Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

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Fünftes Kapitel

Die Kirchweihe fiel dieses Jahr in Neuville ganz besonders glänzend aus. Die Ernte versprach eine sehr reichliche zu werden, die Zweige der Apfelbäume bogen sich unter der Last der Früchte, das Gras war unter dem vielen Regen im Frühling überaus saftig und im Ueberflusse gediehen. Die Preise auf dem Viehmarkte hielten sich demgemäß hoch im Kurse. Ein Hauch von Heiterkeit ruhte über der ganzen Stadt, und eine ungewohnte Bewegung brachte das schwerfällige Leben der meist in ihren Stuben hockenden Bewohner in frischen Schwung.

Die Straßen waren überfüllt, die Läden gastlich geöffnet, die Bauern zogen schleppenden Schrittes, die Nase hochtragend, die neue, schwarzblaue Bluse im Rücken aufgebläht, längs der Trottoirs hin, gefolgt von ihren Frauen und Töchtern, die in Sonntagshauben, geschmückt mit großen Goldnadeln, prangten. Am Eingange des Städtchens, vor dem Gasthause »zum silbernen Schwan«, vermehrte sich die Ansammlung von Karren und Lastwagen, welche, die Deichsel in der Luft, aneinandergereiht standen, von Stunde zu Stunde, während auf einer kleinen Wiese die Pferde, an Holzpfähle gebunden, mit dem Geschirr auf dem Rücken aufgezäumt weideten und mit dem Schweife die Weichen peitschten, um die Fliegen zu verjagen.

Jeden Augenblick fuhr ein mit Staub bedeckter Zwei- oder Einspänner mit lautem Gerassel vor, geleitet von einem Pächter, die Mütze auf dem Ohr, die zerkaute Cigarre im Munde. Und da wurden alsbald Rufe und Begrüßungen laut: »Ei sieh doch! Freund Levasseur ... Wie geht's?«

»He! Jean-Louis! Bist du auch da? O, potztausend, alter Schelm! Du hast gut gethan, deine Aepfel im vorigen Jahre zu verkaufen ... Heuer werden sie billiger sein ...«

»Nehmen wir einen Kaffee? Lebourgeois, gib indessen auf meine Stute acht ... eine doppelte Portion Hafer, und nach einer halben Stunde zu trinken ...«

Der Wirt, seine Frau und der Stallbursche liefen in geschäftiger Hast von der Gaststube in den Keller, von dem Keller in die Scheuer. Ein fürchterliches Geschrei scholl aus dem Erdgeschoß empor, als ob dort die Leute einander umbrächten; es war aber nur ein Handel um Vieh, der unter Freunden abgemacht wurde. In der Luft verbreitete sich ein starker Geruch von in Butter gebackenen kleinen Fischen, der mit bläulichen Rauchwolken der Küche entströmte, und auf dem Fensterbrett in einer Schüssel lagen, um auszukühlen, goldig braune, eben der Pfanne entnommene Pfannkuchen. Aus einer Schießbude vernahm man das Knallen der Gewehre; in einem Karussell leierte eine Drehorgel ihre schrillen Töne in die Luft hinaus, und von der Höhe eines verdeckten Wagens, in welchem ein Diener mit einem Jagdhorn saß, rief ein Zahnkünstler, ein Schwert in der Hand, die Gaffer herbei, indem er mit unglaublicher Redseligkeit auseinandersetzte, wie er imstande sei, mit Hilfe »dieses anscheinend mörderischen Werkzeuges« auch die widerspenstigsten Backzähne ohne Schwierigkeit und ohne Schmerz auszuziehen.

»Ein Zahnarzt aus der Stadt,« schrie er mit heiserer Stimme, »würde, um euch einen hohen Begriff von seiner Kunst zu geben, von seinen Instrumenten reden und seine Zangen und Zünglein anpreisen ... Unwissenheit und Betrügerei! Bei der Operation kommt es nicht auf das Werkzeug an! ... Die Hand ist alles! Mit seinem ausgezeichneten Instrumente kann er euch doch den Zahn abbrechen ... Ich aber, meine Herren, mit einem Säbel, mit einem Nagel, mit einer Stecknadel werde euch in einem Augenblick ... und für fünfzig Centimes Erleichterung schaffen!« ...

Und das Horn des Dieners schmetterte, während ein Bauer, vor Aufregung rot und schweißtriefend, an den Peiniger herantrat, um seine von Obstmost verdorbenen Zähne besichtigen zu lassen.

Händler, welche Kämme, Bürsten, bleierne Taschenspiegel, Leinwandhauben, auch Schwämme und Striegel für Pferde feilboten, hatten auf der grünen Böschung eines Grabens ihren Kram ausgebreitet. In einem langen, schmalen Wagen war eine Auswahl von Steingut- und Glaswaren ausgestellt, von den gewöhnlichen thönernen Schüsseln bis zu den blumenbemalten Schaustücken, welche den Schmuck der Geschirrschränke bilden; von dem massiven Glase, das an Wirtshaustischen die Runde macht, bis zu dem gravierten Kelchglase, auf welchem ein Fuchs an Weinstöcken in die Höhe springend zu sehen ist. Am Rande der Straße verkaufte ein Eisenhändler gußeiserne Töpfe, Bügeleisen, Hämmer, Sägen und Aexte. Im Staube trippelnd, vor Hunger blökend, wartete eine Herde Schafe, daß man sie fortführe. Unter den Linden des Promenadenweges ließ ein Roßmäkler ein Pferd galoppieren, während er mit der Peitsche den harten Filz seines Hutes bearbeitete, um das Tier, welches an der Hand des Stallknechtes, der es vorführte, ausschlug und sich bäumte, noch unruhiger zu machen.

Die heiße Mittagssonne warf glühende Strahlen auf das Fest herab, der Boden brannte unter den Füßen, kein Windhauch entführte die starken Ausdünstungen der Tiere, und auf dem weiten Marktplätze tummelte sich eine lärmende Menge, die Zeit mit Geschäften und Vergnügungen hinbringend.

Vor dem Rathause hatte sich die Feuerwehr in Galauniform versammelt, und in dem großen, mit der dreifarbigen Fahne geschmückten Schulsaale fand als Abschluß einer Obstausstellung eine Preisverteilung unter der Präsidentschaft des Unterpräfekten statt.

Carvayan hielt eine beifällig aufgenommene Rede, und unter den lauten Klangen der Stadtmusik ging die Feierlichkeit zu Ende. Darauf ertönte ein kurzer Kommandoruf, die Feuerwehr stellte sich in Reih und Glied, und der Hornist blies die Fanfare beim Passieren der Behörden.

Der langsam sich bewegende Zug löste sich allmählich auf. Die dicken Pächter mit vollem, dunkelrotem Antlitz, die hie und da einen Bekannten erblickten, blieben in Gruppen auf dem Marktplatze stehen. An der Ecke der Rue du Marché angekommen, wendete sich der Unterpräfekt, der neben Carvayan ging, mit der Frage an diesen: »Wird man Sie heute abend beim Feste sehen, Herr Maire?«

»O, sicherlich, Herr Präfekt. Erstens ist dies meine Pflicht, und dann ist es ja auch Brauch in Neuville, dem Balle eine kurze Weile beizuwohnen.«

»Nun dann werde ich auch kommen,« sagte der Unterpräfekt, »da Sie es für nützlich finden ...«

»Sie werden da in einer Stunde mehr für Ihre Wahl thun können, als während einer dreiwöchentlichen Rundfahrt. Die Haupthähne unter den Landleuten finden Sie hier beisammen. Vor allem berücksichtigen Sie die Feuerwehr, Herr Präfekt ... denn die sind von großem Einflusse ... Man weiß nicht, was man alles durch die Feuerwehr erlangen kann!«

»Ich sehe, daß Sie die Sache von Grund aus verstehen, Herr Maire,« sagte heiter der Beamte. »Uebrigens kann man durch den Verkehr mit Ihnen stets nur gewinnen.«

Garvayans Gesichtsausdruck veränderte sich, er mutmaßte einen Spott. Forschend richteten sich seine Blicke auf den Präfekten, er fand ihn jedoch freundlich lächelnd und fragte sich: »Was soll ich davon halten? Besitzt er etwa den Mut, mit mir anbinden zu wollen? Weiß er denn nicht, daß, wenn es mir einfiele, seine Stellung anzugreifen, ich ihn sehr leicht zu Falle bringen könnte?«

Eine finstere Freude glitt über seine Stirn. Ja, er war Herr in dieser Stadt, wo man ihn als Ladengehilfen, fast als Diener gekannt hatte. Niemand konnte ihm Widerstand leisten, und seine Feinde sollten gar bald blutige Thränen weinen. Er wendete sich zu den Leuten um, welche ihm folgten, und sagte im Tone des Höherstehenden: »Meine Herren, heute abend, bei dem städtischen Bankette, sehen wir uns wieder.« Hierauf in die enge Straße einbiegend, schlug er raschen Schrittes die Richtung nach seinem Hause ein. Es war Mittag, und als er an der Kirche vorbeikam, geriet er unter die Leute, die eben aus dem Hochamte kamen. Frauen und Mädchen schritten eifrig plaudernd dahin wie ein summender Bienenschwarm. Sie trugen Sonntagskleider, Hüte mit Blumen geschmückt, oder Hauben mit reichem Bänderputz und hielten ernsthaft ihre Gebetbücher in den Händen. Als sie den Maire erblickten, unterbrachen sie ihr Zischeln. Der Eindruck der Furcht, den Carvayan um sich her verbreitete, trat sogar bei den Frauen zu Tage, die doch nichts von ihm zu besorgen hatten. Er lächelte. Es mißfiel ihm nicht, sich derart gefürchtet zu wissen: er sah darin nur einen Beweis seiner Macht.

Als er, an der Thür seines Hauses angelangt, die Hand an die Klinke legen wollte, hielt er plötzlich inne. An dem anderen Ende der Straße hatte er Pascal bemerkt, der sich langsam näherte.

Alles in der Haltung des jungen Mannes verriet Zerstreutheit und Kummer. In Gedanken versunken schritt er dahin, gleichgültig für alles, was um ihn her vorging. Seit seiner Rückkehr nach Neuville war seine gebräunte Gesichtsfarbe merklich blasser; seine Wangen schienen magerer geworden.

Nichts von alledem war dem scharfen Auge Carvayans entgangen, und als er seinen Sohn mit schleppendem Schritte herankommen sah, fragte er sich, ob dies derselbe fröhliche, kräftige Mann sei, wie er vor kurzem heimgekehrt.

Vor dem Hause trafen sie zusammen. Pascal konnte beim Erblicken seines Vaters ein Zittern nicht unterdrücken, er bemühte sich indes, eine heitere Miene anzunehmen. Allein seine verdüsterten Züge erhellten sich nur wenig, sie blieben kummervoll und ruhelos.

»Du kommst von dem Festplatze?« fragte Carvayan, seinen Sohn aufmerksam musternd.

»Ja, Vater,« erwiderte Pascal, der aus einem Traume zu erwachen schien.

»Hast du Appetit?«

»Meiner Treu, ja ...«

Sie setzten sich zu Tische. Carvayan dachte: »Er scheint gar nicht bemerkt zu haben, daß es heute in Neuville ein Fest gibt, und ist in der Nähe des Schlosses umhergestrichen, der kreidige Staub auf seinen Stiefeln rührt vom Steinbruche her. Welche Pläne mag er wohl ersinnen? Er mißtraut mir, das ist gewiß. Alle meine Fragen beantwortet er mit Ausflüchten, ja, er vermeidet sogar mich anzublicken, aus Furcht, ich könnte in seinen Augen seine Gedanken lesen.«

In der That saß Pascal am anderen Ende des Tisches, die Nase auf seinen Teller gesenkt, zerstreut das einfache Mahl genießend. Fest entschlossen, seine Heimat wieder zu verlassen, hatte er heute morgen dem Wunsche nicht zu widerstehen vermocht, noch einmal auf dem Hügel von Clairefont zu weilen, und auf dem Fußpfade, der an dem Steinbruche vorüberzog, war er bis zur Hochebene emporgestiegen.

Er wollte nicht wie sonst sich in der Umgebung des Parkes verbergen, heute fürchtete er eine Begegnung. Bei dem Gedanken, er könne ein zweites Mal Antoinette gegenüberstehen, preßte ihm eine jähe Beklemmung die Kehle zusammen. Wie durfte er es wagen, ihr entgegenzutreten? Und was würde sie von ihm denken, wenn sie ihn in der Nähe des Schlosses überraschte, wie er gleich einem Vagabunden umherschlich?

Da fiel ihm ein, daß das junge Mädchen gewiß die Messe besuchen würde, und um neun Uhr betrat auch er die kleine Dorfkirche. In einem dunklen Winkel, auf einer Holzbank sitzend, war er sicher, nicht erkannt zu werden. Geduldig wartete er hier, betrachtete den Schmuck des Altars, die Bilder im Schiffe, die Fenster des Chores, und in allem fand er Spuren der Freigebigkeit der Schloßherren von Clairefont: Inschriften an den Mauern, Wappen in Glasmalerei, alles sprach von ihnen und erzählte die Geschichte ihres Lebens.

Neben einem Beichtstuhle fielen ihm die auf einer Marmorplatte in goldenen Lettern eingravierten Worte in die Augen: »Der Herr hat mir meine geliebte Tochter am Leben erhalten. Gepriesen sei sein heiliger Name!« Darunter das Datum 1872 und der Name: Honoré von Clairefont.

Es mochte eine Votivtafel sein, welche der Marquis nach einer schweren Krankheit Antoinettes hier hatte anbringen lassen.

In dem geheimnisvollen Düster der Kirche überließ sich Pascal einer Schwärmerei seiner Phantasie, und eine Art Sinnestäuschung überkam ihn. Es schien ihm, als würde er von einer fremden Macht, deren Kraft seinen Willen lähmte, entführt und auf das Schloß gebracht. Er betrat das Zimmer des jungen Mädchens und sah sie auf ihrem Lager, bleich, mit entstellten Zügen, dem Tode nahe.

Ja, sie war es selbst, noch ein Kind, und von lieblicher Anmut. Ein Greis, den der junge Mann nicht kannte, in welchem er aber den Marquis erriet, saß am Kopfende des Krankenbettes. Seine Augen schwammen in Thränen, während er die zarte, kleine Hand in der seinen hielt. Seine Lippen bewegten sich wie im Gebete, und Pascal fühlte, daß er aus tiefstem Herzensgrunde Gott um die Rettung seines Kindes bat.

Und als hätte der Himmel die Gewährung dieser heißen Bitte augenblicklich offenbart, so belebte und färbte sich das Antlitz Antoinettes; sie schlug die strahlenden Augen auf, und plötzlich erschien sie ihm verwandelt. Es war nicht mehr die kleine Kranke von soeben, es war das schöne junge Mädchen, welches er in dem Hohlwege gesehen, sie, die er anbetete und zugleich fürchtete, und für die er ohne Zögern sein Leben hingegeben hätte.

Er bemühte sich, die Traumbilder zu verscheuchen, um die Herrschaft über sich selbst wiederzuerlangen, und zwang seine Augen, sich auf einen Gegenstand seiner Umgebung zu richten; von neuem fiel sein Blick auf die weiße Marmortafel, und leise wiederholte er die Inschrift, als wolle er ein Dankgebet zum Himmel senden für die glückliche Rettung Antoinettes. War der Tod nicht von ihrem Krankenbett verscheucht worden, damit er sie einst sehen und lieben könnte? Aber wenn er sie lieben mußte, warum mußte sie ihn hassen? Er stand auf und schritt langsam bis zu den Sesselreihen gegenüber dem Altar.

In der Mitte der ersten erregte ein schwarzer Betstuhl mit blausamtenem Kissen seine Aufmerksamkeit. Er trat näher, in der Gewißheit, daß hier Antoinette zu beten pflegte, und sich über die Stelle beugend, wo sie kniete, bemerkte er, daß der Betstuhl ein kleines Pult enthielt; er öffnete es und erblickte eine Sammelbüchse nebst einem Gebetbuche.

Mit zitternder Hand griff er danach. Es war klein, in weißem Saffianeinbande, mit einem silbernen Schließhaken. Auf der Innenseite des Deckels stand das Datum ihrer ersten Kommunion ... Pascal konnte der Versuchung nicht widerstehen, in dem Buche zu blättern, in sehnsüchtigem Hoffen, irgend eine Spur der Gedanken des jungen Mädchens darin zu finden. Doch nur Heiligenbilder schmückten einzelne Seiten. Eine heilige Antoinette trug die Widmung: »Meiner teuren kleinen Schwester. Robert von Clairefont.« Diese zarten Erinnerungen aus ihrer Kindheit rührten Pascal tief. Er machte sich über seine Neugierde Vorwürfe, wie über eine schlechte That, und glaubte eine verabscheuenswerte Entheiligung begangen zu haben. Er schloß das Buch, und die Stirn auf diesen stummen Vertrauten der Hoffnungen und Täuschungen gestützt, betete er. Allmählich zog Ruhe und Frieden wieder in sein Herz ein. Er gewann seine Selbstbeherrschung wieder und fühlte sich stark genug, das Gute zu vollführen. Er erhob sich, und die Büchse wahrnehmend, in welcher Fräulein von Clairefont gewiß noch am selben Tage Spenden der Gläubigen sammeln sollte, warf er sein Almosen hinein; sodann schloß er das Betpult wieder und begab sich auf seinen Platz in den dunklen Winkel der Kirche zurück.

Die Glocke begann zu läuten, der Küster erschien, zündete die Kerzen an, und die zitternden Flammen schimmerten bald wie Sterne in dem dunklen Schiffe. Schwere, schleppende Schritte ertönten auf dem Estrich, und das Hin- und Herrücken der Stühle hallte knarrend unter der hohen, leeren Wölbung wider. Die Anwesenden hatten ihre Plätze eingenommen, der Priester schritt aus der Sakristei, als leise Schritte, die leicht über die Steinfliesen hinglitten, Pascal erbeben machten. Hastig wendete er sich um und erblickte Antoinette, die in Begleitung des Fräuleins von Saint-Maurice eben eingetreten war, gefolgt von einem jungen Manne von hohem, schlankem Wuchse und militärischer Haltung, in welchem eine Stimme des Herzens ihn Herrn von Croix-Mesnil erkennen ließ. Wirr wurde es ihm vor den Augen, die Fensterscheiben schienen ihm flammend zu glühen, in seinen Ohren klang und summte es, und es war ihm, als wanke die Kirche in ihren Grundfesten. Nur mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, sich zu beherrschen, wieder zu sehen und zu hören.

Der Priester stand am Altar, und sein eintöniger Gesang der Psalmen klang in dem lautlosen Schweigen deutlich vernehmbar. Die beiden Frauen und ihr Begleiter hatten sich in der Menge verloren. Der junge Mann verließ seinen Sitz, und an einen Pfeiler gelehnt, suchte er Antoinette. Er sah sie von weitem in andächtiger Haltung mit gesenktem Haupte zwischen ihrer Tante und ihrem Verlobten. Dahin also hatten sich seine mit so viel Liebe gehegten Träume verwirklicht: Fräulein von Clairefont an der Seite des Mannes zu sehen, den man als ihren künftigen Gatten bezeichnete.

All die Aufregung, alle seine Schliche, seine Hoffnungen und seine Befürchtungen, denen er leidenschaftlich nachgehangen, hatten nur ihn allein beunruhigt. Diejenige, welche damit in seinen Gedanken so innig verknüpft war, hatte nichts davon geahnt. Ruhig und kalt, wie an dem Tage, ehe sie ihm begegnete, hatte sie ihr Leben fortgesetzt, ohne auch nur die Stürme zu ahnen, welche sie heraufbeschworen hatte.

Mit tiefer Bitterkeit mußte er sich fragen, was er hier noch suche, und mit der Erkenntnis der Nichtigkeit seiner Illusionen fand er auch seine volle Thatkraft wieder. Er stand auf, schritt hinaus, ohne sich auch nur einmal umzuwenden, und auf demselben Wege, den er heute morgen zurückgelegt, kehrte er zur Stadt zurück. Es war bei der Heimkehr von diesem glücklichen Spaziergange, als er mit seinem Vater zusammentraf.

Einander gegenübersitzend, nahmen die beiden Männer schweigend ihr Mahl ein. Draußen vor den Fenstern strömten, die Straßen füllend, stetig neu Ankommende von nah und fern herbei. In der Ferne knallten die Büchsenschüsse und Begrüßungsrufe, Scherz und Gesang erhoben sich in fröhlichem Tumult. Die ganze Stadt war voll Freude und Lustigkeit: die Bewohner des ganzen Bezirkes trieben sich in den Straßen umher, jeder begehrte sein Teil am Trinken, Lachen und Tanzen.

Nur auf Schloß Clairefont und in dem kleinen Hause der Rue du Marché weilten Kummer und Betrübnis. Sieger und Besiegte waren gleich sorgenvoll. Der Marquis, weil der Verlobte seiner Tochter angekommen war, um einige Tage auf dem Schlosse zu verbringen; Carvayan, weil er den Sohn düster und betrübt sah, den er durch die Bande ruhigen Glückes an sein Haus zu fesseln gehofft hatte.

Der gute Honoré sah sich genötigt, aus seiner selbstsüchtigen Fernhaltung von allem Verdrießlichen zu der peinlichen Wirklichkeit des Lebens zurückzukehren. Die Anwesenheit des Barons von Croix-Mesnil hatte ihm seine schwierige finanzielle Lage und die unerklärliche Weigerung Antoinettes, welche die Hochzeit von Monat zu Monat verschob, wieder vor die Augen geführt.

Der Maire von Neuville dachte mit Schrecken, ob nicht etwa in dem Augenblicke seines Triumphes sich ihm ein Hindernis in den Weg stellen würde, an dem sich sein ganzer energischer Wille brechen könnte. Pascals Niedergeschlagenheit verursachte ihm eine schmerzliche Unruhe, welche lange zu ertragen er nicht der Mann war. Der Entschluß stand bald in ihm fest, seinen Sohn ohne Umschweife um den Grund seines veränderten Wesens zu befragen und eine entscheidende Auseinandersetzung herbeizuführen. Er nahm sich vor, den ersten günstigen Anlaß zu ergreifen und, wenn es sein müßte, dem jungen Manne seine Pläne zu enthüllen, ihn in das Geheimnis seines Ehrgeizes einzuweihen, ihn auf die große Zukunft zu verweisen, welche ihm bevorstand, und, wenn es ihm nicht gelang, ihn durch Liebe für sich zu gewinnen, ihn doch wenigstens durch den Hinweis auf seinen eigenen Vorteil in der Nähe zu behalten. Zur Zeit, als er diesen Vorsatz faßte, konnte er nicht wissen, daß wenige Stunden später ein Ereignis dieses Festtages, welcher so reich an weittragenden Folgen sein sollte, ihm die gewünschte Gelegenheit bieten würde.

Schon am frühen Morgen waren die Bewohner von Clairefont durch die üblichen Böllerschüsse geweckt worden, welche den Beginn des Festes verkündeten. Auch im Schloß hatte sich ein Fenster geöffnet, und Antoinette, in weißem Morgenkleide, war an demselben erschienen. Ernst und nachdenkend lehnte sie an der Brüstung. Das etwas bleiche Antlitz und die geröteten Augen verrieten die Kümmernisse einer schlaflosen Nacht. Und diese waren mit dem anbrechenden Tage nicht gewichen, denn das junge Mädchen blieb gleichgültig und unempfindlich gegen die Reize des herrlichen Sommermorgens.

Auf dem weiten, mit Rasen und Blumenbeeten verzierten Platze vor dem Schlosse haschten die Vögel einander mit lustigem Gezwitscher, wiegten sich munter auf den Blumen, daß diese unter der leichten Last sich neigten und Tautropfen, glitzernd wie Diamanten, aus ihren Kelchen niedersprühten; die Blätter der Bäume rauschten leise im Morgenwinde, und die Rosenbeete hauchten würzige Düfte in die milde Luft.

Antoinette blieb in Gedanken versunken. Eine Falte kräuselte ihre reizende Stirn, und ihr Blick hatte den sanften Schimmer, der von eben vergossenen Thränen zeugt.

Das Oeffnen ihrer Zimmerthür erweckte sie aus ihren schmerzlichen Betrachtungen. Sie wendete sich um, und ein Lächeln erhellte den wehmütigen Ausdruck ihres Gesichtes, als sie Tante Isabella vor sich sah.

In leinenem großgemustertem Hauskleide, die grauen Haare zerzaust, rot wie Feuer trotz einer reichlichen Auflage von Stärkemehl, welches ihre kupferigen Wangen marmorierte, so trat das alte Fräulein ein, schritt mit geheimnisvoller Miene auf ihre Nichte zu und gab ihr zwei schallende Küsse. Dann lehnte sie sich in männlicher Haltung, die Hände auf dem Rücken, an den Kamin und begann: »Ich hörte dein Fenster öffnen und komme deshalb gleich zu dir ... Ich habe eine fürchterliche Nacht verbracht ... Das Alpdrücken ließ mich gar nicht los ... Ich weiß nicht, ob du an Träume glaubst ... Ich für meinen Teil glaube daran ... Meine Mutter verstand es, sie in wunderbarer Weise zu deuten, und immer gingen ihre Vorhersagungen in Erfüllung ... Nun, mir träumte von einem roten Hahn ... Das ist ein Zeichen von Unglück und Tod ... Ich sah im Schlafe einen riesigen roten Hahn, der das Gesicht des abscheulichen Carvayan hatte und laut krähend die Flügel schlug ... Voll Entsetzen fuhr ich in die Höhe ... ganz in Schweiß gebadet ... du kannst jetzt noch sehen, wie aufgeregt ich bin, und ich habe wieder meine ›Verstickung‹.«

Tante Isabella atmete schwer und geräuschvoll wie ein Schmiedeblasebalg.

»Du weißt,« fuhr sie fort, »in welcher Lage wir uns befinden ... Gestern kam die Weisung, 160000 Franken und etliche Centimes zu bezahlen ... Ich habe natürlich das unglückselige Papier verborgen ... Ich wage es nicht, deinem Vater davon zu sprechen ... Und dennoch werden wir es ihm mitteilen müssen, denn schließlich kann es nicht mehr lange so fortgehen ... Uebrigens ist es mit uns ohnehin am letzten und ich weiß nicht, wie wir diesen Wechsel bezahlen sollen ... 160000 Franken lassen sich nicht so leicht auftreiben, und was mich betrifft, so erkläre ich, daß ich auch nicht einen Sou beisteuern kann. Mir bleibt bloß Saint-Maurice ... Ein kaum bewohnbares Nest und 2500 Franken Revenüen ... Ein Dach, um euch in den Tagen der Not, die leider nur zu rasch kommen werden, aufzunehmen, und Brot, damit ihr nicht Hungers sterbt ... Das, mein Kind, siehst du, das gebe ich nicht her, und wenn ich den Kopf schon unter dem Beile der Guillotine hätte ... Denn das ist die einzige, die letzte Zuflucht, nachdem dein Vater auf so klägliche Weise alles vergeudet und verloren hat ...«

Antoinette machte eine bittende Gebärde, indem sie ihr sanftes, von Sorgen blasses Antlitz zu ihr erhob.

»Tante, ich bitte Sie, beschuldigen Sie meinen Vater nicht ... Was er that, war gut gemeint. Er hat Hirngespinsten nachgejagt, thörichten Hoffnungen sich hingegeben; aber er hatte doch nur das eine Ziel, uns reich und glücklich zu machen ... Er selbst, Sie wissen es, macht keine Ansprüche, und das kleine Schlößchen von Saint-Maurice wird ihm ein Palast dünken, wenn wir ihm zur Seite bleiben.«

»Ach, ich weiß es gar wohl, daß er ein Herz hat wie Gold ... Aber leider kann er damit nicht bezahlen! Und die Gläubiger, die uns auf den Fersen sind, wollen uns keinen Aufschub bewilligen ... Malézeau hat mit Carvayan gesprochen und ihn hart und kalt gefunden ... Wenn wir bis zu Ende dieser Woche kein Auskunftsmittel ersinnen, um Zeit zu gewinnen, werden wir uns auf die Beine machen müssen ... Wir werden die Gerichtsdiener in den Sälen von Clairefont sehen, man wird uns vor die Thüre setzen, und uns aus dem Hause unserer Vorfahren weisen ... Was wird Herr von Croix-Mesnil dazu sagen?«

»Seinetwegen bin ich keineswegs beunruhigt, liebe Tante,« versetzte Antoinette mit einem Lächeln. »Ich kenne ihn ... Er wird mich ebenso gern heiraten, wenn ich arm, als wenn ich reich wäre ... Und wenn ich ihn liebte ...«

»Du liebst ihn also nicht?« rief Fräulein von Saint-Maurice mit schrecklicher Stimme. »Wie? Seit zwei Jahren macht er dir den Hof ...«

»Ich halte ihn für einen durchaus angenehmen Menschen,« erklärte das junge Mädchen mit sanfter Melancholie, »aber er ist der Mann nicht, den man heiraten soll, wenn man kein anderes Glück zu erwarten hat, als die Zärtlichkeit desjenigen, an dessen Seite zu leben unsere Bestimmung ist. Sie wissen es, Tante, und haben es mir eines Tages selbst gesagt ... Er ist in jeder Hinsicht untadelig, jeder zarten Empfindung fähig und für alle edlen Gefühle empfänglich ... Aber niemals wird er selbsteingreifend, wie auserlesene Geister, sein Geschick selbst lenken können, niemals wird er die feurige Hingebung leidenschaftlicher Seelen verstehen ... Ich sollte einwilligen, seine Frau zu werden, um ihn der Gefahr ausgesetzt zu sehen, in unseren Ruin hineingezogen zu werden, mit der Gewißheit im Herzen, daß er weder die Thatkraft noch die Fähigkeit besitzt, die Schwierigkeiten, welche uns umringen, zu besiegen? ... Nein, Tante, das wäre wenig edel, wäre unserer nicht würdig ... Nein, dazu darf ich meine Einwilligung nicht geben ...«

»Thatsache ist, daß, wenn der arme Junge mit Carvayan fertig zu werden hätte, er eine sehr traurige Gestalt abgeben würde ... Ach, wenn ich, wie in den Feenmärchen, die Macht hätte, ihm Genie zu verleihen ... aber ein wahres Genie, ein ernsthaftes, brauchbares, kein solches, wie dasjenige deines Vaters ... mit welcher Wonne würde ich ihn den alten ›Schismatiker von Maire angreifen sehen! O, diesem Schurken all das Uebel, das er uns angethan, vergelten zu können, ihn mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, über ihn triumphieren und nach Herzenslust über ihn zu lachen! Nein, siehst du ... ich weiß nicht, was ich darum gäbe!« Tante Isabella schüttelte heftig das Haupt, ging erregt im Zimmer auf und nieder, dann nahm sie ihrer Nichte gegenüber Platz. »Warum ist die geistige Kraft deines Bruders nicht so groß als seine körperliche! ... Ihm wäre es zugekommen, sich dem Maire entgegenzustellen und ihm den Herrn zu zeigen! ... Aber er versteht nichts von Geschäften ... Er ist wie dein Vater und wie ich ... Und ich sehe wohl, daß in unserer Familie du, meine Tochter, der einzige helle Kopf bist ... Seltsame Zeiten das, wo ein Carvayan einen Clairefont peinigen darf, und wo es keinen anderen Beistand, keine anderen Mittel gibt, als die wir in uns selbst finden ... Ehemals hätte man sich an den König gewendet ... und im Handumdrehen wäre die Angelegenheit geordnet worden ... Heutzutage geschieht für uns nichts ... Wenn die Wagschale sich neigt, so ist es immer zur Seite dieser Subjekte ... und alle Vorteile fallen ihnen zu ... Je größere Schurken sie sind, desto sicherer werden sie begünstigt ... Mein armes Kind, du siehst, daß wir uns fügen müssen ...«

»Und das wird uns wahrlich nicht schwer fallen, Tante ... denn wir werden unsere Lebensweise wenig zu ändern brauchen ... Wie leben wir hier seit zwei Jahren? So armselig wie nur denkbar, verloren in dem weiten, frostigen, stillen Schlosse ... Die Armut ist doch hundertfach peinlicher in einer für den Reichtum geschaffenen Behausung, als unter einem bescheidenen Dache ... Hier in Clairefont bin ich geboren und herangewachsen, habe hier Schmerz und Leid erduldet, und tausend Bande knüpfen mich an diesen Boden ... Aber ohne jedes Bedauern will ich sie von mir werfen, wenn wir anderswo ein ruhiges und gesichertes Dasein finden ... Wenn mein Vater sich geborgen und frei fühlen wird, wenn sein Alter von Aufregung und Sorgen verschont bleibt und unser Name wenigstens unbescholten aus den Wirrnissen unserer jetzigen Lage hervorgeht, so beteure ich Ihnen, Tante, daß ich auch nicht eine Thräne für unsere glänzende Vergangenheit haben, daß ich vielmehr voll Dank auf unser bescheidenes, zufriedenes Leben blicken werde.«

»Und du wirst Mädchen bleiben?«

»Und ich werde Mädchen bleiben, meiner Treu, so wie Sie, liebe Tante ... Wir werden schließlich eine so jung oder so alt aussehen wie die andere ... Wir werden uns kleine Schrullen ersinnen ... werden Karten spielen, recht jugendliche Bänderhäubchen aufsetzen und Konfitüren bereiten ... Papa wird uns von seinen Erfindungen erzählen, die auszuführen er nicht mehr die Mittel hat, und wir werden sie ohne Hintergedanken bewundern können, weil sie uns nichts mehr kosten ... Und da wir in Saint-Maurice noch immer so viel haben werden, um ein Pferd zu halten, so werden wir an schönen Tagen, und wenn wir recht brav gewesen sind, mit Robert Ausflüge zu Wagen unternehmen ... Lachen Sie wieder, Tante ... Es werden sich noch gute Tage für uns finden ... Mit ein wenig Philosophie kann man sich im Leben in alles schicken. Und wenn man zudem noch seine Lieben um sich hat, worüber kann man sich dann beklagen?«

Das alte Mädchen richtete sich in die Höhe, öffnete ihre langen Arme, und ihre Nichte an den Schultern fassend, drückte sie dieselbe in heftiger Erregung an ihre knochige Brust.

»Teures, uns von Gott gegebenes Kind!« rief sie voll tiefer Rührung, »ja, überall, wo du weilst, wird auch das Glück sich einfinden ... Du bist unser Licht, unsere Sonne ... Was würde ohne dich aus uns werden? Du hast recht, heirate deinen Dragoner nicht ... Bei uns wirst du unsere Armut teilen, aber du wirst wenigstens frei bleiben ... An seiner Seite wärest du reicher aber du würdest nicht mehr dir selbst gehören ... Und das wäre von allen Uebeln das größte ... Ich bin eine entsetzliche Egoistin, ich denke nur an mich, wenn ich dich in deinen Unabhängigkeitsgelüsten bestärke, aber tadle mich, wer kann ... Du bist meine lebendige Entschuldigung ...«

Mit ihren großen Händen umfaßte sie den Kopf des jungen Mädchens und betrachtete sie voll liebevoller Bewunderung. Mit ihrem ungeordneten Haar, ihrem rosigen Teint und den blauen Augen, dem lieblichen Munde und der stolzen Freimütigkeit in ihren Zügen gemahnte Antoinette an die reizenden Gesichter Greuzes, zugleich voll keuscher Anmut und unschuldiger Koketterie. Die weiten Aermel ihres Morgenkleides ließen ihre schönen Arme frei, und am Rande des reich gefalteten Rockes erschien in kleinen Atlaspantoffeln die Spitze eines allerliebsten Füßchens, leicht sich wiegend wie ein Vogel, der zum Fortfliegen sich anschickt.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, beste Tante,« sagte Antoinette, den Kopf zur Seite neigend ... »Sie haben meinen Willen nicht beeinflußt ... Mein Entschluß steht schon seit langem fest, und ich erwarte nur einen passenden Anlaß, um ihn Herrn von Croix-Mesnil mitzuteilen. Uebrigens fürchten Sie nichts, er ist ein wackerer Mann, er wird meine Gründe begreifen und unser Freund bleiben ... Was meinen Vater betrifft, so ist es am besten, ihm vorläufig nichts zu sagen ... Zumal heute nicht ... Lassen wir erst das Fest vorübergehen, und morgen, wenn es angeht, wollen wir großen Familienrat halten ...«

»Hoffen wir, daß kein böser Zwischenfall unsere Lage verschlimmert,« versetzte Fräulein von Saint-Maurice. »Ich habe böse Vorahnungen ... Und die haben mich noch selten getäuscht.«

Antoinette schüttelte leise das sinnende Haupt.

»Wir wollen Gott bitten, er möge größere Trübsal von uns fernehalten ... Er kann uns doch nicht ganz niederdrücken wollen ... Wenn dies aber dennoch sein Wille sein sollte ...«

»Dann hoffen wir, daß er mich allein treffen wird,« rief das alte Mädchen mit feuriger Hingebung aus, »und daß ihr, meine geliebten Kinder, verschont bleiben werdet.«

Da trug ein etwas stärkerer Wind den beiden Frauen die Klänge der Kirchenglocke zu, die in der Ferne läutete.

»Das ist der erste Glockenschlag zur Messe,« sagte Tante Isabella, »und ich habe noch nicht einmal angefangen, mich zu frisieren ... Ich mache, daß ich fortkomme ... Auf Wiedersehen ...«

Und in zwei Sätzen die Thür erreichend, fuhr sie stürmisch wie ein Wirbelwind hinaus.

Die Schloßdamen brauchten niemals viel Zeit zum Ankleiden, und von dem Schlosse bis zur Kirche war es kaum fünf Minuten weit. Daher hatte der Pfarrer kaum die Runde im Schiffe gemacht, um den priesterlichen Segen zu spenden, als auch schon Fräulein von Clairefont in Begleitung ihrer Tante und des Herrn von Croix-Mesnil auf ihrem Platze saß und ihr Gebet begonnen hatte. Nichts störte sie in ihrer Andacht, alles ging mit gewohnter Regelmäßigkeit von statten; nur der Sohn des Küsters hatte sich während der Aufhebung der Hostie in respektwidriger, geräuschvoller Weise geschneuzt, was ihm von seinem Vater, der im Chore sang, einen wütenden Blick eintrug, als Vorläufer tüchtiger Maulschellen. Fräulein Bihourel, die Schwester des Pfarrers, schlug zeitweilig mit dem Gebetbuche auf ihren Betstuhl, um den Schulkindern das Zeichen zu geben, wann sie aufstehen oder niedersitzen sollten.

Der tiefe Seufzer Pascals, als er Herrn von Croix-Mesnil entdeckte, erreichte nicht die keuschen Ohren des jungen Mädchens, und das Geräusch der sich entfernenden Schritte desjenigen, der sie insgeheim anbetete, erweckte in ihrem Geiste keinen Widerhall. Sie blieb still und andächtig bis zu dem Augenblicke, als ihre Tante, sie leise mit dem Ellenbogen berührend, ihr die Worte zuflüsterte: »Halte dich zum Almosensammeln bereit ...«

Das junge Mädchen schloß ihr Gesangbuch und nahm aus dem Betpulte den Sammelbeutel von dunklem Samt, welcher das Wappen der Clairefonts in verblichenen Farben trug.

Der Küster, seinen Stab mit silbernem Knopfe in der Hand, näherte sich ihr mit tiefer Verbeugung. Antoinette erhob sich und während sie dem Chore zuschritt, schien es ihr, als sei der Beutel nicht leer und als vernehme sie ein leises, metallenes Klirren. Erstaunt zog sie die seidenen Schnüre auseinander, und mit einer Ueberraschung, welche ihr Antlitz mit flammender Röte überzog, sah sie auf dem schwarzen Ledergrunde fünf Goldstücke blinken.

In großer Erregung trat sie vor den Altar, verneigte sich und begann hierauf mit dem Einsammeln der Almosen. Die Centimes und Sous fielen reichlich in den Beutel, die rätselhaften Goldstücke bedeckend, und Antoinette schritt weiter an den Bankreihen vorüber, mechanisch die üblichen Worte murmelnd: »Für die Armen, bitte ...« Und während dieses Weges dachte sie: »Wer mag heute morgen in die Kirche gekommen sein, um diese reiche Gabe anonym zu spenden?«

Fragend blickte sie umher, ihre Augen durchforschten alle dunklen Winkel, um den geheinimsvollen Geber ausfindig zu machen; aber sie sah nur die bekannten Gesichter der Bauern aus der Umgebung. Pascal war fern.

Bis zum Ende des Gottesdienstes blieb Antoinette zerstreut. Das Gesangbuch lag aufgeschlagen in ihren Händen, aber sie dachte nicht daran, die Gebete zu lesen. Ihre Augen hafteten an einem großen, von ihrem Urgroßvater der Kirche gespendeten Fenster, dessen Glasmalerei den Kampf Jakobs mit dem Engel darstellte. Mit seinen sehnigen Armen hat der Sohn Isaaks den himmlischen Gegner gefaßt, der ihm mit einem Flügelschlage entschlüpft. Darunter stand in gotischen Lettern die Inschrift: »So ringt der an die Erde gefesselte Mensch, den Himmel zu gewinnen.«

Fräulein von Clairefont schien es, als ob das Antlitz Jakobs, welches sie früher nie aufmerksam betrachtet hatte, eine seltsame Aehnlichkeit mit irgend einer Person aufweise, welche ihr nicht fremd war ... Sie mußte dieses energische, von braunem Vollbarte umgebene Gesicht, diese durchdringenden Augen kennen ... Aber sie vermochte keinen Namen darunter zu setzen ... Vergebens suchte sie in ihrem Gedächtnis, sie fand nichts.

Der Priester verließ den Altar, die Anwesenden erhoben sich und eilten dem Ausgange zu, und Antoinette saß noch immer regungslos da, in Gedanken versunken ...

»Nun, mein Herzchen, wir müssen gehen,« sagte Tante Isabella ... »Lieber Baron, wollen Sie uns gefälligst in der Vorhalle erwarte n... Wir haben erst unserem lieben Pfarrer Rechnung abzulegen ...«

Herr von Croix-Mesnil verbeugte sich schweigend und schritt der Thür zu, während die beiden Frauen sich in die Sakristei begaben. Der Pfarrer von Clairefont, ein ehrwürdiger, schlichter Priester, hatte Antoinette getauft und ihr das erste Abendmahl gereicht. Als die Damen eintraten, trafen sie ihn gerade beim Ablegen seines Ornats. Mit einer heftigen Bewegung sich den Händen seiner Schwester, die ihm das Chorhemd aufnestelte, entreißend, stürzte er den Ankommenden entgegen.

»Um des Himmels willen, teurer Herr Pfarrer, lassen Sie sich nicht stören!« schrie die Tante von Saint-Maurice, »wir kommen nur, um gleich wieder zu gehen ... Antoinette überbringt Ihnen ihre Kollekte ... Entschuldigen Sie uns ...«

Fräulein Bihourel öffnete den Beutel, schüttete den Inhalt auf den Tisch, und als Gold, Silber und Kupfer durcheinandergeworfen dalagen, stieß sie einen Schrei der Ueberraschung aus: »Sieh doch, Bruder! ...«

Der Priester lächelte, und die Hände des jungen Mädchens ergreifend, sprach er freundlich: »Sie waren verschwenderisch ... Daran erkenne ich Ihr Herz ... Aber es ist zu viel, mein Kind ... Und ich sollte Sie eher schelten, als Ihnen danken ...«

Bei diesen Worten färbten sich Antoinettes Wangen mit Purpurröte: sie versuchte sich abzuwenden, aber die Augen ihrer Tante richteten sich mit dem Ausdrucke so großen Erstaunens auf sie, daß es ihr unmöglich war, länger zu schweigen.

»Ich verdiene keinen Dank, Herr Pfarrer,« sagte sie lebhaft. »Dieses Geld rührt nicht von mir her, ich fand es in dem Beutel, noch ehe ich mit dem Sammeln begann ...«

Nun ging Tante Isabellas Erstaunen in eine wahre Verblüffung über. Sie blieb einen Augenblick stumm, und mit einem Seufzer, der mehr einem Wiehern glich, schrie sie sodann mit vor Erregung flammendem Gesichte: »Das ist denn doch zu stark. Wie konnte so etwas vorkommen? Ich, ich selbst habe gestern abend Germain den Beutel übergeben, damit er ihn in deinen Betstuhl lege ... Hat man sich etwa erlaubt, dort herumzustöbern? ...«

»Aber, beste Tante,« unterbrach sie das junge Mädchen, »jedenfalls war es kein Dieb, denn statt mir etwas zu entwenden, hat er mir vielmehr Geld für die Armen zurückgelassen. Uebrigens hatte man nötig, dort herumzustöbern, wie Sie sagen? Kann Germain nicht vielleicht ganz einfach den Beutel auf den Betstuhl gelegt haben? Und dann, ich bitte Sie, die Sache ist doch von keiner Wichtigkeit, daß Sie davon solch großes Aufheben machen!«

Dabei hatte sie Thränen in den Augen, und ihre Stimme begann zu zittern. Tante Isabella fürchtete, ihr wehe gethan zu haben, und um sie zu beruhigen, sagte sie lächelnd: »Am Ende ist es der Baron, der sich schon am frühen Morgen auf die Beine machte, um dir insgeheim diese Ueberraschung zu bereiten.«

»Das ist nicht möglich, Tante, denn erstens steht Herr von Croix-Mesnil nicht frühzeitig auf, und dann wußte er auch nicht, daß ich heute das Sammeln übernehmen werde ...«

»Ich kenne niemand in der ganzen Gegend, dem wir eine solche Freigebigkeit zumuten könnten,« sagte Fräulein Bihourel nachdenkend.

»Und meines Wissens hat kein Fremder die Kirche betreten,« fügte der Pfarrer hinzu ... Doch plötzlich hielt er inne, sein Gesicht erhellte sich, und die Hände zusammenschlagend, rief er: »Wenn es nicht etwa der junge Mann ist, den ich sah, als ich den Segen spendete ...«

»Was für ein junger Mann?« schrie Tante Isabella, deren Augenbrauen sich zusammenzogen.

»Ein junger, brünetter Mann mit einem Barte; er stand in einer dunklen Ecke neben den Weihkesseln, rechts am Eingange ...«

Wie durch einen Zauberschlag erwachte in Antoinette die Erinnerung an Pascal. Sein Antlitz schwebte ihr vor, er war es –nun erkannte sie ihn wieder –der dem Sohne des Patriarchen glich. Wollte auch er den Himmel gewinnen? Und was konnte der Himmel für einen Carvayan anderes sein, als die Liebe einer Clairefont? Er war es, daran war nicht zu zweifeln, der sich bis an ihren Betstuhl geschlichen, ihn geöffnet und diesen Beweis seiner indiskreten Neugier dort zurückgelassen hatte.

Sein Benehmen erschien ihr über alle Maßen dreist. Die Stimme ihres Stolzes erhob sich voll Zorn gegen den Verwegenen. Was wollte er? Was hoffte er? Weil er zufällig auf freier Straße mit ihr zusammengetroffen, meinte er sich ihren Gedanken aufdrängen zu dürfen? Bildete er sich etwa ein, sie durch seine beleidigende Freigebigkeit zur Dankbarkeit zu zwingen?

Doch eine mildere Stimme, diejenige der Vernunft, erwiderte: Worüber darfst du dich im Grunde genommen beklagen? Er hat durch deine Hand ein Almosen gespendet und sich dabei verborgen gehalten. Er hätte in der Kirche bleiben, dein Vorübergehen erwarten und dir frei seine Gabe reichen können. Doch er fürchtete, dir zu mißfallen, wagte es nicht, deinem Blicke zu begegnen; er hat sich rücksichtsvoll und ehrerbietig benommen. Willst du ihm etwa das zum Vorwurf machen?

Aber gerade dieses Geheimnisvolle war es, das sie verletzte. Gegen ihren Willen sah sie sich plötzlich in eine Art von Heimlichthuerei verstrickt mit dem Sohne des Mannes, der ihres Vaters Todfeind war. Wenn er sie sah, durfte er sie mit einem Lächeln begrüßen, als walte zwischen ihm und ihr der Beginn eines geheimen Einverständnisses. Sie hätte seinen Namen nennen, es laut ausrufen mögen, daß er es gewesen, der die Frechheit gehabt, ihr Betpult zu öffnen, hätte ihm das Geld hinwerfen mögen, das ihr zuwider war.

Doch angesichts des Priesters und seiner Schwester mußte sie sich bezwingen; sie sah ein derartiges Geständnis als eine Demütigung für die ganze Familie von Clairefont an. Und bedrückten Gemütes, tief verstimmt, legte sie sich Schweigen auf.

»Nun, da du Rechnung abgelegt hast, meine Tochter, machen wir, daß wir fortkommen,« sagte Tante Isabella, »es ist schon eine hübsche Weile, daß der Baron draußen Schildwache steht ... Wir müssen ihn von seinem Posten ablösen ... Auf Wiedersehen, bester Herr Pfarrer ... Guten Tag, liebe Kleine ...«

Die kleine Bihourel, eine angehende Fünfzigerin, machte einen tiefen Bückling gleich einer Betschwester und geleitete die Schloßdamen bis an die Thür der Sakristei. Kaum waren Tante und Nichte allein in der Kirche, als Fräulein von Saint-Maurice mit vor Neugierde funkelnden Augen begann: »Ei, meine Schöne, ich vermute, daß auch du den geheimnisvollen Spender in der Schilderung erkannt hast, welche der Pfarrer von ihm entwarf. Das ist ohne allen Zweifel der junge Prinz Carvayan in höchsteigener Person ...«

»Tante,« murmelte verdrießlich das junge Mädchen.

»Nun, was weiter? Der Sohn des alten Halunken, vielleicht von Vorwürfen gequält, will etwas von dem Gelde, das sein Vater gestohlen, zurückerstatten, und bedient sich deiner Hand zu dieser Gott und Menschen angenehmen Buße ... Das ist höchst moralisch und außerordentlich galant ... Du sollst sehen, daß wir, ohne daß wir es ahnten, in dem eigenen Hause dieses Ungeheuers einen Verbündeten finden werden ...«

»Ich bitte Sie, beste Tante, scherzen Sie doch nicht über einen solchen Gegenstand!« sprach Fräulein von Clairefont mit bebender Stimme und mit Thränen in den Augen.

»Nun weinst du gar!« rief erstaunt das alte Fräulein aus ... »Ich begreife dich nicht ...«

»Weil alles dies mich demütigt und mich verletzt ... weil ich nicht zugeben kann, daß ein Fremder sich so gewaltsam in mein Leben drängt ... Ich kenne diesen Mann nicht er ist mir zum voraus verhaßt, ich mag nichts von ihm wissen, als daß er der Sohn seines Vaters ist, den ich, wenn auch nicht verachten, so doch hassen muß. Zudem, wer sagt Ihnen, ob es nicht herausfordernder Trotz ist, der ihn mir dies Geld überbringen ließ? Liegt nicht ein grausamer Hohn darin? Er weiß, daß wir so weit verarmt sind, daß wir nicht mehr wie ehemals Almosen geben können, und wollte uns damit zu verstehen geben, daß, ohne einen Carvayan, wir genötigt wären, die Hand leer zu lassen, welche die Unglücklichen uns entgegenstrecken?«

»Ei, ei, wie du dich aufregst! Die Sache lohnt wahrhaftig nicht der Mühe. Das ist ein Bursche, dem es vermittelst hundert Franken gelang, von sich reden zu machen ... Die Ohren müssen ihm klingen ... Wenn er dies aus Berechnung that, so ist er gar nicht dumm ... Aber ehe wir seine Person beiseite lassen, höre ein letztes Wort: Ich halte ihn nicht für, einen so schwarzen Teufel, wie du dir ihn vorstellst ... Er hat sich einst von seinem Vater losgesagt ... freilich ist er jetzt wieder zurückgekehrt ... Aber muß er dieserhalb schon mit dem alten Schufte übereinstimmen? Ach ein Entzücken wäre es, die beiden sich gegenseitig verschlingen zu sehen ... Carvayan gegen Carvayan ... Der Korsar des Korsaren Feind ... Ach, wie das amüsant wäre!«

»Sie werden dieses Schauspiel nicht genießen, Tante,« sagte Antoinette mit verächtlicher Bitterkeit. »Seien Sie gewiß, daß im gegebenen Augenblicke beide sich vereinigen werden, um uns den Gnadenstoß zu geben ... Was übrigens auch geschehen möge, über das Vorgefallene wollen wir niemals mehr sprechen ...«

Darauf verließen sie die Kirche. Herr von Croix-Mesnil, bemüht, eine Grabschrift zu entziffern, welche in den als Schwelle dienenden Stein hineingemeißelt war, wendete sich ihnen lächelnd zu. Der Baron war ein schöner Mann von dreißig Jahren, mit schwarzen Augen und blondem Schnurrbarte, vornehmen Manieren und sanfter Gemütsart. Während des Krieges hatte er unter dem Kommando des Generals Charette Proben glänzender Tapferkeit abgelegt. Man zählte ihn zu jenen sanften Männern, die in aller Stille der Gefahr entgegengehen und mit ruhiger Stimme mörderische Befehle erteilen.

»Ich rufe alle meine klassischen Erinnerungen wach, um zum Verständnis dieser lateinischen Inschrift zu gelangen ... Es ist darin, wenn ich nicht irre, von einem Abbé von Clairefont die Rede, der hier bestattet wurde, nach dem Wunsche, der Fuß der Gläubigen, welche die Kirche betreten, möge über seine irdische Hülle schreiten ... Calcabunt fidelium pedes ...«

»Ganz richtig,« versetzte die Tante von Saint-Maurice ... »Es ist Foulque von Clairefont ... Prior des Benediktinerklosters von Jumiège. Wenn es Sie interessiert, so wird der Marquis Ihnen seine Geschichte erzählen ... Er begann seine Laufbahn als Soldat, war ein gefürchteter Haudegen, wurde später ein Vorbild hoher Frömmigkeit und endete als ein Heiliger ... Er ist der religiöse Ruhm des Hauses ... Sein Bildnis hängt in der Kapelle ...«

»Da kommen uns der Vater und Robert entgegen,« unterbrach sie Antoinette.

Der Marquis, auf den Arm seines Sohnes gestützt, wandelte langsamen Schrittes die Lindenallee entlang, welche von dem Dorfe bis zu den Schloßthoren führte. Robert, der für diesen Tag sein Jagdkostüm abgelegt, trug einen Anzug aus blauem Tuch, der die kräftige Eleganz seiner Gestalt zur vollsten Geltung brachte. Er plauderte fröhlich mit seinem Vater, und mit der linken Hand hielt er das Windspiel Antoinettes an einer Leine. Beim Anblick seiner Schwester ließ er den Hund frei, der wie ein Pfeil dahinschoß und, zu den Füßen des jungen Mädchens hinstürzend, sich mit schmeichelndem Gebell auf dem Boden wälzte.

»Weshalb ließest du das arme Tier nicht frei laufen?« fragte Fräulein von Clairefont, die ihre Schritte beschleunigt hatte.

»Weil er schon die Richtung nach der Kirche genommen hatte, um dich aufzusuchen, und da ich nicht glaube, daß die Messe für Hunde gelesen werde ...«

»Ja freilich,« meinte Antoinette lächelnd ... »Wenn Herr von Croix-Mesnil hier ist, will mich Fox keinen Augenblick verlassen ...«

»Er ist eifersüchtig, bei Gott!« rief Robert mit lautem Lachen.

»Wozu er in der That keinerlei Grund hat,« versetzte sanft der Baron; »von den beiden Rivalen ist wahrlich nicht der Mensch der mehr begünstigte ...«

»Lassen wir das, Croix-Mesnil, alles wird gut enden, mein Teurer,« sagte der Marquis. »Kehren wir ins Schloß zurück und nach dem Frühstück will ich Ihnen meinen neu erfundenen Ofen zeigen ... Sie werden sehen, er ist ein Wunderwerk ... Wenn man einen Apparat ersonnen hat, der so einfach ist und dennoch so reich an erstaunlichen Ergebnissen, braucht man an nichts zu verzweifeln ... Die Arbeiten im Steinbruch werden demnächst wieder aufgenommen werden, und zwar mit einem solchen Fortschritt in der Kalkbereitung, daß die Erwerbung eines großen Vermögens dabei gewiß ist. Ihr sollt sehen! Ihr sollt sehen! ...«

Und sich wohlgemut die Hände reibend, wendete er sich dem Schlosse zu. Antoinette und Tante Isabella tauschten einen raschen Blick. Das Herz des jungen Mädchens zog sich schmerzlich zusammen, als sie den Erfinder, der am Vorabende seines Ruins stand, mit so viel Selbstvertrauen von Arbeit und Reichtum sprechen hörte.

Von seinen Phantasiegebilden völlig erfüllt, belustigte das alte Kind sich mit seinem Spielzeug selbst jetzt noch, wo die seit so langem drohende Katastrophe unausweichlich bevorstand. Wie tief und schmerzlich würde sein Fall ihm scheinen? Auf welche Weise vermochte man ihn zur Erkenntnis seiner wahren Lage zu bringen? Welche Mittel mußte man gebrauchen, um dem harten Schlage etwas von seiner Grausamkeit zu nehmen? Und zuvörderst, wie ihn zur Vernunft zurückbringen, ihn von seiner Thorheit heilen und ihn dahin führen, daß er auf seine Träume verzichte, welche das Fundament seines Lebens selbst zu bilden schienen, das Notwendigste zu seinem Glücke?

»Wir müssen heute abend auf dem Balle erscheinen, meine Kinder,« fing Herr von Clairefont wieder an ... »Nach dem Diner, wenn die Hitze des Tages abgenommen hat, wollen wir langsam nach Neuville hinabsteigen, um uns für eine Stunde zu zeigen ...«

Antoinettes Gesicht verdüsterte sich.

»Glaubst du, Papa, daß man unserer Abwesenheit eine schlimme Auslegung geben würde?« fragte sie gezwungen. »Dieses Kirchweihfest hat doch wahrhaftig gar kein Interesse für uns ... Was sollen wir dort machen?«

»Einem alten Gebrauche uns fügen ... Weniger als irgend jemand haben wir das Recht, althergebrachte Sitten zu verletzen.«

»Gewiß, aber es wird für dich gar zu ermüdend sein, inmitten dieses Gewühles, dieses Tumultes und Staubes,« entgegnete Antoinette, welche bei dem Gedanken zitterte, daß ein übelwollendes Wort, eine indiskrete Anspielung dem Greise die Wahrheit auf rohe Weise enthüllen könnte.

»O, was mich betrifft, mein Kind, mir ist es lieb, wenn ich Clairefont nicht zu verlassen brauche, die Gegenwart von euch Jungen wird ja vollkommen genügen.«

»Nun, dann wollen wir gehen,« sagte das junge Mädchen eifrig, »und dich vertreten. Auf diese Art kannst du völlig ruhig sein ... Und niemand wird hoffentlich etwas daran auszusetzen haben ...«

»Nun ist wieder alles in Ordnung, Fräulein Weisheit,« meinte Honoré lächelnd, »und ich bin glücklich, dich zufrieden zu sehen ... Ich werde inzwischen die Gelegenheit benutzen, eine chemische Analyse zu beginnen, die ich aus Furcht, mir Vorwürfe von euch zu holen, seit längerer Zeit verschiebe ...«

»Ach ja, mein Bester,« warf Tante Isabella verdrießlich dazwischen, »neulich hat der Qualm, welcher Ihrem Kabinett entströmte, alle Bilderrahmen in der Galerie geschwärzt, und meine Wäsche hat während zwei Wochen einen üblen Geruch davon bewahrt.«

»Das ist wahr,« sagte der Gelehrte demütigen Tones, »in meiner Zerstreutheit vergaß ich die Fenster zu öffnen, was leider den Vergoldungen schadete ... Aber diesmal werde ich gehörig acht geben ...« Damit traten sie in den Schloßhof ein. Bei ihrem Anblicke läutete der alte Germain ceremoniös die Glocke zum Frühstück, und mit einer tiefen Verbeugung seinem Gebieter sich nähernd, meldete er dem Marquis, daß die Speisen aufgetragen seien.

»Antoinette, reiche mir den Arm,« sprach der Alte, und auf seine Tochter gestützt, wie es seine Gewohnheit war, mehr aus affektierter Nachlässigkeit, als aus wirklicher Schwäche, wendete er sich schleppenden Schrittes dem Speisesaale zu.

Es war dies zur selben Zeit, als im Erdgeschosse des kleinen Hauses in der Rue du Marché Carvayan und Pascal schweigend einander gegenübersaßen, beide von ernsten Gedanken bewegt. Der eine nahm sich vor, die Bande, welche den Sohn in seiner Nähe hielten, fester zu knüpfen, der andere, sich von allen Plänen seines Vaters vollständig loszusagen und sich auf immerdar zu entfernen.

Auch auf dem Feste hatte die Essenszeit für eine Stunde den Tumult und die Aufregung zum Stillstande gebracht. Eine bleierne Hitze lastete drückend auf dem ganzen Umkreise, selbst die Vögel in den Bäumen der Promenade schwiegen. Nur von der Mitte des Hügels von Clairefont erscholl zeitweilig lautes Gekreisch und Gejohle. Es kam dies aus der großen Gaststube Pourtois', wo alljährlich die Gesellen der Zimmerleute auf Tondeurs Kosten sich zu einem Frühstücke zusammenfanden.

Beim Dessert, das sich stark in den Nachmittag hinein verlängerte, war es Sitte, Lieder zu singen, wobei lustig jeder »mit dem seinigen herausmußte«, wie der Holzhändler sagte, und inmitten des Tabakqualms und der Alkoholdünste stiegen die von der ganzen Gesellschaft wiederholten Refrains in ohrenzerreißendem Crescendo empor.

Im kleinen Salon des Schlosses saß Antoinette mit einer Stickerei beschäftigt am Fenster, dem fernen Tumulte lauschend. Sie überwachte den Schlummer ihres Vaters, der auf einem Diwan Siesta hielt. Robert und Herr von Croix-Mesnil wandelten plaudernd die Terrasse entlang, während Fräulein von St. Maurice, mit einer riesigen Gartenschere versehen, die welken Rosen auf den Blumentischen abschnitt. Plötzlich hielt der junge Graf still, und seinem Begleiter einen entschlossenen Blick zuwerfend, sagte er: »Ich, an Ihrer Stelle, mein Bester, würde offen reden. Es gibt nichts Schlimmeres als unklare Verhältnisse ... Alles hängt von ihr ab ... Sie wissen, wie sehr wir alle Sie lieben ... Wenn unser Jawort genügt hätte, Sie wären längst Antoinettes Gatte...«

Dabei schritten sie an dem Fenster vorüber, an welchem das junge Mädchen saß, und standen einen Augenblick still, um sie zu betrachten.

Antoinette hielt den Kopf geneigt, und nicht ahnend, daß man sie beobachte, trugen ihre Züge den unverhüllten Ausdruck tiefer Traurigkeit. Ein wehmütiges Lächeln glitt über ihre Lippen, die gesenkten Augenwimpern hielten mühsam eine Thräne zurück. Die Stickerei entschlüpfte ihren Händen, in tiefer Niedergeschlagenheit ließ sie ihr Haupt auf die Stuhllehne sinken. Als hätte der Hund, der zu ihren Füßen lagerte, ihre innere Aufregung begriffen, mit so menschlich verständigem Ausdrucke richtete er seine Augen auf sie, und ihre Hand mit seiner Schnauze berührend, entriß er das junge Mädchen ihren düstern Betrachtungen. Antoinette sah das Windspiel an, nahm seinen Kopf in ihre Hände, und sich nicht langer beherrschend, brach sie in Thränen aus. Der Hund legte die Vorderpfoten auf die Schultern seiner Herrin, seine Augen schimmerten wie schwarze Diamanten und ein dumpfes Winseln entrang sich seiner Kehle. Der Marquis bewegte sich unruhig auf dem Diwan.

»Still, Fox,« murmelte das junge Mädchen, indem sie auf den Alten deutete. »Laß ihn schlafen ... solange er noch ruhig zu sein vermag...«

»Mein Gott, sie weint... Sehen Sie, Robert,« sagte der Baron erregt ... »Was soll das bedeuten? Was geht hier vor? Ich muß sie unbedingt darüber befragen, selbst wenn ich mir ihre Unzufriedenheit zuziehen sollte ...«

Er trat ans Fenster, zu dessen Höhe sein Kopf kaum hinanreichte, und wollte zu sprechen beginnen, als Antoinette, den Finger auf den Mund legend, ihm mit einem Blicke Schweigen gebot und mit einer Kopfbewegung nach dem Parke wies. Hierauf erhob sie sich leise, und nach einem letzten Blick auf ihren Vater, der im Traume lächelte, schritt sie leicht, wie eine Sylphe hinaus.

Hier reichte ihr der Baron seinen Arm, den sie annahm, und langsam gingen beide nach dem Parke.

Die Sonne sank am Horizonte hinab, im Schatten der hohen Buchen wehte eine laue, milde Luft, von Moosduft durchzogen. Die Grillen im heißen Grase zirpten ohne Unterlaß, und dürstend streckten die Blumen ihre Kelche dem Abendtau entgegen. Eine Steinbank, noch warm von der Mittagsglut, bot sich dem jungen Paare dar, und einem gemeinsamen Impulse gehorchend, ließen sie sich auf derselben nieder. Antoinette wußte, daß sie den Fragen, mit welchen sie ihr Verlobter in zartsinniger Weise so lange verschont hatte, nicht länger ausweichen konnte. Sie schlug ihre noch feuchten Augen zu ihm auf, sah ihn erregt und beunruhigt, und in einer plötzlichen Gefühlserregung reichte sie ihm die Hand. Er hielt sie fest, und das junge Mädchen zärtlich anblickend, fragte er sanft: »Reichen Sie mir Ihre Hand, damit ich sie behalte?«

Ein trauriges Kopfschütteln war die Antwort.

»Verzeihen Sie, liebe Antoinette, seit einigen Monaten kann ich nicht umhin, eine Wandlung Ihrer Gefühle mir gegenüber zu bemerken. Sie empfangen mich mit Zwang und behandeln mich mit Kälte ... Ich habe viel unter diesem Ihrem Benehmen gelitten, ohne es Ihnen zu sagen ... Ich bin nicht mitteilsamer Natur und verstehe es nicht, wie gewisse Leute, die ich darum beneide, mich in glühenden Beteuerungen zu ergehen ... Ich weiß, daß ich darunter verliere, daß ich kalt scheinen und als gleichgültig gelten muß ... Doch wenn ich auch mit meinen Gefühlen zurückhalte, so sind sie darum nicht weniger lebhaft, und seien Sie versichert, daß ich zu denen gehöre, deren Herz unverändert seinen Empfindungen treu bleibt.«

Die Stimme des Barons bebte, indem er so sprach, und eine flammende Röte bedeckte seine Wangen. Er fuhr fort: »Als Herr von Clairefont und Sie mir die Hoffnung gaben, Ihr Gatte zu werden, fühlte ich mich unaussprechlich glücklich ... Ich liebte Sie, kannte Ihren Zartsinn und Ihre Herzensgüte: Ich sah Sie an der Seite Ihres Vaters ... und wußte, daß der Mann, dessen Frau Sie einst werden, vor allen anderen beneidet zu werden verdient ... Indessen, als Sie die Verwirklichung unseres Planes verschoben, fügte ich mich ohne Widerrede Ihrem Willen, so großen Kummer ich auch darüber empfand. Es schien mir damals, als könnte ich Ihnen meine Liebe nicht besser beweisen, als durch meine Geduld und Treue. Heute muß ich mich jedoch fragen, ob meine Annahme nicht eine falsche gewesen. Vielleicht hätte ein Ausbrechen heftiger Verzweiflung, der leidenschaftliche Einspruch verletzter Eigenliebe Ihr Herz mehr gerührt und Sie eher zum Nachgeben bewogen ... Ich aber glaubte mich so geben zu müssen, wie ich bin und litt im stillen, auf die Gefahr hin, meine Liebe als kühl beurteilt zu sehen. Heute empfinde ich bittere Reue bei dem Gedanken, daß ich Ihre gute Meinung für mich allmählich erkalten und dahinschwinden ließ ...«

»Nein, glauben Sie dies nicht,« beteuerte Fräulein von Clairefont nachdrucksvoll. »Beschuldigen Sie mich nicht des Vergessens, sowie ich auch Sie nicht der Kälte beschuldigte ... Die Verhältnisse allein, die unglücklichen, trostlosen Verhältnisse tragen die Schuld ...«

Einen Augenblick hielt sie inne, als zögere sie, weiterzusprechen, dann fuhr sie mit erstickter Stimme, aber mit fester Entschlossenheit fort: »Innerhalb eines Tages hatte sich meine Lage so ernsthaft verändert, daß ich nicht mehr einwilligen konnte, Ihre Gattin zu werden ... Ihnen die Wahrheit gestehen, hätte Sie in die Notwendigkeit versetzt, sich über das Mißgeschick hinwegzusetzen oder aber sich auf eine Weise zurückzuziehen, welche Ihnen hätte erniedrigend scheinen müssen ... Aus Zartgefühl sträubte ich mich dagegen ... Wir spielten beide dieselbe Rolle, hatten beide die gleiche Selbstverleugnung, die gleiche Würde; wir wurden aber beide schlecht belohnt, weil ich sehe, daß Sie leiden und ich Sie mit nichts zu trösten vermag ...«

»Wie, mit nichts?« rief der junge Mann voll Schmerz. »Aber was kann es denn so Ernsthaftes geben, daß weder Sie noch ich eine Abhilfe zu finden vermöchten?«

Sie machte eine Gebärde der Mutlosigkeit.

»Ach, der wahre, der einzige Grund ist der, daß Sie mich nicht lieben. Hätte Ihr Herz mir gehört, Sie würden Ihre Vernunft nicht so viel befragt haben ...«

»Ich empfinde für Sie eine tiefe Zuneigung, die unerschütterlich ist,« sagte Antoinette.

»Die Zuneigung einer Schwester ... Doch nicht diese hoffte ich von Ihnen ...«

»Eine Zuneigung, die mich bestimmte, Ihnen gerne und mit Vertrauen meine Hand zu reichen ...«

»Die aber trotzdem nicht die allerstärkste war, da sie mich aufopferte ...«

»Einem älteren Gefühle, einem mächtigeren, das, welches ich für meinen Vater empfinde ...«

»O, lieben Sie ihn etwa noch nicht genug?« rief der junge Mann voll Eifersucht.

»Die Liebe eines Kindes für seinen Vater darf keine Grenzen kennen,« entgegnete das junge Mädchen schwärmerisch... »Da Sie aber so fest darauf bestehen, müssen Sie nichts bemerkt, nichts begriffen haben von all dem, was bei uns vorgeht. Sie sahen nicht, daß unser Haus seit zwei Jahren von Tag zu Tage dem Ruin unausweichlich entgegenschritt; die traurige Komödie, mit der wir seit Monaten unseren Vater täuschen, scheint Ihnen entgangen zu sein. Durch Opfer aller Art haben wir bis heute den nötigsten Bedürfnissen genügen können, ohne ihm Kummer zu bereiten... Aber heute sind wir mit allem zu Ende. Die letzten Reste unseres Vermögens gehören uns nicht mehr, man kann uns morgen schon aus dem Schlosse weisen... Wir sind darauf gefaßt, denn unser Gläubiger wird unerbittlich sein ... Diesen Zusammensturz ahnt mein Vater nicht. Es wäre auch unnütz gewesen, ihm die Resultate seiner Irrtümer zu zeigen, er war unfähig, eine Abhilfe zu schaffen... Er ist wie ein altes Kind; wir haben ihn vielleicht zu sehr verwöhnt; er würde aber sterben, wenn wir nicht da wären, um eine Atmosphäre künstlichen Glückes um ihn her zu erhalten... Sie sehen, ich habe das Amt eine Seele zu behüten... Könnte ich einwilligen, Sie diese Pflicht mit mir teilen zu lassen?«

»Dennoch ist es das, was ich begehrt hätte und was ich auch heute noch begehre. Sie sind arm, ich bin reich genug für zwei... Ich werde Ihrem Vater ebensosehr ergeben sein, als Sie selbst ihn lieben... Er wird an mir einen Sohn mehr haben, um ihn zu pflegen und zu hätscheln ... Mit meinem Vermögen werden wir seine Angelegenheiten ordnen und Ihren Besitz wieder aufrichten...«

»Niemals!« rief Fräulein von Clairefont mit Entschiedenheit aus. »Das ist es gerade, was ich über alles fürchtete. Sie kennen den unbewußten Egoismus eines Erfinders nicht!... Ueberzeugt von der Vortrefflichkeit seiner Erfindung, schreckt er nicht davor zurück, alles einer schimärischen Zukunft zu opfern... Zwanzig Jahre sind es, daß dieses Drama vor unseren Augen sich abspielt... Gold hat mein Vater in den Schlund geworfen, und was hat er gefunden? Asche! Sie in unser Verderben verflechten, würde ich mir stets als das größte Verbrechen zum Vorwurfe machen... Wir können uns selber das größte Unrecht anthun, aber zugeben, daß ein Fremder das Opfer unserer Irrtümer werde, nein, dazu werde ich niemals meine Einwilligung geben!« ...

»Indem Sie mich von sich weisen, verursachen Sie mir ein viel größeres Leid ... Aber wenn Sie auch nicht an mich denken, denken Sie doch ein wenig an sich selbst ... Was soll aus Ihnen werden?«

Nachdenklich schwieg Antoinette eine kurze Weile. Sie schien nochmals den ernsten Entschluß zu überlegen, den sie fassen mußte. Frei, sich zu entscheiden, hielt sie das Geschick ihres ganzen Lebens in ihren Händen. Auf der einen Seite die Ehelosigkeit, ein für immer freudloses Dasein, auf der anderen die Ehe mit allen ihren Verheißungen für die Zukunft. Bald war sie indes mit sich einig, und Herrn von Croix-Mesnil ein von ruhiger Heiterkeit strahlendes Antlitz zuwendend, erwiderte sie: »Aus mir wird ein altes Mädchen werden...«

Und als der junge Mann den Mund öffnete, um nochmals eine dringende Bitte zu wagen, sagte sie: »Kein Wort mehr! Ich bitte Sie darum ... Seien Sie großmütig, vermehren Sie nicht meine Leiden, indem Sie mich die Ihrigen noch mehr sehen lassen... Ich werde stets von Ihnen eine, liebe Erinnerung bewahren, aber Ihre Pflicht ist jetzt, mich zu vergessen. Ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück... Reisen Sie morgen ab und erzählen Sie all dies Ihrem Vater ... Er wird, ich weiß es, meine Bedenken billigen und Sie zu dem Gehorsam ermutigen, um welchen ich Sie bitte...«

»Und den Ihnen zu versprechen mir unmöglich ist ... Fordern Sie nicht mehr von mir, als ich billigerweise zu thun vermag ... Können Sie ernsthaft denken, daß ich einwilligen würde, mich für immer zu entfernen und Sie nicht wiederzusehen?«

»Das dachte ich nicht, ja, ich hoffte sogar, daß Ihre Freundschaft mich für all das entschädigen werde, was ich verliere, indem ich darauf verzichte, Ihre Frau zu werden ...«

»Ich gehöre Ihnen ganz und gar, Sie müssen es wissen. Ich weiß Ihnen unendlichen Dank, daß Sie offen und freundschaftlich zu mir gesprochen... Aber lassen Sie uns noch keinen endgültigen Entschluß fassen ... Behalten wir uns die Zukunft vor... Wer weiß, ob die Verhältnisse sich nicht noch so zu unseren Gunsten ändern, daß wir einst die Pläne werden verwirklichen können, die mir so teuer waren? ... Sagen Sie nicht: Niemals; sagen Sie: Gegenwärtig. Lassen Sie mir eine Hoffnung, so schwach sie auch sein mag ... Ich werde mich auf sie stützen, und sie wird mir helfen all das zu ertragen, was Ihre Entschließung für mich Schmerzliches enthält...«

Ohne ein Wort der Erwiderung erhob sie sich, nahm seinen Arm, den er ihr anbot, und kehrte langsamen Schrittes nach dem Schlosse zurück.

Der Abend dunkelte bereits, und leichte Nebeldünste wallten über dem Thale. Das Fest war jetzt auf seinem Höhepunkte, und den Lärm der Menge übertönend, drangen die schrillen Musikklänge aus einer Gauklerbude bis zum Hügel empor. Jeden Augenblick knallten Schüsse, und Feuerstreifen zogen am dunklen Himmel hinan, während die Glocke eines im Freien errichteten Glücksspiels in eiligen Schlägen läutete, um die Neugierigen herbeizulocken. Vom Marktplätze her erhoben sich weiße Staubwolken, die unter dem regellosen Traben der fortgeführten Viehherden in Wirbeln dahinfuhren.

»Alle diese Leute amüsieren sich,« sagte Fräulein von Clairefont, indem sie auf das Menschengewühl in Neuville hinabwies. »Wir müssen versuchen, es ihnen gleichzuthun, damit niemand ahne, wie betrübt wir sind.«

Der Marquis und Tante Isabella kamen ihnen entgegen.

»Nun, meine teuren Kinder,« fragte Honoré, »sind die Schwierigkeiten zwischen euch behoben? Seid ihr endlich einig?«

»Ja, Papa,« erwiderte Antoinette mit ruhiger Stimme. »Alles ist geordnet, habe keine Sorge.«

Dabei richtete sie einen gerührten Blick auf Herrn von Croix-Mesnil, und ihm die Hand drückend, bemühte sie sich, ihm etwas von ihrer Tapferkeit und Entsagung mitzuteilen.


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