Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

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Zweiter Band

Siebentes Kapitel

Es war sieben Uhr morgens, und getreu seiner Gewohnheit, früh aufzustehen, ging Carvayan schon lange in seinem Kabinette auf und nieder, wie ein Bär im Zwinger. Friedliche Stille lag über dem Städtchen, das noch in dem trägen Schlummer ruhte, welcher der Aufregung des gestrigen Tages gefolgt war. Die Sonne stieg glänzend am Himmel empor. Einer ihrer ersten Strahlen fiel schräg in das enge Gäßchen, vergoldete das Fenster der alten Behausung und schimmerte in einer leuchtenden Linie auf dem Boden der Stube. In dem goldigen Streifen, der durch die Gardinen drang, tanzten Sonnenstäubchen gleich geflügelten Sylphiden. Aber trotz des warmen, fröhlichen Lichtes trug sich Carvayan, düster und verstimmt, mit bitteren Gedanken.

In dem Augenblicke, als er sich so nahe am Ziele wähnte, daß er nur die Hand ausstrecken zu müssen glaubte, um den Preis eines dreißigjährigen Kampfes zu erlangen, waren Dinge geschehen, welche ihn mit einem heftigen Rucke weit zurückwarfen. Seine Widersacher so völlig in Händen zu haben, daß man sich nur zu regen brauchte, um sie zu vernichten, und dann noch von den Spitzen ihrer Zähne eine solch brennende Wunde zu empfangen!

Und gerade jetzt, da er Pascal für immer an sich zu fesseln gehofft, indem er ihm das ganze Land wie einen einzigen Höfling zu den Füßen seines Beherrschers zeigte, verwandelte sich sein Triumph in Demütigung, und gerade der, den er durch Befriedigung seines Stolzes zu gewinnen trachtete, hatte selbst die grausamste Beleidigung erdulden müssen. Ihn, den Beherrscher von Neuville, hatte man verhöhnt. Wieder war es an dem St. Firminusfeste gewesen, daß zum zweitenmal nach mehr als dreißigjähriger Pause Clairefont und Carvayan im Kampfe einander gegenüberstanden; denn als ob eine verhängnisvolle Ueberlieferung die Kinder der feindlichen Väter gegeneinander treibe, so hatte Robert nun Pascal beschimpft. Nun galt es, mit dieser Brut ein für allemal ein Ende zu machen und den entscheidenden Streich nicht länger zu verschieben.

Zwischen Honoré und dem ehemaligen Ladengehilfen war die Partie freilich eine sehr ungleiche gewesen. Heute aber hatte sich das Verhältnis zu Gunsten Carvayans gewendet. In seiner Kasse lag ein wohlgeordneter Aktenstoß, protestierte Wechsel enthaltend, Pfändungsbefehle, das Recht zur exekutorischen Feilbietung für den Fall, daß die Summe von 160000 Franken, die Kapital und Zinsen repräsentierte, nicht sogleich gezahlt werden sollte. Der Marquis hatte zu bezahlen oder sein Schloß zu verlassen.

»Ah! Ah! Man würde ihn endlich sehen, diesen Clairefont, wie er mit den ihm gebliebenen Habseligkeiten sich auf den Weg machen wird wie ein Bettler.«

In der Einsamkeit seines Zimmers fing Carvayan laut zu lachen an. Er trat an einen kleinen Schrank, öffnete ihn und im Hintergrunde desselben erschien der eiserne Geldschrank, von dessen fabelhaften Reichtümern die Bewohner von Neuville so oft träumten.

Carvayan zog einen kleinen Schlüssel aus seiner Tasche, schob das Kunstschloß zurecht, und die eiserne Thür drehte sich schwerfällig in den geölten Angeln. Das Innere des Schrankes enthielt keineswegs die Menge an Bargeld, mit welchem die Volksphantasie ihn auszustatten liebte. Nur einige Goldrollen, ein Checkbuch und Aktenbündel in verschiedenfarbigen Umschlägen. Carvayan nahm eines derselben zur Hand, auf welchem mit großen Lettern der Name Clairefont geschrieben stand, und begann es langsam durchzulesen.

In dem Maße, als er in seiner Lektüre fortschritt, erhellte sich sein Antlitz. Seine Finger fuhren knisternd an dem Papier umher, sie preßten, zerknitterten, umkrallten es, als wäre es der Leib des Marquis selbst. Und wie er so die Seiten umwendete, schien der Banquier ein Henker, welcher die Folterwerkzeuge schleift, um die Qualen seines Opfers zu erhöhen.

Ein leichtes Pochen an seiner Thür unterbrach ihn in seiner wonnevollen Beschäftigung. Er warf einen unruhigen Blick nach dem Eingange, dann schloß er rasch den Schrank, trat an den Schreibtisch heran und rief: »Herein!«

»Ich bin's, Herr Maire, entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe,« zischte die Stimme Fleurys, dessen greulicher Kopf in der halb geöffneten Thür erschien. Der Schreiber trat ein, und auf den ersten Blick fand Carvayan ihn so außerordentlich erregt, daß er, ohne ihm Zeit zu einem Worte zu lassen, hastig ausrief: »Was ist geschehen?«

»Etwas sehr Ernstes ... Ich wurde vor einer halben Stunde von Chassevent und Pourtois geweckt, welche mir mitteilten ... Ich nahm mir kaum Zeit, in die Kleider zu fahren und zu Ihnen zu eilen ... Denn es schien mir, daß Sie, wie immer, zu allererst davon unterrichtet werden müßten ...«

»Wovon?« unterbrach ihn heftig der Maire, den die Weitschweifigkeit des Schreibers in eine furchtbare Aufregung versetzte. Er fürchtete, daß sein Sohn und Robert sich am frühen Morgen insgeheim duelliert hätten ... »Werden Sie endlich reden, Schafskopf?«

»Gewiß! Die kleine Rose Chassevent ist heute nacht im Steinbruch ermordet worden! ...«

»Ermordet? Wie?« fragte Carvayan, der plötzlich wieder kalt und ruhig wurde. »Irgend ein Unfall?«

»Ein Verbrechen!« erwiderte Fleury mit unterdrückter Stimme. »Vater Chassevent und Pourtois fanden sie erwürgt in einem Graben, nachdem sie einige Augenblicke lang den Mörder verfolgt hatten ...«

»Verfolgt! ... Er schleppte sie also mit sich fort?«

»Er lief, das Mädchen auf der Schulter, quer über die Heide den Hügel hinauf, soweit es Chassevent und der Dicke zu unterscheiden vermochten, denn es war noch ganz finster ...«

»Und er ist ihnen entkommen? ... Also war es ein Bursche von ganz außergewöhnlicher Stärke? ...«

Die Augen Fleurys und Carvayans begegneten sich, und der Schreiber las in den Blicken des Maires so schreckliche Gedanken, daß er erbleichte und ein Zittern seinen Körper überlief.

»Ah! Ah!« rief Carvayan mit entsetzlicher Stimme aus, »diese Sache muß ans Tageslicht gezogen werden, und aufs genaueste ... Ist der Polizeikommissär benachrichtigt? Nein? Man muß ihn augenblicklich in Kenntnis setzen ... Der Hergang muß gerichtlich konstatiert werden ... Fleury, mein Junge, das ist ein höchst seltsames Ereignis! ... Sie war sehr hübsch, die Kleine ... Es muß irgend ein Galan sein, der die That verübte ...«

»Das sagt auch Chassevent ...«

»Ah! Er sagt es! Der alte Taugenichts ... Wo ist er? Ich will ihn sprechen ...«

»Ich ließ ihn draußen auf der Straße ... Ich wollte Sie zuerst benachrichtigen, ehe ich ihn eintreten ließ ...«

Im Nu stand Carvayan im Flur draußen. Vor der Thür ließ sich ein Gemurmel vernehmen, zeitweilig von kläglichem Gekreisch unterbrochen. Hastig öffnete er. Umgeben von den Nachbarn, die in heftiger Erregung Fragen und Erklärungen tauschten, saß Chassevent auf einem Ecksteine, noch betrunkener als während der Nacht, in lauten Klagen und abwechselnd in Drohungen sich ergehend.

»Meine arme Tochter!« heulte er, indem er, ohne eine Thräne zu vergießen, mit den Augen blinzelte, »eine so hübsche Kleine, die so viel für ihren Vater that! ... Sie haben mir sie umgebracht, die Räuber! ... Und so lustig war sie! ... so liebenswürdig! ... Ah, die Canaillen ... Sie wußten, was sie mir damit anthaten! ... Man weiß, wie sie mich behandelt haben! ... All das rührt nur von meiner Freundschaft her ... für unsern teuren, guten Herrn Maire, Gott erhalte ihn! ... Ah, ah! In der Sache steckt mehr als man vermutet ... Ja! ... Ah! Die Schurken! Aber das wird nicht so mir nichts dir nichts ablaufen ... Man hat nicht das Recht, einem alten Manne den Trost seiner alten Jahre zu rauben! ...«

Vergebens versuchte Pourtois, der im Kreise all der Neugierigen mit Fragen bedrängt wurde, den Trunkenbold zum Schweigen zu bringen. Dieser fuhr fort zu schreien, wie ein Schwein unter dem Messer des Schlächters und wälzte sich auf dem Steine in epileptischen Zuckungen. Als er indes Carvayan erblickte, wurde er sofort ruhiger, und indem er sich bückte, als wolle er auf dem Pflaster niederknien, hub er von neuem an: »Ah! Hier kommt unser Verteidiger ... Ah! Herr Maire, haben Sie Erbarmen mit einem armen Alten, der nur bei Ihnen Gerechtigkeit zu finden hofft ... Ah! Heiliger Name Gottes! Was für ein Unglück! Ein Kind, das gestern abend noch ganz gesund war! ... Das wie eine Königin tanzte! ...«

Und neuerdings begann er zu heulen und die Arme zu ringen.

»Hört, Chassevent, und schweigt! ... Es ist nicht nötig, das ganze Stadtviertel in Aufruhr zu bringen,« sagte Carvayan mit ernster Strenge ... »Pourtois, führt ihn in meine Schreibstube. Und ihr, liebe Leute ... geht nach Hause ... Und nehmt den Unglücklichen nicht beim Wort, den der Kummer um seine Sinne bringt ... Die Richter werden es verstehen, die Wahrheit an den Tag zu bringen.«

Und die Leute, welche er so schlau zu regieren wußte, unter dem Einflusse dieser Worte voll berechneter Mäßigung zurücklassend, folgte er Chassevent und Pourtois ins Haus nach.

In seinem Zimmer, an den Kamin gelehnt, begann er hierauf mit kaltem Blicke und schneidendem Tone: »Wen beschuldigst du? ... Denn, wenn ich dich recht verstehe, so beschuldigst, du jemand ...«

Und als der alte Taugenichts den Mund zu einer Antwort öffnete, setzte er hinzu: »Merke genau auf deine Aussagen! ... Du stehst vor einem Beamten ...«

»Ah! Und wenn ich vor unserm Herrgott selber stehen würde, so würde ich ganz dasselbe sagen ... Der junge Schloßherr ist eine Minute vor der That an uns vorbeigegangen ...«

»Chassevent, du weißt wohl, daß er nicht nach dieser Richtung ging,« unterbrach ihn Pourtois betrübt.

»Wer beweist, daß er nicht im selben Augenblicke wieder zurückgegangen ist? ...« schrie der Wilddieb voll Heftigkeit ... »Uebrigens hast du ihn gar nicht gesehen, du bist auf dem Rücken gelegen ... Du bist so dick, daß man dich leicht von der Straße aus hätte sehen können ...«

»Ihr fürchtetet demnach, gesehen zu werden?« fragte Carvayan. »Was hattet ihr denn dort zu thun?«

»Gar nichts,« erwiderte der Vagabund in drohendem Tone. »Jeder hat seine eigene Art ... Ich zum Beispiel, ich bin des Nachts kein Freund von Begegnungen ... Es gibt so viele schlechte Leute ...«

»Du gibst mithin zu verstehen, daß es wohl Herr Robert hätte sein können ...«

Carvayan wagte nicht weiter zu gehen. Seine bleichen Wangen untermischten sich mit Blut. Er heftete einen flammenden Blick auf den Wilddieb, als befürchte er einen Widerruf. »Achte wohl auf die Wichtigkeit einer derartigen Aussage ...«

»Ei, glaubt Ihr wohl, daß ich so viel Schonung brauchen werde! Uebrigens ist er nicht bloß von uns gesehen worden ... Die Tuboeufs von Couvrechamps haben in der Nähe des Steinbruches mit ihm gesprochen, als sie vom Tanze heimkehrten ... Da ging er mit meiner Tochter ... Ein armes, herziges Geschöpf wie sie ... Ah! ... Die niemals jemand etwas zu Leide gethan, im Gegenteil! Ah! Ah!«

»Schrei nicht so,« versetzte Carvayan kalt, »es sind keine Fremden hier, dich zu hören, und uns zerreißest du ganz unnützerweise den Kopf ...«

Der Wilddieb schwieg und blickte demutsvoll auf den Mann, der so gut in seinem Gewissen zu lesen verstand ...

»Wenn es wirklich der junge Clairefont ist«, fuhr der Maire fort, »welcher in einem Ausbruche der ihm eigenen Gewaltthätigkeit den Mord beging, so könntest du, wenn du als Privatkläger auftreten würdest, dir leicht 20000 Franken Schadenersatz verschaffen.«

Bei diesen Worten schienen die Augen des Vagabunden fast aus ihren Höhlen zu treten. Sein Rausch verflog völlig, als hätte man ihm einen Zaubertrank verabreicht. Er wurde kalt wie Stein.

»Sie glauben, Herr Maire,« fragte er in süßlichem Tone, »daß man mit einem kleinen Prozeßchen von den Leuten eine beträchtliche Summe herausbringen könnte? ...«

»Allerdings, ich bin davon überzeugt ...«

»20000 Franken! Ah! Wenn Sie mir da mit Ihrem Rate beistehen wollten, so würde ich mir gewiß eine hübsche Versorgung auf meine alten Tage herausschlagen können ... mein guter, teurer Herr Maire ...«

»Es ist meine Pflicht, das zu thun; man weiß, daß ich stets den Schwachen gegen den Starken verteidigt habe ...«

»Nun, dann sind sie geliefert!« rief Chassevent mit wilder Freude aus.

Er richtete sich mit triumphierender Gebärde empor, ein wenig mehr, und er hätte getanzt.

»Aber, Chassevent,« warf Pourtois entsetzt ein, »Ihr wisset doch gut, daß die Kleine ›Robert! Robert!‹ gerufen hat. Mithin war er es also nicht, der sie hielt ...«

»Sie rief: ›Robert!‹ wie man: ›Zu Hilfe, Mörder!‹ ruft,« unterbrach ihn Chassevent wütend. »Worein mengst du dich, du dicker Blasebalg? Wer soll deinen Aussagen glauben? Du warst so aufgeregt, daß du gar nicht mehr wußtest, was du hörtest und sahst ... 20000 Franken! ... Ganz gewiß war er es, der Lump, der Schwindler, der Verführer! ... Und wer sollte es denn sein, wenn er es nicht ist? Wer wäre stark genug, um mit einer Frau auf der Schulter in vollem Laufe über den Abhang des Steinbruches zu rennen? 20000 Franken ... Ich sage dir, daß er es ist! ... Und wenn sich jemand unterstehen sollte, das Gegenteil zu behaupten, so wird er es mit mir zu thun haben!«

Der Wilddieb wies seinem Gefährten ein so finsteres, drohendes Gesicht, daß dieser mit einem tiefen Seufzer sich zum Schweigen entschloß. Carvayan wendete sich hierauf an Pourtois.

»Ei, ei, mein Bester,« sagte er, »das ist etwas, das unsere Angelegenheit viel rascher vorwärts bringen wird, als alle Dummheiten des Marquis ... Wie könnte die Familie Clairefont nach einem solchen Skandal noch im Lande verbleiben? ... Ich glaube, daß Frau Pourtois noch vor Ablauf von drei Monaten in den Besitz der zwanzig Morgen Weideland, die hinter der Schenke liegen, gelangen wird ... Ihr müßt sie zu mir schicken, ich habe mit ihr zu reden ... es sind einige kleine Anordnungen zu treffen ... sie wird mich verstehen ... Sie ist glücklicherweise nicht dumm ... denn mit den Dummen läßt sich nichts machen.«

Der Blick, welcher diese Worte begleitete, war so drohend, daß Pourtois vor Furcht bis auf den Grund seiner Seele erstarrte. Sein rosiges, glänzendes Gesicht wurde matt und aschfahl, die kleinen Augen sanken noch tiefer in das Fett ein, welches seine Wangen aufblies. Mit einer Miene tiefer Niedergeschlagenheit ließ er die Arme an seinem feisten Körper hinabsinken. Da kam Fleury atemlos hereingestürzt.

»Alles ist in Aufregung,« sagte er, »ich habe der Polizei gehörig eingeheizt ... Ah, mein Bester, Ihr müßt rasch in die Schenke zurückkehren ... Es werden sich dort Beweisstücke finden ... Zum Teufel! Wenn nur niemand daran rührt! ...«

Und schon hatte Chassevent, Pourtois vor sich herstoßend, die Hausthür erreicht mit dem Eifer eines Geizhalses, der für seinen Schatz fürchtet. In der stillen Straße blieb er stehen, drückte heftig die Hand seines Gefährten und sagte: »Du weißt, Dicker, keine Dummheiten! ... Wenn du künftighin das Unglück haben solltest, mir zu widersprechen, so schlachte ich dich ab wie ein Hühnchen! Und jetzt, da wir einig sind ... machen wir, daß wir schnell an Ort und Stelle kommen.« Im Eilschritt schlugen die beiden hierauf die Richtung nach der Schenke ein.

Carvayan, mit Fleury allein, ging gesenkten Kopfes einige Minuten schweigend auf und nieder. Dann hielt er plötzlich still.

»Eine schönere Rache hätte ich mir niemals wünschen können! Der freche Mensch hat es gewagt, mich anzugreifen! Ah! Er hat auch meinen Sohn beleidigt! ... Nun, und ich werde ihn vor das Schwurgericht bringen ... Alles werden sie verlieren, diese Clairefonts, Vermögen und Ehre. Nichts wird ihnen bleiben ... Und ich werde sie noch eines Tages vor meiner Thür sehen, wie sie kniefällig mich um Mitleid bitten ...«

»Was haben Pourtois und Chassevent Ihnen erzählt?« fragte Fleury.

»Die ganze Mordscene, der sie von weitem beigewohnt haben ... Ja, Chassevent würde auf dem Grabe seiner Tochter schwören, daß es der junge Clairefont war, der Rose ermordet hat ... Er hofft aus dem Leichnam 20000 Franken herauszuschlagen ...«

»20000 Franken!« rief Fleury mit entsetzlichem Lachen aus. »Ei, für eine solche Summe hätte er, wenn man es verlangt hätte, sie selber umgebracht!«

Dieser rohe Scherz fand Carvayan eiskalt. Er maß den Schreiber mit strengen Blicken und sagte in trockenem Tone: »Ich bin sehr ernst gestimmt, und ich wünsche, daß es meine Umgebung gleichfalls sei. Ich hege die feste Ueberzeugung, daß Herr von Clairefont, der ohne Zweifel einen großen Rausch hatte, was übrigens ein Milderungsgrund sein würde, das Verbrechen begangen hat ... Wenn ich ihn für unschuldig hielte, würde ich mich nicht weiter in die Sache einlassen ...«

»Davon bin ich überzeugt,« erklärte Fleury, der ohne weitere Entgegnung sich in den Willen des Gebieters fügte ... »Und da ich Ihre Ansicht vollkommen teile ... so will ich, im Interesse der Unschuldigen, darüber wachen, daß die öffentliche Meinung nicht fehlgehe ...«

Mit häßlichem Grinsen grüßte er sehr unterthänig und entfernte sich.

Es war der letzte Morgen des Kirchweihfestes, und nachdem die Bauern ihren Rausch ausgeschlafen hatten, suchten sie noch einige Geschäfte abzuschließen. Gewöhnlich verlief dieser Schluß des Marktes still und träge, die Geschäftslust war erloschen, jeder hatte nur den einen Gedanken, baldmöglichst heimzukehren. Heute war indes ausnahmsweise eine außerordentliche Aufregung auf dem Marktplatze zu bemerken. Zahlreiche Gruppen bildeten sich, und lebhafte Wechselreden wurden zwischen den Kommenden und Gehenden getauscht. Waren es die Mehl- oder Viehpreise, um welche sich die Gespräche drehten? Nein, die Namen Chassevent und Clairefont kehrten immer wieder zurück, begleitet von erstaunten Ausrufen, leidenschaftlichen Beteuerungen und lebhaften Zurückweisungen.

Wie eine ansteckende Krankheit war das von Fleury verbreitete unheimliche Gerücht bereits durch die Stadt gedrungen, sollte nun vergrößert und entstellt in dem Bezirke die Runde machen, sich über die Provinz erstrecken und alle Meinungen vergiften. Nichts konnte diesem unglücklichen Ereignisse verhängnisvoller werden, als diese Ansammlung von Fremden, welche von zehn Meilen im Umkreise herbeigeströmt waren und nun mit der von Carvayans Helfershelfern geschickt gemachten Ueberzeugung nach ihren Wohnorten zurückkehrten.

In dem Kaffeehause, wo die meisten Marktbesucher sich zusammenfanden, hatte Tondeur soeben vor zwanzig Personen die Worte wiederholt, welche er eines Tages an dem Fenster der Waschkammer in Clairefont aus dem Munde der schönen Rose vernommen hatte, als Robert sie umarmte: »Drücken Sie mich nicht so stark, Sie könnten mich töten, ehe Sie sich's versehen.« Und mitten im Tabaksqualm und Gläserklirren jammerte der Holzhändler heuchlerisch: »Welch ein Unglück! Ein so guter, liebenswürdiger Mensch! Denn er hat es nicht aus Schlechtigkeit gethan, ganz gewiß nicht... Er, Tondeur, der ihn sehr genau kenne, wolle sich dafür verbürgen... Aber diese Jugend... ohne es zu wollen, nicht wahr? Er hatte eben eine stärkere Hand, als er es selbst wußte... Er habe ihn junge Bäume entwurzeln sehen, wie andere Veilchen pflücken... Er hatte mit der Kleinen gescherzt, diese hatte sich geziert... Der Vater, welcher seine Tochter suchte, war mit Pourtois herangekommen... Und um nicht überrascht zu werden, wollte der junge Mann die Schöne am Schreien hindern. Ah! es war ein wirkliches Unglück... Aber ein Verbrechen... Oh! Gewiß nicht!...« Und die Rechthaber, welche die Auffassung des Holzhändlers viel zu milde fanden, entgegneten: »Wie! Kein Verbrechen? Was denn? Ist das Mädchen tot? Ja oder nein?« Und Tondeur, mit anscheinender Bestürzung, sah sich genötigt, dies zuzugestehen ... Er nahm indes die Verteidigung wieder auf ... indem er dadurch die falschen Schlußfolgerungen, wie es seine Absicht war, mehrte ... Schließlich verdächtige man ja bloß Herrn Robert ... Habe man aber irgendwelche Beweise, daß er in der That der Urheber des Unfalles sei? Er weigerte sich hartnäckig, »des Verbrechens« zu sagen.

»Ob man Beweise habe?« eiferten die Widersprecher, die im Feuer des Wortwechsels sich immer mehr erhitzten. »Jawohl! Und das Seidentuch mit dem Buchstaben R. C., welches das Mädchen um den Hals hatte... und das man während des Tanzes nicht bei ihr gesehen hatte ... Und die Aussagen der Familie Tuboeuf? ... Und schließlich alles? ...«

Daß er schuldig sei, das müsse jedermann einleuchten! ... Man müsse in der That absichtlich nichts sehen wollen, um zu wagen, dies zu bestreiten. Ja, man fragte sich, warum Herr von Clairefont noch nicht arretiert sei ... Oh! Wenn er ein Mann aus dem Volke wäre ... man hätte ihn gewiß schon, von zwei Gendarmen geleitet, durch die Stadt gehen sehen.

In demselben Augenblicke zog ein dumpfes Gemurmel über den Platz hin und lockte die Kaffeehausgäste an die Fenster. In einem Jagdwagen kam Robert an der Seite des Herrn von Croix-Mesnil, den er auf den Bahnhof begleitete, über den Markt daher. Er mußte in Folge des Gedränges den Gang des Pferdes mäßigen, und ruhig lächelnd, im Gespräche mit dem Baron, fuhr er an der aufgeregten Menge vorüber. Hinter ihm rollten gleich einer lebendigen Woge Bauernvolk und Müßiggänger daher, gehässige Rufe wurden hie und da laut, wie beim Beginn einer Meuterei die vereinzelten Schüsse der Ungeduldigen.

Erstaunt wendete Robert sich um und blickte nach den Leuten, die dem Wagen folgten. Er hörte, wie sie riefen: »Er reist ab, da seht hin! Er geht davon!«

Robert verstand nichts von alledem, denn von den Ereignissen der verflossenen Nacht war nichts nach Clairefont gedrungen. Das Schloß war wie eine belagerte Festung, deren Besatzung keine Nachrichten von der Außenwelt erhält. Die wenige Dienerschaft verkehrte fast gar nicht in dem Städtchen; die Meierhöfe lagen weit ab, nur Rose kam von auswärts. Doch die arme Kleine sollte nicht mehr mit ihrem Gesange die kalten schweigsamen Mauern der alten Behausung erheitern. Als Antoinette, welche ihr noch am Abend zuvor Pünktlichkeit anempfohlen hatte, das Mädchen nicht kommen sah, meinte sie lächelnd: »Sie wird eben, trotz ihrer schönen Versprechungen, noch lange getanzt haben, und schläft bis in den späten Morgen.«

Auf dem Bahnhofe angelangt, sprang Robert von seinem Sitze herab, ließ den Reisekoffer des Barons fortschaffen, gab sein Pferd einem der Arbeiter zum Halten, und ohne die Aufmerksamkeit zu bemerken, welche zwei Polizisten seinem Thun schenkten, trat er in den Wartesaal ein. Die beiden Polizeimänner gingen darauf auf der Plattform auf und nieder, da sie den Befehl hatten, den jungen Grafen an der Abreise zu hindern, falls er die Absicht haben sollte, sich zu entfernen.

Aber er war weit davon entfernt, zu verstehen, was um ihn vorging. Nach Anlangen des Zuges verabschiedete er sich mit einem kräftigen Händedruck von dem Baron, schloß selbst die Thür des Coupés, durchschritt den Bahnhof, bestieg den Wagen und fuhr davon. Doch fühlte er sein Herz beklommen, wie es sonst bei der Abreise seines Freundes niemals gewesen. An der Brücke hielt er still und wartete das Vorüberrollen des Zuges ab. Da erblickte er durch das Fenster eine Hand, die ihm winkte, und ein Gesicht, das ihm zulächelte, bis bei einer Wendung des Weges alles in einem weißen Rauchwirbel verschwand. Und im Schritt fuhr er sodann weiter, und fragte sich, weshalb er so traurig sei.

Doch diese unbestimmte niederdrückende Empfindung verflüchtigte sich gar bald, bekämpft von seiner kräftigen Natur. Er setzte sein Pferd in Trab und nahm sich vor, nicht wieder mitten durch den Ort zu fahren, um das Gedränge, welches ihm zuvor die Straße versperrt hatte, zu vermeiden. Er nahm den Weg über die mit herrlichen Platanen bepflanzte Promenade, welche sich rings um Neuville hinzieht. So hatte er fast das äußerste Ende des Städtchens erreicht und war bis zum Fuße der Anhöhe gelangt, über welche der Weg nach Clairefont führt, als er mitten in eine Gruppe von Fabrikarbeitern geriet, die vor der Thür eines Wirtshauses Chassevent anhörten, der nun so betrunken war, daß er sich kaum auf den Füßen zu halten vermochte, und in schleppendem Tone mit melodramatischen Zusätzen wohl zum hundertstenmal den Tod seiner Tochter erzählte.

Bei Roberts Anblick erhob sich ein Schreckensgemurmel, die Leute scharten sich in feindseliger Haltung zusammen. Von der drohenden Stimmung seiner Umgebung ermutigt, trat der Vagabund taumelnd an den Wagen heran, und, indem er das Pferd beim Gebiß zu fassen versuchte, schrie er: »Hier ist er, der Mörder! Hier ist er! Rache!«

Mit unsicherer Hand war es ihm endlich gelungen, die Zügel zu erfassen, doch ein Meisterhieb, der auf seine Finger niedersauste, bewirkte, daß er sie rasch wieder losließ. Heulend wich er zurück, und von der Deichsel fortgestoßen, wäre er unfehlbar unter die Räder geraten, wenn der Graf ihn nicht von seinem Sitze aus mit kräftiger Hand gepackt und bis an die Thür der Schenke geschleudert hätte...

»Ah! Zuerst die Tochter ... dann der Vater! ...« brüllte der Wilddieb... »Helft mir, meine Freunde! Packen wir ihn und liefern wir ihn der Gerechtigkeit aus! ...«

In einem Augenblicke sah sich Robert von Männern mit zornigen Gesichtern und erhobenen Armen umgeben. Vor der Schenke standen etliche Weiber, welche ein durchdringendes Gekreisch erhoben, und aus der Rue du Marché strömte den Angreifern Verstärkung zu. Chassevent, vor Zorn und Trunkenheit stammelnd, hatte einen neuen Angriff unternommen und versuchte, sich auf den Wagensitz emporzuschwingen. Doch der Graf verlor seine Kaltblütigkeit nicht; er zog die Zügel straffer an und ließ das Pferd sich bäumen. Sodann versetzte er dem Wilddieb mit dem Peitschenstiel einen so kräftigen Schlag, daß dieser trotz seiner dicken Mütze und des Tuches, welches er um den Kopf gewunden hatte, halb tot in den Staub hinrollte. Dieses Kraftstückchen lichtete gar sehr den Kreis, der den Wagen umringte. Plötzlich erschien Fleury und schrie mit starker Stimme den Arbeitern zu: »Was macht ihr da? ... Hebt diesen Mann auf und wartet auf mich ...«

Hierauf stürzte er zu Robert hin, dem er mit Heftigkeit den Arm preßte: »Unvorsichtiger! Hüten Sie sich, der allgemeinen Entrüstung zu trotzen ... Fahren Sie davon ... ohne eine Minute zu zögern ... Ich komme soeben aus dem Schlosse. Ich wollte Sie benachrichtigen ... Ihre Tante und Ihre Schwester wissen alles ... sie werden Sie überzeugen...«

»Aber um was handelt es sich denn?« fragte der Graf, der seine Ruhe zu verlieren begann, »habe ich es mit Wahnsinnigen zu thun?«

Der Schreiber warf dem jungen Manne einen strengen Blick zu und erwiderte mit traurigem Ernste: »Die kleine Rose ist heute nacht erdrosselt aufgefunden worden ... Man hält Sie für den Thäter ... Streiten wir hier nicht ... Suchen Sie vor allen Dingen in Sicherheit zu kommen ... Fahren Sie davon, es ist das Beste ...«

»Aber das ist eine Niederträchtigkeit!« rief Robert aus.

»Um des Himmels willen, kehren Sie rasch nach Hause zurück,« sagte Fleury, indem er mit dem Finger auf die erzürnte Menge wies, die sich von Sekunde zu Sekunde vergrößerte.

Damit versetzte er dem Pferde einen kräftigen Hieb in die Flanken, daß es wie ein Pfeil davonjagte, und zwang den Grafen auf diese Weise sich zu entfernen.

Ohne sich weiter um die stetig wachsende Aufregung des Volkes zu kümmern, eilte der Schreiber nach dem Hause der Rue du Marché. Es war elf Uhr vormittags. Seit dem Morgen war die Zeit von Carvayans Verbündeten zu ihrem Vorteile gehörig ausgenutzt worden. Das Netz, welches in seinen verräterischen Maschen Robert festhielt, umschlang ihn mit jedem Augenblicke fester und fester, und je mehr der unglückliche Gefangene sich zu befreien streben würde, desto enger würden die Fäden sich zusammenziehen.

Nach einer unruhigen, schlaflos verbrachten Nacht, während welcher Pascal mit Bitterkeit die schmerzlichen Ereignisse, die seiner Heimkehr nach Neuville gefolgt waren, nochmals überdachte, stand der Entschluß in ihm fest, die Frage seiner Abreise noch am selben Tage endgültig mit seinem Vater zu besprechen. Der Gedanke, noch länger in der Heimat weilen zu müssen, wo alles ihn kränken und beleidigen mußte, war ihm unerträglich. Er mußte fort, weit fort nach fernen Ländern, wohin nicht einmal ein Echo von dem Zwiste dringen konnte, dem er entflohen, und wo er das Recht haben würde, in seiner Erinnerung, wie in einem, geheimnisvollem Kultus geweihten Heiligtume das lächelnde Bild derjenigen zu bewahren, die er anbetete.

Um die Frühstücksstunde verließ er sein Zimmer und wollte eben in das Erdgeschoß hinabsteigen, als er auf dem Flur die Magd traf, welche mit verzweifelter Gebärde zu erzählen anfing: »Ach! Herr Pascal, Sie wissen die Neuigkeit noch nicht? Der junge Schloßherr hat die schöne Rose Chassevent umgebracht...«

Und da er regungslos blieb, sich fragend, ob das Mädchen wohl bei Sinnen sei... fuhr diese fort: »Jawohl, mein lieber Herr. Der Schreiber des Friedensrichters ist gerade unten im Kabinett des Herrn, dem er den Stadtklatsch erzählt, denn gesprochen wird darüber, ach, und wie! Alles ist drunter und drüber!«

Es schien Pascal, als sei die enge Treppe ein schwarzer Schlund, auf dessen Grunde Carvayan mit dämonischem Hohnlachen triumphierend grinste. Ein Schwindel überkam ihn, er mußte sich an der Mauer halten, um nicht niederzusinken. An diesem fürchterlichen Gegenstoß, welcher so rasch der erlittenen Beleidigung folgte, erkannte er die Hand seines Vaters. Ja, wenn Robert beschuldigt war, so konnte die Anklage nur von seinem Vater ausgehen. Es wurde ihm kalt ums Herz. Eine Vision schwebte ihm vor, die ihm Antoinette an der Seite ihres sterbenden, verzweifelten Vaters zeigte. Er gedachte der trüben Vorahnungen, die ihn am ersten Tage seiner Heimkehr an der Thür von Pourtois' Schenke beschlichen hatten, als er sich dem Parke gegenüber befand. Das vorherempfundene Unglück war nun in Wirklichkeit hereingebrochen. Aber hatte er nicht auch davon geträumt, daß er es war, der das junge, verlassene Mädchen dem bösen Verhängnis entriß?

Auf der Schwelle dieses Zimmers, welches einst das seiner Mutter gewesen, glaubte er nochmals die Stimme der Sterbenden zu vernehmen, die ihm die erhabenen Worte zuflüsterte: »Sei gut im Leben! Man soll gut sein ...« In abergläubischem Schrecken wendete er sich um, als glaubte er den teuren Schatten hinter sich erscheinen zu sehen. Wie vor einem Befehle von oben neigte er die Stirn und murmelte: »Sei ruhig, teure Mutter, dein Wunsch soll erfüllt werden.«

Nun hatte er seine volle Geistesgegenwart und seinen ganzen Mut wiedergefunden, und er hielt sich für stark genug, Heldenthaten zu vollbringen, und selbst den unüberwindlichsten Widerstand zu besiegen.

In einem Augenblick hatte er die Entschlüsse vergessen, welche er in der Nacht gefaßt. Seine Gedanken bewegten sich in einer völlig anderen Richtung. Er sah sich nicht länger zu der Unthätigkeit verurteilt, welche ihn als den Mitschuldigen all des Uebels erscheinen ließ, das gegen die Familie Clairefont ins Werk gesetzt wurde. Er hoffte nun Gelegenheit zu finden, in den Kampf eintreten und vermittelnd einwirken zu können. Die ganze Nacht hatte er sich gelobt, abzureisen, und in einer Sekunde entschied er sich zum Bleiben. Er fand dies ganz natürlich. Ist denn das Wesen der Liebe selbst nicht voller Widersprüche? Er nahm eine ruhig lächelnde Miene an, ehe er bei seinem Vater eintrat. Als Fleury, der mit Lebhaftigkeit sprach, seiner ansichtig wurde, hielt er plötzlich inne, wurde verlegen und seine schielenden Blicke fuhren unruhig umher.

»Da haben wir's,« sagte Carvayan mit lauter Stimme, indem er seinem Sohne entgegenging, »sie sitzen nun in einer hübschen Klemme, die stolzen Leute, die sich zu hoch halten, sich uns gegenüberzusehen.«

»Man hat mir soeben alles erzählt,« unterbrach ihn Pascal.

»Nun, was sagst du dazu?«

»Was sagt das Gericht dazu?« entgegnete der junge Mann.

»Das Gericht zeigt sich außerordentlich schwach. Es schwankt zwischen der Gewißheit, welche aus den thatsächlich vorhandenen Beweisen hervorgeht, und zwischen dem moralischen Zweifel, der die Folge einer ehrenhaften Vergangenheit ist... Alle diese Beamten sind im Grunde Reaktionäre, und sie zögern, den Sohn eines Marquis zu verhaften. Sie haben nach Rouen an den Staatsanwalt telegraphiert... und warten nun auf seine Antwort... Während dieser Zeit gerät die hiesige Bevölkerung in Aufruhr... und ohne Fleury, der gerade rechtzeitig dazwischentrat, wäre der Angeklagte von den Arbeitern gelyncht worden. Man spricht davon, daß die Leute für morgen eine öffentliche Demonstration planen... Ich habe soeben dem Polizeikommissär und dem Hauptmann der Gendarmerie erklärt, daß, wenn der Bursche nicht noch heute abend verhaftet wird, ich für die Ordnung in Neuville nicht mehr bürgen kann...«

»Das Beste, was Herr Robert thun könnte, wäre abzureisen, solange er noch Zeit dazu hat,« sagte Fleury in süßlichem Tone... »Ist er einmal den Leuten aus dem Gesichte, würde sich in kurzer Zeit alles beruhigen... Das versuchte ich auch den Schloßdamen begreiflich zu machen... Aber bei den ersten Worten schon erhob sich Fräulein Antoinette mit leichenblassem Gesichte und zornsprühenden Blicken: ›Niemals!‹ rief sie. ›Abreisen, das hieße seine Schuld gestehen... Wir wissen, woher diese Verleumdung rührt... Wir werden sie in ihr Nichts zurückführen!‹ ... Sie beschuldigte ganz offen den Herrn Maire und vielleicht auch ein wenig mich selbst. Aber ich ließ mich keineswegs aus der Fassung bringen. Ich bestand auf meinem Vorschlag und gab zu verstehen, daß der Pöbel von Neuville, der sehr erregt sei, das Schloß stürmen könnte... Darauf sprang die alte Saint-Maurice in die Höhe, rot wie Feuer und fluchend wie ein Trainsoldat: ›Sie sollen nur kommen!‹ schrie sie. ›Es fehlt nicht an Waffen in der Gewehrkammer ... Und sie sollen sehen, ob die Frauen unseres Hauses nicht so viel wert sind, als Männer... Auf dem Getreideboden steht noch ein Steinmörser, der früher bei Feuerwerken gebraucht wurde, den lasse ich in den Hausflur hinunterschaffen, und wenn es jemand wagen sollte, nur die Klinke unseres Thores zu berühren, so schieße ich die Canaille nieder!‹ Und dabei fluchte und wetterte die Alte in unglaublicher Weise. Wie wollen Sie solche Querköpfe zur Raison bringen? Der Marquis war in seinem Turme eingeschlossen wie eine Eule, um in irgend einem Zauberbuche zu lesen oder die Luft der ganzen Umgebung mit seinen chemischen Versuchen zu verpesten... Unmöglich, ihn zu sehen... So stupid er auch ist, so würde er die Situation doch besser verstanden haben, als die alte Hexe...«

»Aber sie scheint dieselbe doch ausgezeichnet gut zu verstehen,« entgegnete Pascal ruhig, »und hält gegen Freund und Feind die Unschuld ihres Neffen aufrecht... Wie Fräulein von Clairefont es ganz richtig bezeichnete: Fliehen heißt gestehen... Und Graf Robert ist ohne Zweifel gewillt, sich zu verteidigen... Er dürfte vielleicht in der Lage sein, gültige Beweise seiner Unschuld zu liefern ... Ein Alibi wäre entscheidend... Wer weiß, ob er dies nicht wird beibringen können...«

»Das wird er wohl bleiben lassen!« schrie Carvanan, den die Opposition seines Sohnes um die ganze Ruhe brachte.

»Das kannst du nicht wissen, Vater.«

»Willst du ihn etwa verteidigen?«

»Und willst du ihn etwa anklagen?«

Sie standen einander gegenüber, beide mit gleich fester Sprache; Pascal, völlig ruhig und selbstbewußt, wollte genau ergründen, wie weit sein Vater an der Intrigue beteiligt war, welche Robert umgarnte; Carvayan, im höchsten Grade aufgeregt, war in seinem Zorne nahe daran, seinem Haß in heftiger Weise Luft zu machen.

»O nein! Gewiß nicht!« warf Fleury in versöhnlichem Tone dazwischen. »Ihr Vater wird ihn nicht anklagen. Wozu auch? Der Herr Maire ist wie immer nur um das öffentliche Wohl besorgt... Vor Ihnen sprechen wir ganz offen, und erwägen Für und Wider... Seien Sie versichert, daß, wenn Herr Carvayan die ganze Sache unterdrücken könnte, er es sicherlich thun würde... Er ist der erklärte Gegner des Herrn von Clairefont... Er bekämpft ihn auf politischem und finanziellem Gebiete... aber aus einem solchen Unglück Nutzen ziehen! Brauche ich Ihnen erst zu sagen, daß er daran nicht einmal dachte?... Und dennoch, wäre er nicht dazu berechtigt?... Schreckten seine Gegner je vor den ärgsten Mitteln zurück? Sie haben es gestern abend selbst empfunden... Wenn wir die Schuldlosigkeit des unglücklichen jungen Mannes beweisen könnten, wir wären gewiß gleich dazu bereit... Aber unglücklicherweise unterliegt die Sache gar keinem Zweifel... Es ist dies, sehen Sie, die letzte Stufe, bis zu welcher diese Familie in nun mehr als dreißig Jahren unaufhaltsam hinabgesunken ist... Als ich die Ehre hatte, Ihnen zum erstenmal hier zu begegnen, waren Sie gerade Augenzeuge einer jener Gewaltthaten, welche man von dem Unglücklichen zu sehen gewohnt ist ... Ich hielt mich damals nicht für einen so guten Propheten, als ich Ihnen sagte, daß Sie eben rechtzeitig angelangt seien, um den letzten Phasen des Kampfes beizuwohnen, der zwischen Ihrem Vater und Herrn von Clairefont geführt wird ... Nun denn, der Kampf ist vorüber ... Er endet in Schmutz und Blut...«

»Und daran sind wir nicht schuld,« hub Carvayan in barscher Weise wieder an, da ihm die süßliche Auseinandersetzung Fleurys die Nerven erregt hatte... »Zum Henker! Ich bin doch gewiß nicht verpflichtet, diese Leute zu lieben. Würde ich mich in ähnlichem Falle befinden, es würde ihnen auch nicht einfallen, mich zu schonen!« Damit griff er nach seinem Hute und warf dem Schreiber einen bezeichnenden Blick zu.

»Ich gehe aufs Rathaus; kommen Sie mir sogleich nach...«

»Ich werde dich begleiten, Vater,« sagte Pascal, »wenn ich dich nicht störe... Ich bin begierig, zu sehen, wie es in der Stadt hergeht...« »Ah! Ah! mein Sohn, du fängst an, Geschmack an der Sache zu finden... Nun, wer weiß? Das schlägt ja in dein Fach, du wirst vielleicht in die Lage kommen, uns einen guten Rat zu geben...«

»Wenn sich dazu Gelegenheit bieten sollte,« entgegnete Pascal kalt, »so sei gewiß, daß ich es nicht unterlassen werde.«

Darauf schritten alle drei aus dem Hause.

Im Schlosse war dem ersten Schrecken ruhige Ueberlegung gefolgt. Im Wohnzimmer saßen Tante Isabella, Robert und Antoinette in Beratung beisammen. Die Erklärungen des Schreibers und die Kundgebungen auf der Straße waren sicherlich höchst ernster Natur. Der alte Germain, den man nach dem Meierhofe geschickt, brachte die Bestätigung des Attentates. Rose war tot, und Robert wurde des an ihr begangenen Mordes beschuldigt.

Zwischen den Verwünschungen und Flüchen der Tante Isabella und der erschreckenden Ruhe Antoinettes wurde Robert von den widerstreitendsten Gefühlen gefoltert. Zuerst sagte er sich, daß die gegen ihn erhobene Anklage von selbst fallen müsse und keinerlei Folgen haben könne; er lachte dann nervös auf und schwur allen denen furchtbare Rache, die den Verdacht auf ihn gelenkt hatten.

Sodann suchte er wieder die Thatsachen zu ordnen, welche seine Unschuld beweisen sollten; aber mit Entsetzen fing er an zu bemerken, daß alles dazu beitragen mußte, ihm den Anschein der Schuld zu geben. Er war, ohne von jemand gesehen zu werden, bei Tagesanbruch durch die kleine Parkthür ins Schloß zurückgekehrt. Die ganze Zeit, die zwischen seiner Entfernung vom Tanzsaale und seiner Nachhausekunft lag, hatte er in der Nähe des Steinbruches zugebracht. Dort war man ihm begegnet, man hatte mit ihm gesprochen; das war gewiß, war nicht hinwegzuleugnen.

Und bei der Erinnerung an jene glücklich verlebten Augenblicke in der milden, füllen Sommernacht, an der Seite des reizenden Mädchens mit dem heiteren Lachen, empfand er einen grausamen, herzzerreißenden Schmerz.

War er nicht unfreiwillig die Ursache von Roses frühzeitigem Tode geworden, indem er sie, die sich entfernen wollte, so lange zurückhielt? Er hatte sie nur durch wiederholtes inständiges Bitten zum Bleiben bewogen. Er erinnerte sich gar wohl, wie sie gebeten: »Lassen Sie mich doch gehen. Ihre Schwester erwartet mich morgen früh, Sie werden schuld sein, wenn ich gescholten werde... Wenn Sie mir so viel zu erzählen haben, so kommen Sie ans Fenster der Wäschekammer, und während ich arbeite, wollen wir plaudern...«

Die Straßen waren in dem Augenblick noch voll von Menschen gewesen, sie wäre mit ihnen ruhig nach Couvrechamps heimgekehrt, und anstatt heute kalt und stumm dazuliegen, würde ihr munterer und fröhlicher Gesang jeden erfreuen.

Thränen traten ihm in die Augen, und der so energische, kräftige junge Mann begann mit einem Male wie ein Kind zu schluchzen.

Zu Tode erschreckt sahen ihn die beiden Frauen an. Wenn Robert sich einer solchen Schwäche hingeben konnte, mußte er von fürchterlicher Unruhe gepeinigt sein. Eine geheime Scheu hielt alle Fragen auf Antoinettes Lippen zurück. Was war zwischen ihrem Bruder und dem Mädchen vorgefallen? Es mußte sicherlich ein Liebeshandel gewesen sein, der beim Feste seinen Anfang genommen und der durch die wahnsinnige That eines Eifersüchtigen unterbrochen wurde. Um die Thatsachen klarzustellen und vielleicht zur Entdeckung der Wahrheit zu gelangen, mußte man Robert um alles befragen, mußte man ihn dahin bringen, sich offen auszusprechen... Er sprach nur von unbestimmten Einzelheiten, da, wo die peinlichste Genauigkeit unerläßlich war. Aber war Tante Isabella nicht da, um alles ans Licht zu bringen? Sie würde nicht davor zurückscheuen, ihn zu fragen, und der junge Mann würde nicht zögern, ihr ohne Umschweife zu antworten. Dann konnte man erst wissen, welche Beweisgründe geltend zu machen waren, zu welchen Verteidigungsmitteln man greifen müsse.

Es war unmöglich, daß der Irrtum nicht alsbald erkannt werden sollte. Die Gerichtsbarkeit mußte die Wahrheit erkennen, sie wenigstens trat der Sache unparteiisch entgegen. Die öffentliche Meinung, welche nach Fleurys Aussage gegen Robert so erbittert that, war irre geleitet worden. Es war unschwer zu erraten durch wen. In dieser gehässigen That verriet sich die Hand Carvayans. Es war seine Antwort auf die gestrige Beleidigung. Man war dafür bestraft und wußte nun, mit welch gefährlicher Kühnheit er seine Pläne zur Ausführung bringen konnte. Der ersten augenblicklichen Entrüstung, als Fräulein von Saint-Maurice stolz ausrief: »Aber es ist unmöglich, daß man einen Clairefont verdächtige!« war ein blinder Schrecken gefolgt, wie ihn Kinder vor der Finsternis empfinden, die sie mit den schrecklichsten Phantomen ihrer eigenen Einbildungskraft erfüllen. Man wußte in Wirklichkeit weder etwas Bestimmtes von dem Vorgefallenen, noch von dem, was zu befürchten stand; aber gerade dieses Unklare, Geheimnisvolle war viel schwerer zu ertragen, als es die volle Sachkenntnis gewesen wäre. Ueber den Thatsachen lag ein Dunkel, welches die Unglücklichen ohnmächtig in seinen Schrecknissen gebannt hielt.

Ihre Hauptsorge war, dem Marquis die Sachlage zu verheimlichen. Der Gedanke, der Vater könnte von dieser gegen seinen Sohn erhobenen Klage etwas erfahren, schien ihnen völlig unerträglich. Die Ruhe des alten Mannes mußte vor allen Dingen und um jeden Preis gewahrt bleiben.

Der Marquis war von seiner Umgebung stets wie ein verzogenes Kind behandelt worden. Die Familie hatte willig seinen Despotismus ertragen und selbst seinen unsinnigsten Launen sich gerne gefügt. Alles geduldig hinnehmen, nur um dem Marquis jede Sorge zu ersparen, war das Losungswort auf Schloß Clairefont. Die Kinder und die Tante von Saint-Maurice hatten sich gleichfalls diesem Gesetz unterworfen, Antoinette und Robert mit kindlicher Zärtlichkeit, das alte Mädchen mit häufigem Unwillen, dessen Ausbrüche sie manchmal nur sehr schwer unterdrücken konnte. Man hatte geschwiegen, selbst als die Gefahr des Vermögens-Zusammenbruches herannahte; nun hieß es, eher sterben, als dem Alten von dem Verhängnis zu sprechen, welches drohend heranzog, um die Familie mit Unehre zu bedecken. Das erste Wort der Tante Isabella war daher: »Bringen wir den Marquis nach Saint-Maurice.«

Doch Antoinette, die stets, selbst inmitten all des Jammers, ruhig und vernünftig blieb, entgegnete sofort: »Er würde nirgends besser aufgehoben sein, als in Clairefont. In seinen abgesondert liegenden Gemächern ist er tausend Meilen von der Welt entfernt... Er liest keine Zeitung, verlaßt niemals das Schloß... Er kann, was auch kommen mag, in vollster Ruhe bleiben. Sobald es übrigens durchaus notwendig ist, daß wir ihm irgend etwas sagen, so werden wir wenigstens den geeignetsten Augenblick dazu wählen und das Maß bestimmen können, wie weit wir mit unseren Enthüllungen gehen dürfen.«

So saßen sie alle drei wartend in dem kleinen Wohnzimmer des Erdgeschosses, voll peinlicher Unruhe, die ihnen unerträglicher dünkte, als das Unglück selbst, mit gespanntem Ohre jedem Geräusche, das von außen hereinklang, lauschend, den Blick starr auf die staubige, kahle Straße von Clairefont gerichtet, die sich über den grünen Hügel zum Schlosse heraufzog. Diese Straße war es, auf welcher die Gefahr nahen mußte. Und in den Augen der Tante von Saint-Maurice blitzte zuweilen der schlecht verhehlte Wunsch auf, Widerstand zu leisten.

Die ruhig dahinstreichenden Stunden stählten indes ihren Mut. War diese gewonnene Zeit nicht ein Beweis von der Grundlosigkeit ihrer Befürchtungen? Wenn die Gerichtsbarkeit sich zum Einschreiten genötigt gesehen hätte, würde sie dies nicht schon zur Ausführung gebracht haben? Sie kannten die moderne Gesetzführung nicht, wußten nichts von den Bedenken der Beamten und von den Schlichen des Maires, noch von der geheimen, diskreten Ueberwachung der Polizei. Wie ein in der Falle gefangenes Tier, das keinen Ausweg findet, blieben sie regungslos in sich selbst versunken, zwischen Furcht und Hoffnung gebannt und von den fürchterlichsten Zweifeln gefoltert.

Gegen vier Uhr, wenn die Hitze des Tages sich gelegt hatte, pflegte der Marquis seine Zimmer zu verlassen, um an der Seite seiner Tochter einen Spaziergang im Parke zu machen. Niemals hätte Antoinette diese Stunde versäumt, und wenn der Gelehrte die Treppe hinabstieg, kam seine liebliche Begleiterin, die ihn erwartete, ihm schon lächelnd entgegen. Die Aufregung, in der sich alle befanden, ließ Antoinette heute den Greis vergessen. Ohne gehört morden zu sein, war dieser bis in die Mitte des Zimmers getreten, und hatte leise die Hand auf Antoinettes Schulter gelegt.

»Ei, ei, muß ich heute meine Antigone erst aufsuchen?« sagte er lächelnd. Alle hatten sich rasch erhoben und standen regungslos und zitternd da. Das plötzliche Erscheinen des Familienoberhauptes hatte ihnen das Schreckliche ihrer Lage plötzlich noch klarer gemacht.

Robert fand zuerst seine Geistesgegenwart wieder.

»Ach, Papa, du bist uns heute zuvorgekommen. Aber das trifft sich ja reizend, wir wollen alle mitsammen in den Park gehen. Erlaube, daß ich heute, die Stelle der Schwester vertrete und dir den Arm reiche ... Sie wird wohl so lieb sein, mir für dieses eine Mal ihr Vorrecht zu überlassen ...«

In dem Tone des jungen Mannes lag eine so tiefe Traurigkeit, daß Antoinettes Augen sich mit Thränen füllten. Es schien ihr, als sei dies der letzte Spaziergang, den der Bruder an der Seite des nichts ahnenden Vaters durch den schönen Park unternehme, in welchem ihre Kindheit verflossen war. Sie fürchtete, sich nicht länger beherrschen zu können, und ohne ein Wort zu sprechen, gab sie mit einem Kopfnicken ihre Einwilligung. Der Alte, auf den Arm des Sohnes gestützt, stieg sorglos die Stufen der Freitreppe hinab, während er wie stets von den Arbeiten zu sprechen begann, die ihn tagsüber beschäftigt hatten.

Tante Isabella stöhnte laut auf und fuhr ungestüm mit dem Taschentuche über die Augen: »Antoinette, ich kann mit einer solchen Last auf dem Herzen nicht länger leben!« schrie sie. »Nein! Das ist stärker als ich: ich fühle, daß ich einen so harten Schlag nicht überleben werde! Robert! mein Neffe, der letzte der Clairefonts und der Saint-Maurices ... arretiert wie ein gemeiner Strauchdieb! ... Und wenn er schon gar das Mamsellchen ein bißchen zu stark gedrückt hat ... Das große Unglück! ...«

Antoinette erbleichte, und der alten Saint-Maurice einen stammenden Blick zuwerfend, fragte sie: »Tante! Sie könnten annehmen? ...«

»Ei, was weiß ich? Der Marquis, sein Vater, hat noch ganz andere Streiche verübt; nur daß zu jener Zeit die Dirnen sich weniger sträubten oder nicht gleich daran starben ...«

»Aber er hat uns sein Wort gegeben, daß er an dem Unglücke nicht schuld ist!«

»Das ist wahr! Ach! Ich verliere den Verstand! Du weißt, wie gern ich ihn habe, den lieben Jungen. Es ist leider sehr schlecht von mir, aber für ihn hätte ich die ganze Familie hingegeben! ... Dafür bin ich nun hart bestraft, denn ich leide entsetzlich! ... Siehst du, wenn eine alte, hartherzige Seele, wie ich, sich gehen läßt, muß sie schon einen gewaltigen Kummer empfinden ... Mein armer Robert! ... Mein teurer Junge! Ach! ...«

Und in einem Anfalle heftiger Verzweiflung brach Tante Isabella in lautes Schluchzen aus. Antoinette kniete nieder, umschloß sie mit ihren Armen und bemühte sich, ihr Trost zuzusprechen.

»Nein,« schrie das alte Mädchen, »nein! Wenn man ihn fortführt, so begleite ich ihn, ich werde den Kerker mit ihm teilen ...«

»Aber Tante, das ist ja unmöglich! ...«

»Weshalb?« sagte Fräulein von Saint-Maurice, plötzlich beruhigt ... »Unter der Schreckensherrschaft ... man hat es mir oft genug erzählt, war meine großelterliche Familie auch im Gefängnis beisammen ...«

»Aber wir leben ja nicht mehr unter der Schreckensherrschaft,« entgegnete Antoinette, die sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.

»So? Und wie nennst du eine Zeit, in welcher derartige Greuel, wie man sie uns anthut, sich ereignen können? Ach! Das ist das Ende der Welt!«

»Werden Sie ruhig, beste Tante, wir müssen zu meinem Vater gehen ... Lassen Sie es ihn nicht sehen, daß Sie geweint haben.«

»Sei ruhig, ich werde mich fest zeigen.«

Hierauf wollten sie auf die Terrasse hinausschreiten, als die Thür geöffnet wurde und der alte Germain mit verstörtem Gesichte auf der Schwelle erschien.

»Was gibt es?« fragte Antoinette entsetzt.

»Herr Jousselin ist hier, gnädiges Fräulein,« stammelte der treue Diener, »der Polizeikommissär ... Herr Jousselin.«

So war denn die gefürchtete Stunde, von der man insgeheim gehofft, daß sie nicht kommen werde, unabweisbar erschienen.

»Lassen Sie ihn eintreten ... Doch nein, man könnte ihn vom Garten aus bemerken ...«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick voll Schrecken, und wie im Traume wandelnd erreichten sie den Vorsaal. Ein dicker, schwarzgekleideter Mann trippelte in ungeduldiger Erregung hin und her. Als er die Damen gewahr wurde, nahm er ehrerbietig den Hut ab und sagte, sich an Antoinette wendend: »Gnädiges Fräulein, ich wünsche Ihren Herrn Bruder zu sprechen ...«

»Er ist augenblicklich im Parke mit meinem Vater, mein Herr. Muß ich ihn rufen lassen?«

»Ich wäre Ihnen dafür sehr verbunden ...«

Darauf folgte ein peinliches Stillschweigen. Der Beamte zögerte, vor dem jungen, schönen, sichtlich tief erregten Mädchen zu sprechen. Die beiden Frauen hatten eine Frage auf den Lippen, die auszusprechen sie nicht wagten.

Tante Isabella vermochte indes die Ungewißheit nicht länger zu ertragen.

»Kommen Sie vielleicht, um ihn uns zu nehmen, mein Herr?« fragte sie mit wilder Miene.

»Gnädige Frau ... mein Amt legt mir eine peinliche Pflicht auf ...«

Das alte Mädchen duldete diesmal, daß sie mit »gnädige Frau« angeredet wurde, was sie bei jeder anderen Gelegenheit in derber Weise gerügt hätte.

»Mein bester Herr,« hob sie in großer Aufregung wieder an, »Sie sind, wenn ich nicht irre, ein Sohn jenes Jousselin, welcher einst bei meinem Vater in Saint-Maurice Verwalter war ... Ja? Nun, dann vereinigen Sie doch Familienbande mit uns ... Sie werden brave Leute nicht zur Verzweiflung bringen wollen ... Mein Neffe ist nicht schuldig. Habe ich nötig, Ihnen dies zu sagen? Was soll geschehen, damit er auf freiem Fuße bleibe? Wenn es eine Geldfrage ist, so soll sie geordnet werden ...«

Der Kommissär machte eine verneinende Gebärde.

»Es ist durchaus unerläßlich, daß Herr von Clairefont mir folgt ...« sagte er sanft, denn er empfand aufrichtiges Mitleid mit den beiden Frauen ... »Ich werde in der Ausführung meiner Befehle die größtmögliche Schonung obwalten lassen ...«

»Ach, mein Herr, es ist nur meines Vaters wegen, daß ich Sie darum ersuche,« rief Antoinette aus. »Bis nach der Freisprechung meines Bruders darf er von nichts wissen ...«

»Gnädiges Fräulein, Sie sehen, daß ich allein ins Schloß eingetreten bin ... Die Polizeidiener warten draußen... Wenn Ihr Herr Bruder sein Wort gibt, mir ohne Widerstand zu folgen, so werden wir uns ohne Aufsehen mitsammen entfernen ... Ich glaube mit diesem Vorgehen Ihnen zu beweisen, daß ich nicht vergessen habe, was meine Familie der Ihren schuldet.«

Fräulein von Clairefont neigte den Kopf.

»Ich danke Ihnen, mein Herr, und ich bürge für meinen Bruder ... Ich werde ihn sogleich in Kenntnis setzen ... Bleiben Sie, Tante ... Sie können noch hier mit ihm sprechen, ehe er fortgeht ...«

Längs der Terrasse auf und nieder wandelnd, schritten der Marquis und sein Sohn am Fuße des Fensters vorüber. Der Alte plauderte mit kindischer Freude von den wissenschaftlichen Versuchen, die seinen Geist beschäftigten, Robert war bemüht, die Thränen zurückzuhalten, die aus seinem Herzen ihm brennend heiß in die Augen stiegen. Es war ihm, als sollte er für immer alles verlassen müssen, was ihn umgab, und mit nie gekannter Rührung betrachtete er das Haus, den Himmel, die Bäume, die Blumen, die ihm niemals so schön erschienen waren, Gefühle, wie er sie nie empfunden, erwachten in seiner Seele: er bereute seinen bisherigen Leichtsinn, verdammte sein unthätiges Leben und verwünschte den Kummer, den er seinem Vater verursacht. Gern hätte er für all dies büßen mögen, und da er in seinem tiefsten Inneren zu erkennen anfing, daß sein Unglück die notwendige Folge seines bisherigen Lebens sei, wollte er es als gerechte Sühne hinnehmen.

Von ferne sah er seine Schwester herankommen. Die Erregung ihrer Züge sagte ihm alles; er ließ ihr nicht Zeit, zu sprechen, fragte vielmehr rasch, voll Todesangst: »Kommst du, um mich abzulösen?«

Sie senkte traurig den Kopf.

»Im Salon erwartet dich jemand ...«

»Gewiß wollt ihr irgend einen Ausflug vereinbaren,« sagte der Alte voll Zärtlichkeit. »Geh, mein Sohn, laß nicht auf dich warten ...«

Die beiden jungen Leute erbebten unter diesem entsetzlichen Irrtum.

Robert umarmte den Vater, und berührte mit seinen zitternden Lippen die weißen Haare des Greises, sodann reichte er seiner Schwester die Hand, ohne zu wagen, dieselbe gleichfalls zu umarmen.

»Leb wohl,« sagte er rasch und entfernte sich.

Hierauf setzten Vater und Tochter ihren Spaziergang fort, doch diesmal ohne zu sprechen, als ob in der sie umgebenden Luft sich irgend ein geheimnisvolles Etwas von dem Schmerze Antoinettes verbreitet hätte, das sich dem Herzen des Marquis mitteilte und es mit plötzlicher Traurigkeit erfüllte.

Nachdem er sich mit vieler Mühe den stürmischen Klagen der Tante Isabella entrissen hatte, schritt Robert in Begleitung Jousselins auf der Straße nach Couvrechamps dahin. Die Gendarmen waren vorausgegangen, und nur zwei in Civil gekleidete Polizeimänner folgten in angemessener Entfernung. Auf dem Wege befragte der Kommissar in geschickter Weise, als wäre dies bloß eine unbefangene Plauderei, seinen Gefangenen über die Ereignisse der vorigen Nacht. In seiner überreizten Stimmung erzählte Robert, der zudem auch nichts zu verheimlichen hatte, seinem Begleiter alles, seine schon längere Zeit währenden Tändeleien mit Rose, den Abend des St. Firminusfestes, das Fortgehen vom Ball, den Spaziergang beim Steinbruch, die Begegnung mit der Familie Tuboeuf und schließlich die Trennung am Kreuzwege von Clairefont... Sie waren gerade an derselben Stelle angelangt...

»Sehen Sie! Hier war es ... Ich stand noch einige Sekunden still, um ihr nachzublicken, wie sie im Dunkel sich verlor, dann setzte ich meinen Weg nach dem Schlosse fort ... Wäre ich noch einige Minuten geblieben, sie würde noch am Leben sein ...«

Schauerliche, lang hingezogene Klagetöne, die vom Hügel emporstiegen, Mark und Bein durchdringend, wie das ächzende Winseln eines verendenden Tieres, schnitten Robert das Wort ab. Auf der Heide weidete wie gewöhnlich die Schafherde des Rotkopfes die dürftigen Kräuter ab. Doch der scheue Hirte war nicht sichtbar und Robert sah sich vergebens nach ihm um. In dem Schweigen des abgelegenen Ortes erhob sich von neuem das jämmerliche Klagegeheul, und alsbald entdeckten die beiden Männer den Blödsinnigen, der hinter einem großen Steinblock auf seinem Mantel lang hingestreckt auf dem Boden lag, den zur Erde geneigten Kopf in den Händen vergraben, blind und taub für alles, was nicht sein Schmerz war.

»Armer Teufel!« sagte Robert. »Rose allein war freundlich mit ihm... Sie stieß ihn nicht zurück wie die anderen Leute auf dem Meierhofe ... Darum betete er sie auch förmlich an ... Es ist die Freude seines ganzen Lebens, die mit ihr dahingegangen ist ...«

Sie schritten vorüber, und in langen Pausen vernahmen sie immer wieder die weinende, klagende Stimme, die hinter ihnen herhallte. Bald bogen sie von der Straße ab und wendeten sich nach links, wo am Ende einer grünen Lichtung das Dörfchen Couvrechamps lag.

Eine ungewöhnliche Aufregung erfüllte die kleine, sonst stille Ortschaft. Bei dem Eingänge, vor den ersten Häusern, standen Straßenjungen, die zu warten schienen und nun mit dem lauten Rufe: »Da kommen sie!« im Galopp fortstürmten, wie von wildem Schrecken gejagt.

Auf dem freien Platze in der Mitte des Dorfes hatte sich eine ziemlich große Volksmenge zusammengerottet. Von Neuville war man herübergekommen, um den Sohn des Marquis, von zwei Gendarmen geführt, kommen zu sehen und ein Murmeln der Enttäuschung ging durch die Reihen, als man in der blühenden Lindenallee des jungen Grafen ansichtig wurde, der an der Seite Jousselins frei dahinschritt.

»Da sehet ihr, was man Gleichheit nennt!« brummte der Holzschuhmacher von Soucelles, ein wilder Demokrat, dessen Tochter vor einem Jahre von Fräulein von Clairefont gepflegt worden war, als sie an einem typhösen Fieber daniederlag ... »Einem anderen hätte man schon Handschellen angelegt!«

»Handschellen? Sie werden ihn gleich wieder in Freiheit setzen!« fügte eine Stimme aus der Menge hinzu.

»Gibt es denn für diese Leute Gesetze?«

»Ah! Ah! Nehmen wir ihn gewaltsam fest!«

Die Fabrikarbeiter und die Tagelöhner der Sägemühle erhoben ein Zetergeschrei, drangen unter Stößen und Püffen vorwärts, so daß die Menge erschrocken auseinanderstob; die Weiber kreischten laut auf, indes sie die Kinder rasch aus dem Getümmel fortzogen, um der Gefahr, niedergestoßen zu werden zu entgehen, und mit einer unwillkürlichen Bewegung ergriff Jousselin den Arm seines Gefangenen, weniger, um ihn zurückzuhalten, als um ihn zu schützen. Auch die Gendarmen, welche das ärmliche Häuschen Chassevents umringten, eilten rasch zu Hilfe und vor den unter Geklirr von Stahl und Waffen stolz herantrabenden Rossen, wichen selbst die Kühnsten zurück.

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten,« sagte Robert mit großer Kaltblütigkeit zu dem Kommissär, »daß ich Ihnen so viel Unannehmlichkeiten verursache ... Nach all dem Guten, das meine Familie im Lande gethan ... hätte ich wohl mehr Sympathie erwarten dürfen ... Ach, so! Nun erklärt sich alles!« fügte er mit bitterem Lächeln hinzu.

Er hatte soeben vor der Thür des Hauses Carvayan bemerkt, der inmitten einer Gruppe stand, im Gespräch mit Tondeur. Im Hintergrunde, halb verborgen, hielt sich Pascal, vor Aufregung zitternd. Ein tiefes Stillschweigen war ringsum eingetreten. Robert setzte seinen Weg fort, das Auge unverwandt auf den Maire gerichtet, mit stolz erhobenem Haupte, ein wenig blaß, aber in sicherer Haltung. Der junge Mann erschien in diesem Augenblicke, inmitten der drohenden Menge, noch größer und stattlicher als sonst. Eine Frau flüsterte: »Er nimmt sich trotz alledem gut aus.«

Und diese naive Beifallsäußerung erleichterte das bedrückte Herz Roberts. Er empfand die erhebende Gewißheit, daß er mutig die Gefahr bestehe und daß dies erkannt wurde. Ein Gefühl von Stolz überflammte sein Antlitz, und fern von jeder Prahlerei, wie er fern von jeder Schwache war, blickte er ruhig umher. In dem kleinen Gärtchen, das an den armseligen Lehmbau grenzte, befand sich der Untersuchungsrichter in lebhafter Unterhaltung mit einer fremden Persönlichkeit, welche Robert für einen Polizisten hielt, und mit dem Doktor Margueron, welcher ohne Zweifel den ärztlichen Befund zu Protokoll gegeben hatte.

Die Thür des Häuschens stand offen, eine Wachskerze warf einen gelblichen Schein in das Halbdunkel des ärmlichen Zimmers, das ein einziges kleines Fenster besaß, welches ein weißer Rosenstock voll duftender Blüten schmückte.

Ein Seufzer hob die Brust des jungen Mannes. Hier war es, wo die arme, schöne Rose kalt und still den letzten Schlummer schlief. Er empfand keinerlei Furcht bei dem Gedanken, sich ihr gegenüber zu befinden, nur ein Gefühl traurigen Mitleides erfüllte seine Seele. Was hatte er auch von der sanften Toten zu befürchten? Der Anblick ihres Gesichtes konnte ihm Thränen entlocken, aber keinen Schrecken einflößen. Wenn ein Wunder ihr das Leben wiedergegeben hätte, so würden ihre ersten Worte seine Unschuld bezeugt haben.

Und indem er dabei an den wirklichen Mörder dachte, an den, der unentdeckt blieb, der sich vielleicht in der tobenden Menge verbarg und, wer konnte es wissen? eben selbst das Signal zu den gehässigen Rufen gegeben, ballte er vor Zorn die Fäuste. Ah! wenn er diesen Menschen einmal in seine Gewalt bekäme, wie wollte er ihn mit einem einzigen Streiche niederstrecken, um das arme Opfer und sich selbst zu rächen. Irgend ein Gauner ohne Zweifel, welcher heute noch frei ausging, weil die gehässigen Umtriebe Carvanans die öffentliche Meinung sowohl, als die Gerichtsbarkeit irregeführt hatten. Aber dennoch mußten seine offenen, freimütigen Aussagen gar bald alle Zweifel beseitigen und seine Freisprechung sehr leicht bewirken; die Thatsachen würden richtiggestellt und die Nachforschungen nach einer anderen Richtung gelenkt werden, um die Entdeckung des wirklich Schuldigen herbeizuführen.

Im Garten war eine Bewegung entstanden; der Untersuchungsrichter trat ins Haus, gefolgt von dem Schriftführer, der ein großes Portefeuille unter dem Arme trug. Jousselin berührte Roberts Arm, indem er sagte: »Wir müssen ebenfalls eintreten.« Dann fügte er in leiserem Tone hinzu: »Man wird Sie dem Opfer gegenüberstellen ...« Der gute Mann wagte nicht, seinem Gefangenen offen zu sagen: »Nehmen Sie sich in acht, beherrschen Sie Ihre Blicke, Ihre Gesten, Ihre Worte ...« Doch hatte er ihn durch diese Mitteilung von der Gefahr benachrichtigt und ihn vor einer zu heftigen Erregung geschützt, welche leicht für das Erschrecken des Schuldigen gehalten werden konnte.

»Ich bin bereit,« erwiderte Robert, indem er die Schwelle überschritt.

Auf ihrem Bette liegend, vom Kerzenschimmer beleuchtet, schien Rose zu schlafen; das blasse Gesicht, mit bläulichen Schatten an den Schläfen, war von ihren blonden Haaren umflossen, in denen noch hie und da Heidekraut hing. Der Tod hatte ihre Schönheit nicht zerstört, wie ein Lächeln schien es auf den seinen Gesichtszügen zu schweben.

Auf dem Tische stand ein mit Weihwasser gefülltes kupfernes Becken, in welches man frommen Glaubens den Buchsbaumzweig getaucht hatte, den das junge Mädchen am letzten Palmsonntag heimgebracht hatte. Daneben lagen die Schärpe, welche Rose auf dem Kopfe getragen, und das Seidentuch, das sie am Halse gehabt hatte.

Ein munterer Sonnenstrahl, der durch das enge Fenster hereinfiel, umspielte die kupferne Schale, ließ das Wasser regenbogenfarbig schillern und verlieh dem Wollgewebe der Schärpe einen rosigen Schein. Robert stand in der Nähe der Thür andächtig und ernst, wie an einem geweihten Orte. Carvayan, aufgeregter und ängstlicher als der junge Mann, hatte sich hinter diesem ins Zimmer geschlichen.

»Herr von Clairefont,« begann der Richter in unfreundlichem Tone, »treten Sie näher an das Bett heran ... Sie erkennen dieses Mädchen?«

»Ja, mein Herr,« erwiderte Robert mit ruhiger Festigkeit.

Der Richter winkte dem Schriftführer, welcher die Aussagen niederzuschreiben begann. Hierauf wendete er sich zu dem fremden Polizisten und sagte: »Zeigen Sie die Spuren des begangenen Mordes.«

Der Beamte entblößte die Brust der Toten, und auf dem schönen Halse, den Robert nicht ohne fürchterliche Herzbeklemmung ansehen konnte, ward eine dunkelblaue Linie sichtbar. Sodann kam die Reihe an Herrn Margueron.

»Wollen Sie, Herr Doktor, uns gefälligst das Resultat Ihrer Untersuchung mitteilen,« forderte ihn der Richter auf. Der gute Dorfarzt mußte augenscheinlich zum erstenmal in seinem Leben eine derartige Probe bestehen, denn er zitterte heftig, machte eine verlegene Gebärde, wollte sprechen, was ihm aber nicht sogleich gelang, so sehr hatte die Aufregung ihm die Kehle zusammengeschnürt. Nach kurzer Zeit erholte er sich indes wieder, und wie ein lang zurückgestauter Strom sprudelten nun seine Auseinandersetzungen hervor, vermischt mit einer Menge von technischen Ausdrücken, aus denen hervorging, daß, nachdem er berufen worden sei, eine Untersuchung an dem Körper des toten Mädchens, welches sich hier vor aller Augen befände, vorzunehmen, er an dem unteren Rande des Schlundkopfes, wo die Luftröhre beginne, einen mit Blut unterlaufenen Flecken konstatiert habe, welcher durch Zusammenschnüren des Halses vermittelst einer starken Schnur oder eines Tuches entstanden sein müsse; diese Zusammenschnürung habe ungefähr fünf bis sechs Minuten gedauert, das heißt so lange, bis der Tod durch Erstickung eingetreten sei. Irgend eine andere Spur einer Gewaltthat sei von ihm nicht bemerkt worden. Auf Grund dessen, was durch die in Umlauf gesetzten Gerüchte zu seiner Kenntnis gelangt war, meine er, daß der Mörder, indem er sich flüchtete, um der Verfolgung des Vaters und des Gastwirtes Pourtois zu entgehen, bemüht gewesen sei, das Schreien des Opfers zu ersticken, daß auf der hastigen Flucht der Knebel, welchen er dem Mädchen um den Mund gebunden hatte, am Kinn hinabgeglitten sei, und daß während des raschen Laufes der Mann durch ein unabsichtliches Zusammenziehen der Binde die Erstickung herbeigeführt habe. Entflammt von dem stets wachsenden Feuer seines Vortrages, begann der Arzt die Scene mimisch darzustellen... und es bot einen komischen und zugleich unheimlichen Anblick, diesen dicken Mann mit dem ergrauenden Haare zu sehen, wie er, am Fußende des Bettes stehend, vor der Toten und vor dem des Mordes Angeklagten den entsetzlichen Vorgang nachzuahmen suchte.

»Wir danken Ihnen,« unterbrach ihn der Richter, der den Wortschwall des alten Praktikers abzuschneiden wünschte, und stellte darauf an Robert die Frage: »Gestehen Sie, in der Nacht vom 25. auf den 26. September die Rose Chassevent vom Leben zum Tode gebracht zu haben?«

»Nein, mein Herr.«

»Sie wollen uns keinerlei Mitteilung von dem machen, was zwischen Ihnen und dem Opfer vorgefallen ist?«

»Ich habe dem Herrn Kommissär alles gesagt, was ich darüber weiß. Aber ich kann mich wahrhaftig nicht zu einer That bekennen, an welcher ich völlig unschuldig bin.«

»Sehr wohl, doch bin ich genötigt, Sie behufs weiteren Verhörs unter meinem Gewahrsam zu behalten.«

»Thun Sie, was Ihre Pflicht Ihnen gebietet, mein Herr,« entgegnete Robert ernst.

Alsdann näherte er sich dem Lager, auf welchem Rose ruhte, verneigte sich andachtsvoll, kniete nieder und sprach ein kurzes Gebet. Als er sich wieder erhoben hatte, trat er ans Fenster zu dem im Scheine der untergehenden Sonne rötlich schimmernden weißen Rosenstock, pflückte eine der schönsten Blüten, tauchte sie in das Weihwasser und legte sie der Toten auf die bleiche Stirn.

»Adieu, armes Mädchen,« murmelte er mit tiefer Traurigkeit: dann fügte er, zu dem Richter gewendet hinzu: »Ich stehe zu Ihren Diensten, mein Herr.«

Alles schwieg, ergriffen von der rührenden Einfachheit dieses Auftrittes.

Nur Carvayans Stimme ließ sich vernehmen: »Man war in der Familie stets etwas theatralisch... Wer aber zu viel beweisen will, beweist nichts.«

Robert zuckte verächtlich die Schultern, und ohne seinen Feind nur eines Blickes zu würdigen, verließ er in Begleitung des Polizeikommissärs das Haus.

Noch am selben Abende wurde er in das Gefängnis nach Rouen gebracht.


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