Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Wie Tante Isabella vorausgesetzt, war es ihr unmöglich gewesen, ihrem Benjamin nicht zu folgen. Nachdem sie einen ganzen Abend damit verbracht hatte, in unterdrückter Wut die Hände zu ballen, und eine Nacht, in der sie nahe daran war, wahnsinnig zu werden, hatte sich das alte Fräulein auf die Reise begeben. Antoinette war nun mit ihrem Vater allein und mußte, um die Abwesenheit ihres Bruders und ihrer Tante zu erklären, eine ganze Geschichte erfinden.

Die Tante habe Unannehmlichkeiten mit ihrem Pächter gehabt und sei daher auf einige Tage mit Robert verreist. Auf einige Tage! Der Marquis hatte das herzzerreißende Lächeln nicht bemerkt, welches bei dieser Lüge um Antoinettes Lippen gezuckt hatte. Er war nicht anspruchsvoll, der gute Honoré, und wenn man ihn bei seinen Erfindungen in Ruhe ließ, ließ er alles andere gern zu Recht bestehen. Außerdem war er sich stets selbst genug. Er hatte sich mit doppelter Leidenschaft in das Studium des neuen, von ihm erfundenen Heizverfahrens vertieft. Die Vervollkommnung war die schwache Seite des Marquis. Eine Erfindung war für ihn nur so lange interessant, als sie ihm rätselhaft schien, war sie aber einmal gemacht, so hörte sie auf, ihm zu gefallen und sein unruhiger Geist machte sich sofort daran, nach einem anderen Resultat zu forschen. Selten blieb er bei dem stehen, was er erreicht hatte, immer wollte er das Beste, dieser Zerstörer des Guten.

So war es ihm gelungen, die besten Geschäfte unergiebig und den Steinbruch, diese Goldmine, die ein kluger und ehrlicher Geschäftsmann so verwaltet haben würde, daß sie ihren Herrn und das ganze Land bereichert hätte, unproduktiv zu machen. Seit drei Tagen sprach er, selbst bei Tische, kein Wort. Er saß ganz in sich selbst versunken, starren Auges und wie geistesabwesend da. Robert pflegte, wenn er den Alten so sah, scherzend zu sagen: »Ah, Papa ist wieder in sein Laboratorium hinaufgegangen.«

Der Marquis hörte derlei Bemerkungen gar nicht; er träumte weiter, bemüht, seine Hirngespinste zu verwirklichen. Wie viel Millionen Meilen hatte er, auf seinem phantastischen Steckenpferde ins Blaue hineinreitend, schon zurückgelegt, um schließlich doch nur auf Unmöglichkeiten zu stoßen! Dabei hatte er manchmal plötzliche Freudenausbrüche, rieb sich kräftig die Hände und rief mit strahlendem Gesichte aus: »Oh! diesmal hab' ich es gewiß!«

Und ohne vorhergehende Erklärungen, zu seiner eigenen Befriedigung, begann er eine kurze Dissertation über das Verfahren, das er anwenden wollte. Seine Zuhörer sagten regelmäßig ja, wenn er sie durch: »Hm? Nicht wahr? Was sagt ihr dazu? Ah, ah!« zur Zustimmung aufforderte: sie konnten seine Ausrufe nicht mit Stillschweigen übergehen, wenn sie dem Greise die grausame Herzbeklemmung des Zweifels ersparen wollten.

Jetzt segnete Antoinette die verhängnisvolle Manie, die ihren Vater glücklicherweise so vollständig beschäftigte. Er schien die Abwesenheit der Tante von Saint-Maurice, die zum erstenmal seit dreißig Jahren nicht an der Familientafel speiste, gar nicht zu bemerken. Bei Robert fiel ihm das erst recht nicht auf, da derselbe häufig längere Jagdausflüge zu unternehmen pflegte.

Nach dem Essen, welches rasch und schweigsam verlief, befanden sich der Marquis und seine Tochter allein in dem großen Saale, der, nur durch zwei Lampen erhellt, fast schwarz aussah. Im Laufe des Abends hatte sich ein heftiger Wind erhoben, dessen Stöße die Jahrhunderte alten hochstämmigen Bäume des Parkes erschütterten und düster in den hohen Schornsteinen des Schlosses heulten. Das junge Mädchen lauschte auf diese klagenden Töne und fragte sich, ob das nicht die Seelen der verstorbenen Clairefonts wären, die, in der Nacht umgehend, über das Unglück ihrer Familie jammerten.

Dann folgten ihre Gedanken dem Bruder; sie sah ihn in einer dunklen, kahlen Zelle, einsam wartend, daß man über sein Schicksal entscheide. Wo war Tante Isabella? Was hatte sie thun können? Es war gewiß nicht leicht, Einlaß ins Gefängnis zu erhalten: vielleicht durfte sie Robert nicht einmal sehen. Dann würde sie, wie ein alter treuer Hund, den sein Herr vor der Thür gelassen hat, die Mauern anschauen und sich glücklich in dem Gedanken fühlen: »Er ist da, das geliebte Kind; ich atme dieselbe Luft, wie er ... nur diese Steine trennen mich von ihm...« Ach, was war das für ein trauriger Abend! Wie langsam und dumpf klangen die Stundenschläge! Allein, ohne Freunde, ohne Ratgeber, nur in Gesellschaft dieses Greises, der in seinem Sessel lehnte und ganz seiner Tollheit hingegeben, den Kopf hin und her wiegte, während das Unglück das Haus belagerte und unbeugsam, furchtbar durch alle Breschen eindrang. Ach, was waren das für trostlose Gedanken, für mühsam zurückgedrängte Thränen!

»Ah! Ah!« sagte der Marquis mit einem Lachen, bei welchem es Antoinette kalt überlief: »diesmal hab' ich es ganz sicher! Siehst du, mein Kind, der Rost oben in meinem Ofen hat eine ebene Oberfläche und seine Lage ist noch nicht die richtige. Dies ist die Ursache, daß der Bodensatz liegen bleibt, wodurch der Luftzug gehemmt wird. Der Rost muß nach einwärts gebogen sein; dann gleitet das Brennmaterial senkrecht hinab, und die Hitze ist eine gleichmäßige. Nun! Ist das nicht sehr einfach? Was sagst du dazu?«

»Das ist ausgezeichnet, Papa!«

»Du sagst: ›Das ist ausgezeichnet in recht gleichgültigem Tone. Weißt du, wir wollen, statt hier im Salon zu bleiben, wo mir zwei uns verlieren, zu mir hinauf gehen ... Ich werde dir mein Modell zeigen, und du wirst die Vervollkommnung mit Händen greifen können ... Ich sage dir, Mädchen, darin steckt ein Vermögen, ja, darin steckt ein Vermögen!«

Sich der Laune des Greises fügend, nahm Antoinette eine Lampe, und beide begaben sich in den ersten Stock des Turmes.

In dem geräumigen Saale, dessen Spitzbogendecke von fein gerippten Steinsäulen getragen wurde, hatte sich der Marquis gleichzeitig eine Bibliothek, ein Arbeitskabinett und ein Laboratorium angelegt. Die ganze auf den Park hinausgehende Seite war von Büchergestellen eingenommen, auf denen zahllose, mit Staub bedeckte Bücher in Reihen geordnet standen; eine bewegliche Treppe, die längs der Wand hinlief, setzte den Gelehrten instand, das Werk, das er brauchte, selbst herabzuholen. Ein wundervoller Schreibtisch, mit Papierstößen beladen, stand vor dem großen Bogenfenster mit farbigen Scheiben, und neben einer Säule erhob sich ein Zeichentisch auf drehbarem Gestell, der mit Plänen und Rissen bedeckt war. Ein dicker Teppich bedeckte die Granitfliesen dieses Teiles des Turmes, der behaglich mit tiefen, zum Nachdenken oder, wie Robert sagte, zum Schlummer einladenden Lehnsesseln ausgestattet war.

Die andere, auf den großen Schloßhof hinausgehende Seite war zum Laboratorium eingerichtet. Neben einem riesigen Ziegelofen mit großem Mantel, über welchem man einen mit einer Kette geschlossenen Blasebalg, ähnlich dem eines Eisenhammers, sah, befand sich ein kleiner Schmelzofen, überragt von einem Rohre, das sich in dem großen Schornstein verlor. Das war der berühmte Brennofen des Marquis. Auf den Tischen standen unzählige Retorten und Phiolen und in einer Ecke lag neben einem großen Steingefäß, in welchem das Wasser frei ab- und zufloß, ein Kühlrohr mit gewundenem Kupferhalse. In diesem Pandämonion, wo all die unseligen Ideen entstanden waren, die im Laufe von dreißig Jahren den Ruin des Hauses herbeigeführt hatten, fühlte sich der Marquis vollkommen glücklich.

Er stieß einen Seufzer der Befriedigung aus, und sah seine Tochter mit verdoppelter Zärtlichkeit an.

»Du bist lange nicht hierhergekommen, mein Liebling,« sagte er ... »Du siehst, ich habe da viel Zeichnungen, die nach deiner sorgfältigen Hand verlangen. Da wir jetzt einige Tage eine Junggesellenwirtschaft führen, solltest du dich hier bei mir installieren ... Du wirst sehen, was für schöne Tage wir hier verbringen werden!«

Und das alte Kind lächelte, ganz von seiner fixen Idee erfüllt.

»Ja, Papa...« versetzte Antoinette leise.

Der Marquis eilte nun entzückt an seinen Brennofen, zog die mit Kohlen gefüllten, auf Rädern laufenden Kästen, welche den ganzen unteren Teil des Ofens einnahmen, heraus und fing an, seinen Apparat mit Zuhilfenahme von vielen Spänen und Papier selbst zu heizen. Er hatte seine Aermel bis zu den Ellbogen aufgestreift und beschmutzte sich fürchterlich. Bald war das Laboratorium so mit Rauch gefüllt, daß die Fenster geöffnet werden mußten. Halb erstickt und immer von Husten unterbrochen, erklärte der Erfinder seinen Apparat, sprach von dessen Mängeln und ging dann zu den zahlreichen Zeichnungen über, auf welchen er deren Verbesserungen angebracht hatte.

»Siehst du, mein Kind ... die feuchten Späne brennen jetzt; nur das Anschüren war schwer ... Der Ofen hat nicht genug Zug, aber mit einem Fabrikschornstein würde es ganz von selbst gehen ... Nasse Späne! Hm! Und welche Hitze! Darin liegt der ganze Wert der Erfindung ... In den Plantagen Amerikas wird man mit den Ueberbleibseln vom Zuckerrohr heizen können! Was sagst du dazu?«

Antoinette sagte nichts. Vom Lichtschimmer angezogen, war eine große Fledermaus ins Laboratorium hineingeflogen, und das schwarze Tier kreiste nun mit ausgespannten Flügeln unheilvoll durch den Raum. Zweimal schon hatte das scheußliche Tier in seinem launenhaften Fluge das junge Mädchen fast berührt, welches wie gebannt die Augen nicht von ihm abzuwenden vermochte. Es schien ihr, als ob es, immer engere Kreise ziehend, größer und immer großer würde. Sein Kopf, der riesenhafte Dimensionen angenommen hatte, zeigte feurige Augen und einen teuflischen Mund, der an Carvayans Gesicht erinnerte. Noch einmal flog es vorbei mit ausgestreckten Fängen und schrecklichem Pfeifen, wie ein Vampir. Entsetzt dachte Antoinette: »Wenn es mich berührt, so bleibt uns keine Hoffnung mehr, dann sind wir unrettbar verloren.«

Dunkle Glut stieg ihr ins Antlitz: sie ergriff den langen Schürhaken, den ihr Vater eben hingelegt hatte, und im Augenblicke, als das abschreckende Tier sich drohend näherte, schlug sie zu. Von dem Eisenstabe getroffen, fiel die Fledermaus auf den Rost des Brennofens, und Antoinette sah, freudig überrascht, wie das Tier in den Flammen verschwand.

Sie atmete auf und dachte: »Es ist unwürdig, sich so niederdrücken zu lassen; man muß kämpfen und womöglich siegen, aber in jedem Falle sich zur Wehre setzen. Könnte es denn möglich sein, daß Leute, wie wir, so tief sinken sollten, daß sie kein Mittel mehr hätten, sich wieder aufzuraffen?«

Aber das Schreckliche ihrer Lage drängte sich ihrem Gemüte von neuem auf, und die Verzweiflung ergriff sie wieder. Ihr Bruder! Wer würde den armen Jungen retten, den man so niederträchtig angeklagt hatte und der von dem gefährlichen Netz der Verleumdungen umsponnen war? Wenn sie auch versuchen konnte, den Schwierigkeiten ihrer pekuniären Lage die Stirn zu bieten, wie sollte sie ihrem teuren Bruder Hilfe bringen? Sie besaß die Unwissenheit der Unschuld. Das Kriminalrecht war nicht für ihr reines Herz geschaffen. Es war für sie ein fürchterliches Rätsel und die Gefahr, von der Robert bedroht war, erschien ihr entsetzlich und unfaßbar.

Eine so düstere tiefe Traurigkeit ergriff sie, als wäre es in ihrem Inneren Nacht geworden. Ihr Vater sprach immer noch, aber sie hörte ihn nicht. Die Worte des Greises fielen ins Leere, wie das Wasser aus dem Hahne, sonor und doch nutzlos, in das Steingefäß tropfte. Die Gedanken des jungen Mädchens drehten sich unaufhörlich um Roberts Schicksal und um die Bezahlung der bald fälligen Wechsel.

Einen Augenblick dachte sie daran, den Marquis in seinen wissenschaftlichen Vergnügungen zu unterbrechen und ihm die Geldfrage, die gelöst werden mußte, offen vorzulegen. Aber ein letzter Rest von Mitleid mit dem alten Kinde, welches sie aus seiner blinden Sorglosigkeit aufrütteln mußte, hinderte sie, die entscheidenden Worte zu sprechen. Sie schwieg in dem Gedanken: »Morgen wird es auch noch Zeit sein, mag er noch diesen einen Abend glücklich sein, diese eine Nacht ruhig verbringen!« Und wie eine Schar von Nachtgespenstern kehrten ihre düsteren Gedanken wieder, ihren Sinn neuerdings in den alten finsteren Kreis bannend.

Um elf Uhr verließen Vater und Tochter das Laboratorium und begaben sich in ihre Gemächer hinab. Der Marquis, der sich glücklich fühlte, daß er zwei Stunden lang seine Ansichten auseinandersetzen gedurft, ohne daß er sich darum bekümmerte, ob ihm auch nur zugehört wurde, küßte Antoinette und verließ sie mit den Worten: »Ich bin wieder ganz heiter geworden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wohl mir deine Gegenwart gethan hat ... Wenn ich dich inmitten meiner Instrumente sehe, bilde ich mir ein, daß alle meine Unternehmungen glücken müssen ... Du wirst wiederkommen, nicht wahr? Du hast ein Interesse daran ... Sie werden uns Reichtum bringen!«

Reichtum! Immer dieses Zauberwort, der Traum jedes Gelehrten, der endlich entdeckte Stein der Weisen! Gold, aus einem Schmelztiegel fließend oder aus einem Apparate hervorsprudelnd! Voller Vertrauen und glücklich ging der Erfinder, den Kopf von diesem Schimmer erfüllt, schlafen.

Antoinette wurde die Nacht sehr lang. Sie lag mit offenen Augen im Dunkeln da und lauschte auf den Orkan, der sich draußen immer mehr entfesselte und das Schloß in seinen Grundfesten erschütterte. Diese heftigen Windstöße, diese brausenden Wirbel erinnerten sie an das Meer, und in ihrer fieberhaften Schlaflosigkeit kam es ihr vor, als befände sie sich auf einem vom Sturme gepeitschten Schiffe. Wütende Stöße pfiffen um die Masten und heulten durch das Takelwerk und ihr wildes Toben, das bald stärker, bald schwächer wurde, ließ das junge Mädchen glauben, das Heben und Senken der Wellen zu fühlen.

Sie befand sich in einer Finsternis, die nur von den zuckenden Blitzen erhellt wurde, die sich von dem tintenfarbenen Ocean scharf abhoben. Das furchtbare Schaukeln der Wellen betäubte sie, und sie litt unendlich. Der Sturm nahm noch immer zu, gellendes Pfeifen tönte in ihre Ohren, und in der Erregung ihrer Phantasie war es ihr, als wäre sie daran, ihren auf einem schmalen und unfruchtbaren Felsen verlassenen Bruder zu befreien.

Sie wendete sich zu dem, der das phantastische Schiff befehligte, und im Scheine der Blitze erkannte sie das Gesicht Pascals. Er sah sie sanft an, als wolle er sagen: »Du weißt ja, daß ich dich anbete; du brauchst nur ein Wort zu sagen, mir nur ein Zeichen zu geben, und ich führe dich zu deinem Bruder, ich werde seine Rettung bewirken. Nichts wird mir zu schwer werden, um in deinen Augen Gnade zu finden; deine Thränen machen mich unglücklich, ich leide unter deinem Kummer. Bleibe nicht eigensinnig bei deinem Stolze, sei vernünftig und gut, dann wird dein Unglück in einem Augenblicke wieder gut gemacht werden.«

Aber sie wendete den Kopf ab und weigerte sich unbeugsam, diese so sanft flehende Bitte zu erhören. Das Schiff entfernte sich in dem Chaos der empörten Wogen, den armen Robert, der laut um Hilfe rief, seinem Schicksale überlassend. Die Nacht wurde noch finsterer, die Wut des Sturmes schrecklicher, und die riesenhaften Wellen, die jetzt blutrot aussahen, wälzten Leichen in ihren Vertiefungen.

Antoinette wollte sich der Gewalt dieses entsetzlichen Alpdrückens entwinden. Sie sagte sich: »Das ist ja nur ein wacher Traum, ich befinde mich in meinem Zimmer, nebenan schläft mein Vater!« Sie befühlte ihr Bettlinnen, um sich davon zu überzeugen; aber immer kam die schreckliche Vision zurück. Sie mußte Licht anzünden, und ganz erschöpft, das Haar von kaltem Schweiß an die Stirn geklebt, wurde sie nun ein wenig ruhiger. Endlich dämmerte das blasse Tageslicht und erlöste sie von dieser Qual.

Der erste Blick durchs Fenster zeigte ihr die Verwüstungen, die der Orkan unter den Baumriesen des Parks und auf den Dächern des Schlosses angerichtet hatte. Die Terrasse war mit Schiefer- und Ziegelstücken besäet, die Alleen mit geknickten Resten bedeckt.

Der Marquis, zu dem sich das junge Mädchen schon früh begab, war frisch wie eine Rose; er hatte, wie ein Kind, friedlich und traumlos geschlafen. Als er um zehn Uhr in sein Arbeitskabinett hinaufstieg, brachte ein Schreiber Malézeaus Antoinette einen Brief, die sich sofort einschloß, um ihn zu lesen. Er enthielt ein von der Tante von Saint-Maurice an demselben Morgen aus Rouen abgesendetes und von einem Expreßboten befördertes Billet, nebst einer unterthänigen Erinnerung des Notars, doch ja nicht den morgigen Verfalltag zu vergessen.

Tante Isabella teilte ihrer Nichte mit, daß sie sich nach ihrer Ankunft um sieben Uhr von einem einflußreichen Freunde gleich zum Oberstaatsanwalt hätte führen lassen, den sie gebeten, ihren Neffen sofort in Freiheit zu setzen. Trotz augenscheinlich besten Willens sei der Beamte doch nicht imstande gewesen, ihre Bitte zu erfüllen. Die Geschichte, welche die Provinzialblätter mit vielen ungenauen Einzelheiten, wie es bei diesen »Canaillen von Journalisten« üblich ist, wiedergegeben hatten, machte in der Stadt ungeheures Aufsehen. Es wäre unmöglich, Robert zu sehen, der sich, wie man ihr gesagt hätte, in Einzelhaft befände.

Sie habe sich im Viertel Saint-Sever bei einem Wagenfabrikanten untergebracht, der ihr ein möbliertes Zimmer vermietet habe, und sie wüßte nun weder aus noch ein. Das alte Fräulein vergaß über all ihren Sorgen nicht die Geschäfte und benachrichtigte ihre Nichte, daß alle auf den Verfalltag bezüglichen Papiere in der Kommode in ihrem Zimmer unter ihren Taschentüchern versteckt wären.

Als Antoinette dies Bittet las, das um fünf Uhr früh in großen Schriftzügen auf grobem Papier und mit ebensoviel orthographischen Fehlern gekritzelt war, als es Worte enthielt, brach sie in Thränen aus. Dies von der armen Tante abgelegte Geständnis der Machtlosigkeit zerstörte die letzten Hoffnungen und machte dem Schwanken des jungen Mädchens ein Ende. Sie entdeckte die herzzerreißende Wirklichkeit und war überzeugt, daß alles verloren sei. Da faßte sie den festen Entschluß, zu thun, was die Lage, in der sie sich befand, ihr gebot, und ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre thränenfeuchten Augen zu trocknen, begab sie sich zu ihrem Vater hinauf.

Vor dem Schreibtische sitzend, schrieb der Erfinder Notizen an den Rand eines Planes. Als er seine Tochter eintreten sah, hielt er inne und rief heiter, das Samtkäppchen, das seinen Kopf bedeckte und ihm das Ansehen eines alten Alchimisten gab, nach hinten schiebend: »Ah, ah! Du fängst an, dich für das, was ich dir gestern zeigte, zu interessieren, da du schon so früh hier bist ... Sei willkommen, mein Kind. Komm, setz dich her, neben mich ...«

Und als Antoinette ihm schweigend gehorchte, rief der Marquis plötzlich: »Aber was sehe ich? Deine Augen sind rot, als ob du Kummer hättest ... Was gibt's denn? Ich verlange, daß du offen zu mir sprichst...«

»Ach, lieber Vater! ... ich bin nicht mehr in der Lage, zu schweigen ... sonst würde ich dir zuliebe, und aller Klugheit zum Trotz, dir diese bösen Sorgen noch erspart haben.«

»Da hat Malézeau wieder einen seiner Streiche gemacht,« unterbrach sie der Marquis verdrießlich ... »Kann er denn seine Angelegenheiten nicht allein erledigen, ohne uns den Kopf damit warm zu machen? ... Ich habe ganz andere und viel ernstere Beschäftigungen ... Die Zeit, die ich um seinetwillen verlieren muß, ist kostbar...«

»Du bist nicht mehr Herr der Zeit, Papa,« sagte Fräulein von Clairefont ... »Du bist an der äußersten Grenze angelangt ... und die Ungeduld deiner Gläubiger ist nicht mehr zu beruhigen...«

Der Marquis machte ein erstauntes und unzufriedenes Gesicht.

»Hat man ihnen denn nicht begreiflich gemacht, daß ich durch meine neue Erfindung nahe daran bin, große Gewinne zu realisieren? Wenn ich mir nicht den Kopf zergrübelt hätte, um noch eine letzte Verbesserung anzubringen, würden meine Patente genommen sein und die Großindustrie wäre meine Schuldnerin ... Du hast es gestern abend gesehen, mein Kind, du kannst es nicht leugnen. Es ist sicher, in die Augen fallend, greifbar ... Und in einigen Tagen ...«

»Du hast nur noch Stunden vor dir ...«

»Wie! Werden diese Käuze wirklich böse? Es scheint mir, als hätten sie in den dreißig Jahren, die sie mich aussaugen, genug an mir verdient ... Sie könnten sich nun auch einmal entgegenkommend zeigen...«

»Aber, Papa, vergißt du denn, daß du jetzt nur noch mit Herrn Carvayan zu rechnen hast? Oder hat dir Herr Malézeau das letzte Mal, als er hier war, nichts gesagt?«

Der Erfinder schlug sich vor die Stirn wie jemand, in dessen Hirn eine fast verlöschte Erinnerung wieder dämmert.

»Ja, mein Kind, ich erinnere mich, daß er mir so etwas gesagt hat ... Aber ich war sehr lebhaft geworden, als ich ihm von meinem Ofen erzählte, der mich schon sehr befriedigte, obwohl die entscheidende Verbesserung noch nicht angebracht war ... Und als er wieder fort war, habe ich an die elende Geschichte nicht mehr gedacht ... So ist es also jetzt Carvayan? ... Ja, ja ... Und was will er?«

»Das Geld, das du ihm schuldig bist, Papa.«

»Das ist ganz in der Ordnung, hat er seine Forderung präsentiert?«

»Präsentiert, protestiert, eingeklagt, kurz alle Formalitäten beobachtet, die einer Beschlagnahme vorhergehen ...«

»Beschlagnahme?«

»Und Expropriation! Ja, Papa, das ist das einzige, was noch zu thun bleibt.«

»Aber, mein Kind, es scheint mir, als habe man sich da mit großer Nachlässigkeit unnötige Kosten gemacht ... Warum hat man ihn denn nicht gleich bezahlt?«

Fräulein von Clairefont sah den alten Mann mit mitleidiger Zärtlichkeit an.

»Ja, wenn man das gekonnt hätte!«

Der Gelehrte rieb sein weißes Haupt heftig mit seinem Samtkäppchen und sagte dann unruhig: »So sind gar keine disponiblen Gelder da?«

»Nein, Papa; seit einem Jahre leben wir einfacher als die kleinsten Bürger in der Stadt. Du hast das nicht bemerkt, denn du bist gegen Luxus gleichgültig. Dank dieser Sparsamkeit ist es uns geglückt, die Ausgaben für deine Arbeiten zu bestreiten. Wenn du all unsere Taschen umkehren wolltest, würdest du nicht tausend Franken zusammenbringen, und wir haben nichts mehr zu erwarten. Der Pächter von Couvrechamps hat seine Pacht bezahlt, der von Soucelles schon Vorschüsse gemacht ... Die Wälder von Clairefont sind niedergeschlagen. Es bleiben nur noch die Bäume des Parks, die, wie man sagt, etwa 60000 Franken wert sind, aber dadurch würde das ganze Besitztum verunstaltet werden ...«

Der Marquis schien die letzten Worte nicht gehört zu haben; er folgte nur seinem Gedankengange. »Auf diese 60000 Franken rechnete ich zur Erwerbung meiner Patente.«

Dieser blinde, unbeugsame Egoismus entlockte Antoinette einen Schmerzensschrei; ihr Vater, das sah sie jetzt ein, kümmerte sich wenig um den Ruin des Hauses. In dem allgemeinen Unglück dachte er nur an seine Erfindung und zeigte sich sogar bereit, seiner Manie die Ehre seines Namens zu opfern. Er war aufgestanden und ging langsamen Schrittes in seinem Laboratorium hin und her, seinem Brennofen unruhige und liebevolle Blicke zuwerfend. In seiner Seele schien ein Kampf stattzufinden. Er gestikulierte heftig beim Gehen und sprach, ohne es zu bemerken, ganz laut mit sich selbst.

»Im Augenblick, wo mir der Erfolg sicher ist ... um ein paar tausend elender Franken willen ... Das ist unmöglich! Was wäre das für ein Schlag für mich! Nein! Man muß noch Geld auf die Besitzung aufnehmen können ... Wenn es nötig ist, werde ich die Hälfte der Patente aufgeben ... Ja ... ich werde Asien, Afrika und Australien opfern ... Das sind Millionen, die ich verliere ... Aber wenigstens werden Europa und Amerika mir gehören ... Ja, wegen einiger tausend Franken ...«

Antoinette verfolgte bleich und kalt den nutzlosen Kampf, den der Gelehrte gegen sich selbst kämpfte. Vergebens verstümmelte er sein Werk, vergebens warf er, wie der Seemann, welcher sein Schiff erleichtern will, einen Teil der Ladung über Bord. Es war zu spät, der Sturm, der um ihn wütete, mußte alles verschlingen.

»Ach, liebster Vater,« sagte sie mit Festigkeit, »entsage deinen Träumen ... Du kannst sie doch nicht verwirklichen ... Alles ist zu Ende, völlig zu Ende ... Die letzten Hilfsquellen sind versiegt ... Glaube mir, ich habe meinen ganzen Mut zusammenraffen müssen, um so zu dir zu sprechen ... Hätte ich mich früher dazu entschließen können, so wären wir vielleicht doch nicht bis zu so vollständigem Ruin gekommen.«

»Meine Tochter!« unterbrach der Marquis sie mit vorwurfsvollem Tone.

»O, zweifle nicht an meiner Liebe und Verehrung,« fiel Antoinette ein. »Ich beweise sie dir heute, da ich so zu dir spreche, mehr denn früher, als ich schwieg. Du hattest das Recht, über ein Vermögen, das dir gehörte, zu verfügen, und niemand von unserer Familie wird sich erlauben, die Art und Weise, wie du es verwendet hast, zu kritisieren ...«

»Ach, wie blind bist du!« rief der Erfinder heftig aus; »ich wollte euch reich machen und will es noch! Begreifst du das denn nicht? Hast du kein Vertrauen mehr zu mir?«

»Mein lieber Vater ... Aber der Erfolg hat deine Anstrengungen betrogen ... Und nicht allein hast du kein Geld mehr, um dieselben fortzusetzen; du hast nicht einmal genug, um deine Schulden zu bezahlen...«

»Was kümmern mich meine Schulden? Ich würde sie ohne Gewissensbisse und Furcht verdoppeln, so sicher bin ich, daß es mir glücken muß ...«

»Das hast du schon sehr oft gesagt, Papa...«

»Schau, die Lage ist nicht so verzweifelt, wie du denkst! Ich verstehe deine Aufregung ... Ihr wißt nur nicht, ihr anderen alle, was ich von meiner neuen Erfindung zu erwarten habe ... Ihr habt nicht, wie ich, die Verwirklichung vor Augen! O, du kennst die Opfer nicht, die ein schaffender Geist zu bringen imstande ist, um sein Werk zu retten. Sieh! Als Cellini sah, daß der Bronzeguß in der Form seines Jupiter nicht ausreichte, warf er in den Schmelzofen Gold- und Silbergerät, das er mit eigener Hand ciseliert hatte ... Ich, mein Kind, würde, um den Erfolg meiner Erfindung zu sichern, alles thun! Ich glaube so fest daran, daß ich mich selbst verkaufen würde.«

Von Enthusiasmus entflammt, zeigte der Greis ein geradezu verklärtes Antlitz. Er schloß seine Tochter in die Arme und nannte sie bei den zärtlichsten Namen. Alle Bitten, alle Liebkosungen, mit denen ein verwöhntes Kind seiner Mutter schmeichelt, um die Erfüllung eines Wunsches zu erlangen, versuchte der alte Mann, um Antoinette zu entwaffnen. Er fand sie von Eis. Diese stolze Clairefont, die gut und großmütig bis zum Unverstand war, wurde unbeugsam, sobald sie einmal einen festen Entschluß gefaßt hatte.

»Tante Isabella besitzt Saint-Maurice noch unversehrt,« begann der Marquis wieder ... »Kann sie darauf nicht eine Hypothek aufnehmen, um uns noch diesmal frei zu machen?«

»Sie wird das nicht thun. Sie hat oft gesagt, Saint-Maurice soll, nach ihrer Idee, das letzte Asyl für die Familie werden ...«

»Die Undankbare!« rief der Erfinder bitter aus ... »Wurde in den dreißig Jahren, die sie bei mir im Hause ist, je ein Unterschied zwischen meinem und ihrem Vermögen gemacht? Im Glück war uns alles gemeinsam, doch kaum naht das Unglück, so sagt sie sich von uns los.«

»Nein, Papa, du bist ungerecht! Tante Isabella hat schon mehr bezahlt, als sie eigentlich konnte, und ihre Uneigennützigkeit ist ebenso groß gewesen, wie ihre Liebe ...«

»Aber du, meine Tochter, mein Liebling, meine gute kleine Toinon ... du wirst deinen Vater nicht in einer so tödlichen Verlegenheit lassen ... Denn ein Mißerfolg wäre mein Tod ... Du hast Geld ... Dein Bruder hat zu deinen Gunsten auf seinen Anteil verzichtet ... Das Vermögen deiner Mutter ist in deinen Händen ... Rette die Zukunft unseres Hauses, erhebe Clairefont aus dem Verfall ... Komm! Werde mein Associé ... Ich mache dich zur Millionärin ... Hörst du? So antworte mir doch! Begreifst du denn nicht? Millionärin! Ja, in einem Jahre! Ah! Ah! Ah! Welch herrliche Zukunft! Dafür etwas zu wagen, ist wohl der Mühe wert ... Nicht deine ganze Mitgift, nur einen Teil!« Und flehend, mit wirrem Blick, streckte er die Hände nach Antoinette aus.

Sie zitterte vor Schmerz. War ihr Vater denn wirklich moralisch so tief gesunken? So hatte denn seine Leidenschaft wie ein ätzendes Gift nach und nach das Zartgefühl des Mannes, die Würde des Familienoberhauptes in ihm zerstört! Der, den sie vor Augen hatte, war nur noch ein armer, kindischer Schwachsinniger. Er verdiente keine Vorwürfe, er vermochte nur tiefstes Mitleid einzuflößen. Ihre Mitgift? Er flehte sie darum an, wie ein wimmernder Bettler um ein Almosen bittet. Er ahnte in seiner Unwissenheit nichts von all den Opfern, all der heroischen Hingebung, die sich um ihn abspielte; er wußte nicht, daß ihre Mitgift schon von dem Schlund seiner Tollheiten verschlungen war, daß Antoinette Heirat, Zukunft, Glück geopfert, um ihm Verdruß zu ersparen. Mit bedrücktem Herzen wollte Antoinette lieber zu Lügen die Zuflucht nehmen, um dem Greise den Kummer zu ersparen, daß sie sich schon um seinetwillen beraubt hatte.

»Was du da verlangst, lieber Vater, ist unmöglich,« versetzte sie mit bebender Stimme.

»Wie, du schlägst es mir ab?« rief der Marquis erstaunt aus. »Du läßt deinen alten Vater vergebens bitten? Du hast mich wohl nicht verstanden oder ich habe nicht recht gehört und du hast gar nicht nein gesagt ...«

Er sah sie stumm und regungslos, unglücklich, aber mit fester Haltung vor sich stehen. Er blickte sie an, als wollte er ihr auf den Grund der Seele schauen –sie wendete den Kopf ab. Sie fand keine Thräne, aber der dunkle Rand um ihre Augen wurde noch dunkler und ihr Gesicht noch bleicher. Der Marquis hatte über dem Erstaunen, seine Tochter plötzlich so ganz verändert zu finden, seine Erfindung vergessen. Er war nur von dem Gedanken erfüllt, daß er die Macht über das Kind verloren hatte, das bis dahin die gehorsame Sklavin seiner Phantasien gewesen war.

»So wirst du also um einer elenden Summe Geldes willen den Ruin unseres Hauses sich vollziehen lassen? Du wirst es ertragen, daß man das Besitztum verkauft, wo du geboren bist ... wo wir gelebt haben ... wo deine Mutter gestorben ist ...«

Sie blieb kalt wie Marmor, sprach kein Wort und setzte den dringenden Bitten des Marquis nur einen passiven Widerstand entgegen. Er geriet außer sich. Es war das erste Mal, daß man ihm Widerstand leistete.

»Ihr habt euch wohl alle gegen mich verschworen, deine Tante, dein Bruder und du. Das ist wohl auch der Grund ihrer Abwesenheit ... Sie haben die Flucht ergriffen ... Du bist als die Kühnere oder weniger Gefühlvolle dageblieben, um mir die Stirn zu bieten. Du verweigerst mir die Rettung, du stiehlst mir nicht allem den Reichtum, sondern auch den Ruhm! Du bist ein entartetes Kind ... Geh! Ich kann deine Gegenwart nicht mehr ertragen. Geh hinaus!«

Mit von Wut entstelltem Gesicht und zitternden Lippen schritt er auf sie zu ... Das war für die tief Erschütterte zu viel, sie brach in Schluchzen aus, öffnete die Arme, umschlang den Vater, der sich ihr drohend näherte, bedeckte ihn mit Küssen und Thränen, flehte ihn an und redete ihm zu, bald wie einem verzogenen Kinde, bald wie einem vernünftigen Manne.

»Du weißt nicht, wie grausam und ungerecht du bist ... O, sage nichts mehr ... stoße mich nicht von dir ... Du würdest es später ewig bereuen ... Klage auch nicht meine Tante oder meinen Bruder an... Ach, mein Gott! Sie würden ihr Herzblut für dich hingeben, ebenso wie ich! ... Wir sind Opfer des Unglücks ... es heftet sich an unsere Fersen ... Bemühe dich nicht, das zu verstehen ... Wir sind viel unglücklicher, als du ahnst ... Forsche nicht ... Sei gut! Schilt deine Tochter nicht, die dich liebt, dich verehrt und deren einzige Freude auf dieser Welt deine Liebe ist ...«

Sie kniete nieder, suchte den Greis zu beruhigen, und es gelang ihr auch, ihn zum Schweigen zu bringen, aber nicht, ihn zu überzeugen. In seinem eigensinnigen Kopfe verfolgte er seinen Plan weiter, und suchte ein Mittel, ihn heimlich auszuführen. Die Idee, Tondeur kommen zu lassen und ihm die großen Bäume des Parkes zu verkaufen, wurde er nicht mehr los. Die schattigen Alleen niederhauen, der Henker dieser dichten Baumgruppen zu werden, die den Hügel mit ihrem grünen Laubdache krönten, das war es, worüber er schweigend brütete. Vor dem Fenster stehend, scheinbar in das herrliche Panorama vertieft, welches sich seinen Augen darbot, bewunderte er nicht die Pracht und Verschiedenheit der Aussichtspunkte, sondern berechnete, was er aus diesen Jahrhunderte alten Stämmen herausschlagen könnte. Kein Zögern, keinerlei Bedauern bei dem Gedanken, an diesen letzten Rest der Größe seines Erbsitzes die Axt einer schwarzen Bande von Spekulanten legen zu lassen. Er fragte sich nur mit Angst, ob die Summe, die man ihm dafür bieten konnte, auch zu seinen augenblicklichen Bedürfnissen hinreichen würde.

Außer seinen Patenten, träumte er von der Konstruktion eines Modells seines Brennofens, so wie er sein mußte, um einen industriellen Wert zu haben. Von seiner Phantasie fortgerissen, sah er dasselbe schon vollendet und vollkommen vor sich. Die Vorderseite zeigte ein Stahlschild, mit der Aufschrift: »Brennofen von Clairefont.« Er lächelte, sich in seinem Werke spiegelnd. Seine Tochter, von Angst erfüllt, beobachtete ihn.

Sie fühlte, daß der alte Mann ihr wieder entschlüpfte, und daß nichts von allem, was sie ihm gesagt hatte, in seinem kranken Hirn haften geblieben war. Wozu der Kampf, wenn die Unvernunft ihren Gegner unverwundbar machte? Wozu zerriß sie sich das Herz, zerquälte sie sich die Nerven, wenn ihr Vater nach einem solchen Streite ruhig und sorglos blieb?

Er ging jetzt, die Hände in den Taschen, in seinem Kabinette auf und ab, leise vor sich hinsingend. Antoinettes Gegenwart schien ihn nicht zu kümmern. Wiederholt schritt er dicht an dem Fauteuil vorüber, in welchem sie völlig gebrochen lehnte. Endlich setzte er sich an den Schreibtisch und machte rasch einige Notizen, wie wenn ihm plötzlich etwas eingefallen wäre, dann begab er sich in sein Laboratorium, wo Antoinette ihn in dem großen Ofen schüren, mit den Retorten klirren und die Kette des Blasebalges ziehen hörte.

Da sie sich inmitten dieses Geräusches trauriger und bedrückter fühlte, als wenn sie sich in dem vereinsamten Parke befunden hätte, stand sie langsam auf und ging hinaus. Ziellos schritt sie durch die weiten Gänge, die Treppen hinab und fand sich zitternd vor der Thür, die zu den Zimmern ihres Bruders führte. Sie trat ein. Die geschlossenen Fensterläden dämpften das Licht; alles war in Ordnung und an seinem richtigen Platze. Die Flinten ruhten unthätig auf dem Gewehrständer, die Reitpeitschen hingen unbenutzt an der Wand, und ein Sonnenstrahl, der durch eine Spalte des Fensterladens eindrang, entlockte der weiten Oeffnung eines Jagdhornes goldige Funken. Ein von Antoinette tags zuvor hingestellter Blumenstrauß welkte in einer Vase und verbreitete einen schwachen, melancholischen Duft. Die verlassenen Jagdgerätschaften sahen in dem düsteren Räume so traurig aus, daß das junge Mädchen eine Ohnmachtsanwandlung spürte. Es war ihr, als befände sie sich in dem Zimmer eines Verstorbenen. Mit bedrücktem Sinne und zuckendem Herzen blieb sie lange regungslos, einer bitteren Verzagtheit hingegeben.

Sie stellte sich Robert in einer kahlen, dunklen Zelle vor, wie er in dem Netze, das ihm seine Verleumder gestellt, sich machtlos sträubte, vielleicht vom Jähzorn sich hinreißen ließ und durch seine Heftigkeit, auf welche man womöglich gerechnet hatte, seine Lage verschlimmerte. Und niemand durfte zu ihm. Der kräftige Bursche, der an die frische Luft der Wälder und Wiesen, an die anhaltende Bewegung, wie solche das Landleben mit sich bringt, gewohnt war, saß nun eingesperrt zwischen vier Mauern, immer beobachtet und von Verhören gequält, auf die er sicherlich nichts zu antworten wußte.

Welch unaufhörliche Pein! Welch entsetzliche Prüfung! –Wann würde man ihn wiedersehen?

Würde er überhaupt je zurückkehren? Was konnte man nicht von Feinden erwarten, welche die Justiz in solchem Grade irregeführt hatten, daß ein Unschuldiger um nichtswürdiger Zwecke willen des Verbrechens eines anderen bezichtigt wurde!

Dann sah sie die Tante vor sich, die sich in der Stadt verloren fühlte, ohne Erfolg vom Justizpalaste nach dem Gefängnisse gehend; wie ein verlassener Hund die Mauern umkreisend, hinter denen das Kind schmachtete, welches sie anbetete. Ach! Wie mußte das arme alte Mädchen leiden, und was für Ausdrücke mochten wohl von ihren Lippen fallen!

Antoinette wollte ihr schreiben. Sie zündete ein Licht an, da sie, abergläubisch, sich nicht entschließen konnte, die Fenster zu öffnen; denn dieses Zimmer sollte geschlossen bleiben, bis der, welcher es bewohnte, heimgekehrt war. Sie nahm Papier und Federn ihres Bruders, und ihr wundes Herz erleichternd, ergoß sie gleichzeitig ihre Traurigkeit und ihre Thränen über das Blatt. Da sie nicht wollte, daß irgend jemand wußte, wo Fräulein von Saint-Maurice sich befinde, ließ sie den Brief von dem alten Germain nach dem Eisenbahnbriefkasten tragen. Sie war jetzt ruhiger geworden, kehrte in ihr Zimmer zurück und brachte den Tag damit zu, Rechnungen anzustellen, Akten zu durchblättern, Gerichtsvorladungen zu überlesen. Der Abend vereinigte Vater und Tochter in dem Speisesaale. Der Marquis war sehr kalt mit Antoinette, er schmollte und sprach während des ganzen Essens kein Wort; das junge Mädchen war fast froh über dieses Stillschweigen. Nachdem das Dessert vorüber war, stand der Marquis auf, ging einmal durch das große Gemach und streichelte das Windspiel, welches, seit zwei Tagen vernachlässigt, seine Herrin mit großen Augen ansah. Eines von den nach dem Schloßhofe gehenden Fenstern stand offen. der Greis trat heran und warf den lärmenden Spatzen Brotkrümchen zu. . Einige Minuten stand er bekümmert und unentschlossen da; er blickte nach Antoinette hin. als wolle er sie anreden, dann machte er eine trotzige Gebärde und sagte trocken: »Guten Abend, mein Kind!« Und ohne ihr die Hand zu reichen, ohne ihr einen Kuß zu geben, begab er sich wieder in sein Laboratorium hinauf.

Fräulein von Clairefont senkte das Haupt, als ob die Last dieses ungerechten Grolles zu schwer für ihre Kräfte würde; sie wendete sich zu Fox, pfiff leise, und nach dem Hofe hinausschreitend, ging sie auf und ab, ohne daran zu denken, die kleine Allee neben den Blumenbeeten einzuschlagen. Das Windspiel folgte ihr ernsthaft und richtete seine Schritte genau nach denen seiner Herrin.

Abendliche Schatten senkten sich schweigend auf Wald und Feld und eine leichte Kühlung belebte die von der Sonne fast verbrannten Pflanzen wieder. Es war die Stunde, in der Antoinette jeden Abend mit Tante Isabella und Robert einen Spaziergang zu machen pflegte, bevor sie ihrem Vater Gesellschaft leisten ging. Die zunehmende Dunkelheit, das Gefühl ihrer schrecklichen Lage drängte sich ihr noch grausamer auf; ihre Augen suchten angstvoll die geliebten Wesen, sie sah sich allein, und, von Schmerz gebeugt, war sie außer stände, ihren Weg fortzusetzen: sie sank auf eine Steinbank nieder und stöhnte: »Robert! O, Robert!«

Auf diesen Ruf antwortete ein klagendes Heulen. Das Windspiel, die Schnauze zum dunklen Himmel erhoben, sah das junge Mädchen an, als ob es sie verstanden habe und ihren Schmerz teilte; es war, als wollte es gleichfalls den Abwesenden beweinen. Sie sprach zu ihm, um es zu beruhigen, legte die Hand auf seinen Kopf und versank dann in Nachdenken. Die Uhr der Dorfkirche schlug acht Uhr. Fröstelnd erhob sich Antoinette, um hineinzugehen, da öffnete sich das Gitterpförtchen und ließ Herrn Malézeau ein. Als der Notar Fräulein von Clairefont bemerkte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Gott sei Dank, gnädiges Fräulein, daß ich Sie allein treffe, ich fürchtete, den Herrn Marquis bei Ihnen zu finden.«

Er hielt an, von heftiger Beklemmung ergriffen, drückte gerührt die Hände des jungen Mädchens und sagte: »Mein armes Kind ... ach, ich beklage Sie von ganzem Herzen ... mein armes Kind!«

Wieder schwieg er, als fürchtete er, sich einer zu großen Vertraulichkeit hingegeben zu haben, und fügte mit tiefer Verbeugung hinzu: »Halten Sie es meiner alten Zuneigung zu gute, gnädiges Fräulein ... ich vergaß mich ein wenig ... aber ich kenne Sie von Kindesbeinen an ... das mag mich entschuldigen ... gnädiges Fräulein!«

»Brauchen Sie eine Entschuldigung?« rief Antoinette. »Bereuen Sie es nicht, mir Ihre Teilnahme bewiesen zu haben, mein guter Herr Malézeau. Wir sind augenblicklich nicht verwöhnt, und ich bin denen unendlich dankbar, die uns nicht verlassen und es wagen, uns zu bedauern.«

»Ach! gnädiges Fräulein ... meine ganze Ergebenheit ... glauben Sie mir ...« stotterte der brave Mann. »Keine Macht ... keine Macht auf Erden, sei sie auch noch so furchtbar, wird mich hindern, meine Pflicht gegen Ihre Familie zu erfüllen, gnädiges Fräulein. Ich komme, um mich Ihnen und dem Herrn Marquis gänzlich zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie wüßten, wie weh es nur thut, Sie so unglücklich zu sehen! ... Weinen Sie nicht, gnädiges Fräulein, ich bitte Sie, oder ich verliere meine Fassung. Ich brauche meinen Kopf sehr nötig ... denn wir haben ernste Entschlüsse zu fassen ...«

Antoinette trocknete die Thränen, die ihr über die Wangen flossen, und sich zwingend, fest zu scheinen, fragte sie: »Was ist geschehen? Sagen Sie mir alles, verschweigen Sie mir nichts. Zuerst von meinem Bruder.«

»Ach, gnädiges Fräulein, welches Verhängnis bewog ihn dazu, Sie nicht zu begleiten, als Sie das Fest verließen? ... Ja, wie unvorsichtig war es, daß Sie überhaupt hingingen!«

»Wer konnte ahnen, daß so etwas geschehen würde?«

»Ach, mein Gott! Man mußte auf alles gefaßt sein! Dieser Carvayan...« Malézeau dämpfte unwillkürlich die Stimme, als fürchte er, daß der Nachtwind seine Worte zu dem Hause der Rue du Marché tragen könne... »Dieser Carvayan ist wie ein losgelassener Tiger... Er hat die öffentliche Meinung gegen Ihren Bruder eingenommen; er hat beim Gerichte Anzeige gemacht. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn des jungen Herrn Grafen Verhaftung nicht stattgefunden hätte. Der Vorstadtpöbel rottete sich zusammen. O, die Staatsanwaltschaft thut ihre Pflicht... Die Untersuchungen werden fortgesetzt; man hat mehrere sehr verdächtige Individuen festgenommen, aber es hat ihnen nichts bewiesen werden können... während dieser unglückliche Robert... Ach, die Falle war schlau gelegt.«

»Was kann man thun, um Carvayan zu entwaffnen?« »Vor acht Tagen hätte ich Ihnen geantwortet: Seinen Ehrgeiz und seine Habgier befriedigen! Treten Sie ihm den Steinbruch gütlich ab. Aber würde er sich mit dieser materiellen Genugthuung begnügt haben? Dieser Mensch haßt Ihren Vater und alles, was mit ihm die gleiche Luft atmet... Sie sind unglücklicherweise ganz seinem Willen anheimgegeben, und auf seine Großmut ist nicht zu rechnen...«

»Ach! Möge Clairefont untergehen, der Steinbruch verschwinden, die Trümmer unserer Besitzung, vom Unheil verschlungen werden! ... Wenn mein Bruder nur frei wird! ...«

»Zählen Sie auf mich, gnädiges Fräulein, und seien Sie versichert, daß nichts vernachlässigt werden wird, was zu diesem Resultate führen könnte ... Aber das geht nicht von heute auf morgen...«

»So wird es lange dauern?«

»Ach ja, mehrere Wochen! Die Gerechtigkeit ist langsam, gnädiges Fräulein ...«

Antoinette entschlüpfte ein schmerzlicher Ausruf.

»Wie werden wir es machen, um meinen Vater in Unkenntnis dessen zu lassen, was vorgeht?«

»Das wird sehr schwer sein ... gnädiges Fräulein...«

»Und doch, ihm alles sagen, würde ihm den Tod geben! Er würde diesen Schlag nicht verwinden. Die ernste Unterhaltung, die ich heute früh mit ihm hatte, brachte ihn schon ganz außer Fassung ... Er leidet ... Was wollen Sie? Er ist an solche Widerwärtigkeiten nicht gewöhnt... Bis jetzt haben wir sie stets für uns behalten... Er konnte sich den Arbeiten, die seine Freude, ja sein Leben sind, friedlich hingeben... Er war so voll Vertrauen zu seinen Erfindungen! ... Ich hoffte immer noch ... Wenn er endlich doch gefunden hätte, wonach er forscht, wäre es dann nicht ein Verbrechen gewesen, ihn dieses so mühsam erlangten Resultates zu berauben?«

»Lassen wir das für den Augenblick, gnädiges Fräulein... Es handelt sich darum, zu wissen, was Sie thun wollen... Sie sind von einer Expropriation und Versteigerung der Immobilien bedroht... Das Urteil ist gefällt und unterzeichnet. Wir haben Frist durch die aufeinanderfolgenden Proteste erlangt, wodurch Sie Zeit gewonnen haben, die Kosten aber erhöht sind... Heute kann ich Verzögerungsmittel anwenden, die Sie noch einige Tage im Besitze lassen... Wir werden den Kampf mit Stempelpapier fortsetzen ... aber endlich kommen wir doch zum letzten Zusammenbrechen, und diese Fristen werden nur dazu dienen, Carvayan zum Aeußersten zu treiben. Andererseits, wenn wir die Beschlagnahme und den Verkauf zulassen, so haben wir Aussicht, noch vor der Exekution die Angelegenheit Ihres Bruders glücklich durchführen zu können. Frei von allen Sorgen, können wir unsere ganze Kraft seiner Verteidigung widmen ... Wir bitten einen berühmten Rechtsgelehrten der Pariser Advokatur, seine Sache in die Hand zu nehmen, und es wird uns gelingen, ihn den Händen seiner Feinde zu entreißen. Einmal außer Gefahr, haben wir dann keine Rücksicht mehr zu nehmen, und wir bemühen uns, aus unseren Grundstücken allen nur erdenklichen Nutzen zu ziehen. Wir schicken den Notaren der Provinz und der Hauptstadt Anzeigen, damit sie uns Käufer, für Schloß und Domäne verschaffen. Wir wenden uns an die Kalkfabrikanten von Senonches, stellen ihnen die Gefahr einer Konkurrenz vor und treiben sie dazu, an der Versteigerung teilzunehmen. Carvayan, der darüber wütend wird, überbietet sie, und dank dieser Rivalität werden die Zuschläge unerwartet hohe Preise ergeben ... So daß wir, wenn die Sache vorüber ist, für den Herrn Marquis nach Bezahlung aller Schulden noch einen Ueberschuß von 2 bis 300 000 Franken behalten, welche, von mir gut untergebracht, ihm erlauben werden, ein ruhiges und behagliches Leben in Saint-Maurice zu führen. Dies, mein liebes Fräulein, ist der Plan, den ich gemacht und den ich Ihnen vorlegen wollte.«

Der gute Malézeau, von der Wärme seines Vortrages fortgerissen, stotterte nun nicht mehr und zerriß seine Sätze nicht durch die vielen: Mein Herr, gnädiges Fräulein etc., die ihm sonst eigen waren; aber das Zucken seiner Augen hatte zugenommen, und hinter seiner goldenen Brille zwinkerte er fürchterlich.

»Ja, das muß geschehen,« sagte Antoinette, »das ist ein vernünftiger Rat... Ach Gott! nach all den Qualen, all der Traurigkeit werde ich dies Haus fast ohne Bedauern verlassen –ich habe hier zuviel gelitten... Ich verlasse mich ganz auf Sie, lieber Herr Malézeau! Gehen Sie zu meinem Vater, sprechen Sie mit ihm, überreden Sie ihn, daß er es Ihnen und mir überläßt, seine Angelegenheiten zu ordnen. Im übrigen lassen wir ihn im unklaren, bis mein Bruder wieder da ist. Wenn die Gefahr überstanden ist, können wir ihm dann etwas von unserer Sorge und Unruhe mitteilen. Ueber der Freude wird er sie leicht wieder vergessen.«

Mit sanftem, traurigem Lächeln fuhr sie fort: »Sie werden unsere große Vorsorge vielleicht lächerlich finden ... Aber mein Vater ist daran gewöhnt ... Ich teile ihm Freude und Schmerz zu wie einem Kinde; denn, sehen Sie, ich bin ein wenig seine Mutter ...«

Malézeau sah das junge Mädchen mit Bewunderung und Rührung an. Er ergriff ihre Hände, drückte sie kräftig und stotterte: »Ja, gnädiges Fräulein... Das war die Wahrheit gesagt, gnädiges Fräulein...«

Er brach ab; noch ein Wort, und ihm wären Thränen in die Augen gekommen. Sie schritten zusammen auf das Schloß zu, und im Vorsaale angelangt, blieb Antoinette stehen.

»Ich begebe mich auf mein Zimmer,« sagte sie; »wenn Sie, bevor Sie fortgehen, mir noch irgend etwas mitzuteilen haben, bitte, so lassen Sie mich rufen.«

Der Notar verneigte sich vor Fräulein von Clairefont wie vor einer Königin und wendete sich dann, die Treppe hinaufsteigend, nach dem Laboratorium.

Antoinette schloß sich in ihr Zimmer ein und wartete voll Spannung. Sie hegte unbestimmte Befürchtungen und erwartete nichts Gutes von dem Unverstande ihres Vaters. Wer weiß, ob er nicht plötzliche Verwickelungen verursachte und das zerbrechliche Gerüst, das so sorgfältig aufgerichtet war, um ihm die Wahrheit zu verbergen, zerstörte! Nach Verlauf einer Stunde hörte sie Malézeau hinunterkommen, sah ihn über den Hof gehen und sich dann entfernen. Einige Augenblicke später klopfte der alte Germain an die Thür und übergab ihr einen von dem Notar eiligst geschriebenen Zettel, der die Worte enthielt: »Aengstigen Sie sich nicht: der Herr Marquis wird vernünftig sein. Ich komme morgen mittag wieder.« Nach diesen Versicherungen beruhigte sich das junge Mädchen.

Von Müdigkeit überwältigt, schlief sie in dieser Nacht, und als sie am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel.

Diese Nacht, welche Fräulein von Clairefont Ruhe und Stärkung brachte, war für Carvayan reich an Aufregungen. Je mehr er sich dem Augenblicke näherte, in welchem seine Hoffnungen erfüllt werden sollten, desto mehr wuchs die Ungeduld des Banquiers. Nun er die Gewißheit hatte, daß der Marquis ihm nicht mehr entgehen konnte, litt er an heftiger Reizbarkeit. Er war unruhig und fürchtete alles, selbst das Unmögliche. Pascal war am Tage vorher nach Havre gereist, wo er, wie er behauptete, einen wichtigen Besuch zu machen hatte; er sollte erst am nächsten Tage heimkehren. Fleury hatte sich die letzten bestimmten Instruktionen für die bevorstehende wichtige Operation geholt, und, von seinem Herrn aufgehalten, der mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit sprach, sich erst spät abends zurückziehen dürfen. Als Carvayan allein war, begab er sich in sein Zimmer hinauf, wo er fast bis Tagesanbruch wie ein Tiger in seinem Käfig auf und ab lief.

Während dieser Nacht durchlebte er die ganze Vergangenheit noch einmal. Er berauschte sich an seinem Hasse und stärkte sich in seinem Grolle. Der Gedanke, daß der Marquis ihm endlich auf Gnade und Ungnade anheimgegeben war, bereitete ihm einen Hochgenuß, und er nahm sich vor, ihm keine Kränkung zu sparen. Zu den Seelenqualen, die sein Feind über das Unglück seines Sohnes empfinden mußte, wollte er die harte Prüfung materiellen Mangels fügen. Diesem stolzen Edelmanne die Schrecken einer Beschlagnahme auferlegen, ihn mit den Exekutoren und ihren Schreibern in Berührung bringen, ihn zwingen, den Gängen dieser Menschen durch die aristokratischen Säle beizuwohnen: die köstlichen Familienerinnerungen, die Ahnenbilder, die vom Vater oder der Mutter herstammenden Gegenstände einer gemeinen Taxation, welche solch heilige Reliquien besudelt, zu überlassen: im Namen des Gesetzes Fremde im Schlosse aufzunehmen, die das Recht haben, alles zu plündern, die Thüren zu öffnen, die Schubfächer zu durchwühlen, ihn mit Raffinement die erniedrigende Pein der Inventaraufnahme erdulden zu lassen –das war seine Rache.

Warum hatte er nicht das Recht, selbst dieses Schauspiel zu genießen, den Profoßen zum Angriffe aufzustacheln, zur Jagd anzutreiben, während er mit dem Hute auf dem Kopfe, dem vor Machtlosigkeit zitternden, vor Schmerz erbleichten Honoré von Clairefont gegenüberstand? Aber das Gesetz, barmherziger als Carvayan, widersetzte sich diesem ungeheuerlichen Triumph. Es entzog das Opfer der direkten Berührung mit seinem Henker. Der Banquier durfte die Schwelle des Hauses nicht überschreiten. Er fand diese Verfügung abgeschmackt, legte sich endlich brummend nieder und träumte, daß er Abgeordneter sei und dieselbe zu seinem persönlichen Nutzen modifizieren ließ.

Des Morgens stand er zur gewohnten Stunde auf, besorgte seine Post, empfing einige Personen und sagte zu sich, als es neun Uhr schlug: »Jetzt gehen Papillon und Fleury nach Clairefont.« Im selben Augenblicke klopfte es an die Eingangsthür, und die rauhe Stimme Tondeurs ließ sich vernehmen: »Ist der Herr da? Ich muß ihn sprechen und zwar sofort.«

Carvayan öffnete selbst; er ahnte, daß etwas vorgefallen sei, und das Blut stieg ihm siedend heiß zu Kopf. Er blickte den Holzhändler mit verzehrenden Blicken an und fragte barsch: »Was gibt's?«

»Der Marquis hat mich heute in aller Herrgottsfrühe zu sich rufen lassen und nur ein drolliges Geschäft vorgeschlagen ... Ich hätte das nie von ihm gedacht ... so etwas!«

»So kommen Sie doch heraus damit, verdammter Schwätzer,« schrie der Maire, außer sich über Tondeurs Wortschwall. »Zur Sache! Was? Was wollte er?«

»Mir sofort alle Bäume des Parkes für 60 000 Franken verkaufen ... Da ist für 100000 Franken Holz, oder der Teufel hole mich ... Ich habe nein gesagt. Darauf ist er auf 50000 heruntergegangen. Wieder hab' ich nein gesagt. Da wurde er ganz blaß und erklärte mir: ›Ich brauche 40000 Franken oder ich verkaufe nicht.‹ Wie Sie wollen, Herr Marquis, hab' ich ihm gesagt ... Ich darf nichts ohne Herrn Carvayans Einwilligung thun. Er allein kann dies Geschäft abschließen. Zum Henker, wenn ich allein vorginge, würde ich mich schön in die Nesseln setzen ... Es wird ja alles mit Beschlag belegt!... Darauf ist der Alte einige Minuten auf und ab gegangen und hat zwischen den Zähnen gemurmelt: ›40000 Franken und zwei Monate Frist ... das ist Rettung!‹ Dann ist er zu mir gekommen und hat mich gefragt: ›Glauben Sie, daß Herr Carvayan zu mir käme, um darüber Rücksprache mit mir zu nehmen?‹ Das kann ich nicht sagen, habe ich erwidert, man muß ihn fragen ... ›Nun, wollen Sie das thun?‹ Warum nicht, Herr Marquis, um Ihnen gefällig zu sein ... Dann habe ich meine Beine in die Hand genommen, und in einer Viertelstunde den Klopfer Ihrer Thür erwischt ... Ohne Sie zu belästigen, hätte ich gern etwas zu trinken. Ich komme um vor Durst.«

Der Maire öffnete die Thür.

»Claudine, ein Glas und Wein!« rief er; dann zu Tondeur zurückkehrend, setzte er hinzu: »Nun, gehen wir.«

»Oh, oh!« rief der Holzhändler ... Sie wollen sich von Angesicht zu Angesicht sehen, der alte Wilde und Sie ...«

»Ich muß doch hören, was er will ... Papillon und Fleury müssen schon unterwegs sein.«

»Ich bin ihnen am Schlagbaum begegnet.«

»Dann werden wir sie auf dem Plateau noch einholen.«

»Teufel!« schrie Tondeur. »Heute werde ich um zehn Pfund magerer ...«

Er fing so zu lachen an, daß er von seinem Husten ergriffen wurde, an dem er fast erstickte und der ihn ganz violett werden ließ.

Carvayan ging schon mit großen Schritten durch die Rue du Marché. Also der Marquis selbst ließ ihn rufen. Ein ungeheurer Stolz schwellte seine Brust. Er hatte ihn demnach so weit gebracht, daß er um Gnade bat. Wie vor dreißig Jahren stieg er wieder nach Clairefont hinauf. Aber welch ein Unterschied! Damals war es Nacht: er lief, stolperte bei allen Krümmungen des Weges und sah, das Herz vor Angst beklommen, alles dunkel vor sich. Jetzt schritt er unter der strahlenden Sonne, auf ebenem Wege zuversichtlich dahin, seiner Kraft sich bewußt und das Ziel, nach welchem er strebte, klar vor sich sehend. Er hätte am liebsten den Bäumen, den Steinen, den Gräben am Wege zugerufen: »Kennt ihr mich noch? Ich bin der Elende, den ihr eines Abends weinend und verzweifelnd vorüberlaufen sahet, der das Weib suchte, welches er liebte, der arme Schlucker, den man ungestraft verhöhnen, beleidigen, schlagen durfte. Heute komme ich als Sieger und werde, wenn es mir beliebt, Beleidigung mit Beleidigung, Schlag mit Schlag vergelten. In dreißig Jahren hat das Rad sich gedreht, nicht wahr? Ich war unten, und jetzt bin ich oben! Ja, seht mich an, ich bin es!«

Und mit gebietendem Blicke sah er auf den Park von Clairefont und auf die Terrasse unter den Bäumen.

»Nein,« dachte er, »die schattigen Bäume, die morgen mein Eigentum sein werden, sollen nicht gefällt werden. Ich werde mein Gut nicht so verunstalten lassen. Bald werde ich dort einziehen, die Freude empfinden, da zu leben, wo mein Feind lebte, und an seinem Platze glücklich sein.«

Sie bogen in die große Allee ein und gingen längs der weißen Böschungen des Steinbruches hin. Dieser dürre, kreidige Hügel mißfiel Carvayan. Er sagte zu sich: »Ich werde drei Reihen Bäume anpflanzen lassen, um den Anblick der Erdarbeiten zu verdecken.«

Er fühlte sich schon als Besitzer, disponierte über Grund und Boden, verfügte nach seinem Gutdünken. Bevor sie das Gitter erreichten, holten sie Pavillon und Fleury, seine Helfershelfer, ein.

»Was geht denn vor?« fragte der Gerichtsschreiber unruhig. »Gibt es Aenderungen im Programme?«

»Entweder vorteilhafte oder gar keine,« erklärte Carvayan. »Der Marquis von Clairefont hat mich zu sprechen gewünscht, und um ihm meine Willfährigkeit zu beweisen, bin ich hergekommen, denn ich hätte ihm sagen lassen können, er möchte sich in mein Bureau bemühen ... aber wenn man der Stärkere ist, muß man sich nachgiebig zeigen ... Treten wir ein!«

Er öffnete selbst die eiserne Thür und betrat als erster die Steine des Schloßhofes. Gesenkten Hauptes schritt er weiter und suchte die Stelle, wo er unter den Hufen der Pferde des Marquis, das Gesicht von einer blutigen Furche durchschnitten, niedergefallen war. Er erkannte sie: Dort war es, neben einem kleinen Rosenbeet mit Resedaeinfassung; er blieb stehen, trat mit dem Fuße darauf, als gelte es zurückgelassene Spuren zu verlöschen, und von dieser furchtbaren Erinnerung erschüttert, wollte er eben eintreten, als er sich auf der Thürschwelle Fräulein von Clairefont gegenübersah.

Sie wechselten kein Wort; nur mit den Augen richtete das junge Mädchen eine stumme Frage an Fleury und Pavillon, deren Ankunft sie erwartet hatte. Carvayan hielt es unter seiner Würde, eine Erklärung zu geben. Seine gebräunte Stirn hatte sich umwölkt, er fühlte, daß er in diesem Hause, welches sein Haß öde gemacht hatte, dem einzigen Gegner gegenüberstand, der ihm noch zu bekämpfen blieb. Es fröstelte ihn, seine siegestrunkene Freude schwand; es schien ihm, als ob noch nicht alles zwischen ihm und diesen Clairefonts zu Ende sei. Mit einer Geste befahl er Tondeur, zu sprechen.

»Gnädiges Fräulein, der Herr Marquis hat mich heute früh gebeten, Herrn Carvayan zu ersuchen, einen Augenblick zu ihm zu kommen ... der Herr Maire ist so gütig gewesen, mich zu begleiten ...«

Carvayan beim Marquis! Die ganze Gefahr einer solchen Annäherung stand blitzschnell vor Antoinettes Geist. Wer hatte ihren Vater zu einem solchen Entschlüsse veranlaßt? Was wollte er mit dem Banquier besprechen? Welche Enthüllungen würde dieser ihm zu machen wagen? Das ganze Gebäude edelster Verstellung, zu welchem sich die Familie des Greises vereinigt hatte, konnte durch ein einziges Wort zerstört werden.

»Ich werde Herrn Carvayan zu meinem Vater führen,« sagte sie langsam ... »Und Sie, meine Herren, thun Sie, was Ihres Amtes ist ... Germain, begleiten Sie die Herren und stellen Sie sich ihnen zu Diensten.«

Von Carvayan und Tondeur gefolgt, begab sie sich hinauf. Während sie die zwanzig Stufen der Treppe hinaufstieg, litt sie mehr als je zuvor ... Sie sah, daß ihr Vater argwöhnisch gegen sie geworden, daß sie keine Macht mehr über ihn hatte und ihn nicht mehr gegen die Stiche zu schützen vermochte, welche seine schlimmsten Feinde ihm mitten ins Herz hinein zu versetzen trachteten. Sie war in Todesangst. Einmal war sie nahe daran, sich zu Carvayan umzukehren und ihm zu sagen: »Sagen Sie mir, was Sie wollen! Diktieren Sie Ihre Bedingungen, aber ... gehen Sie nicht zu meinem Vater!«

Die Thür des Laboratoriums wurde geöffnet und damit ihrem Schwanken ein Ende gemacht. Der Marquis, der seinen Feind hatte kommen sehen, wollte diesem entgegengehen. Er runzelte die Stirn, als er seine Tochter wahrnahm, aber Antoinette trat unerschrocken näher. Der alte Mann berührte ihren Arm und sagte sanft: »Geh, mein Kind, ich habe mit diesem Herrn zu reden; wenn ich deiner bedarf, werde ich dich rufen lassen ...«

»Aber, lieber Vater!« rief das junge Mädchen in höchster Unruhe ...

Carvayan schaute spöttisch auf und sagte, seine gelben Augen mit frechem Mitleid auf Herrn von Clairefont richtend: »Wenn der Herr Marquis unter Kuratel steht, möchte ich wissen, was ich hier soll ...«

»Geh, mein Kind,« wiederholte der Marquis mit leichter Ungeduld.

Antoinette zog sich zurück, da sie ihren Vater zu verletzen fürchtete, wenn sie Widerstand leistete; aber der Gedanke an das, was sich jetzt ereignen könnte, erfüllte sie mit Entsetzen.

Der Erfinder und der Banquier blieben allein. Tondeur hatte sich bescheiden in eine Ecke zurückgezogen und schien kein Interesse an dem zu nehmen, was besprochen und verhandelt werden würde. Als geschickter Gehilfe hatte er Carvayan eingeführt; nun war es Sache des Meisters, die Gelegenheit auszunutzen. Hatte dieser erst das Geschäft in der Tasche, so war es Zeit für ihn, seinen Anteil zu fordern.

»Ich habe Tondeur gebeten, Sie hierher zu führen, mein Herr,« begann der Marquis, »damit wir direkt die Geschäftsfragen regeln können, welche uns scheiden. Sie haben einen großen Teil der Schuldforderungen, die gegen mich im Gange sind, an sich gebracht. Ich will nicht über die Gründe sprechen, die Sie bewogen haben mögen, diese Effekten zusammenzubringen ... ich gehe direkt aufs Ziel los ... Ich glaube ein Mittel gefunden zu haben, meine Schuld gegen Sie tilgen zu können: aber ich brauche, um dieses Ziel zu erreichen, eine Frist von zwei Monaten und eine Summe von 40000 Franken ... Unter welchen Bedingungen wollen Sie mir Zeit lassen und das Geld leihen?«

Betroffen sah der Maire den Marquis an, indem er sich fragte, ob ein solches Ersuchen in der That an ihn gerichtet würde. So viel Naivität machte ihn argwöhnisch: er hielt das Ganze für eine ihm gestellte Falle, denn eine so weit gehende Verblendung schien ihm unfaßbar. Man verlangte eine Gefälligkeit von ihm, schien seinen Wucher, seine Verleumdungen, seine Beschimpfungen, alles zu vergessen, sogar den jüngsten furchtbaren Schlag, die Verhaftung Roberts, welche das ganze Land ihm als eigentlichem Urheber zuschrieb. Unter dieser Sanftmut mußte sich eine Hinterlist verbergen, die auf Carvayans Untergang zielte. Er suchte alle seine Gedanken zu sammeln, um die Sache ruhig zu überlegen. Der Marquis hielt das Verstummen des Banquiers für ein Zögern, und, um ihn zur Entscheidung zu bewegen, fuhr er fort: »Fürchten Sie nicht, zu viel zu fordern; ich will Ihnen alle Vorteile einräumen, die Sie für sich beanspruchen ... Ich bin des Gelingens so völlig sicher ...«

Des Gelingens sicher! ... Diese Worte erhellten das Dunkel, in welchem Carvayan sich nicht zurechtzufinden vermochte. War dies nicht die Sprache aller Erfinder? Er erinnerte sich des Ofens, von welchem so viel gesprochen wurde. Die Zukunft seiner Erfindung war es demnach, worauf der Marquis die Hoffnung, sich frei zu machen, stützte. Mit Hilfe des berühmten Glühofens gedachte er die Arbeiten im Steinbruche wieder aufzunehmen, seine Schulden zu bezahlen und sein Vermögen wiederherzustellen. Nun war die Situation klar. Der Marquis vergaß über seiner Erfindung alles, den langjährigen Zwist und den gegenwärtigen Kummer, er unterdrückte seinen Groll, ja er war bereit, sogar sein eigen Fleisch und Blut dem Kinde seines Geistes zu opfern.

Carvayan war wieder er selbst. Er warf dem Marquis einen kalten Blick zu und entgegnete: »Es ist wohl ohne Zweifel Ihr Ofen, welcher Sie so lebhaft beschäftigt? ... Doch ich muß Ihnen bemerken, daß ich hierherkam, um Geld in Empfang zu nehmen, nicht um solches zu leihen, um eine Geschäftsangelegenheit zum Abschlusse zu bringen, nicht um neue aufzunehmen ... Ist dies alles, was Sie mir mitzuteilen hatten?«

Da begann der Erfinder mit der Kühnheit und Offenheit eines Schwachsinnigen seine Pläne zu entwickeln und seine Aussichten auf Erfolg herzuzählen.

Er vergaß, wer ihm gegenüberstand und in welch schrecklichem Augenblicke er sprach, er dachte nur an seinen Apparat und beschrieb dessen vorteilhafte Einrichtung. Er zog den Banquier in die Ecke des Laboratoriums, wo sich der Ofen befand, und erbot sich, denselben in Carvayans Gegenwart heizen zu lassen. Und voll Begeisterung und Zuversicht geriet er immer mehr ins Feuer.

Doch die schneidige Stimme Carvayans wirkte alsbald ernüchternd auf den Marquis.

»Unter welchem Vorwande verlangen Sie von mir die Mittel, Ihre Erfindung nutzbar zu machen? ... Soll ich mich etwa damit belustigen, Ihnen selbst die Patronen zu liefern, damit Sie desto leichter mit mir Krieg führen können? Ich sehe wohl Ihren Vorteil in all diesem ... Doch wo ist der meine? Ich bin der Mann nicht, den man mit leeren Worten und humanitären Theorien abspeist ... Fortschritt, Industrie ... Das ist alles recht hübsch! Aber zuerst komme ich. Nichts bürgt mir dafür, daß Sie mit dem Gelde, welches Sie von mir verlangen, reüssieren werden ... Auch habe ich schon zu viel außenstehen... Sie schulden mir ungefähr 400000 Franken, mein bester Herr, von welchen 160000 heute morgen fällig sind ... Sind Sie in der Lage, diese Zahlung zu leisten?«

Der Marquis senkte die Stirn und sagte leise: »Nein, mein Herr ...«

»Alsdann, ergebener Diener! Man bemüht die Leute nicht, um ihnen Flausen vorzumachen ... Und wenn man seine Schulden nicht bezahlen kann, gibt man sich nicht das Ansehen eines Genies ... Ah! Ah! Der Ofen! Der gehört ja übrigens mir, wie alles, was sich hier befindet ... und ich begreife nicht, weshalb, wenn er wirklich gut ist, ich ihn nicht für meine Rechnung ausbeuten sollte ...«

»Sie?«

»Jawohl, ich! Ich denke, Herr Marquis, die Zeit ist da, wo weitere Kniffe überflüssig sind ... Sie hoffen doch nicht einen alten Schlaukopf wie mich anzuführen? ... Und dennoch versuchten Sie es, ich sage dies zu Ihrer Ehre, denn ich glaubte nicht, daß Sie sich noch jetzt verteidigen würden ... Aber nun ist es zu Ende, nicht wahr? Sie geben sich keiner Täuschung mehr hin? Es bleibt Ihnen nichts übrig, als Ihre Siebensachen zusammenzupacken und aus Ihrem Edelsitze hinauszuwandern ...«

Carvayan pflanzte sich vor Herrn von Clairefont auf, und das Antlitz von entsetzlicher Freude erstrahlend, fuhr er fort: »Vor dreißig Jahren waren Sie es, der mich hinauswerfen ließ, heute ist die Reihe an mir ... Ein Gerichtsdiener wartet unten, das Inventarium aufzunehmen ...«

Dann brach er in ein beleidigendes Lachen aus, und die Hände in den Hosentaschen, schritt er ungeniert auf und ab, als sei er es schon, der hier den Gebieter machen könnte.

Der Marquis hatte tief betroffen diese heftige Rede angehört. Die Illusionen, die er noch gehegt, verschwanden in einer Sekunde, wie Wolken von Sturmeshauch verjagt. Er kam wieder zur Vernunft und errötete, daß er sich so weit erniedrigt hatte, um mit Carvayan zu verhandeln. Er sah nicht mehr den Geldleiher in ihm, der jederzeit zu einem vorteilhaften Geschäfte bereit ist, er erkannte den beharrlichen, erbitterten Feind seines Hauses.

»Ich irrte mich,« sagte er voll Verachtung, »ich glaubte noch so viel zu besitzen, um Ihre Habgier zu locken ...«

»Oh, oh! Frechheiten!« sagte der Banquier kalt, »das ist ein großer Luxus, den Ihre Mittel Ihnen nicht mehr gestatten, mein lieber Herr. Wenn man den Leuten Geld schuldig ist, so muß man sie mit etwas anderem bezahlen, als mit bösen Worten ...«

»Sie können meine Lage mißbrauchen, mein Herr,« entgegnete der Marquis mit Bitterkeit. »Ich bin in Ihren Händen und muß auf alles gefaßt sein, waren doch die Meinen die ersten, die mich verließen ... Welche Rücksichten könnte ich wohl von einem Fremden erwarten, wenn meine eigene Tochter mir ihre Börse verschließt und mein Sohn mich verläßt? ... Uebrigens, brechen wir ab ... Wir haben einander nichts weiter zu sagen.«

Carvayan machte eine Gebärde der Ueberraschung, dann erhellte sich sein Gesicht von teuflischer Befriedigung.

»Entschuldigen Sie,« begann er lebhaft, »ich sehe, daß Sie sich in einem Irrtume befinden, aus welchem ich Sie befreien muß ... Sie beschuldigen mit Unrecht Ihre Tochter und Ihren Sohn ... Sie haben wahrscheinlich Fräulein von Clairefont um Hilfe angesprochen, und Sie sagen, sie hätte Ihnen dieselbe verweigert. Nun, sie hatte ihre guten Gründe dafür. Es ist lange her, daß sie das Geld, welches Sie von ihr forderten, hergegeben hat ... Ah! Sie beklagen sich über ihre Undankbarkeit! ... Und sie hat sich um Ihretwillen zu Grunde gerichtet, und ganz im stillen, da sie bat, man möge Ihnen verheimlichen, daß sie ihr Vermögen hergebe ... Das nennen Sie also, Ihnen die Börse verschließen!«

Der Marquis sprach kein Wort, stieß keinen Seufzer aus. Eine Blutwelle stieg ihm zu Kopfe, er wurde rot, dann wieder leichenblaß. Er warf Carvayan einen Blick zu, wie das Opfer seinem Mörder, es schien ihm, als ob sich das Herz in seiner Brust umwende. Er that einige Schritte, dann ließ er sich in seinen Fauteuil niederfallen, und, seiner kaum bewußt, unbekümmert um die Anwesenheit seines Henkers, neigte er voll Verzweiflung den Kopf auf die Lehne des Stuhles.

Carvayan folgte allen seinen Bewegungen, mit Entzücken an den Qualen des Feindes sich labend, und ihn mit der Schwere seines Hasses vernichtend.

»Und was Ihren Sohn betrifft,« fuhr er fort, »so ist es nicht ganz sein freier Wille, daß er nicht an Ihrer Seite weilt, glauben Sie mir ... Er wurde gestern verhaftet und zwischen zwei Gendarmen nach Rouen gebracht.«

Mit einem Satze sprang der Marquis empor, faßte den Maire an der Krawatte, und funkelnden Auges und mit zitternden Lippen stieß er ihn mit unglaublicher Kraft gegen einen Steinpfeiler.

»Elender! Du hast gelogen! ... Gestehe, daß du gelogen hast ... oder ich erwürge dich!«

Die beiden Männer kämpften während einiger Sekunden, doch die scheinbare Stärke des Marquis hielt nicht lange stand, und von Carvayan, der laut fluchte, derb geschüttelt, fiel er ohnmächtig in die Arme Tondeurs, der ihm zu Hilfe geeilt war.

»Ah! Donnerwetter! Der alte Spitzbube! Er will die alten Gewaltthaten von neuem anfangen!« schrie der Maire ... »Tondeur, Sie sind mein Zeuge ... Er hat die Hand gegen einen öffentlichen Beamten erhoben ... Ich werde ihn gleichfalls vors Gericht bringen, ja, ihn auch!«

»Lassen Sie doch, Herr Carvayan, Sie müssen sich beruhigen,« sagte Tondeur, der sich von Mitleid für den Greis ergriffen fühlte ... »Sie haben ihm arg zugesetzt und er konnte seine Aufregung nicht bemeistern ...«

»Dann werde ich ihn schon lehren, sich zu beherrschen, ich!« schrie Carvayan ... »Oh! Das bringt ihn außer sich, seinen Sohn vor dem Gerichtshofe zu sehen? ... Ich werde ihm noch ganz andere Stückchen zeigen, um ihm endlich den Respekt beizubringen, den man gewissen Leuten schuldig ist!«

Der Greis öffnete die Augen, und von Schmerz entstellt, murmelte er mit herzzerreißendem Ausdrucke: »Vor dem Gerichtshofe ... Mein Sohn ... Mein Robert ... Ist das möglich? ... Was hat er gethan?«

Carvayan trat an ihn heran, so nahe, daß sein glühendes Gesicht den Marquis fast berührte: »Er hat nach der väterlichen Tradition gehandelt. Er hat ein Mädchen entführt ... und als sie diesmal sich sträubte, hat er es erdrosselt! Sehen Sie, das hat er gethan!«

Herr von Clairefont erhob sich, und in bittendem Tone sich an seinen Feind wendend, sagte er: »Es ist unmöglich, daß er schuldig ist ... Es ist mein Sohn, Herr! Sie haben auch ein Kind ... Denken Sie, wie ich leide ... Ein armer Junge, unschuldig an dem Verbrechen, dessen man ihn zeiht ... Oh! ich will mich völlig ergeben, ich will alles thun, was Sie wollen ... Ich gestehe mein Unrecht ein ... Aber ich bitte Sie ... ich fühle, daß Sie meinem unglücklichen Robert helfen können ... Seien Sie nachsichtig ... Retten Sie ihn ... Geben Sie mir ihn zurück!«

Mit gekreuzten Armen, regungslos, hatte ihn Carvayan angehört.

»So, so! Eben noch haben Sie mich beschimpft ... Nun bitten Sie wieder ... Feigheit und Heuchelei! ... Bin ich denn einer von Ihren Freunden, daß ich Ihnen einen Dienst erweisen sollte?«

Der Marquis senkte den Kopf.

»Herr Carvayan ... Ich bereue aufs tiefste, was ich mir einst Ihnen gegenüber zu schulden kommen ließ ...«

»Und glauben Sie wirklich, daß Sie jene Kränkung mit ein paar Worten verlöschen könnten? ... Ein Schimpf, dessen Spuren ich noch nach so vielen Jahren auf meiner Wange trage ...«

Ungestüm faßte er Honoré am Arme und zog ihn ans Fenster.

»Sehen Sie ... dort diese Stelle vor der Freitreppe ... dort war es, wo Sie mich von Ihren Pferden überfahren und vom Lakaien peitschen ließen ...«

»Nun!« rief der Marquis außer sich, »steigen Sie mit mir in den Hof hinab, ich will, wenn Sie es fordern, auf derselben Stelle vor Ihnen niederknien, und Sie um Gnade für meinen Sohn bitten!«

Vor seinem besiegten, um Verzeihung bittenden Feinde, der in Thränen zerfloß, blieb der Maire regungslos und stumm. Er sah die Thränen über Honorés Wangen rollen, er sagte sich: »Nun ist er gebrochen, nun liegt er zu meinen Füßen. Der verzehrende Traum meiner Nächte hat sich verwirklicht. Ich triumphiere, ich bin glücklich.« Er wiederholte es sich: »Ich bin glücklich,« und doch fühlte er, daß er es nicht war. Schmerz und Bitterkeit waren in ihm zurückgeblieben, und sein Rachedurst war nicht gelöscht.

Er wendete sich um und sagte, etliche Schritte zurücktretend: »Ihre Abbitte kümmert mich wenig ... Mit Ihnen und Ihrem Sohne würde man doch niemals fertig werden ... Ich halte Sie, und ich lasse Sie nicht los ... Sie haben den Kampf begonnen; wundern Sie sich nicht, wenn ich ihn bis zum Aeußersten fortführe ... Sie hatten einst alles, Vermögen, Rang, Ansehen ... ich nichts ... Nun, nächstens wollen wir 'mal jeder unsere Rechnung abschließen ...«

Bei dieser harten Antwort sah der Marquis endlich ein, daß jede Hoffnung vergeblich sei. Ein Schwindel erfaßte ihn, und indem er mit wirren Blicken das Ungeheuer anstarrte, dem seine Qualen Freude machten, rief er drohend aus: »Wenn der Himmel gerecht ist, so werden Sie in Ihrem eigenen Sohne Ihre Strafe finden. Ja, weil Sie unerbittlich gegen den meinen sind, so wird er unbarmherzig gegen Sie sein ... Schurke! Sie haben einem ehrlichen Manne das Leben gegeben. Er wird Sie züchtigen.«

Diese von dem Marquis im Fieber des Wahnsinnes hervorgestoßenen Worte ließen Carvayan vor Furcht und Zorn erbeben.

»Weshalb sagen Sie mir das?« rief er.

Er sah den Marquis schwankenden Schrittes hin und her gehen, mit wirren Blicken und drohenden Gebärden ...

»Ich glaube, er wird verrückt!« murmelte er, zu Tondeur gewendet.

»Ach ja!« höhnte der Marquis. »Meine Feinde selbst werden mich rächen ... Ja, der Sohn ist ein Ehrenmann ... Einmal hat er schon das väterliche Haus verlassen ... Er wird sich vor dem Bösen entsetzen, das um ihn her geschieht ...«

Er schritt auf Carvayan zu.

»Hinaus mit dir, Ungeheuer! Deine Arbeit ist gethan ... Du hast mir mein Vermögen gestohlen, meine Ehre gestohlen ... Es bleibt mir nichts mehr übrig als mein Werk ... Das aber sollst du nimmer haben!«

Hierauf stürzte er zum Tische hin, nahm seine Zeichnungen, zerriß sie und trat sie mit Füßen, sodann griff er nach einem schweren Hammer, eilte zum Ofen, und unter fürchterlichem Hohnlachen suchte er ihn mit gewaltigen Schlägen zu zertrümmern. Carvayan wollte ihn daran hindern. Da wendete sich der Greis zu seinem Feinde mit gesträubtem Haare und verzerrtem Munde: »Tritt nicht näher oder ich erwürge dich!«

»Donnerwetter! Er macht mir wenig Furcht,« rief der Maire. Und schon wollte er hinstürzen, um den Ofen vor der Zerstörungswut des Erfinders zu schützen, als die Thür aufging und Fräulein von Clairefont in derselben erschien. Das wilde Schreien und Toben des Marquis war bis zu ihr hinabgedrungen.

»Lieber Vater!« schrie sie, indem sie auf ihn zueilte, ihm den Hammer entwand und den Alten mit ihren Armen umschlang. »Lieber Vater, was ist vorgefallen? ...«

Honoré strich mit der Hand über seine Stirn und seufzte: »Jage den Menschen hinaus ... Er thut mir weh ... Er bringt mich um ...«

Das junge Mädchen drehte sich zu Carvayan um und sagte sanft: »Mein Vater ersucht Sie, sich zurückzuziehen, mein Herr ...«

Da Carvayan aber zögernd nicht von der Stelle wich, zuckten zwei Blitze in den Augen des jungen Mädchens auf, und mit befehlender Gebärde nach der Thür weisend, sagte sie blos das eine Wort: »Hinaus!«

Erschreckt und bezwungen verbeugte sich der Maire schweigend, und gefolgt von Tondeur, der sich so klein als möglich machte, verließ er das Schloß.

Sodann führte Antoinette ihren Vater zu dem großen Lehnstuhle, kniete vor ihm nieder, suchte seine eiskalten Hände zu erwärmen, trocknete ihm die schweißtriefende Stirn, und da er noch immer regungslos, mit geschlossenen Augen stehen blieb, flüsterte sie: »Vater, ich bin's ... Besinne dich ... lieber Vater ... du machst mir Furcht ...«

Honoré stieß einen schmerzlichen Seufzer aus, machte eine Bewegung und schlug die Augen auf. Er erkannte Antoinette. Seine Augen füllten sich mit Thränen, und mühsam die Hände wie zum Gebet faltend, schluchzte er: »Ach, meine Tochter ... mein Engel ... verzeih mir, verzeih mir!«

Damit fiel sein Haupt nach rückwärts, er verlor die Besinnung. Im selben Augenblicke ließ sich ein rascher Schritt im Flur draußen vernehmen, und Herr von Croix-Mesnil trat ein.

»Antoinette!« rief er, mit ausgebreiteten Armen herbeieilend.

»Ich erwartete Sie,« sagte sie ernst.

»Mein Gott! Komme ich etwa schon zu spät? ...«

»Nein, denn wir haben noch gar viel zu leiden!« Und indem sie auf den bewußtlosen Marquis wies, setzte sie hinzu: »Helfen Sie mir, meinen Vater auf sein Zimmer tragen.«

Mit ehrfurchtsvoller Sorgfalt nahmen die beiden den Greis, der wie ein Kind stöhnte, in ihre Arme, und der traurige Zug bewegte sich über die Steintreppe hinab.


 << zurück weiter >>