Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

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Zehntes Kapitel

Am nächsten Morgen erfuhr die Einwohnerschaft von Neuville zu ihrer ebenso großen Ueberraschung als Befriedigung, daß infolge des Bruches, welcher zwischen dem Maire und seinem Sohne stattgefunden, die Fehde zwischen Clairefont und Carvayan an einer neuen Wendung stehe. Die einen hatten Fleury, Tondeur und Dumontier schon in aller Frühe nach der Rue du Marché eilen und lange Zeit nachher in großer Erregung und lebhaftem Gespräche sich wieder entfernen sehen. Andere hingegen wußten, daß Pascal bei Herrn Malézeau Wohnung genommen, der endlich mutig seine Schiffe hinter sich verbrannt und sich offen für die Familie Clairefont und gegen den Banquier erklärt hatte. Welch ein Fund für das kleine Städtchen, dessen langweiliges Leben sich im ewigen Einerlei hinschleppte und das nun plötzlich durch so außergewöhnliche Ereignisse sich in heftige Aufregung geworfen sah. Den Zungen war freier Lauf gelassen, und der Stadtklatsch, von allen, welche ihn wiederholten, mit erdichteten Zusätzen vergrößert, war gar bald zu erschreckenden, lächerlichen Verhältnissen angewachsen.

Die Dumontiers hatten den Leglorieux erzählt, daß Pascal, von Antoinette von Clairefont bethört, es gewagt habe, seinem Vater entgegenzutreten, und diese vertrauliche Mitteilung, von den Leglorieux nach ihrer Weise ausgeschmückt, war zu einer garstigen Verleumdung geworden.

Nun hieß es allgemein, daß Pascal, mit dem Schloßfräulein überrascht, von seinem entrüsteten Vater aus dem Hause gejagt worden sei.

Ja, man hatte Carvayan den Händen seines Sohnes, der ihn erwürgen wollte, fast entreißen müssen. Wer hätte jemals solche Ausschreitungen von dem jungen Manne, der ein so anständiges Aussehen hatte, erwartet! Ach ja! Die Demoralisation mache riesige Fortschritte! Ehemals wäre so etwas nicht vorgekommen. Aber die Strafe würde auch eine exemplarische sein und diese Intriganten von Clairefont, welche den Unfrieden zwischen Vater und Sohn herbeigeführt, würden nichts dabei gewinnen, denn der Maire, der sie bis jetzt geschont, sei entschlossen, mit aller Strenge gegen sie vorzugehen. Er wisse über die Angelegenheit des jungen Grafen Dinge, welche maßgebend auf die Entscheidung wirken mußten, und er würde nun mit seinen Aussagen nicht länger zögern; man könne mit Bestimmtheit auf eine Verurteilung zu lebenslänglicher Zwangsarbeit rechnen, da die Schwäche der Richter freilich nicht gestatte, auf ein Todesurteil zu hoffen.

Und an demselben Tage, wo der Prozeß entschieden würde, würde auch das Gut Clairefont zur Versteigerung gelangen und Carvayan gerichtlich zuerkannt werden.

Ein anderes Gerücht, und zwar zu Gunsten Pascals, das aber gleichfalls voller Unrichtigkeiten war, wurde von den Anhängern der Schloßherrschaft in Umlauf gesetzt: Ah! Der Maire, der steckt in einer hübschen Patsche, er wird ohne Zweifel seines Amtes entsetzt werden, denn er hat durch Vorschieben von Strohmännern von dem armen, unschuldigen Marquis fünfzig Prozent Zinsen genommen. Zudem kenne er auch den wirklichen Mörder der Rose Chassevent, dem er zur Flucht ins Ausland verholfen, um ihn dem Arme der Gerechtigkeit zu entziehen und den unglücklichen Robert, der unschuldig war, so unschuldig, liebe Freunde, wie ein neugeborenes Kind, um so sicherer ins Verderben zu stürzen. Pascal habe dies alles entdeckt, und voll Entrüstung habe er den Maire zu einem Vergleiche mit dem Marquis und zur Angabe des wahren Mörders zwingen wollen.

Doch Carvayan habe Widerstand geleistet, und daraufhin habe der Sohn das väterliche Haus verlassen, indem er erklärte, daß er selber die Verteidigung Roberts von Clairefont vor dem Schwurgerichte übernehmen wolle und auch die Versteigerung des Gutes zu verhindern wissen werde.

In zwei Tagen hatte Neuville sein gewohntes Aussehen verloren. Das war nicht mehr das kleine schläfrige Städtchen, dessen Bewohner ihren Geschäften und ihren Vergnügungen in so schleppender Weise nachgingen, daß es schien, als wollten sie nur die Zeit töten, die ihnen zu lang wurde; nun gab es mit einem Male Aufregung und Zeitvertreib. Die sonst vereinsamten Straßen waren vom Morgen bis zum Abend mit Neugierigen und Schwätzern gefüllt, welche plaudernd von Thür zu Thür Erkundigungen einzogen und miteinander stritten, dieser für den Maire, jener für den Marquis. Ja, es wurden sogar Wetten über den Ausgang der aufregenden Fehde eingegangen, was man seit Menschengedenken erlebt zu haben sich nicht erinnerte.

Die Frauen waren für den Marquis. Pascal hatte sich die Sympathien aller gefühlvollen Seelen errungen. Er liebte Antoinette! Wie romantisch!

Die prosaischer denkenden Männer aber, welche aus Erfahrung die gewaltige Macht des Maire kannten, schüttelten bedenklich den Kopf und prophezeiten dem Marquis und seinem Sohne keinen guten Erfolg. »Es ist nicht möglich, Carvayan zu widerstehen,« flüsterten sie einander ins Ohr, »wenn sein Vorteil im Spiele ist, ist er zu allem fähig, und in diesem Falle findet sich noch sein Stolz beteiligt. Pascal ist ein rechtschaffener, wackerer Bursche, doch er wird wie ein Strohhalm geknickt werden. Warum mengt er sich auch in diese verteufelte Geschichte, um fremder Leute willen, die ihn nichts angehen? Liebesfeuer –Strohfeuer. Eine kleine Reise von sechs Wochen hätte ihn die schöne Antoinette vergessen lassen, und er würde sich mit seinem Vater nicht für immer entzweit haben.«

Müßiggänger umschlichen das Haus in der Rue du Marché, um etwaige neue Details zu erspähen. Doch die düstere Behausung blieb schweigsam, nicht eine Falte in den Vorhängen rührte sich, die Thür wurde nicht geöffnet, und Carvayan, der sich in sein Zimmer geschlossen, ließ sein finsteres Antlitz niemand sehen. Niemals wurde ein menschliches Herz von einem entsetzlicheren Zorne heimgesucht, als das seine. Seit der Entfernung seines Sohnes hatte der Tyrann von Neuville weder geschlafen noch gegessen. Er hatte eine Nacht und einen Tag damit hingebracht, sein Kabinett mit wütenden Schritten zu durchmessen, in dieser anhaltenden Bewegung die in seinem Innern stürmende Heftigkeit und Bitterkeit austobend.

Malézeau hatte ihm zu wissen gethan, daß er ihm den Betrag der Summe, welche der Marquis schuldete, nebst Zinsen und Kosten zur Verfügung stelle, da er das Geld für seine Rechnung in Empfang genommen habe. So war es denn zu Ende, die geduldige Arbeit von dreißig Jahren war in einem Augenblicke vernichtet. Der Kanzlist, welcher den Brief des Notars überbracht hatte, war entflohen, zu Tode erschreckt von einem jener pöbelhaften Zornesausbrüche, in welchen die gemeinsten Schimpfworte von den Lippen des ehemaligen Ladengehilfen strömten, wie der Schlamm die Gosse überflutet. Die Magd, welche einen erschreckenden Lärm in dem Zimmer ihres Gebieters vernahm, hatte in dem Glauben, es sei ihm etwas zugestoßen, gewagt, die Thür zu öffnen. Sie hatte Carvayan totenbleich, wutschäumend, mit gewaltigen Hieben auf die Möbel losschlagend gesehen und war mit wilden Flüchen überhäuft worden. Als er das Mädchen gewahr wurde, war er auf sie zugestürzt und hatte geschrien: »Du wagst es, mich auszuspionieren? Hinaus oder ich bringe dich um!«

Zitternd wie Espenlaub hatte sich die Kleine in ihre Küche geflüchtet und das Ereignis noch am selben Abend den Marktweibern erzählt.

»Heilige Jungfrau! Was für ein Mann! Er war beinahe verrückt! ... Er grinste mit den Zähnen ... Ich bin vor Schrecken fast umgekommen ... Ich wollte nicht in der Haut seiner Feinde stecken ... So viel weiß ich!«

Trotz dieser Vorhersagungen war man im Schlosse verhältnismäßig ruhig. Der Zustand des Marquis hatte sich gebessert, und dank dem von Pascal gegebenen Versprechen war auch in Antoinettes Herz die Hoffnung wieder eingezogen. Ihren Besuch bei Pascal hatte sie dem Baron freimütig erzählt, und diesen hatte das unerwartete Eingreifen von Carvayans Sohn bis ins Innerste seiner Seele erregt. Durch eine nur Liebenden eigene, scharfsinnige Erkenntnis hatte er ein Geheimnis und eine Gefahr erraten. Welch ein anderer Einfluß als die Schönheit des jungen Mädchens konnte aus dem Gegner von gestern einen Verbündeten für morgen schaffen? Eine geheime Bitterkeit vergiftete die Freude, welche der Baron anfangs empfunden, doch besaß er Mut genug, seine Gefühle zu verheimlichen, und in seinem großmütigen Herzen gewann der Wunsch, seine Freunde wieder glücklich zu sehen, gar bald die Oberhand über die Eifersucht, welche er gegen Pascal empfand. Auch die Tante von Saint-Maurice war durch die Unruhe, in welche sie die Nachricht von der Erkrankung des Marquis versetzt hatte, am Morgen nach dem zwischen Pascal und seinem Vater erfolgten Bruche von Rouen zurückgekehrt. Malézeau hatte das alte Fräulein in seinem Kabriolett heimgebracht. Während der langsamen Fahrt über den Hügel von Clairefont hatten sie Zeit gehabt, miteinander zu plaudern, und als Tante Isabella an dem Stützpfeiler, auf welchem das große Gitter des Schloßhofes ruhte, die Anschlagzettel bemerkt hatte, welche Papillon dort angeklebt, war sie alsogleich vom Wagen herabgesprungen, hatte mit eigener Hand das Papier heruntergerissen und es als Siegestrophäe ins Schloß mitgebracht. In der Mitte des Salons stehend, hatte sie es alsdann mit triumphierender Gebärde hoch in der Luft geschwungen und freudig ausgerufen: »Sehet ihr, daraus kann ich jetzt Fidibusse machen!«

Man hatte sie beruhigen müssen; die Aufregung der Reise, das Vergnügen, sich wieder in Clairefont zu befinden, die Hoffnungen, die ihr Malézeau gegeben, hatten sie völlig außer sich gebracht. Man machte ihr begreiflich, daß, wenn die Situation auch besser, sie doch keineswegs schon zufriedenstellend sei, und aus dem Uebermaße ihrer Freude verfiel sie alsbald wieder in ein Uebermaß von Trostlosigkeit. Sie sprach von Robert, den sie nicht hatte sehen können, von ihrer Vermutung, daß er in einem furchtbaren Kerker schmachte, und brach schließlich in heftiges Weinen aus. Der Notar gab ihr die feste Versicherung, daß sie nächstens durch Pascal sichere Nachrichten erhalten solle. Sobald die Weisung an das Schwurgericht erfolgen würde, durfte Roberts Verteidiger mit dem Gefangenen verkehren, und auch Tante Isabella würde die Erlaubnis erhalten, ihn zu sehen.

Freilich mußte bis dahin noch eine längere Zeit verstreichen, allein man hatte doch die Hoffnung auf ein günstiges Ergebnis. Der Name Carvayans allein war für Roberts Sache von größerem Werte, als alle Gewandtheit eines Pariser Advokaten.

An Pascals Rednergabe war nicht zu zweifeln. Man erinnerte sich seiner Erfolge aus einer Zeit, wo er erst Anfänger gewesen. Durch seine fernere Thätigkeit und sein Alter gereift, entflammt von dem Eifer, mit welchem er entschlossen war, Roberts Verteidigung zu führen, mußte er dem Staatsanwalt ein gefährlicher Gegner werden, ob auch ein siegreicher, wagte man noch nicht zu sagen.

»Ich habe es mir stets gedacht, daß dieser Pascal ein rechtschaffener Mensch sein müsse,« rief Fräulein von Saint-Maurice mit starker Stimme aus ... »Ah! Wenn er mir meinen armen Robert wiedergibt, so kann er von mir fordern, was er will. Oh, was es auch sei, ich würde es ihm bewilligen!«

Herr von Croix-Mesnil entgegnete mit einem schwachen Lächeln: »Sagen Sie ihm dies nicht zu oft, gnädiges Fräulein, wer weiß, wie weit eines Tages sein Ehrgeiz gehen könnte?«

»Nach einem solchen Dienste könnte er gar nicht zu groß sein!« entgegnete Tante Isabella in ihrer exaltierten Weise. »Die Ehre und die Freiheit eines Clairefont ist alles wert, was wir besitzen! ... Nicht wahr, Antoinette? ...«

»Ja, Tante,« erwiderte das junge Mädchen kalt.

Damit erhob sie sich, um das Gespräch abzubrechen, und indem sie mit Malézeau auf die Terrasse trat, verlangte sie von ihm eine Erklärung über die glückliche Lösung der Geschäftsfrage, womit der Verfolgung Carvayans Einhalt gethan war.

Der Notar sagte ihr, daß er einen Mann gefunden, der die Gelder zu sehr günstigen Bedingungen vorgestreckt habe, Industrie und Geschäft lägen darnieder, und die Kapitalisten suchten für ihre Gelder eine sichere Anlage. Eine gänzliche Tilgung aller Schulden habe dem neuen Gläubiger eine hypothekarische Sicherheit verschafft, und außer einer jährlichen Zinsenzahlung von fünf Prozent würde man jetzt Ruhe haben. Sogleich nach Beendigung des Prozesses würde der Steinbruch wieder in Betrieb gesetzt werden, mit einem Ingenieur als Leiter der Geschäfte. Und wenn der Marquis vernünftig sein wolle, so würde er schon nach einigen Jahren in der Lage sein, seine Schulden decken zu können. Aber vor allem gelte es, daß er darauf verzichte, ein Mann von Genie sein zu wollen, sondern sich damit begnüge, ein guter Familienvater zu sein.

Mit tiefer Rührung hatte Antoinette Herrn Malézeau angehört, sie drückte ihm die Hand, und Thränen rollten aus ihren Augen. Eine kurze Weile giengen beide schweigend dahin, dann sagte sie: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen meine Dankbarkeit ausdrücken soll ... Alles, was uns Glückliches widerfuhr, verdanken wir Ihnen ... Ihre treue Freundschaft hat Sie zuerst es wagen lassen, mit unserem Verfolger den Kampf aufzunehmen ... sie hat uns den von der göttlichen Vorsehung geschenkten Beistand des Herrn Pascal verschafft, und sie macht nun auch unseren finanziellen Verlegenheiten ein Ende, die uns grausam bedrückten ... Alle Tage meines Lebens will ich für Sie beten ...«

Malézeaus Augen zwinkerten hinter der goldenen Brille, deren Gläser sich verfinsterten, wie Fensterscheiben im Regenwetter. Er stammelte: »Gnädiges Fräulein ... Ich fühle mich tief durchdrungen ... gnädiges Fräulein ... Sie danken mir zu viel für das wenige, das ich thun konnte ... Gnädiges Fräulein ... Nicht mir, einem andern fällt das Verdienst zu ... gnädiges Fräulein ...«

Er fürchtete zu viel zu sagen, warf dem jungen Mädchen einen ängstlichen Blick zu und schwieg.

»Was meinen Vater betrifft,« hob Fräulein von Clairefont wieder an, »so habe ich die traurige Gewißheit, daß er weder die Lust noch die Kraft haben wird, seine Beschäftigung je wieder aufzunehmen. Die Spannkraft seines Geistes ist durch die letzten heftigen Erschütterungen gebrochen. Seine körperlichen Kräfte kehren zurück, er spricht, er hört zu, er erinnert sich, aber er hat weder Thatkraft noch Willen mehr ... Er ist nur noch ein sanftes, stilles Kind ... Sie werden ihn sehen ... Doktor Margueron versichert, daß er trotz dieses Zustandes noch sehr lange leben kann.«

Sie schritten weiter. Zerstreut zeichnete Antoinette mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Linien in den Sand. Sie hätte gern mit Malézeau von Pascal gesprochen, um genau zu erfahren, was sich alles in der Rue du Marché infolge ihrer Unterhaltung mit dem jungen Manne zugetragen. Sie war unruhig, erregt, und zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich mit ihrem Gewissen nicht völlig einig.

War sie es nicht gewesen, welche die Zwietracht zwischen Vater und Sohn entfacht? Hatte sie nicht, indem sie auf die großmütigen Gefühle Pascals rechnete, ihn dazu bewogen, mit seinem Vater zu brechen? In ihrem Inneren erhob sich eine Stimme, welche sagte: »Was kümmert das dich? Armes Lamm, laß doch die beiden Wölfe sich gegenseitig verschlingen! Sie sind von gleichem Stamme, aus gleichem Blute. Ist dieser Kampf, der eure Feinde einander gegenüberstellt, nicht eine gerechte Strafe für all das Leid, das ihr erdulden mußtet?«

Doch Antoinette wußte wohl, daß Pascal kein Feind war. Er war ihr Sklave, er gehörte ihr ohne Rückhalt, und nur, um ihr zu gehorchen, ihr zu gefallen, einzig ihr zuliebe hatte er sich dem väterlichen Willen entgegengesetzt und sich zum Kampfe gegen ihn erhoben. Sie war mithin verantwortlich für alles, was aus diesem Zwiste entstand.

Alles Leid, das Pascal begegnete, jeder Nachteil, den er erlitt, war ihre Schuld, und im Grunde fühlte sie, daß eine Art stiller Verpflichtung sie mit dem jungen Manne verband und in ihrem Stolze litt sie heftig unter diesem Gedanken.

»Mein Vater äußerte den Wunsch, Herrn Pascal zu sehen,« sagte Fräulein von Clairefont, »wann wird er kommen?«

»Das wüßte ich Ihnen nicht zu sagen, gnädiges Fräulein. Der junge Mann hat ein gar seltsames Wesen. Er ist menschenscheu und sucht die Einsamkeit. Obgleich er in unserem Hause wohnt, konnte meine Frau ihn doch nicht dazu bewegen, seine Mahlzeiten mit uns einzunehmen. Er fürchtet lästig zu fallen, und will lieber allein bleiben ... Ich müßte mich sehr täuschen, wenn Sie ihn früher sehen sollten, als er es durchaus für nötig halten wird, sich hier im Schlosse vorzustellen.«

Antoinette atmete erleichtert auf. Sie hatte eine Zudringlichkeit befürchtet und sah nun, daß sie, ganz im Gegenteil, vielleicht genötigt sein würden, ihren Verteidiger aufzusuchen. Sie war glücklich über diese Zurückhaltung und fühlte sich freier.

Eingeschlossen in dem Zimmer, welches ihm Malézeau zur Verfügung gestellt, hatte Pascal die letzten zwei Tage in tiefer Niedergeschlagenheit verbracht. Das Leben mit all den Niederträchtigkeiten, die es mit sich bringt, flößte ihm Abscheu ein. Einem finsteren Menschenhaß hingegeben, öffnete er nicht einmal die Jalousien und verträumte den Tag im Halbdunkel, rauchend, auf einem Diwan ausgestreckt. Schmerzliche Betrachtungen waren es, die er hier in seiner Einsamkeit anstellte. Hatte er nicht schon von seiner Geburt an ein verhängnisvolles Mal, das ihn dem Unglück weihte? Seine Vergangenheit war voller Trübsal, die Gegenwart voll grausamer Prüfungen, und die Zukunft schien ihm jeder Hoffnung bar. Was that er noch auf Erden? Verabscheut und verflucht von seinem Vater, von der, die er liebte, als ein Söldling angesehen, dessen Umgang man meidet, nachdem er seine Dienste geleistet –war es nicht besser für ihn, vom Weltenschauplatz abzutreten? Was war die Todesangst der letzten Stunde gegen die Qualen, welche er jetzt erlitt? Nach dem kurzen Gange vom Leben zum Tode eine stille, sanfte Ruhe, ein Schlummer, in welchem in ewigem, süßem Traume Antoinettes liebliches Bild ihn umschweben sollte. Dort würde er auf ihren Lippen nur ein nachsichtiges Lächeln erblicken, denn aller Widerwille wäre mit ihm gestorben, sie würde nur noch an seine Seele denken, und wenn sie erkannte, wie sehr er sie geliebt, würde sie, entwaffnet, ihn als ihren ewigen Verlobten betrachten. Matt und leidend, wie Pascal war, fing er nun im Schweigen und Dunkel des Gemaches an zu seufzen und zu weinen. Sodann ging er wieder in sich und klagte sich der Feigheit an. Wie! Den Kampfplatz verlassen zu wollen, wenn die Geliebte auf seinen Beistand zählte? Sie hilflos der Rache ihrer Feinde aussetzen? Robert, den er für unschuldig hielt, aufs Geratewohl dem Gutachten der Geschworenen überlassen? Nein, das war unmöglich. Erst mußte er seine Aufgabe erfüllen, seine Pflicht thun, und hatte er dann durch den geleisteten Dienst sein Andenken in ihrem Herzen, das er so gern ganz ausgefüllt hätte, mit unauslöschlichen Zügen eingegraben, dann wollte er verschwinden, entfliehen oder sterben, wie der Augenblick es ihm eingeben würde. Sein Mut kehrte wieder, er beschloß, heimliche Nachforschungen über jene Vorfälle anzustellen, welche Robert von Clairefont vor das Gericht gebracht hatten. Gleich bei den ersten Schritten stieß er auf ein gleiches Verfahren, welches von den Helfershelfern seines Vaters ausging, in der Absicht, dort nach Verdachtsgründen zu spähen, wo er Beweise für die Unschuld des Angeklagten suchen wollte.

So trafen Anklage und Verteidigung bereits ihre Vorsichtsmaßregeln, begannen den Feldzugsplan festzustellen und das Zusammentreffen einzuleiten.

Diese Kampfesvorbereitungen erweckten Pascals Thatkraft vollends. Die Unthätigkeit hatte ihn niedergedrückt, im Kampfe mit Schwierigkeiten fand er sich selbst wieder.

Er, der mit der Hinterlist der Südamerikaner fertig geworden, war wohl auch imstande, sich mit den Bauern seiner Normandie in einen Kampf einzulassen. Er gewann die Ueberzeugung, daß die Untersuchung sich nicht bloß darauf beschränkte, Anklagepunkte zu sammeln, welche so leicht gegen Robert erhoben werden konnten, sondern daß sie gewissenhaft ihre Nachforschungen auch nach anderen Richtungen erstreckt und verschiedene Personen, auf welche ein Verdacht fallen konnte, verhört habe.

Ein umherziehender Kesselflicker, der sich in jener Nacht in Couvrechamps aufgehalten, hatte sich durch ein unanfechtbares Alibi aus der Affaire gezogen.

Auch der Rotkopf, der einen Teil der Nacht mit Rose zugebracht, war verhört worden. Aber es war nichts aus dem Schäfer herauszubringen. Er war erschienen, eine armselige Jammergestalt, das Gesicht von furchtbaren Zuckungen verzogen, die ihm ein lachendes und zugleich blödsinniges Aussehen gaben. Nur durch Drohungen hatte man ihn aus seiner Stummheit aufrütteln können, worauf er ein gräßliches, unartikuliertes Geschrei ausstieß, das eher von einem wilden Tiere als von einem Menschen herzurühren schien. Der Pächter von Soucelles, der bei dem Verhöre zugegen gewesen, hatte zu Gunsten des Blödsinnigen ausgesagt und die beste Auskunft über ihn erteilt.

»Ausgenommen, daß er nichts spricht und nichts versteht, was nicht immer ein Unglück ist,« sagte er mit Bauernverschmitztheit, »ist er ein guter Knecht ... Er weiß mit den Schafen umzugehen ... und besucht nie ein Wirtshaus ... Er hatte die Rose sehr gern ... Ach ja! Man kann es schon sagen, denn sie hat ihn fast aufgezogen ... Sie war sehr gut zu ihm, und er folgte ihr wie ein Hund ... Er hätte sie viel eher bis zum Tode verteidigt, als daß er ihr ein Leid gethan hätte. Ja! Uebrigens ist er auch gegen zwei Uhr nach Hause gekommen ... Gegen Zwei oder ein Viertel Drei ... Mein Weib hörte die Thüre des Schafstalles öffnen und sagte zu mir: ›Hörst du, das ist unser Knecht, der zurückkommt.‹«

Darauf hatte der Rotkopf an allen Gliedern zu zittern angefangen, war totenblaß geworden, hatte ein klagendes Geheul ausgestoßen, wie ein Hund, der den Mond anbellt, und mit den Händen in der Luft umherfahrend, war er von fürchterlichen Zuckungen befallen worden.

»Sehen Sie,« meinte der Pächter, »man würde ihn töten, wenn man ihn weiter quälen würde ... Er ist etwas wunderlich im Kopfe ... aber er könnte keine Fliege umbringen, seien Sie unbesorgt!«

Wie war es möglich, diesen armen Blödsinnigen zu einer Aussage zu bewegen, und wenn man auch eine erhielt, welchen Glauben konnte man ihr beimessen? Der Schäfer wurde daher wieder in Ruhe gelassen.

Als Pascal an dem Steinbruch vorüberkam, um den Schauplatz des Verbrechens einer eingehenden Musterung zu unterziehen, begegnete er dem Rotkopf und sah betroffen die Veränderung, welche in dessen Aeußerem sich vollzogen hatte. Seine Augen waren erloschen, der Mund zusammengepreßt. Er, der sonst so lebhaft und kampfeslustig war, lag jetzt still im Heidekraut, ohne wie sonst die Vorübergehenden mit seinem Grunzen und seinen Luftsprüngen zu verfolgen. Der junge Mann konnte näher treten, ohne daß der Schäfer eine Bewegung machte; der schwarze Hund schlug an, um seinen Herrn zu benachrichtigen, dieser rührte sich nicht. Wachend schien er zu schlafen, die Augen starr ins Weite gerichtet, als ob eine Vision dieselben an sich zöge, während Thränen über seine Wangen liefen. Pascal sprach den Namen »Rose« aus, der Blödsinnige erbebte, verblieb jedoch in diesem Zustande seltsamer Verzückung.

Welch ein Unterschied zwischen dieser Stumpfheit und dem feurigen Ungestüm, das ihn beseelte, als Pascal ihn zum erstenmal gesehen! Es war am Tage nach seiner Heimkehr gewesen, an jenem herrlichen Sommermorgen, der den Sohn Carvayans der Tochter des Marquis in den Weg geführt. Der Rotkopf und Rose lachten und schäkerten im Schilf am Weiher, und die muntere Wäscherin erwies sich fast ebenso kräftig wie der Schäfer.

Wie heiter und sorglos war Pascal selbst gewesen, als er seiner schönen Gefährtin durch den Hohlweg von Couvrechamps folgte! Berauschende Wohlgerüche erfüllten die Luft, das Grün der Bäume entzückte das Auge, der Boden schien elastisch zu sein unter dem dahinschreitenden Fuße. Es war einer jener Augenblicke, wo der Körper in einer reineren Atmosphäre zu atmen glaubt, wo der Geist sich angeregter und lebendiger fühlt, wo das ganze Wesen in gehobener Stimmung glückselig schwelgt wie eine vom Sonnenlichte geküßte Pflanze. Ein Augenblick später, welch ein Wechsel! Antoinette brauchte bloß ihren Namen auszusprechen, Pascal den seinen zu nennen, und es schien, als habe der Himmel sich verfinstert, die Landschaft ihren Glanz verloren, und als erzittere die Erde unter einem rauhen Nordwind. Pascal fühlte, wie sein Herz sich schmerzlich zusammenzog, es war ihm, als bilde dieses zuerst lachende, dann düstere Gemälde den Inhalt seiner Liebesgeschichte, die, in Freude begonnen, in Schmerz endigte. Er verließ den Rotkopf und stieg quer über den Hügel hinab nach der Richtung von Pourtois' Schenke, wie er es an dem Tage seiner Begegnung mit Antoinette gethan. Und wie an jenem Morgen stieß er die Thür auf, dasselbe kühle Dunkel herrschte in der Gaststube und nur schwer vermochten anfangs die Augen des jungen Mannes die Gegenstände zu unterscheiden. Fleury und Tondeur waren nicht anwesend wie damals, doch Chassevent saß an einem Tische, mit vertiertem Aussehen, Branntwein trinkend, während die kleine, dürre Frau Pourtois hinter dem Schenktische schweigend strickte. Der Vagabund verzog keine Miene, aber die Wirtin erbleichte und stürzte Pascal entgegen: »Ah! Herr Carvayan ... Wie, Sie sind's? Was ist Ihnen gefällig?«

»Nichts! ... Ist Ihr Mann zu Hause?«

»Sie wollen ihn sprechen?« fragte die Frau mit argwöhnischer Miene ... »Ach! Der arme Mann liegt seit mehreren Tagen krank darnieder ... Doktor Margueron sagt, er leide unter den Folgen eines großen Schreckens. Er ist zu Bett. Er darf nicht sprechen ... und niemand darf zu ihm ... Sehen Sie, das geht so seit dem Unglück ... Ein Mensch, der niemals eine Gemütsbewegung gehabt und sich plötzlich genötigt sieht, einen Leichnam zu tragen ... Das hat ihn so fürchterlich mitgenommen!«

Chassevent, der bis dahin über sein Glas gebeugt dagesessen, begann sich zu rühren: »Ist es wahr, Herr Carvayan,« fragte er mit finsterem Gesichte, »daß Sie den Mörder vor Gericht verteidigen werden?«

»Ja, das ist wahr,« erwiderte Pascal.

»Was haben wir armen Leute Ihnen denn gethan, daß Sie uns so quälen wollen? Nun, da meine liebe teure, gute Tochter tot ist, wovon soll ich in meinem Alter leben? Wer soll mich erhalten, wer soll mich pflegen, wenn ich krank werde? Ach ja! Man kann schon sagen, daß sie ein schönes, gutes und braves Geschöpf war! Mit ihr habe ich alles verloren! Und Sie wollen es verhindern, daß man mir eine Geldsumme gibt, und daß man dem Lumpen auf öffentlichem Platze den Kopf abschlägt? Schickt sich das für einen so tüchtigen Menschen, wie Sie es sind?«

Pascal gedachte, den Vagabunden noch mehr in Harnisch zu bringen, in der Erwartung, daß dieser sich zu einer Unvorsichtigkeit werde verleiten lassen

»Wenn Herr von Clairefont das Verbrechen begangen hat, so wird er verurteilt werden,« entgegnete er mit Entschiedenheit. »Er ist aber unschuldig, dessen bin ich gewiß, und niemand weiß dies besser als Ihr selbst ... oder Euer Begleiter, Herr Pourtois ...«

»Unschuldig!« schrie Chassevent, »nun gut! Der Dicke soll's nur sagen! ... Weh ihm! Ja, er soll nur sagen, daß er es nicht so gesehen hat wie ich ... Und der Teufel soll mich holen, wenn ...« Frau Pourtois schnitt ihm geschickt das Wort ab.

»Sind Sie, mein Herr, etwa hierhergekommen, um ehrliche Menschen zu quälen, die von niemand etwas verlangen?« sagte sie in erbittertem Tone. »Unser Haus ist ein öffentlicher Ort, das ist wahr, aber man wird bei uns bloß mit Essen und Trinken bedient, nicht aber mit bösen Worten ... Die Art und Weise, wie Sie sich von Ihrem Vater losgesagt haben, war nicht gar so schön, als daß es Ihnen auch noch einfallen sollte, uns gleichfalls Grobheiten zu sagen ...«

Die Wirtin geriet in Aufregung, ihr Gesicht nahm einen grausamen, boshaften Ausdruck an, die kleinen Schlangenaugen funkelten, und der dünne Mund verzog sich zu einer drohenden Fratze. Sie war im Begriff, in der begonnenen Tonart weiterzusprechen, als eine Thür im Hintergrunde aufging und Fleury heraustrat.

»Ah, Herr Carvayan!« rief er ... »Gerade wollte ich zu Ihnen gehen ...«

»Wie es scheint, ist die Thür zu Ihrem Manne nicht für jedermann verschlossen,« sagte Pascal spöttisch zu Frau Pourtois, die sich jetzt wieder still auf ihren Platz am Schenktische zurückbegab.

»Kommen Sie mit mir,« sagte der Schreiber, und ohne sich weiter um die Wirtin und den Vagabunden zu kümmern, zog er den jungen Mann mit sich fort.

Bald standen sie an derselben Stelle, wo Fleury, auf den Park von Clairefont weisend, mit triumphierendem Tone ausgerufen hatte: »Nun wird es bald mit ihnen zu Ende sein! ...« Dieser erinnerte sich des Ausspruches, und bekümmert das Haupt neigend, sagte er: »So ist es unwiderruflich? Sind wir in der That Gegner? Ach! Wenn Sie wüßten, welch großen Schmerz Sie Ihrem Vater bereitet haben ... Er ist in diesen Tagen um zehn Jahre gealtert ... Sie würden erschrecken, wenn Sie sehen würden, wie Kummer und Gram ihn mitgenommen haben ... Bedenken Sie doch, daß Sie an alledem schuld sind ...«

»Ich!« rief Pascal, außer sich über eine solche Heuchelei. »Ich? Mich wagen Sie zu beschuldigen?«

Er holte tief Atem, wie um das heftige Pochen seines Herzens zu beschwichtigen, dann brach er voll Erbitterung los: »Glauben Sie etwa, daß ich Ihre abscheulichen Vertrauensmitteilungen vergessen habe? Welch schmutzige Seele mußten Sie mir nicht zumuten, da Sie mir dieselben zu machen wagten! Ja, Sie haben mir mit unglaublichem Cynismus die Pläne enthüllt, die Berechnungen Ihrer Partei auseinandergesetzt, mir die Triebfedern gezeigt, die euch leiteten. Und weil ich stumm blieb, glaubtet ihr, daß ich eure Pläne billige und euch vielleicht noch bei deren Ausführung helfen werde? War es denn nicht ein verlockendes Unternehmen? Dieser großartige Angriff war ja gegen das Vermögen eines Mannes gerichtet, der unfähig war, sich zu verteidigen ... Es galt, ihn zu berauben, ihn auszuplündern! Und der ganze schimpfliche Schacher mit vorgeschobenen Strohmännern, zu hohem Diskontsatz erneuerten Wechseln, Prolongation mit Wucherzinsen, die ganze Räuberei eines unlauteren Bankgebahrens wurde hier ins Werk gesetzt ... Und als ich vernahm, wie ihr euer Opfer foltert, um es zur Herausgabe seines Geldes zu zwingen, da ging ich sogleich mit mir zu Rate, wie ich eure Niederträchtigkeiten zunichte machen könnte. Ich schwieg, von Ekel erfaßt und kämpfte zwischen dem Abscheu, den mir eure Handlungen einflößten, und der Schande, mit denselben eine Gemeinschaft zu haben. Was ich dabei gelitten, könnt ihr nicht begreifen! Ich weinte die bittersten Thränen, die je ein Menschenauge geweint! Ich wollte fliehen, verschwinden, durch die weiteste Entfernung mich von diesem schnöden Unrecht trennen. Schon war ich im Begriff abzureisen ... Da habt ihr mich durch neue Schändlichkeiten zum Bleiben gezwungen. Das Vermögen der Unglücklichen genügte euch nicht mehr, ihr verlangtet auch nach ihrer Ehre ... Ihr habt den Sohn in euren Fallen gefangen, habt ihn angeklagt, ausgeliefert, zu Boden geworfen. Und ich, der Mitwisser eurer Schliche, mußte mir sagen, daß, wenn ich mich nun entferne, ich ihn euch preisgebe und euer Mitschuldiger werde. Mein Gewissen empörte sich, und, um eurem Treiben ein Ende zu machen, war ich gezwungen, den Kampf mit dem aufzunehmen, dessen Namen ich trage, Carvayan gegen Carvayan, wie man vor Gericht sagt.«

Fleury ließ den Strom dieser leidenschaftlichen Worte vorüberrauschen, dann meinte er mit höhnischem Grinsen: »Ich war ein Narr, ich hätte meine Zunge besser im Zaume halten sollen ... Aber wetten könnte ich, daß, wenn Fräulein Antoinette etwas weniger schön wäre, Sie über unser Verfahren weniger empört wären.«

Pascal wurde bleich, er faßte den Arm des Schreibers und sagte, ihn heftig schüttelnd: »Ich verbiete Ihnen, den Namen des Fräuleins von Clairefont in meiner Gegenwart auszusprechen! Der erste Gebrauch, den ich von meiner wiedergewonnenen Unabhängigkeit machen werde, wird der sein, daß ich solche Kerle, wie ihr seid, die sich Vertraulichkeiten erlauben, welche ich für erniedrigend halte, gebührend züchtigen werde. Lassen Sie sich das gesagt sein, und setzen Sie Ihre Kameraden davon in Kenntnis.«

»Ha, ha! Erzürnen wir uns nicht,« hob Fleury in süßlichem Tone wieder an, »ich bin ein friedliebender Mann ... Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Ihnen Verdruß zu bereiten ... Ich habe nur versöhnliche Gedanken ... Sehen Sie, wollen Sie wirklich Ihren Vater seinem Schmerz überlassen, ohne ihm mit einem Schritte entgegenzukommen? Er war sehr erregt, gewiß ... allein Sie waren es ja doch, der ihn zur Verzweiflung brachte ... Ist denn gar kein Vergleich möglich?«

Pascal gewann es über sich, ruhig zu scheinen, er wollte wissen, welche Feigheit man von ihm erwartete.

»Was verstehen Sie darunter?«

Fleury fuhr mit der Hand grimmig durch sein widerspenstiges Haar: »Sie sind der Herr der Situation, Sie müssen sich milde zeigen ... Ueberlassen Sie uns den Steinbruch.«

»Gebt Robert von Clairefont die Freiheit wieder!«

»Sie wissen wohl, daß dies jetzt unmöglich ist ...«

»Jawohl! Es ist viel leichter, ein Unrecht zu begehen, als es wieder gut zu machen ...«

»Würden Sie nicht einwilligen, Ihren Vater wiederzusehen?«

»Wozu?«

»Vielleicht kann ein Einvernehmen erzielt werden ...«

»Niemals auf solchen Grundlagen, wie sie von Ihnen vorgeschlagen werden ...«

»Wollen Sie der Welt das trostlose Schauspiel eines Sohnes bieten, der gegen seinen Vater kämpft?«

»Ich verhindere ihn, eine That zu begehen, die ich verabscheue, es sind somit die Interessen seiner Ehre, die ich gegen ihn selbst verteidige.«

»Ist das Ihr letztes Wort?«

»Mein Vater hat bereits von mir selber alles gehört, was ich ihm zu sagen hatte ... Jetzt habe ich nur noch zu handeln.«

»Nehmen Sie sich in acht! ...«

»Oh! Ich weiß gar wohl, was ich von eurer vereitelten Habsucht zu erwarten habe ... Ihr werdet vor der Wahl der Mittel nicht zurückschrecken, werdet euch nicht scheuen, zu verleumden und zu bestechen ... Aber die Wahrheit wird darum nicht weniger klar zu Tage treten ... ich meinerseits werde nichts versäumen, damit es so werde ...«

Fleury machte eine Gebärde des Zornes, dann wendete er sich wieder Pascal zu: »Frieden oder Krieg? Zum letztenmal biete ich Ihnen die Hand ...«

Pascal sah den Schreiber mit niederschmetternder Verachtung an, und die Schultern schüttelnd, sagte er: »Wozu? Ich habe nichts hineinzulegen.«

Und ohne ein weiteres Wort, ohne sich umzuwenden, setzte Pascal seinen Weg fort.

Indes waren die Drohungen, welche Fleury ausgestoßen, keineswegs platonisch. Mit unerhörter Frechheit wurde auf die Zeugen eingewirkt. Die Tuboeufs von Couvrechamps hatten wiederholte Besuche von Tondeur erhalten, der sich angelegentlichst nach ihren Bedürfnissen erkundigte und sie hierauf über ihr Zusammentreffen mit Rose und Robert auf ihrem Heimwege von dem Feste befragte. Tuboeuf, ein Maurer, der mit Tondeur noch eine alte Rechnung auszugleichen hatte, war seit dem Besuche des Holzhändlers sehr aufgeräumt und gesprächig geworden. Dumontier und Leglorieux suchten den Doktor Margueron für sich zu gewinnen. Dieser hatte eine erwachsene Tochter und wenig Vermögen. Man ging so weit, ihm eine glänzende Heirat für dieselbe in Aussicht zu stellen. Es wurde zwar kein direktes Verlangen an ihn gerichtet, es hieß, man verlasse sich völlig auf seinen Scharfsinn, allein man ließ durchblicken, daß eine Verurteilung des Herrn von Clairefont unter allen Umständen für ihn sehr vorteilhaft sein würde. Margueron hatte alles angehört, aber wenig gesprochen ... Und die Ueberzeugung, die er von Roberts Unschuld gewonnen, war durch die Anstrengungen, welche gemacht wurden, um seine Schuld zu erweisen, nur noch verstärkt worden. Der Stallbursche, den der Graf einst bei der Jagd so übel zugerichtet, hatte inzwischen das Land verlassen, nun wurde dessen Spur eifrigst verfolgt und als man von seinem Aufenthalte in Montagne Kenntnis erhielt, ließ man ihn kommen, um ihn als Belastungszeugen zu verwenden. In derlei Umtrieben suchte die Gegenpartei ihre schmutzigen Interessen mit außerordentlicher Regsamkeit zu fördern. Schon durchlief das Gerücht die Stadt, daß einer der tüchtigsten Sachwalter, bekannt als eine der besten Zungen unter den Pariser Advokaten, die Sache Chassevents, der als Privatkläger aufgetreten, verteidigen würde. Alle diese Berichte, von den Saint-André und den Tourette ins Schloß gebracht, hatten die Tante von Saint-Maurice in Todesangst versetzt. Sie wollte Pascal sehen.

»Wenn wir doch wenigstens mit ihm sprechen könnten, und wüßten, was er denkt, was er hofft ... Der Beruf eines Advokaten besteht doch darin, zuerst seine Klienten zu beruhigen und nachher ihren Prozeß zu gewinnen. Ein Advokat, der sich nicht blicken läßt ... Was heißt das? Der moralische Einfluß seines Namens, gut, den lasse ich gelten! Allein ich werde doch nur dann Vertrauen zu ihm haben, wenn er hier vor mir eine ganze Stunde lang gesprochen haben wird, ohne nur einmal aus der Fassung zu kommen ...«

Antoinette mußte den Bitten der Tante nachgeben und an Malézeau schreiben, er möge die Güte haben, mit Pascal nach Clairefont zu kommen.

Eine der heftigsten Gemütsbewegungen, welche der junge Mann je in seinem Leben empfunden hatte, ergriff ihn in dem Augenblicke, als er in Gesellschaft des Notars vor dem Gitterthore des Schloßhofes aus dem Wagen stieg. Noch waren die Spuren der gelben Anschlagzettel an den Pfeilern sichtbar. Hier bei diesem Eingange war es, wo er eines Abends, längs der Parkmauer hinwandelnd, das Knurren des Windspiels vernommen hatte und die Stimme Antoinettes, die es sanft zur Ruhe wies. Er erreichte das Vestibüle, ohne recht zu wissen, wie er den Hof durchschritten, eine Thür ging auf, er betrat den Salon und sah Tante Isabella, den Marquis und Antoinette vor sich. Eine Wolke verdunkelte seinen Blick, das Blut summte ihm in den Ohren, es schien ihm, als ob er mitten durch Flammen dahinschreite.

Da vernahm er die Stimme des Notars, welcher sagte: »Herr Pascal Carvayan, den ich mir erlaube dem Herrn Marquis vorzustellen ... Gnädiges Fräulein ... Herr Pascal Carvayan ...«

Der Marquis sah unter seinem weißen Haare noch sehr bleich aus, und ohne sich zu erheben, machte er bloß mit lächelnder Miene eine Handbewegung und sagte: »Er ist willkommen ...«

Der junge Mann verneigte sich und ließ sich neben dem Kamin auf einen Stuhl nieder, den ihm Antoinette zurechtgeschoben. Das Schloß brach nicht zusammen über dem Haupte dieses Carvayan, der ein Gast der Clairefonts geworden, die alte Behausung schien vielmehr einen Freund in ihm zu ahnen, denn sie hatte heute ein lachendes, einladendes Aussehen angenommen. Die erste Viertelstunde dieses Besuches ging für Pascal im Kampfe mit sich selbst vorüber, er war bemüht, seine Gefühle zu bemeistern, seinem unsicheren Blicke Festigkeit zu geben, sein hochklopfendes Herz ruhiger werden zu lassen und seine auseinanderstürmenden Gedanken zu sammeln. Er zwang sich, ruhig umherzublicken. Hell flutete das Tageslicht in den mit fein geschnitztem, grauem Getäfel bekleideten Salon herein, schimmerte fröhlich auf den schweren, alten Möbelstoffen und spiegelte sich in dem venetianischen Kronleuchter, der von der Decke herniederhing. Blumentische mit blühenden Gewächsen standen an den Fenstern, gegenüber dem Kamin ein geöffnetes Klavier, als habe Fräulein von Clairefont erst beim Eintreten des Besuches ihr Spiel unterbrochen. In einem großen Lehnstuhl lächelte der Marquis in einem fort, nur bisweilen mischte er sich mit hohler Stimme, die wie ein leeres Geschelle erklang, ins Gespräch. Neben dem Greise saß seine Tochter, gleich einer Sphinx mit dem treuen, trägen Windspiel zu ihren Füßen, dann Tante Isabella, die rot aussah, wie ein feuerspeiender Vulkan, und der Notar Malézeau. Herr von Croix-Mesnil war nicht anwesend; vielleicht war er nach Evreux zurückgekehrt, um seinem Dienste nachzukommen, dachte Pascal, als er ihn nicht sah. Malézeau sprach, und die Tante von Saint-Maurice antwortete ihm. Antoinette, ernst und traurig, hörte zerstreut zu. Zweimal schon hatte Pascal die Blicke des jungen Mädchens auf sich ruhen gefühlt. Er selbst wagte es kaum, die Augen zu erheben. Er dachte: »Ist es möglich? Bin ich es wirklich, der sich hier in diesem Salon in ihrer Nähe befindet? Nach so viel Haß und Verachtung sollte es mir gelungen sein, ihren Widerwillen zu besiegen? Schon einmal hat sie mir die Hand gereicht, und nun öffnet sie mir sogar ihr Haus. Ich weile in ihrer Nähe, ich sehe sie, ich atme dieselbe Luft mit ihr ... So viel Glück nach so viel Trübsal!«

Doch bald fiel ein finsterer Schatten auf sein Gemüt. War es Pascal Carvayan, den man empfing, war es Pascal Carvayan, auf den man freundliche Blicke richtete, dem sich freundschaftlich alle Hände darboten? Galt dies nicht vielmehr einzig und allein dem Verteidiger Roberts, dem nützlichen und notwendigen Gehilfen, der den Erben des Namens retten sollte? Er wurde nicht als ihresgleichen angesehen, er wurde geduldet, das war alles. Und wie beurteilte man ihn? Was verbarg sich hinter der Höflichkeit, mit welcher gebildete Menschen einander gegenübertreten?

Vielleicht eine ironische Verachtung des Abtrünnigen, des Verräters. Wer weiß, ob Antoinette in demselben Augenblicke nicht etwa dachte: »Ich bediene mich deiner, doch ich verachte dich.« Da fühlte er sein Herz sich erweitern und sich erheben, und er sagte sich: »Was liegt daran! Entschloß ich mich denn ihretwegen, die Bande zu zerreißen, die mich fesselten? That ich es nicht in erster Reihe um meiner selbst willen, um meiner Vernunft, meines Gewissens, meiner Ehre willen? Mögen sie also denken, was sie wollen!« Sogleich war er wieder er selbst, kaltblütig und besonnen genug, um beobachten zu können. Er hörte, wie Malézeau zur Tante von Saint-Maurice sagte: »Ich glaube, gnädiges Fräulein, daß die Angelegenheit schon gegen Ende dieses Monats zur Verhandlung kommen wird ... Sie ist entsetzlich einfach, gnädiges Fräulein ...«

»Und Sie bürgen uns für den jungen Mann?« fragte das alte Mädchen mit leiser Stimme.

»Wie für mich selber ...«

»Habt ihr ihn gesehen?« sagte der Marquis. »Er sieht seinem Vater gar nicht ähnlich ... Nein! Nein! Ganz und gar nicht ... Er wird Robert verteidigen ... Ich war es, der diese Idee gehabt ... und Sie wissen, meine Liebe, daß ich gute Ideen habe ...« .

Tante Isabella warf einen besorgten Blick auf den Notar, indem sie zwischen den Zähnen murmelte: »Er macht mich zittern.«

Inzwischen hatte Antoinette sich erhoben und schritt auf den Balkon hinaus. Pascal folgte ihr, wie von einer unwiderstehlichen Macht angezogen. Das Windspiel dehnte und reckte die trägen Glieder, näherte sich dann dem jungen Manne, um an ihm zu schnüffeln, und sah ihn mit melancholischen Blicken an, als wolle es sagen: »Ich errate dich, ich fühle, daß du gut, aufopfernd und treu bist, wie ich.« Und langsam begann das zierliche Geschöpf ihm die Hand zu lecken.

»Seltsames Tier,« sagte Tante Isabella, »es ist das erste Mal, daß ich ihn einem Fremden nicht die Zähne weisen sehe ... Herrn von Croix-Mesnil konnte er niemals leiden ...«

Auf dem Balkon war Antoinette stehen geblieben, Pascal durfte sie nach Belieben ansehen und sich an der gefährlichen Freude berauschen, sie für einige Augenblicke für sich allein zu haben. Er bewunderte die zarte Weiße ihrer Haut, die liebliche Rundung ihrer Schultern, die stolze Haltung ihrer Gestalt. Sie trug ein höchst einfaches Kleid aus grauem Kaschmir, ohne jeden Aufputz. Das Haupt barg sie unter einem roten Sonnenschirm, und ein indiskreter Sonnenstrahl, der ihren Hals umspielte, verlieh ihren in reicher Fülle sich kräuselnden Nackenlöckchen einen braungoldigen Schimmer. Sie sah so reizend aus, daß Pascal sich versucht fühlte, vor ihr niederzuknien, wie zu Füßen einer Gottheit. Er hatte alles vergessen, seinen Kummer, sein Mißtrauen, seine Bitternis; er dachte nur an sie, er sah nur sie. Alles übrige verschwand in dem himmlischen Leuchten ihrer Anmut und Schönheit. Er glaubte im Himmel zu sein.

Als sie zu sprechen begann, erbebte er; er sah sich wieder auf Erden.

»Sie sehen, mein Herr,« sprach sie mit wehmütiger Würde, »was unser Haus ist ... Der traurige Rest vergangener Größe, keines Neides mehr wert ... Doch, so wie es ist, ist es unser Heim, in dem wir uns wohl fühlen ... Und Dank Ihnen werden wir auch fernerhin unter diesem Dache weilen dürfen, da Sie, wie ich vermute, eine Vereinbarung getroffen haben, um uns dies zu ermöglichen... Ich verstehe nicht viel von geschäftlichen Dingen, aber ich glaube, daß ein so rascher und glücklicher Wechsel unserer Lage nur durch Sie herbeigeführt werden konnte... Ach, möchten wir doch in unseren Bestrebungen um unseren Bruder ebenso glücklich sein!«

Pascal wagte es, Antoinette ins Auge zu blicken, und sie mit den Schmeicheltönen seiner schönen Stimme umfangend, sagte er: »Wenn der Wille genügen würde, ein Genie zu sein, so könnte ich mich dafür verbürgen, Ihren Bruder zu retten... Allein ich kann nur das versprechen, was ein Mann zu halten vermag... Seien Sie versichert, daß ich in dem Bewußtsein meines guten Rechtes die höchsten Kräfte finden werde; je größer die Schwierigkeiten, desto größer werden meine Bemühungen sein, unserer Sache zum Siege zu verhelfen.«

Fräulein von Clairefont neigte die Stirn als Zeichen ihrer Zustimmung, dann verlor sie sich in tiefes Nachdenken. Nach einigen Augenblicken seufzte sie schmerzlich auf, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Pascal erbleichte und machte eine Bewegung, wie um sich ihr zu nähern; sie lächelte: »Verzeihen Sie... Ich habe so viel Kummer... Ich vergesse mich...«

Indes hatte sie ihre ein wenig stolze Heiterkeit bald wiedergefunden.

»Sie werden wohl die Güte haben müssen, öfter zu uns zu kommen... Wir werden viel verleumdet... Sie sollten uns näher kennen lernen, sollten unser Leben teilen, um zu wissen, wer wir sind, damit Sie uns demgemäß verteidigen können... Es ist ein Opfer, das ich Ihnen auferlege, wenn ich Sie bitte, in einem Hause häufig zu verkehren, in welchem Sie nur einen kranken Greis und betrübte Frauen finden ... Ich hoffe, daß Sie sich dadurch nicht werden abhalten lassen.«

Schweigend verbeugte er sich. Er zitterte vor Furcht und Freude zugleich, er war entzückt, daß die Thüren des Schlosses sich vor ihm öffneten, und erschrak hinwieder bei dem Gedanken, welche Unruhe diese Vertraulichkeit in sein Herz bringen würde. Damit begaben sie sich wieder in den Salon zurück. Im Hereintreten hörte er, wie Fräulein von Saint-Maurice mit erregter Stimme zu Malézeau sagte: »Aber er hat nicht den Mund geöffnet! Niemals wird ein so wenig gesprächiger Advokat das Kind retten können! Nein, das werden Sie nicht in meinen Kopf hineinbringen, daß ein Advokat die Freisprechung seines Klienten erwirken kann, sofern er nicht zwei Stunden hintereinander spricht!«

Worauf der Marquis mit dem leeren Geklingel seiner dünnen Stimme erwiderte: »Ich bin es, der diese Idee gehabt! ... Seien Sie unbesorgt, Tante... die Idee stammt von mir... Sie ist gut!...«

Pascal trat zu Herrn Malézeau, grüßte den Marquis und Tante Isabella und entfernte sich, von Antoinette bis zum Schloßthor begleitet.

Nach diesem ersten Besuche erschien er täglich im Schlosse, und schon am nächsten Tage traf er mit Herrn von Croix-Mesnil zusammen. Anfangs war ihm die Gesellschaft des jungen Offiziers äußerst peinlich, doch bald kam er von seiner Voreingenommenheit zurück. Er sah in dem Baron einen Mann von ritterlicher Gesinnung, zurückhaltendem, etwas kühlem Wesen, dessen wirklichen Wert er bald schätzen lernte. Auch fühlte er sich um so mehr zu ihm hingezogen, als er in dem Manne, den er als glücklichen Nebenbuhler gehaßt hatte, einen Leidensgefährten erkannte. Die liebenswürdige Gleichgültigkeit, mit der Antoinette Herrn von Croix-Mesnil behandelte, dünkte Pascal das größte Mißgeschick. Seine feurige Seele hätte Haß und Erbitterung einer solch freundlichen Nüchternheit vorgezogen. Er begriff, daß der Baron Fräulein von Clairefont liebte, sich jedoch über die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe völlig klar war. Die Gefahr, in der Robert schwebte, war das letzte Band, welches ihn mit der Familie verknüpfte, in der er ein glückliches Leben zu finden gehofft. Augenscheinlich litt er ungemein unter diesen Verhältnissen, und man wußte, daß er nur noch aus Pflichtgefühl ins Schloß kam. Er fand warme Worte der Anerkennung für den Verteidiger seines Freundes und benahm sich dabei mit so seinem Takte, daß er sich für immer Pascals Zuneigung erwarb.

Es bot ein seltsames Schauspiel, die beiden jungen Leute in Antoinettes Nähe zu beobachten. Beide leidenschaftlich verliebt und beide bemüht, nichts davon merken zu lassen; der eine liebenswürdig, von eleganter, ungezwungener Haltung, verbarg seine Gefühle mit gefälliger, untadeliger Anmut; der andere ernst, schroff und kalt, verriet sich nur gelegentlich durch eine warme, schwungvolle Sprache, die seine Augen aufleuchten ließ und einen begeisterten Ausdruck in seine Gebärden legte.

Wenn Pascal in dieser Weise unwillkürlich seiner Schwärmerei die Zügel schießen ließ, dann nahm das Antlitz des jungen Mädchens einen eigentümlichen Ausdruck ernster Sammlung an, ihre halbgeschlossenen Augenlider zuckten leicht, die Lippe bebte. Sie schien nichts von all dem zu hören, was rings um sie her vorging, es war, als lausche sie einer inneren Stimme, die gebieterisch zu ihr sprach. Fiel Pascal in seinen gemessenen Ton zurück, so zeigten auch die Gesichtszüge des Fräuleins von Clairefont wieder die gewohnte Ruhe. Dieser flüchtige Eindruck wurde vielleicht von niemand bemerkt, als von dem Notar, dessen Augen ungeachtet ihres beständigen Blinzelns sehr klar sahen.

Während im Schlosse das Leben sich so in stiller Erwartung hinzog, war die Aufregung in der Rue du Marché fortwährend im Steigen. Der in seinen Bestrebungen gescheiterte Haß, die um ihren Raub betrogene Habsucht hatten Carvayan in einen Zustand der Wut versetzt, der für seinen Verstand fürchten ließ. Im Städtchen machte sich eine Reaktion der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Opfer gegen ihren Henker allenthalben bemerkbar. Der materielle Druck, den der Banquier auf seine Schuldner ausübte, war gegen ihre Gesinnungen machtlos, er konnte sie wohl zwingen, nach seinem Willen zu handeln, doch nicht nach seinem Sinne zu denken, daher die Majorität des Ortes für den Sohn Partei ergriff. Ohne daß Carvayan sein Haus verließ, erkannte er mit dem Instinkte, der ihn stets leitete, den Zustand der Gemüter, und legte sich genaue Rechenschaft über die öffentliche Meinung ab. Er erwog, verglich, berechnete und war gezwungen, sich zu gestehen, daß sich die allgemeine Teilnahme dem jungen Manne, der noch nie jemand ein Leides gethan, zuwenden müsse, und nicht ihm, dem Tyrannen von Neuville. Als Fleury, um ihn zu beruhigen, das Gegenteil behauptete, unterbrach er ihn mit Heftigkeit: »Schweigen Sie, Schwachkopf, Sie wissen nicht, was Sie reden. Pascal wird uns zu Grunde richten! Sie kennen ihn nicht... Ich hätte ihn nicht nach Neuville zurückkehren lassen sollen. Er wird alle seine Zuhörer wie einen Handschuh umwenden... Dreifacher Trottel, der ich war, mich mit ihm zu entzweien! Die Leidenschaft riß mich hin... Die Leidenschaft läßt einen stets nur Dummheiten begehen! Wenn ich, statt mich vom Zorne beherrschen zu lassen, überlegt hätte, wäre Clairefont heute unser, als Preis für die Freiheit dieses Lümmels, dessen Verurteilung mir nur eine sehr dürftige Genugthuung bieten wird ... Ich benahm mich wie ein Dummrian, nicht einmal Sie, Fleury, hätten dümmer handeln können, als ich!«

Und erleichtert durch diese Schimpfworte, marschierte er mit langen Schritten in seinem Zimmer auf und nieder.

»Wenn ich wenigstens Pascal sprechen könnte ... vielleicht wäre es noch Zeit, die Dinge zu ordnen ... Aber er will ja nicht zu nur kommen... und ich kann nicht zu Malézeau gehen... Es würde den Anschein haben, als wollte ich kapitulieren! ... Ah! Wenn ich doch noch im letzten Augenblicke den Sieg an mich reißen könnte... Ah! Sie niederwerfen, wenn sie sich schon sicher glaubten mich überwunden zu haben! Welch ein Triumph! Doch wie ließe er sich erringen?«

Eines Abends gegen fünf Uhr, als Pascal, vom Schlosse kommend, den Hügel von Clairefont hinabstieg, hörte er seinen Namen rufen. Er blieb stehen, und an der Ecke des Steinbruches sah er sich seinem Vater gegenüber.

»Da du nicht den ersten Schritt thun willst, so mußte ich mich entschließen, ihn zu thun... Willst du mich fünf Minuten anhören?«

Damit zog er seinen Sohn ins Dickicht und ließ sich dort auf einer Erderhöhung nieder.

»Du bringst mich zur Verzweiflung,« sagte er mit leiser Stimme. »Ich kann mich an den Gedanken nicht gewöhnen, daß du mit meinen Feinden gemeinsame Sache machst. In meinem Alter, wo mir noch so wenig Zeit zum Leben bleibt, von meinem einzigen Sohne getrennt zu sein... und unter so grausamen Umständen... Das übersteigt meine Kräfte!... Was soll ich anfangen, um diesem traurigen Zwist ein Ende zu machen?«

»Oh! Wenn du es aufrichtig meinst, so wird dies ein Leichtes sein,« erwiderte Pascal freudig.

»Kehre zu mir zurück und verzichte darauf, Robert von Clairefont zu verteidigen.«

»Ich will zu dir zurückkehren, wenn du es wünschest, Vater; aber ich kann mich der Pflicht, die ich freiwillig übernommen habe, nicht entziehen ...«

»Aber wenn du für diese Leute das Wort führst, so ist dies eine Ohrfeige, die du mir gibst.«

»Nein, denn ich kann ja wissen lassen, daß es mit deiner Einwilligung geschieht ...«

»Bist du es denn diesen Clairefonts schuldig?« fragte Carvayan mit wachsender Erbitterung.

»Ich bin es mir selber schuldig!«

»Pascal!« schrie der Maire auf, doch fügte er kein weiteres Wort hinzu. Nur zu sich selber sagte er: »Der Junge hat einen Kopf von Eisen ... Er wird mir niemals Gehör schenken ... Niemals! ... Und dennoch wird er geprellt ... Aber die Liebe macht ihn blind ...«

Er faßte seinen Sohn am Arme, und ihn heftig schüttelnd, sagte er: »Wo hast du deine Augen? Siehst du denn nicht, daß das Fräulein dort droben den Dragoneroffizier zum Geliebten hat? ...«

»Vater!« schrie Pascal, bebend vor Zorn ... »Laß ab ... Ich werde dich nicht mehr anhören ...«

Und mit raschen Schritten eilte er der Straße zu. Carvayan folgte ihm, indem er weiter redete: »Sie heiraten nicht ... weil sie nicht nötig haben verheiratet zu sein! ... Ich habe dies nicht etwa erfunden ... Die ganze Stadt weiß es ... Wie müssen dich die beiden auslachen! ...«

Pascal stieß einen Wutschrei aus, und mit entsetzlicher Gebärde sich umwendend, sagte er: »Schweig! Ich könnte vergessen, daß du mein Vater bist!«

Carvayan blieb stehen.

»Nun gut, ich will nichts mehr sagen! Aber verlasse mich nicht so ... Pascal, du thust mir weh ... Pascal, bist du denn völlig unzugänglich?«

Er zeigte seinem Sohne ein von Angst entstelltes Antlitz.

»Adieu, Vater,« sagte Pascal mit finsterer Miene. »Ich will vergessen, was du anzuhören mich gezwungen hast ... Das ist der höchste Beweis von Rücksicht, den ich dir zu geben vermag ...« Er wollte sich entfernen, der Alte schrie ihm nach: »Bleib noch einen Augenblick ...«

Er wurde rot, öffnete den Mund, um zu sprechen, und schwieg wieder, einer fürchterlichen Erregung preisgegeben. Endlich stieß er die Worte hervor: »Du weißt nicht, was du thust. Du ziehst dir einen Haß zu, vor dem ich dich nicht schützen kann ... Geh niemals diesen Weg ... Wenn du dort hinauf willst, so gehe auf der Fahrstraße ... Adieu!«

Damit eilte er raschen Schrittes in der Richtung von Pourtois' Schenke fort. Pascal kehrte in das Haus des Notars zurück. Er dachte: »Mein Vater wollte mich bloß erschrecken ... Was habe ich zu fürchten?«

Und wie er sich aufs Schloß begab, folgte er doch wieder dem Fußpfade, der am Steinbruche vorüber nach Clairefont führte. Zwei Tage später, als er gegen sechs Uhr nach Neuville zurückkehrte, vernahm er einen Flintenschuß, und ein Birkenzweig, der nur eine Spanne weit von seinem Kopfe entfernt gewesen, fiel zu Boden. Mit einem Satze warf sich Pascal hinter die Böschung und blickte in die Ferne. Im roten Scheine der untergehenden Sonne erhob sich eine kleine weiße Rauchwolke, doch die Heide lag einsam da. Der Schütze kam nicht zum Vorschein, er mußte durch das hohe Ginstergestrüpp entflohen oder sich in einer der Thongruben verborgen haben.

»Es war Chassevent, ohne Zweifel,« sagte sich Pascal, als er nach kurzem Lauern weiterschritt. Er gedachte der Warnungen seines Vaters. »Er mochte den Streich geahnt haben ... er suchte mich zu schützen ... Alle besseren Gefühle sind doch noch nicht tot in ihm ...«

Ueber diesen Vorfall bewahrte er jedoch Schweigen, nur schlug er von nun an den anderen Weg ein, wenn er seine Besuche im Schlosse machte.

In der folgenden Woche wurde der Bescheid des Untersuchungsgerichtes veröffentlicht, und mit schwerem Herzen mußte man auf die insgeheim gehegte Hoffnung, Robert von dem auf ihm ruhenden Verdachte freigesprochen zu sehen, verzichten. Im Städtchen verbreitete sich das Gerücht, der junge Graf sei verurteilt worden; es brauchte zwei Tage, um den Irrtum zu berichtigen, was aber auch dann nicht vollkommen gelingen wollte. Nun begann Pascals Aufgabe. Er mußte sich zu längerem Aufenthalte nach Rouen begeben, nicht um die Aktenstücke zu studieren, die er ebensogut kannte, wie der Untersuchungsrichter, sondern um sich mit seinem Klienten in Verkehr zu setzen. Der Abschiedsbesuch im Schlosse war sehr traurig. Das Wetter hatte umgeschlagen, ein endloser Regen verhüllte die ganze Ortschaft, in den Parkalleen wälzten sich gelbe Fluten. Bei der Erwähnung, daß Pascal nun endlich Robert sehen würde, fuhr Tante Isabella ungestüm in die Höhe.

»Ich reise ebenfalls .. Ich begleite Sie!« rief sie mit flammendem Antlitz ... »Oh, mein liebes Kind, Sie dürfen es mir nicht abschlagen, mich mitzunehmen ... Ich will dort sein, um alles ganz frisch zu vernehmen, was mein armer Kleiner Ihnen sagen wird.«

»Aber, gnädiges Fräulein, Sie werden ihn selbst sprechen können ... Ich werde Ihnen die Erlaubnis dazu verschaffen.«

»Nun, dann fort! ... Ohne eine Minute Aufschub! ... Lassen Sie mir nur so viel Zeit, meine Reisetasche zu packen ... und ich stelle mich Ihnen zur Verfügung ... Ach! Mein teurer Freund ...«

Das alte Fräulein fiel Pascal um den Hals und eilte dann in höchster Erregung auf ihr Zimmer.

Der Gedanke an diese Abreise erfüllte Antoinette mit tiefer Traurigkeit. Welch trostlose Einsamkeit sollte dieser fieberhaften Aufregung folgen! Mit ihrem Vater allein in dem großen, öden Schlosse würde die Eintönigkeit ihres Lebens durch nichts unterbrochen werden, als durch die kurzen Besuche, die Herr von Croix-Mesnil von Zeit zu Zeit abzustatten pflegte. Tante Isabella ging mit Pascal fort ... Wie öde und leer erschien jetzt die Zukunft dem jungen Mädchen! Wer nahm denn eine so hervorragende Stelle in ihren Gedanken ein? Fräulein von Saint-Maurice oder der neue Gast von Clairefont? Sie zürnte sich selbst, schalt sich schwach und thöricht, und ihren Stolz zu Hilfe rufend, um eine Festigkeit zu zeigen, welche sie nicht befaß, nahm sie Pascals Abschiedsgrüße mit kalter Würde entgegen.

»Wir werden uns vor dem entscheidenden Tage nicht wiedersehen,« sagte er. »Wollen Sie mir versprechen, dann auch dort zu sein? Ihre Anwesenheit wird Ihrem Bruder eine große moralische Stütze sein ... Und ich ...«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann in leidenschaftlichem Tone fort, so wie sie ihn noch niemals aus seinem Munde vernommen: »Und ich werde, seien Sie davon überzeugt, in Ihrer Gegenwart und für Sie Unmögliches leisten ...«

Sie verneigte sich stumm. Er nahm nun auch Abschied von dem Marquis, der sich in seiner lächelnden Sorglosigkeit immer gleich blieb, und reiste in Tante Isabellas Gesellschaft ab. Antoinette blieb allein mit dem Greise; nie war ihr der Tag düsterer, der Regen langweiliger, der Wind schneidender vorgekommen.

Sie blieb schweigsam bis zum Abend und hörte zerstreut ihrem Vater zu, der, ohne etwas zu sagen, in einem fort redete, wie eine alte Mühle, deren Flügel sich drehen, auch wenn sie leer geht.

Zwei Tage darauf hatte Antoinette die große Freude, einen Brief von Tante Isabella zu erhalten. Das alte Mädchen schien den Brief unter dem Einflusse einer ungewöhnlichen Erregung geschrieben zu haben.

Sie hatte Robert gesehen ... Und aus Dankbarkeit gegen Pascal, der ihr die Pforten des Gefängnisses geöffnet hatte, sprach sie fast ebensoviel von dem jungen Manne, als von ihrem Neffen. Sie schien die beiden nicht mehr voneinander trennen zu können, sondern sie gemeinsam in ihr Herz zu schließen.

»Wenn Du den armen Jungen sehen könntest,« schrieb sie, »wie er sich verändert hat. Er ist ganz mager und blaß geworden ... Als wir ihn besuchten, schien es mir, als wollten die Korridore, durch welche man uns führte, gar kein Ende nehmen ... Endlich blieb der Gefangenwärter vor einer Thür mit einem Guckfensterchen stehen, schloß dieselbe auf, und auf einem schlechten Brette sitzend sahen wir das Kind ... Als er mich erblickte, stieß er einen Freudenschrei aus, dann aber erkannte er Pascal, richtete sich stolz auf und stumm standen beide Aug' in Auge einander gegenüber. Robert schien meine Gegenwart ganz vergessen zu haben, denn er rief mit furchtbarer Heftigkeit: ›Was will der Sohn des Herrn Carvayan hier?‹ Darauf versetzte der andere mit seiner weichen Stimme, welche Du ja kennst, und mit einer Milde, die mir in die Seele drang: ›Die Ehre und die Freiheit des Sohnes des Herrn von Clairefont verteidigen! ...‹ Nun sah einer den anderen an, als wollten sie gegenseitig in den tiefsten Tiefen ihrer Herzen lesen, dann fielen sie einander mit einem Seufzer in die Arme. Sie verstanden sich sofort! Mein armes Kind aber verlor die Fassung, vergaß seinen Stolz und brach in Thränen aus. Wir erzählten ihm alles, von der Krankheit seines Vaters und den darauf folgenden Ereignissen ... Er wurde nicht müde, mich zu umarmen und Pascal die Hände zu drücken. Er sendet Dir die zärtlichsten Grüße und bittet Dich, Deinem Vater einen Kuß von ihm zu geben. Morgen gehen wir wieder zu ihm, und von jetzt ab werden wir ihn täglich wiedersehen.«

Dieser Brief wurde von Antoinette mit Thränen betaut. Vor ihrem Geiste sah sie Robert und Pascal sich innig umschlungen haltend. Beide blickten frohen Mutes und voll Vertrauen in die Zukunft. Welche Uebereinstimmung herrschte in ihren Neigungen, und doch welche Verschiedenheit in ihrem Naturell! Pascal, der Sohn des bürgerlichen, und Robert, der Sprosse aus adligem Hause. Der eine mit seinem gebräunten Teint, seinem schwarzen Haar, der hohen Stirn, der feingeschnittenen Nase, den klugen, grauen Augen und der rasierten Oberlippe, atmete Energie und Geist. Der andere mit zarter Farbe, blondem Haar, blauen Augen, großer Nase und dem langen Schnurrbart eines fränkischen Kriegers verkörperte Tapferkeit und Kraft. Es war der ausgesprochenste Gegensatz, welcher ihre Abstammung kennzeichnete. Als sie in ihren Gedanken die beiden so nebeneinander sah, fragte sie sich, wer von ihnen stolzere Haltung habe, der Edelmann oder der Bürgerliche? Und in Nachdenken versunken blieb sie sich die Antwort schuldig.

Tante Isabella schrieb täglich und wurde nicht müde, von Pascal zu erzählen. Sie wohnten jetzt beide bei dem Wagenfabrikanten von Saint-Sever und machten gemeinsame Wirtschaft.

»Ich kann ihn gar nicht mehr entbehren,« schrieb Fräulein von Saint-Maurice, »und ich glaube, ich würde ihm ebenfalls fehlen. Wir verbringen die Abende in anregendem Gespräche. Er erzählt mir von seinen Reisen. Ach! wie falsch habe ich ihn anfangs seiner großen Schüchternheit halber beurteilt! Denn der gute Junge ist zurückhaltend und sanft wie ein Mädchen. –Manchmal kann er stundenlang sprechen, und ich fühle mich gefesselt. –Nie hatte ich geglaubt, daß ein Mann eine so wohlgelöste Zunge haben könne. Er hat jetzt volles Vertrauen zu mir gefaßt und erzählt mir alles. –Wenn Du wüßtest, was er um unsertwillen gelitten! –Aber er hat mir ausdrücklich das Versprechen abgenommen, Dir kein Sterbenswörtchen davon zu sagen, und Du siehst, wie verschwiegen ich bin. Nur eine Begebenheit muß ich Dir mitteilen, weil sie zeigt, in welch großer Besorgnis unsere Feinde sich befinden, seitdem sie wissen, daß Pascal uns seinen Beistand leiht. Einige Tage vor unserer Abreise nach Rouen hat Chassevent in dem kleinen Thale beim Steinbruch auf den lieben Jungen geschossen. Ja, denke Dir, diese Schufte haben versucht, unserm Rechtsanwalt ans Leben zu gehen ... Aber er ist ihnen entschlüpft, und somit wird er sie auch besiegen ... Das ist ein Fingerzeig des Schicksals, und so habe ich es auch im Traume gesehen ...«

Einige Tage später schrieb sie: »Der große Augenblick naht heran, die Schwurgerichtssitzungen haben angefangen. –Gestern früh hat mir Pascal den Justizpalast gezeigt, ein wahres Wunder der Baukunst. Er hat mich auch in den Gerichtssaal geführt, damit ich mich an den Anblick gewöhne. –Ich war erschüttert. –Wie großartig und schrecklich ist eine solche Sitzung! Die Richter in ihrer roten Amtstracht! Es war mir, als sähe ich ein Feingericht vor mir. –Im Hintergrunde des Saales ein großer Christus, die brechenden Augen gen Himmel gerichtet. Früher streckte man die Hand zu ihm empor, wenn man einen Eid leisten sollte, jetzt schwört man nicht mehr vor Gott, was unseren Gegnern das Lügen erleichtern wird. –Aber gleichviel, mein Vertrauen ist unerschütterlich. –Gestern sind uns Fleury, Tondeur und Pourtois begegnet. Die beiden ersten wendeten sich mit jesuitischen Mienen ab, der dritte warf uns einen flehenden Blick zu... Denke nur, der starke Mann ist in einigen Wochen bis zur Unkenntlichkeit abgemagert... Die Haut in seinem Gesichte ist ganz schlaff und faltig geworden... Der Schmerbauch hat sich in eine Spindel verwandelt. Pascal ist überzeugt, daß der Elende einen Meineid geschworen hat und nun von Gewissensqualen gefoltert wird.«

Endlich kam ein letzter Brief. »In drei Tagen ist's... Wie lange mir die Zeit bis dahin wird! Du kannst an demselben Morgen von Neuville abreisen, so daß Du um zehn Uhr zwanzig Minuten hier bist. Ich werde Dich auf dem Bahnhofe in der Rue Verte erwarten. Der Rechtsanwalt aus Paris ist auch schon da. Pascal hat ihn heute früh gesehen. Der große Mann ist bei Freunden in Malaunay zur Jagd. Zwischen zwei Treibjagden will er plaidieren. Er scheint –so sagt unser geliebter Freund –ein lustiger Bruder zu sein, der ›auf dem Rücken seiner Klienten plaidiert‹ und der Gegenpartei kein gutes Haar läßt. Er ist ein Roter bis auf die Knochen und soll deshalb so boshaft sein, weil es ihm noch immer nicht gelungen ist, Senator zu werden. Ich wünschte, man wählte ihn dazu, und er ließe uns im Frieden. Je näher der schreckliche Augenblick herankommt, desto ruhiger wird Robert. Er vertraut auf die gerechte Sache und auf seinen Verteidiger. Sein Aussehen ist schon bedeutend besser, aber der alte Prachtjunge ist er doch noch nicht. Nun, Du wirst ihn ja selber sehen. Mein Gott, wenn es doch erst vorbei wäre!«

Am Morgen ihrer Abreise mußte Antoinette ihrem Vater die Wahrheit gestehen, denn bis zum letzten Augenblicke hatte sie ihm den Tag der Verhandlung verschwiegen. Der alte Mann war noch nicht aufgestanden, er richtete sich im Bette auf.

Das Lächeln, welches jetzt beständig um seine Lippen spielte, verschwand, und sein Blick leuchtete in wiederkehrendem Verstande auf. Mit der Stimme früherer Zeiten sagte er: »Mein Kind, wir werden schwer geprüft ... Geh, stehe du deinem Bruder bei ... Vertritt meine Stelle und bestätige durch deine Gegenwart unseren unerschütterlichen Glauben, daß ein Clairefont nicht vom Pfade der Ehre abweichen und ein Verbrecher werden kann. Bringe meinem Sohne meinen Segen und sage ihm, daß ich –was auch geschehen möge –niemals an seiner Unschuld zweifeln werde ...«

Der Greis legte die Hand segnend auf das Haupt seiner Tochter und sagte sanft: »Geh mit Gott, mein Kind, und sei gutes Mutes!«


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