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Pastor Claus Hövet.

Der Mann, von dem ich erzählen will, ruht längst unter dem grünen Rasen, und das Dorf, in dem sein Leben sich abgespielt hat, liegt irgendwo an der Nordsee – aber ihr müßt schon die große Generalstabskarte herbeiholen, wenn ihr es finden wolltet, so versteckt liegt es hinterm Deich. Seine Kirche ist das Merkwürdigste an ihm; sie hat drei Türme, von denen der eine aus Holz erbaut ist und daneben steht. Er trägt die Glocken, und die Sage erzählt von den drei Türmen ein anmutiges Märlein; sie seien zu der Zeit, als die Kirche noch keine Türme hatte und ihr Inneres noch ärmlicher als jetzt war, von drei adeligen Geschwistern erbaut worden. Da das schwache Kirchlein aber nur die Türme der beiden ritterlichen Brüder tragen konnte, so habe das Ritterfräulein aus ihren bescheideneren Mitteln den Glockenturm aus Holz erbauen und daneben setzen lassen.

Die Kirche selbst liegt auf einer Wurth, noch heute umgibt sie von allen Seiten ein Graben, über den alte Grabsteine, die dereinst die Gräber der alten Bauerngeschlechter deckten, führen. Eben solche Steine bilden zum Teil die Mauern der Kirche und wer sich Mühe gibt, die verwitterten Inschriften zu lesen, könnte manchen Menschenschicksals trauriges Ende erfahren. Das Gotteshaus selbst macht den Eindruck des Zusammengeflickten; die Mauern des ältesten Teils, nach dem Altar zu, bestehen noch in ihrem unteren Bau aus großen Granitquadern, offenbar Steine, die das Meer ans Land gespült hatte, während der neuere Teil der Kirche ganz aus Ziegeln hergestellt ist, die jetzt auch den Fußboden decken, der einst aus festgestampftem Lehm bestand.

Der ärmlichen Kirche entspricht das Pfarrhaus; es liegt inmitten des sich nördlich an das Gotteshaus anschließenden Friedhofes. Ein paar Stufen führen in das Erdgeschoß; rechts der ziemlich geräumigen Diele ist das Sitzungszimmer des Kirchenvorstandes, links haust die Haushälterin des Pastors Claus Hövet, denn der Seelsorger dieses kleinen Dorfes ist unvermählt. Er selbst bewohnt nur eine Stube; das allerdings ziemlich geräumige Giebelzimmer, zu dem eine knarrende aber bequeme Treppe hinaufführt, ist ihm Studier-, Wohn- und Schlafraum. Wenn man zum Fenster hinausblickt, lernt man die Vorliebe des Geistlichen für dieses Zimmer begreifen; es ist die einzige Stube im ganzen Dorfe, von der aus man über den Deich auf den »blanken Hans«, das weite Meer, hinausblicken kann.

Hier hinauf weist mich auch die mürrische, wenig sauber aussehende Haushälterin, als ich eines schönen Sommertages ihn besuche.

»He ward woll glieks komen,« fügt sie hinzu, »he löppt sick man'n beten upp'n Diek ut – Se weten ja!«

Ja, ich wußte. Pastor Hövet war gestern abend einmal wieder in lustiger Gesellschaft gewesen, und ich gehörte mit zu denen, die mit ihm gezecht. Und nun kühlte er sich die heiße Stirn in der frischen Luft, die vom Meer her wehte.

Da kam er auch schon von der Kirche herüber. Schwere Krempstiefeln an den Beinen, den Südwester tief ins Gesicht gedrückt, den fliegenden Mantel um die Schultern, machte er keineswegs den Eindruck eines Geistlichen.

Als er über den Friedhof hinschritt, trat ihm ein Weib entgegen; sie bat ihn offenbar um etwas, er aber wetterte sie an, als ob er die größte Verbrecherin von der Welt vor sich hätte. Worte wie »Karnickelstall«, »zu früh heiraten«, »Blödsinn« und »bessern« drangen durch die offenen Fenster bis zu meinem Beobachterposten hinauf. Gleichzeitig aber sah ich, wie er die Hand in die Hosentasche steckte und der Frau etwas gab, worauf diese sich trotz der Ausschelte zufrieden davontrollte.

Finsteren Antlitzes schritt Claus Hövet auf sein Haus zu.

»Bande!« donnerte er noch, als er in die Haustür trat. Seine Haushälterin meldete ihm dann offenbar meinen Besuch und fügte noch etwas anderes hinzu, das ich aber nicht verstand.

Dafür erklang aber bald Hövets laute Stimme durchs Haus.

»Dann eet wi eben solten Harung und Pellkantüffeln, Kathinka, ick kann di nicks gewen.«

Die Frau erwiderte etwas.

»De Olsch?« klang wieder des Pastors Stimme. »De hett nich 'mol Kantüffelschell, un soss' Gören, de mutt watt hebb'n. Also auf Wiedersehen zum Diner!« setzte er lachend hinzu und schritt schweren Schrittes die knarrenden Stufen hinauf.

»Heil!« sagte er, als er in die Tür trat, warf den Südwester auf sein Bett und reichte mir die Rechte, »was macht dein Schädel?« – Pastor Hövet duzte jeden – »in mir rumort es wie in einem Mühlwerk.«

»Na, es geht!« antwortete ich, »aber lustig war es!«

Pastor Hövet hatte inzwischen seinen Mantel abgelegt; er trat dann an sein Bücherbort, nahm ein paar Folianten heraus und holte hinter ihnen aus einer ganzen Batterie von Flaschen Lütjenburger Doppelkümmel heraus. Er schenkte sich das ziemlich große Glas voll und bot mir auch eins an.

»Auch?« sagte er freundlich lächelnd, »Hundehaare auflegen!«

Ich dankte. Da schenkte er sich noch ein Glas ein, schob Flasche und Glas an Ort und Stelle und die Bücher davor.

»Auf einem Bein kann der Mensch nicht stehen!« murmelte er und wandte sich mir dann wieder zu. »Du meintest, es sei gestern lustig gewesen. Verzweiflung sage ich dir, nichts als Verzweiflung!«

Erstaunt sah ich ihn an.

»Ja, du kennst das noch nicht, Studiose, und ich wünsch' dir auch nicht, daß du es kennen lernst. Sieh' mal,« und er schob mit der Hand die Gardine zurück und wies auf das Meer hinaus, »jetzt, wo die Sonnenstrahlen darüber hinweghuschen und die Wellen in bunten Farben spiegeln, der Deich sich mit frischem Grün bedeckt und bunte Blumen hineingewirkt sind in seinen Teppich, wo sanfte Winde wehen und dort in weiter Ferne stolze Schiffe mit weißen Segeln ihre Bahnen ziehen, da läßt sich's hier aushalten, obwohl das Bild, das sich uns bietet, wenig wechselt, aber bedenke, Knabe, das ist nur drei Monate so; neun Monate haben wir hier Winter. Ein ewig grauer Himmel, schmutzig gelb das Meer, heiserer Möwenschrei und Pfeifen des Sturmes, – sieh', dann kommt es über einen wie heulende Verzweiflung. Die sonnenarme Seele sehnt sich nach Wärme, – und dann kommt eben das, was du vorhin »lustig« genannt hast. Verzweiflung ist es, nichts als Verzweiflung!«

Und wieder wollte er die Folianten beiseite schieben. Aber mitten in der Arbeit des Einschenkens hielt er inne.

»Was ich dir übrigens sagen wollte, wenn du mich einmal wieder so ›lustig‹ findest, so sei so freundlich und nenne mich nicht ›Pastor‹! Weißt du, das klingt so schlecht. Nenne mich Doktor oder Hövet oder red' mich überhaupt nicht an, aber Pastor und ›en duhnen Kopp‹, das paßt wie ein Fluch in die Kirche. Na, Prost!« Und ein Doppelkümmel verlor sich hinter seiner Krawatte.

»So, nun bin ich wieder Mensch! Herrgott, wenn blos der Jammer nicht wäre. Mein ganzes Leben ist seit Jahren schon ein großer Katzenjammer. Ich sehe auf deinem wackeren Antlitz allerhand Einwendungen, schöne Phrasen von Beruf, Versetzen lassen, Studium. Im Anfang hab' ich es ja auch versucht, aber du weißt, ich bin weder ein gewandter Kanzelredner, noch ein theologisches Licht; überhaupt war es ein Verbrechen an mir, daß mein Vater mich studieren ließ. Handwerker hätte ich werden sollen oder Soldat.«

Seine grauen Augen blickten träumerisch in die Ferne; eine freundliche Erinnerung schien durch seine Seele zu ziehen.

»Ja,« fuhr er endlich fort, »als ich damals, 1871, aus Frankreich zurückkehrte, wäre es noch Zeit für meine Rettung gewesen; aber es war der Traum meiner Eltern, mich auf der Kanzel zu sehen, und so verfehlte ich meinen Beruf ...«

Es war, als wenn eine Träne in seinem Auge glänzte; in diesem Augenblick sah der kaum fünfzigjährige Mann alt und kümmerlich aus.

»Aber ruhig, sehnende Seele,« fuhr er fort, »lange werden sie sich nicht mehr mit mir zu plagen haben. Hier,« und er wies nach dem Herzen hin, »ist das Räderwerk bald abgelaufen und nach oben hin bin ich bereits angeschwärzt genug, daß nach dem letzten Klimbim bei der Fahnenweihe meine Versetzung in den Ruhestand wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen wird.«

»Was war denn das?« fragte ich.

»Ach, nichts von Bedeutung, Knabe! Weißt du, zu den Kriegerfesten holen sie mich von Gott weiß wo herbei. In ihnen lebt die Erinnerung der großen Zeit! heißt es dann; man bittet mich zur Fahnenweihe, Sedanfest oder Kaisers Geburtstag, um die Rede zu halten. Und bei solchen Gelegenheiten kann ich auch zu den Herzen sprechen, weil ich auch mit dem Herzen dabei bin. So war's denn auch neulich in Kuhlendorf; ich hatte die Fahne geweiht, bei dem ländlichen Festmahl den Kaisertoast ausgebracht und endlich von meinen Kriegserlebnissen, wie ich das eiserne Kreuz bei Gravelotte mir geholt, mehreres zum besten gegeben. Und was kommen mußte, kam! Das viele Reden, der Wein und die Erinnerungen stiegen mir in den Kopf; in jubelnder Lust vergaß ich Priesteramt und Priesterwürde. Ich tanzte und trank, trank und tanzte, und nun: das Ende kannst du dir denken ... Angezeigt haben sie mich längst, aber das sage ich dir, Bruder Studio, bereuen tu' ich's doch nicht, daß ich noch einmal den süßen Rausch der Jugend genossen habe ... Sei's drum!«

Und trotzig blickten seine Augen in die Ferne, wirr hing das ergrauende Haar um den Kopf.

*

Aber der »Abschied« kam nicht so schnell wie Pastor Claus Hövet gedacht hatte. »Es kommt immer anders!« würde er selbst gesagt haben.

Eines Tages wanderte er einmal wieder schweren Hauptes auf dem Deich entlang und kam an die Stelle, wo unter dem Deich das Schleusenpriel seinen Abfluß in die See hatte. Als er dort wandelte, fiel ihm plötzlich ein gurgelndes und plätscherndes Geräusch auf, und bei näherem Nachsehen schien es ihm, als ob das in letzter Zeit durch winterliche Regengüsse stark in Anspruch genommene Priel sich einen Nebenkanal gesucht hätte, der nun den Deich zu unterwaschen drohte. Pastor Hövet ging nach dieser Wahrnehmung sofort nach Hause, stärkte sich an seinem Schatz im Bücherbort und begab sich zum Deichhauptmann.

»Deichhauptmann,« sagte er zu ihm, »das Priel hat sich einen zweiten Abfluß gebahnt und unterwäscht den Deich!«

»Is god, Pastor, ick warrd wahrschauen.«

Innerlich aber dachte er, nun sieht unser Pastor all doppelt, und gab dieser Ansicht auch abends am Stammtisch Ausdruck. An den Deich aber ging er nicht.

So kam denn, um mit Pastor Hövet zu reden, was kommen mußte. Der Februar brachte gewaltige Stürme und Sturmfluten; rauschend und polternd fuhren die Wellen gegen den Deich, – aber er hielt. Pastor Hövet, den sein zunehmendes Leiden oft nicht schlafen ließ, wanderte manche Nacht an die gefährdete Stelle; immer wieder hörte er das Gurgeln der Wasser, aber die Wasser schienen das Innere des Deiches, seinen Kern noch nicht erreicht zu haben.

Da kam die Vollmondsspringflut. Tagelang hatte es schon geregnet, und das Priel hatte die Wassermassen, die ihm aus dem Inlande zuströmten, kaum zu fassen vermocht. Der zum Orkan ausgewachsene Wind trieb die schaumgekrönten Wogen den Deich hinan. Kaum zurückrollend wurden sie von den nächst ankommenden donnernd überholt, und so hörte es sich bei dem Brausen des Windes und dem Peitschen des Regens an, als ob ununterbrochen Kanonensalven über das Land dahin brüllten. Auch Pastor Hövet fand keine Ruhe; in den hohen Wasserstiefeln, dem regentriefenden Südwester und dem Ölrock kam er bei der Deichwache an, die das Steigen des Wassers beobachtete.

»Wo ist der Deichhauptmann?« brüllte er durch den Sturm.

»Krank! Fieber!« tönte es zurück.

Er schritt weiter.

»Denn plagt de Dübel!« brummte ihm einer nach.

Der Pastor kam an das Priel. Die Wasser gurgelten wie immer. Da plötzlich, während sein Fuß über die gefährdete Stelle hinwegschritt, sank er ein, und beim zweiten Schritt ebenso. Ein dumpfer Aufschrei entrang sich seiner Brust, und wie von Furien gepeitscht, eilte er zu der Stelle zurück, wo er die Deichwache verlassen hatte.

»De Diek an de Schlüs' is mör!« schrie er ihnen schon von weitem zu und wiederholte es, als er ihnen auf Hörweite nahe gekommen war.

»Watt soll woll!« sagten sie und schüttelten die Köpfe. Aber sie gingen doch mit. Da sahen sie mit starren Augen, daß ihr »toller Pastor« Recht gehabt hatte, aber keiner rührte ein Glied, um das Rettungswerk zu beginnen.

Da stand Pastor Claus Hövet aufgerichtet da.

»Fackeln herbeigeschafft!« donnerte er in die Nacht hinein; »macht das Dorf lebendig und bringt an Sand in Säcken her, was ihr auftreiben könnt!«

Wie ein Offizier, der seine in die Schlacht gehende Kompagnie leitet, ruhig und kaltblütig traf er seine Anordnungen. In die stumpfen Leute kam Leben, sie erkannten die Gefahr, und schnell eilten sie nach allen Richtungen davon. Und während sie das Dorf alarmierten, stand der Pastor auf dem Deich und blickte in das sich immer vergrößernde Loch, in das die Meereswellen schon gierig hineinleckten. Immer weiter mußte er sich zurückziehen, denn der Boden schwand unter seinen Füßen, und mit Schmerzen erkannte er, wie weit der Deich durch die Wasser unterminiert war. Und dabei war es erst halbe Flut. Wehe, wenn bei ganzer Flut die Lücke nicht ausgefüllt war.

Da endlich kamen sie mit ihren Fackeln und Wagen die Deichanfahrt herauf; da der Deichhauptmann noch, wie berichtet wurde, vom Fieber gepackt war, übernahm der Pastor das Kommando. Verzweiflungsvoll wurde gearbeitet, Hövet selbst griff überall ein; er war Kopf und Hand bei der Rettungsarbeit.

Aber alle Mühe schien vergeblich zu sein; widerstandslos wurden die leichten Sandmassen hinweggespült und verschwanden in der Tiefe. Es fehlte an Bohlen und Brettern, hinter denen sie sich festlegen konnten.

Und die Flut stieg höher!

Da rief der Pastor den Leuten zu:

»Holt die Bänke aus der Kirche und stopft damit das Loch; fangt hinten an, – die sind doch meistens leer!« fügte er höhnend hinzu.

Und als die Leute zu zögern schienen, sprang er selbst auf den nächsten Wagen und fuhr durchs Dorf der Kirche zu. Bald folgten die andern!

Es war ein unheimlicher Anblick, wie die Dorfbewohner bei Fackelschein unter der Anführung ihres Pastoren die Bänke aus der Kirche schleppten und auf die Wagen luden. Am liebsten hätte der Pastor auch noch den hölzernen Glockenturm abgebrochen, um das Land zu retten, aber vorerst mußte das genügen.

Und es genügte! Die Bänke wurden in das Siel gesenkt, andere verquer davor gelagert und in die Lücken Sand geschüttet, der sich nun hielt und fest wurde. Es war Tagesanbruch, als Pastor Hövet den Südwester von der schweißtriefenden Stirn nahm und leise das eine Wort »Gerettet!« sprach.

Seine Gemeindemitglieder drängten sich an ihn heran, aber er winkte ihnen ab, und langsam, gesenkten Hauptes ging er über den Deich seinem Hause zu. Müde stieg er die Stufen zu seinem Giebelzimmer hinauf. Auf seinem Schreibtisch fand er ein amtliches Schreiben. Er öffnete es und las. Dann schüttelte er das Haupt.

»Abschied!« murmelte er und setzte sich auf den Rand seines Bettes. »Abschied!«

Als einige Stunden später seine Haushälterin ihm den Morgenkaffee ans Bett bringen wollte, hatte Pastor Hövet Abschied genommen – von dieser Welt!


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