feuchten Augen und strahlendem Antlitz, drückte Pascal kräftig die Hand und zog sie alle mit dem Ausrufe: »Kommen Sie, kommen Sie, schnell!« dem Ausgange zu. Sie durchschritten den Wartesalon, und draußen in der alten Schloßkutsche sitzend, erblickten sie den Marquis. Er erwartete in Gesellschaft des Notars die Ankunft seines Sohnes. Er, als Haupt der Familie, hatte darauf bestanden, nach dem Bahnhofe zu fahren, um seinen Sohn zu empfangen und ihm dadurch gewissermaßen eine feierliche Ehrenerklärung zu geben. Dem starken Robert, der so harte Prüfungen mit Standhaftigkeit ertragen hatte, versagte die Kraft vor diesem Beweise väterlicher Liebe. Wie ein Kind aufschluchzend, sank er dem Greise in die Arme.

»Da sehen Sie wieder glückliche Menschen, Herr Pascal,« sagte Malézeau, »und dieses Glück verdanken sie Ihnen ... Ich hoffe, sie werden das niemals vergessen ...«

Der junge Mann schüttelte traurig das Haupt.

»Seien Sie ruhig, ich werde es schon so einzurichten wissen, daß die Dankbarkeit sie nicht zu schwer drücken soll ...«

Pascal näherte sich dem Wagen, nahm in kurzen Worten Abschied, lehnte Roberts dringende Bitte, ihm nach Clairefont zu folgen, ab und entfernte sich dann mit dem Notar. Als er sah, wie der Wagen, welcher Antoinette entführte, im Dunkel der Allee verschwand, murmelte er, tief aufseufzend: »Nun ist's zu Ende!«

War sein Glück nicht in der That zu Ende?

Schweigend schritt er an Malézeaus Seite durch die ruhig schlafende Stadt. Als sie in die Rue du Marché einbogen, sahen sie die Fenster von Carvayans Arbeitskabinett noch erhellt.

»Ihr Vater ist noch wach,« sagte der Notar.

Schwarze Schatten zeichneten sich gegen die Vorhänge ab.

»Er ist nicht allein,« meinte Pascal, »Fleury und Tondeur fuhren schon mit dem früheren Zuge ab. Sie haben die Nachricht von der Freisprechung überbracht und halten nun gewiß Rat. Was mögen sie noch wollen?«

»Nichts! Darauf möchte ich einen Eid ablegen. Ich habe Herrn Carvayan um sieben Uhr gesehen ... Ich war aufs Telegraphenamt gegangen, um zu fragen, ob die Depesche, die ich mit lebhafter Ungeduld erwartete, noch nicht da sei ... Ihr Vater befand sich aus demselben Grunde auch hier... Wir grüßten uns schweigend, denn seit drei Monaten sprechen wir nicht mehr miteinander. Nach einer Viertelstunde ging der Telegraphenbeamte, der von gleicher Neugier geplagt war, an seinen Apparat, an dem es klingelte, und rief: ›Freigesprochen! ...‹. Wir verlangten nichts weiter zu wissen und eilten hinaus: draußen blieb Ihr Vater stehen; er war so bleich, daß ich fürchtete, er werde in Ohnmacht fallen; ich trat deshalb zu ihm heran, er ergriff meinen Arm, stützte sich darauf und sagte mit dumpfer Stimme: ›Ich war sicher, daß er den Sieg davontragen würde ... An dem Tage, an dem er sich uns feindlich entgegenstellte, gab ich das Spiel verloren ... Er ist ein echter Carvayan, wissen Sie! Er hat alles von mir, nur hat er noch Kenntnisse voraus und von seiner Mutter ein gewisses Etwas, ich weiss nicht recht was...‹ ›Ein großes Herz,‹ fiel ich ein. Er senkte den Kopf und murmelte: ›Das kann sein! Vielleicht ist dies in der That das Geheimnis seiner Macht... Er hat Gedanken wie kein anderer und versteht ihnen einen Ausdruck zu geben, wie niemand sonst ... O, ich kenne ihn ... Ich hab's ihnen stets gesagt: Pascal schlägt uns alle... Die Dummköpfe! Sie wollten mir nicht glauben ... Er hat gewiß ausgezeichnet gesprochen! Gegen ihn konnte der Schwätzer aus Paris nicht aufkommen, ebensowenig der Staatsanwalt! ... O, ich weiß, er hat sie alle überboten! Er ist ein Carvayan!‹ »Ihr Vater sprach diese Worte mit unendlichem Stolz, dann schwieg er, bis wir sein Haus erreicht hatten; da blieb er stehen, hielt mich an einem Rockknopfe fest und sagte: ›Malézeau, wollen Sie, daß wir uns wieder versöhnen? Führen Sie meinen Sohn morgen früh zu mir‹ ... Und als ich sprechen wollte, rief er heftig: ›Kein Wort weiter! ... Denken Sie erst darüber nach ... und geben Sie dem Jungen einen guten Rat ... Adieu! ...‹

»Darauf trat er in das Haus. Aus diesen letzten Worten ersehen Sie, daß er nicht die Absicht hat, den Streit fortzusetzen. Das würde ihm übrigens auch nicht gelingen ... Aber wie steht's mit Ihnen? Sind Sie entschlossen, seinen Wunsch zu erfüllen?«

»Ich bin bereit, meinen Vater zu sehen; aber zu ihm gehe ich nicht ... Er hat mich aus dem Hause gewiesen ...«

»So werde ich ihn das wissen lassen ...«

Mittlerweile hatten sie das Haus des Notars erreicht und traten ein.

»Sie werden doch zu Abend essen, nicht wahr?« fragte Malézeau.

»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich vor Hunger und Erschöpfung fast umsinke.«

»Hier, meine Liebe,« sagte der Notar zu Frau Malézeau, welche die Treppe hinuntereilte und mit bewegter Stimme ihre Glückwünsche darbrachte, »hier ist ein junger Held, dem mehr an einem kalten Hühnchen, als an den schönsten Komplimenten gelegen ist ... Wir wollen uns daher gleich ins Speisezimmer begeben ...«

Pascal schlief diese Nacht den ruhigen Schlaf eines Siegers. Es war schon heller Tag, als er erwachte und in dem vom Herbstwind entblätterten Garten flatterten die Vögel, lustig zwitschernd, umher. Der junge Mann stand auf, und sein erster Gedanke, als er den Himmel blau und heiter sah, war: »Heute sind sie in Clairefont glücklich, und der Morgenspaziergang auf der Terrasse im Sonnenschein muß köstlich sein.« Im Geiste sah er auf dem goldig schimmernden Kies, längs des Steingeländers, das vornehme, schöne, junge Mädchen dahinschreiten. Sie war nicht mehr in Schwarz gekleidet; ihr Gewand war hell und heiter wie ihre Gedanken.

Ein großer junger Mann begleitete sie, wie er es in den Zeiten der Trübsal fast täglich gethan hatte. Aber das Glück, das wieder seinen Einzug in das Schloß gehalten, hatte Pascal daraus verdrängt, und der Begleiter, der jetzt der schönen Lustwandlerin zur Seite ging, war Robert oder Croix-Mesnil. Leise murmelte er: »Wußte ich denn nicht im voraus, daß es so kommen würde? Darf ich mich denn beklagen? Nein! Nein! Mögen sie fröhlich sein, und wäre es selbst auf Kosten meines Glückes! Indem ich ihnen den Lebensfrieden und die Heiterkeit des Herzens zurückgab, habe ich bloß die furchtbare Schuld meines Vaters getilgt, das ist alles!«

Er begab sich in den Garten hinab und ging an den Buchsbaumhecken dahin, dem Rauschen des kleinen Springbrunnens lauschend, der in dem Bassin in der Mitte eines Rasenplatzes plätscherte. Die Rathausuhr schlug eben elf, als sich ein Fenster im Erdgeschoß öffnete und Malézeau an demselben erschien. Er rief dem jungen Manne zu: »Herr Pascal, bitte, kommen Sie doch in mein Kabinett!«

Der junge Mann trat ins Haus, durchschritt die Schreibstube, öffnete noch eine Thür und gewahrte seinen Vater, an dem Kamin lehnend. Er blieb unbeweglich stehen und schaute den Greis an, der ihm sehr verändert erschien. Malézeau griff nach einigen Papieren und zog sich mit denselben in die Schreibstube zurück, so daß die beiden Männer allein blieben.

»Pascal!« rief Carvayan, ihm die Hand entgegenstreckend.

Kalt legte der Sohn seine Rechte hinein, bot seinem Vater einen Sitz an und blieb selbst vor ihm stehen.

»Willst du, daß das Geschehene vergessen sei?« fragte der Maire, nachdem er eine Weile gezaudert hatte. »Du siehst, ich komme dir zuerst entgegen ... Ich hatte unrecht ... Aber du hast mich auch hart dafür büßen lassen ...«

»Mein Vater, das Vergessen hängt nicht von mir ab ... Ich bin nicht allein dabei beteiligt ... es gibt noch ...«

»Die Leute da oben,« fiel Carvayan heftig ein, die geballte Faust nach dem Hügel ausstreckend, »was wollen sie denn noch? Du hast ihnen zum Siege verholfen ... sie triumphieren über mich ... Soll ich ihnen etwa noch meine Unterwürfigkeit bezeigen gehen? ...«

Der alte Mann lachte höhnisch auf.

»O, wenn sie dich nicht gehabt hätten! ...« Dann fuhr er in verändertem Tone fort: »Ich hoffe, sie werden sich dir erkenntlich beweisen! ...«

Pascal errötete. »Ich erwarte von niemand Dank! ...« »Auch nicht von der schönen Antoinette? Sie würde im höchsten Grade undankbar sein, wenn sie nach allem, was du für sie gethan, dich nicht liebte!«

»Ich gedenke schon in nächster Woche von hier fortzugehen,« sagte Pascal kurz, »und es wird lange dauern, bis ich wieder nach Neuville zurückkehre ...«

»Ah! Ah! Und du glaubst, sie werden dich fortlassen? ... Aber du hast recht, weshalb sollten sie dich zurückzuhalten wünschen? Sie bedürfen deiner ja nicht mehr ... Du hast den Erben des stolzen Namens gerettet und dein Geld hingegeben! Was könnten sie noch mehr verlangen! ... Du würdest ihnen nur lästig sein, mein armer Junge, denn du würdest sie fortwährend an die Dienste erinnern, welche du ihnen geleistet hast ... Man wird dich immer sehr gern haben, aber aus der Ferne ... Das ist bequemer! ...«

»Vater! ...«

»Höre, willst du hierbleiben? Um deinetwillen werde ich für meine Person alle ehrgeizigen Bestrebungen aufgeben ... Man kennt jetzt deinen Wert, und bei den nächsten Wahlen wird niemand dir die Stirn zu bieten wagen ... Du wirst Herr des ganzen Kreises sein ... Wir werden herrschen, Pascal! ... Siehst du nun endlich ein, was ich für deine Zukunft zu leisten bereit bin? Wenn du willst, werden wir jenen Undankbaren klar machen, was ein Mann wie du wert ist ... Nun! ... Schlage ein und reiche mir jetzt ohne Hintergedanken die Hand ...«

Der junge Mann schüttelte traurig den Kopf.

»Ich danke dir, Vater, aber mein Entschluß ist unwiderruflich gefaßt ... Es wird mir gut thun, für einige Zeit außer Landes zu gehen ...«

»So willst du also gar nichts von mir annehmen?«

Pascal sah seinen Vater fest an.

»Würdest du mir gewähren, um was ich dich bitten möchte?«

Die Falte auf Carvayans Stirn vertiefte sich: dennoch versetzte er: »Sprich!«

»Mein Werk ist noch nicht vollständig ... Ich habe Robert von Clairefont der Justiz entrissen, es ist mir gelungen, seine Freisprechung zu erwirken. Aber der Flecken, der seine Ehre besudelt, ist noch nicht völlig getilgt ... Ich konnte den wahren Schuldigen nicht angeben ... Hilf mir, Vater, dies letzte Ziel zu erreichen ... und ich will dafür manche böse Erinnerungen aus meinem Gedächtnisse streichen ...«

Der Alte antwortete nicht, er schien zu vergessen, daß er nicht allein war.

»Dieselbe Natur,« flüsterte er, »dasselbe Feuer, dieselbe Leidenschaft, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht, wie ich, durch die Rache bewegt wird ... Er opfert sich für seine Liebe, wie ich mich für meinen Haß geopfert habe ... Was würde es helfen, ihm Hindernisse in den Weg zu legen; er wird sie ja doch alle umstürzen! ...« Plötzlich, aus seinem Nachdenken auffahrend, sprach er: »Ich kann dir nicht sagen, was du zu wissen begehrst ... Ich weiß es selbst nicht ... Nur das eine steht fest, daß Chassevent es nicht mehr wagt, nachts im Thale von Clairefont Schlingen zu legen, und Pourtois, der dort wohnt, nur noch ein Schatten gegen früher ist ... Der Steinbruch besitzt ein Geheimnis ... Dort mußt du nachforschen ...«

»Ich danke dir, das werde ich thun.«

Carvanan stand auf. »Du wirst nicht fortgehen, ohne mich aufgesucht zu haben.«

»Nein, Vater!«

»Gut.«

Sie drückten einander die Hände, dann entfernte sich der Maire. Gegen drei Uhr kam Robert, um Pascal abzuholen. Man wäre im Schlosse sehr erstaunt, daß er sich noch nicht habe blicken lassen, ja Tante Isabella sei ganz aufgebracht.

»Ich habe mich mit Ihren Angelegenheiten beschäftigt; Fräulein von Saint-Maurice wird mir wohl verzeihen,« versetzte der junge Mann.

Es war ein wunderschöner Herbstnachmittag, als sie nach Clairefont aufbrachen. Die Buchen im Parke hatten schon die rotbraune Färbung angenommen, welche das Grün der Tannen noch dunkler erscheinen läßt. Die Luft war mild, und hoch oben am sonnigen Firmament strichen jubilierende Lerchen hin. Die jungen Männer schlugen denselben Fußpfad ein, auf dem Pascal Chassevents Kugel pfeifen gehört. Im Vorübergehen zeigte er seinem Freunde den geknickten Ast der Birke.

»Welch ein Glück, daß der Schurke nicht mit Rehposten schoß,« sagte der Graf ... »sonst würde er Sie sicher getötet haben ... Und was wäre dann aus mir geworden?«

Etwa hundert Meter von der Stelle entfernt blieb Robert stehen, zeigte auf einen in dem dichten Moosgrunde eingetretenen Pfad und sagte: »Sehen Sie! Hier scheint gegenwärtig zur Nachtzeit Hochwild herzukommen ...«

Pascal bückte sich und suchte in dem mergelhaltigen Boden des Pfades die Spur eines Tierfußes zu entdecken. Aber er fand nur breite und halbverwischte Spuren.

»Suchen Sie nicht! Sehen Sie, wie nur die hohen Zweige geknickt sind ... Das sind gewiß Hirsche gewesen ... Wenn Sie Lust haben, wollen wir an einem dieser Tage ein Wörtchen mit ihnen reden ...«

Pascal gab keine Antwort; er dachte nach. Schweigend kamen sie im Schlosse an, betraten den Salon, den sie leer fanden, und begaben sich dann auf die Terrasse hinab. Unter einer der Lauben war die ganze Familie versammelt.

In einem großen Sessel von Korbgeflecht dehnte sich der Marquis behaglich, während Antoinette ihm die Zeitung vorlas. Tante Isabella arbeitete, röter als je, an ihrer ewigen Stickerei. Zum erstenmal seit langer Zeit hatten die Bewohner von Clairefont ihr süßes Stillleben wieder aufgenommen. Sie flohen einander nicht mehr, um sich gegenseitig ihre Angst und ihre Thränen zu verbergen, jetzt gab es nur heitere Gesichter. Fox war der erste, der durch sein fröhliches Bellen die Ankunft der beiden Männer meldete.

»Ah, endlich! Mein lieber Exilgenosse!« rief Fräulein von Saint-Maurice. Sie legte ihre Hände auf die Schultern des jungen Advokaten und küßte ihn auf beide Wangen ...

»Ach, mein liebes Kind, heute, nicht wahr? ... heute haben wir eine Last weniger auf dem Herzen! ...«

Pascal verbeugte sich ceremoniös vor Fräulein von Clairefont, dann suchte er Croix-Mesnil mit den Augen, sah ihn aber nicht. Der Baron war am Morgen nach Evreux zurückgereist. Der Marquis dankte in äußerst liebenswürdigen Worten dem Verteidiger seines Sohnes. Seit drei Wochen hatte seine Genesung rasche Fortschritte gemacht. Er war wieder im Vollbesitze seiner Geisteskräfte, aber von dem heftigen Anfalle war ihm noch eine unüberwindliche Mattigkeit zurückgeblieben. Er beschäftigte sich nicht mehr mit seinen Erfindungen, und das Laboratorium blieb leer. Er selbst erklärte Pascal diese eigentümliche Veränderung, welche er heiter in die Worte zusammenfaßte: »Ich will überhaupt nicht mehr arbeiten, ich glaube, das ist das beste Mittel, meine Verhältnisse zu ordnen.«

Dann nahm er den Arm des jungen Mannes und ging langsam auf der Terrasse mit ihm spazieren.

»Wir haben noch geschäftliche Fragen miteinander zu besprechen, ich weiß es,« begann er nach einer Weile, »aber ich will Sie nicht damit beleidigen, daß ich Ihnen von Geld rede ... Malézeau ist ja da, um das alles zu ordnen ...«

»Ich werde ihm gewissenhaft darin beistehen, Herr Marquis, wenn Sie mich gütigst dazu autorisieren wollen ... Ich habe allen Grund zu glauben, daß Ihnen aus der Ausnutzung des Steinbruches ein bedeutender Gewinn erwachsen würde. Ein thatkräftiger Direktor wird die Sache instand setzen ... Ich mache mich anheischig, einen Ingenieur zu finden, der sich dem Unternehmen mit Eifer widmen wird.«

Während der Marquis ihm zuhörte, sah er ihn verstohlen von der Seite an. Der junge Mann entwickelte seine Ansichten mit einer praktischen Klarheit, die Herrn von Clairefont in Erstaunen setzte. Als er, vom Gehen müde, sich wieder zu Tante Isabella und Antoinette gesellte, benutzte er einen Augenblick, während Pascal und Robert sich entfernt hatten, um den Damen zu sagen: »Ich habe mit Herrn Pascal über Industrie gesprochen ... Er hat mich in Erstaunen gesetzt ... Er scheint in der That ein bedeutender Mensch zu sein ...«

»Sie glauben wohl, mir damit etwas Neues zu sagen?« rief die Tante von Saint-Maurice ungestüm aus. »Ich kenne ihn, denn ich habe mit ihm gelebt, wie eine Mutter mit ihrem Sohne ... Ja, er ist ein Adler ... Und da thun Sie so, als hätten Sie ihn entdeckt!«

Antoinette hatte sich tief über ihre Stickerei gebeugt und sprach kein Wort, aber ihre Finger zitterten eigentümlich, wenn sie die Nadel auszogen. Pascal blieb zum Diner, zeigte sich jedoch sehr zurückhaltend und nahm gegen zehn Uhr Abschied. Robert bot ihm seine Begleitung bis zum Parkpförtchen an, und als er sich von seiner Tante empfahl, fragte ihn diese: »Was hat Pascal nur heute? Er ist kalt! ... Man muß ihm die Worte ja förmlich mit Gewalt aus dem Munde ziehen, nicht wahr, Antoinette?«

»Ich habe nicht darauf geachtet, Tante ...«

»Ach du siehst auch gar nichts.«

Die Nacht war ungewöhnlich dunkel, und Robert verlangte von dem Diener eine Laterne. Der alte Germain meinte hierauf mit besorgter Miene: »Wenn der Herr Graf es erlauben, möchte ich ihn begleiten ... Es ist nicht ratsam, bei Nacht da draußen spazierenzugehen ...«

»Weshalb?« fragte Pascal.

»Nichts für ungut, aber seit dem Unglücke sind die Eingänge in den Steinbruch wie verhext ... Des Nachts gehen dort Dinge um, die man lieber nicht sieht ...«

»Warum nicht gar, du alter Thor!« lachte Robert ... »Das sind Geschichten, die irgend ein Hasenfuß oder ein Trunkenbold verbreitet hat ... Aber sei ruhig ... Ich schrecke vor keiner Begegnung zurück ...«

Damit nahm er die Laterne und ging mit Pascal fort. Sie schritten die abschüssigen Parkwege bis zum Seitenpförtchen hinab. Dort angelangt, zog der Graf den Riegel zurück und wollte noch weiter mitgehen, aber sein Gefährte hielt ihn zurück.

»Hier ist die Chaussee, und auf der kann ich ohne Gefahr mit geschlossenen Augen gehen.«

Robert erhob noch freundschaftlichen Einspruch, kehrte jedoch auf Pascals Wunsch um, und der junge Mann sah sich allein. Statt jedoch den Weg in der Richtung von Neuville zu verfolgen, schlug er den nach Pourtois' Schenke ein. Das Haus lag verschlossen und still da; nur durch die Thürspalte drang ein matter Lichtschimmer heraus.

Pascal wendete sich jetzt dem Pfade zu, der nach dem Steinbruch führte, und schritt, so geräuschlos als möglich auftretend, in der Richtung von Couvrechamps weiter. Er blickte aufmerksam umher, denn er hatte keine andere Waffe bei sich, als seinen starken, eisenbeschlagenen Stock. Sein Herz schlug jedoch nicht schneller als sonst, er kannte keine Furcht und war an nächtliche Wanderungen durch Wälder und Ebenen gewöhnt. Jetzt blieb er stehen, da er die eingetretene Fußspur wiedererkannt hatte, welche Robert aufgefallen war. Etwa fünfzehn Schritte davon bemerkte er in dem Heidekraut am Rande des Pfades einen riesigen Wachholderbaum; er wählte denselben zum Beobachtungsposten, und sich an den dicken Stamm lehnend, dessen tiefer Schatten ihn unsichtbar machte, wartete er. Am Himmel funkelten die Sterne, und der Mond tauchte eben wie eine glühende Scheibe über dem Dickicht von Soucelles auf. Eine seltsame Bewegung, die Stille des friedlichen Thales unterbrechend, machte sich ringsum bemerkbar. Pflanzen öffneten ihre Kelche, um die nächtliche Frische einzusaugen, Tiere glitten leicht durch die Zweige; das Leben der Nacht beseelte die Finsternis.

Pascal gedachte des Abends, den er eben auf dem Schlosse zugebracht hatte. Nicht ein einziges Mal hatte Antoinette das Wort an ihn gerichtet. Sie hatte sich ihm wieder von der Seite gezeigt, die er von früher, vor dem der Familie geleisteten Dienste an ihr kannte –kalt und stolz. In dem Augenblicke, als er ihr Vertrauen und ihre Freundschaft errungen zu haben glaubte, wendete sie sich wieder gleichgültig von ihm ab. Hatte sie denn kein Herz? Und doch hatte er sie bei der Schwurgerichtsverhandlung weinen sehen, während er sprach. In jener kurzen Spanne Zeit hatte er sie beherrscht, sie sich zu eigen gemacht, war er als unumschränkter Gebieter in diese rebellische Seele eingezogen.

Aber dieser Eindruck mußte wohl nur ein flüchtiger gewesen sein, da er schon wieder aus dem eroberten Terrain verjagt worden war. Ach! Welche Freude hätte ihm ein Wort glücklicher Dankbarkeit bereitet! In dem Nichts seiner hoffnungslosen Liebe wäre ihm ein kleiner Freundschaftsbeweis ein Trost gewesen, und die Erinnerung daran würde in seinem verzweifelten Herzen wie eine unter Ruinen emporsprossende Blume erblüht sein.

Die Turmuhr von Clairefont, die eben zwölf schlug, gab dem Gedankengange Pascals eine andere Richtung. Der Mond stand jetzt hoch am Himmel und erhellte das Thal mit seinem Silberlichte. Der junge Mann dachte: »Wie lange werde ich wohl noch hier auf meinem Posten stehen müssen? Ich komme mir vor wie Horatio, der dem Geiste des verstorbenen Königs auf der Schloßterrasse von Helsingör nachspürt. Wen werde ich zu sehen bekommen, falls mein Vater mich nicht hintergangen hat? Und wenn jemand erscheinen sollte, wird er gerade hier bei mir vorübergehen?« Eine innere Ahnung sagte ihm jedoch, daß sein Posten gut gewählt sei. Er blieb daher hartnäckig stehen. Die luftigen Sprünge zweier Hasen, die mitten auf dem Pfade spielten, zerstreuten ihn, und auf den Höhen von Clairefont hörte er das Kläffen eines umherstreifenden Fuchses, der seinem im Baue befindlichen Weibchen seine Ankunft anzeigte.

Als es gegen ein Uhr ging, fing er doch an, die Geduld zu verlieren; schon wollte er sich entfernen und in der folgenden Nacht noch einmal sein Glück versuchen, als die beiden Hasen, nachdem sie ihre Löffel lauschend emporgerichtet hatten, hastig ins Gebüsch zurücksprangen. Von der Höhe her ließen sich Schritte vernehmen. Pascal zitterte vor Erregung, preßte die Zähne aufeinander und nahm seinen kräftigen Stock fester in die Hand. Das Geräusch kam näher, regelmäßig lauter werdend, wie wenn jemand ohne die geringste Vorsicht einherschreitet. Dann fiel ein Schatten auf den hell vom Monde beleuchteten Weg, und Pascal erkannte den Schäfer, mit bloßem Kopfe und in unordentlicher Kleidung. Er schritt mit offenen Augen daher, die aber starr blickten und nichts zu sehen schienen; auch sein Gang war steif und automatenhaft, als ob eine fremde Gewalt, gegen die er machtlos war, ihn mit sich fortzöge. Er ging an Pascal vorüber und betrat die schmale, eingetretene Rinne. Sofort schickte sich der junge Mann an, ihm zu folgen, aber der Schäfer schien ihn nicht zu hören; er ging immer geradeaus wie eine Maschine, ohne Bedenken, ohne anzuhalten. Am Rande der Schlucht, in der Rose von ihrem Vater und Pourtois als Leiche gefunden worden war, blieb er stehen. Sein Gesicht nahm den Ausdruck höchster Verzweiflung an; er rang die Hände, stieß entsetzliche Seufzer aus und setzte dann seinen Weg in der Richtung von Couvrechamps fort. Pascal ging immer hinter ihm her, bis sie zum Friedhof gelangten. Mit einem Sprunge setzte der Blödsinnige über die niedrige Mauer und schritt gerade auf ein Grab zu, das von einem einfachen Holzkreuz überragt wurde. Er warf sich auf den Stein, küßte denselben leidenschaftlich und murmelte mit flehender Stimme: »Rose, verzeihe mir, o Rose!« In der Einsamkeit dieses düsteren Ortes bot es ein grauenerregendes, erschütterndes Bild, den Wahnsinnigen zu sehen, der schluchzend und mit Seufzern der Liebe die Tote rief.

Lange wälzte sich der Rotkopf auf dem Boden, dann stand er auf und ging davon, wie er gekommen war. Pascal blieb gedankenvoll, an die Mauer gelehnt, stehen. Der Schleier, welcher die Wahrheit verhüllt hatte, riß plötzlich entzwei. Deutlich sah er die Mordscene vor sich. Daß er nicht von selbst darauf gekommen war! Er erinnerte sich daran, wie der Schäfer Rose mit seinen gefährlichen Lustigkeitsanfällen gequält hatte. In diesem der Vernunft beraubten Wesen war eine sinnliche Leidenschaft aufgeflammt, und in seiner Liebesraserei hatte er Rose als seine Beute fortgeschleppt, war aber sodann durch das unerwartete Erscheinen Chassevents und Pourtois' zur Flucht genötigt worden. Die Gewalt, mit der er sie an sich gedrückt, war aber tödlich gewesen, und so hatte er die Aermste, die er bloß am Schreien verhindern wollte, gemordet. Und jetzt verbrachte er seine Tage damit, an sie zu denken, und seine Nächte, sie zu suchen, sie zu rufen. Auf diese Art verriet er sich selbst und lieferte die Beweise für sein Verbrechen. Es genügte, ihn seufzend durch das Heidekraut gehen und in entsetzlichen Zuckungen auf der Grabplatte sich winden zu sehen, um jeden Zweifel, daß er der Mörder sei, schwinden zu machen. Aber würde er morgen sich ebenso zeigen, wie heute? Widmete er jede Nacht dieser schrecklichen Pilgerfahrt?

Noch zweimal kehrte Pascal um dieselbe Zeit an diesen Ort zurück, und zweimal wohnte er derselben Szene bei. Der Idiot erschien, schritt über die Heide, blieb an der Schlucht stehen und ging sodann nach dem Friedhofe. Er folgte in seinem schrecklichen Traume immer denselben Etappen. Ohne zu irgend jemand von seiner Entdeckung zu sprechen, begab sich Pascal zu dem Polizeikommissär Jousselin, bat ihn, mit ihm zum Staatsanwalt zu gehen, und erzählte dort, was er gesehen hatte. Hierauf bat er beide Beamte, ihn in dieser Nacht zu begleiten, um den Fall selbst in Augenschein zu nehmen.

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung,« sagte der Staatsanwalt, auf den Pascals Erzählung einen tiefen Eindruck gemacht hatte. »Ich werde alle notwendigen Maßregeln treffen, um unsere Expedition mit Erfolg durchzuführen ... Mithin war Herr von Clairefont also doch das Opfer eines beklagenswerten juridischen Irrtums! Wir glaubten bisher, Sie hätten uns einen Schuldigen zu entreißen verstanden,« fügte er lächelnd hinzu, »und wir bewunderten Ihre Beredsamkeit... Aber wenn Ihr Klient unschuldig ist, müssen wir Ihnen eine öffentliche Danksagung aussprechen ... denn in Frankreich meint es die Obrigkeit aufrichtig und trachtet nur danach, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«

»Wenn Sie also bereit sind,« versetzte Pascal, »wollen wir uns heute abend um elf Uhr am Parkpförtchen von Clairefont treffen ... Herr Jousselin wird seine Leute in der Kirche postieren und sich selbst auf dem Friedhofe verstecken ... Ich bin zwar überzeugt, daß der Schäfer in dem Zustande, in dem er sich befindet, weder hört noch sieht, aber es ist doch sicherer, sich zu verbergen... Auf heute, abend also!«

Um fünf Uhr erschien der junge Mann zu einem unerwarteten Besuche im Schlosse. Tante Isabella und Robert empfingen ihn mit Freudenrufen; der Marquis begrüßte ihn liebenswürdig, wie gewöhnlich: Antoinette zeigte sich ernst, ja etwas düster. Mit dem jungen Mädchen war in letzter Zeit eine Veränderung vorgegangen. Sie, die früher die Freude des Hauses gewesen, blieb jetzt stundenlang still und in sich gekehrt. Wenn Tante Isabella ihre Schulter berührte, zitterte sie und schien aus dem Reiche der Träume auf die Erde zurückzukehren. Sie war sanft und gut wie immer, aber befangen, und wie von einer innern Erregung gequält. Croix-Mesnil, dem es geglückt war, einen Urlaub von acht Tagen zu erhalten, befand sich im Schlosse und machte dem jungen Mädchen angelegentlich den Hof. Er begleitete sie auf ihren Spaziergängen und bemühte sich, sie zum Plaudern anzuregen. Vorzugsweise sprach er von dem Prozesse, und dabei kam er unmerklich auf Pascal und erging sich in übertriebenen Lobeserhebungen, wie jemand, der gern einen Widerspruch hervorrufen möchte und glücklich wäre, wenn ihm das gelänge. Dann sah ihn Antoinette mit eigentümlichem Ausdruck an und lenkte die Unterhaltung rasch auf ein anderes Gebiet.

An diesem Tage wendete sich Fräulein von Clairefont, als sie Pascal kommen sah, zu dem Baron in merkwürdig scharfem Tone: »Sehen Sie! Da kommt Ihr Freund!...«

Der Baron wechselte die Farbe, erwiderte aber mit großer Ruhe: »Ich widerspreche nicht... Ich liebe alle, die Ihnen ergeben sind...«

Antoinette erhob den Kopf, sah den jungen Mann durchdringend an und sagte lebhaft: »Wenn das Ihre aufrichtige Meinung wäre, müßten Sie der kälteste oder der großmütigste aller Menschen sein.«

Sie schritt Pascal entgegen, und dadurch entging ihr die Wolke, welche die Stirn ihres ehemaligen Verlobten umdüsterte. Wahrend des Essens und auch den ganzen Abend war Pascal ungewöhnlich heiter; er, der sich gewöhnlich ernst und zurückhaltend benahm, gab sich ganz dem freudigen Aufschwünge feiner Seele hin und fesselte seine Zuhörer durch seine bezaubernde, geistvolle Unterhaltung. Es war ein anderer Pascal, wie man ihn bisher noch nicht gekannt, der aber ungemein gefiel. Tante Isabella berauschte sich an den Worten ihres Lieblings und strahlte, zwischen ihm und Robert sitzend, förmlich. »Ach, der Junge da hat mich vollständig ›verhexelt‹,« sagte sie.

Um halb elf Uhr schickte sich Pascal trotz der dringenden Bitten des alten Fräuleins zum Fortgehen an und forderte Robert auf, ihn zu begleiten. »Aber diesmal ohne Laterne, wenn ich bitten darf. Wenn wir einen Fehltritt thun, um so schlimmer, dann werden wir wieder aufzustehen haben.«

Die beiden Freunde entfernten sich durch den Park. Sie erreichten das Pförtchen, öffneten es und traten auf die Straße hinaus. Aus dem Schatten der Mauer löste sich eine dunkle Gestalt los, und eine Stimme fragte: »Sind Sie es, Herr Carvayan?«

»Ja, Herr Staatsanwalt, und Herr von Clairefont begleitet mich.«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Robert, von plötzlicher Unruhe ergriffen.

»Ihre vollständige Rechtfertigung, Herr Graf,« versetzte der Beamte... »Glauben Sie mir, es wird mich glücklich machen, diese verkünden zu können.«

»Aber jetzt kein Wort weiter!« rief Pascal.

Den beiden Männern voranschreitend, schlug er schweigend den Pfad ein, der zum Steinbruch führte.

Seit zwei Stunden befand sich Jousselin auf dem Friedhofe von Clairefont hinter einer Weide auf dem Anstande. Einen Polizisten hatte er an die Ecke der Mauer postiert, die den Weg von Couvrechamps beherrschte, zwei andere warteten in der Kirche.

Alles war still in der Ebene wie im Walde. Der Vollmond zog weiße Reflexe aus dem mit Schiefer gedeckten Turm der kleinen Kirche, und die Nacht war so hell, daß man die Grabinschriften hätte lesen können. Der Kommissär, welchen die Kälte durchschauerte, denn es fing schon an Reif zu fallen, wagte nicht, sich zu rühren, und wartete geduldig und doch in gewisser Unruhe. Wie, wenn der Schäfer nicht kam? Roberts Sache hatte dem braven Manne schon seit dem Tage der Konfrontation am Herzen gelegen. Er wäre glücklich gewesen, wenn die letzten Zweifel, welche eigensinnige Menschen noch gegen die Unschuld des Grafen hegten, hätten behoben werden können. Es war schon zwei Uhr morgens, als das verabredete Signal, welches die Annäherung eines Menschen melden sollte –ein leises Pfeifen des Polizisten –sich hören ließ.

Bald darauf vernahm er auch das Geräusch von Schritten auf dem harten Boden, und der Rotkopf erschien im hellen Mondlichte. Seine Augen waren weit geöffnet, doch sein Blick schien nach Innen gekehrt. Er schlich sich in den Friedhof hinein, und in ernster, steifer Haltung zwischen den Gräberreihen hinwandelnd, hielt er, wie jede Nacht, an dem Grabe der armen Rose still, um in leisen klagenden Tönen nach ihr zu rufen. Durch das offen gebliebene Gitterthor traten Pascal, der Beamte und Robert ein. Sie waren dem Blödsinnigen, den Gewissensbisse vorwärts trieben, durch das ganze Thal nachgefolgt, und schweigend, starr vor Schreck standen sie nun an dem schauerlichen Ziele dieses nächtlichen Spazierganges. Hingesunken auf die Steinplatte, jammerte und wehklagte der Rotkopf, und Thränen entströmten seinen seltsam weit geöffneten Augen. Er murmelte: »Rose, o Rose, verzeihe mir,« und unter seiner krampfhaften Umarmung lockerte sich das hölzerne Kreuz und stürzte ins Gras nieder. Die Anwesenden hatten sich leise genähert und umringten ihn schon, ohne daß er es merkte; in seiner leidenschaftlichen Raserei fuhr er fort, wahnsinnige Schreie auszustoßen. Auf ein Zeichen des Staatsanwaltes legte Jousselin die Hand auf die Schulter des Unglücklichen. Bei dieser Berührung erhob der Blödsinnige den Kopf, richtete sich auf den Knien in die Höhe und rieb sich die Augen, wie ein aus dem Schlafe Erwachender. Dann warf er einen entsetzten Blick umher, seine Züge verzerrten sich, ein Heulen entfuhr seinen Lippen, und mit einem Satze an dem Polizeikommissär vorüberspringend, stürzte er zu der Mauer hin. Doch auf derselben sah er einen Polizisten, der von dort aus den Vorgang beobachtete. Er rannte weiter, rings um den ganzen Friedhof, erreichte das Gitter, fand es verschlossen und stampfte wild mit den Füßen, wie ein umstelltes Wild; da gewahrte er die offen gebliebene Thür der Kirche, und im Nu verschwand er in dem Inneren derselben.

»Hierher! Hierher!« schrie Jousselin seinen Leuten zu. »Er entkommt uns! ...«

Das Geräusch eines Kampfes, ein dumpfes Röcheln ertönte, dann trat ein Polizist heraus und sagte: »Er klettert in den Turm hinauf!«

Beim Scheine des Mondlichtes gewahrte man alsbald den Blödsinnigen in einem Spitzbogen des Turmes, und im Inneren wurden die Schritte des ihn verfolgenden Polizisten hörbar. Der Rotkopf klomm die Stufen empor, die zu der Glockenstube führten. Seine phantastische Gestalt richtete sich hoch empor mit schreckensbleichem, grinsendem Gesichte und gesträubtem Haar. Der Schäfer sah zum Turmgiebel empor, dann schwang er sich mit affenartiger Geschicklichkeit an dem Gebälke hinan. Einen Augenblick hielt er sich auf einem schmalen Kranzgesimse aufrecht, dann schien ihn ein Schwindel zu erfassen, er schwankte, wie von der Leere angezogen, stieß ein furchtbares Gelächter aus, und das Gleichgewicht verlierend, stürzte er hinab. Robert, Pascal und der Beamte hatten kaum Zeit zum Ausweichen. Der Körper des Rotkopfes, im Fallen sich überschlagend, beschrieb einen grauenhaften Bogen und fiel mit dumpfem Geräusche gerade auf Roses Grab nieder, mit seinem Blute den Stein benetzend, der noch feucht von seinen Thränen war.


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