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Der Letzte.

Ich seh' den Alten noch wie heute an der Kaimauer stehen, – die rechte Hand schwer auf den Krückstock gestützt, die linke die Augen beschattend, um den scheidenden Sohn noch einmal zu sehen, ehe er an Bord des »Neptun« ging – er hat ihn niemals wieder gesehen: auch den letzten der drei Söhne hat das gleißnerische Meer dem alten Seebären geraubt.

Schon einmal hatte er ihn verloren geglaubt, als er vor einem Monat ausfuhr mit dem »Pudel«, der nun drüben auf Steinwärder abgewrackt wurde, aber damals hatte ein gütiges Schicksal die Hand über dem blonden Schiffsjungen gehalten. Der Bengel hatte etwas erzählen können, als er von seiner ersten Reise heimkehrte, – manch' befahrener Mann hatte solche Fahrt nicht mitgemacht, und selbst seinem Vater, der so manches Schiff durch Sturmesnot gesteuert hatte, waren die kalten Griesen dabei über den Buckel gelaufen. Er hatte sogar einmal – was ihm sonst noch nie passiert war – seinen Nasenwärmer ausgehen lassen während des Berichtes seines Sohnes.

Und der Junge wurde nicht müde zu erzählen; jeder mußte staunend die Geschichte seiner Fahrt vernehmen.

»Weetst du, Vadder,« so ging die Erzählung gewöhnlich los, de »Pudel« wär jo all bannig rank, un wär uns dat in'n Kanal passiert, dann harrn wie all tosamen dran gleuwen möten ...«

»Kann sien,« pflegte der Alte dann zu nicken, »aber vertell dat man Tante Line, de hett dat ja noch nich hürt ...«

Da Tante Line nicht gut plattdeutsch verstand, fuhr dann Johann auf hochdeutsch fort:

»Es war an einem Freitagmorgen, als wir mit dem »Pudel« von Cuxhaven in See stachen; bis Sonntagabend kamen wir bei anhaltend günstigem Wind und steifer Brise in die Nähe des Kanals. Wir hätten schon viel weiter sein können, aber der alte Kasten war so rank, daß wir selbst bei mäßiger Brise nur Sturmsegel setzen konnten – und mit dem Schiff sollten wir bis Singapore fahren. Daß wir aber nicht in den Kanal kamen, sollte unser aller Glück sein – wie ick di all seggt heff,« wandte er sich an seinen Vater, der, trotzdem er die Geschichte schon auswendig kannte, wieder aufmerksam zuhörte.

»Stimmt, Jehann!«

»Soweit ging alles gut, – da setzte plötzlich nachts um 1 Uhr ein Sturm aus Südost ein, der den »Pudel« fast zum Kentern brachte; um ihn zu erleichtern, mußten wir schleunigst 16 Oxhoft Wasser, die ganze Deckladung, den Hühnerstall, die ganzen Reservespieren und Raen werfen. 16 000 Pfund flogen in die See, und richtig kriegten wir den Kasten wieder vor den Wind. Nun aber wollte er mit einem Male dem Ruder nicht mehr gehorchen, Kapitän und Steuermann fluchten um die Wette, aber es half nichts, der »Pudel« war ein Spiel der Wellen. – Als es Tag wurde, ging der Bootsmann zum Alten und erklärte ihm, die Mannschaft weigere sich, mit dem »Pudel« weiter zu fahren. Der machte zuerst ein ganz verblüfftes Gesicht, als er aber die finsteren Mienen der Leute sah, sagte er ja, und er wolle versuchen, umzukehren ... Dat wär ober nich so licht, denn wi harrn jümmers konträren Wind,« fiel er wieder in seine Muttersprache zurück, »un so krüzten wi denn de ganze Woch öber in de See herum, um jonich up de verdammte Küst von Jütland rupptolopen. In de Nacht to'n annern Sünndag ...«

»Jehann, Tante!« verwies den Erzähler der alte Kapitän.

»Ach so! Also in der nächsten Sonntagnacht kam ein neuer Sturm auf See auf, toller noch als zuvor; und wiederum mußten wir Proviant, Fleischtonnen, Spieren und Segel werfen. Das Schiff kam dabei aber unter die See zu liegen und wurde fortwährend von Sturzwellen überspült. Da wagte der Alte, um uns zu retten, das Letzte; als wir auf unseren Posten waren und auf sein Kommando warteten, da schmiß er mit einem lauten Fluch das Ruder herum, die Segel schlugen an, und im nächsten Augenblick lagen wir gegen die See. Es war aber auch die höchste Not, denn das Schiff lag so schief, daß die Raen im Wasser schleiften. Wäre das Wagnis nicht gelungen, so wären wir sicher gekentert. Nach einigen Tagen kamen wir, da schönes Wetter eintrat, wieder auf der Elbe an, unser »Pudel«, von dem der Alte die Spieren runternehmen ließ, sah aber aus wie ein Wrack ...«

»Nun bleibst wohl zu Hause, mein Johann?« hatte da Tante Line gefragt.

»Nee, ick will Seemann wardn wie min Vadder und – min beeden Bröders ...«

»Un kümmst ok nich torüch,« fiel die Mutter traurig ein.

»Dat kann mi up'n Lann ok tostötten,« war Johanns Antwort, so oft die Rede darauf kam.

Beschwichtigend legte dann Kapitän Kruse die Hand auf die Schulter seiner Frau.

»Dat helpt nix, Modder, wo dat mal insteeken deiht ... Lot em dohn, wat he nich laten kann.«

Auch Kruses Freunde hatten dem Alten abgeraten.

»Ick harr nix seggt, wär de erste Reis' beter wee'n, ober disse Fohrt, dat's ne to slechte Vorbedüdung.«

Aber Johann wollte einmal nicht anders, und der Alte sah es im Grunde doch am liebsten, wenn der Junge dem Berufe seiner Väter folgte.

»Harr ick nich mien Been broken,« sagte er, als er neben dem Abschiednehmenden am Kai stand, »Gott sall mi stroafen, wenn ick nich sülwens mit di noch rut mucht ... Aber Jehann, kumm mi torüch, – Du bist de Letzt' ...«

»Jo, Vadder, jo, mit Goddes Bistand ...«

Und so war Johann mit an Bord des »Neptun«, desselben Schiffes, auf dem ich mich wie s. Z. auf dem »Pudel« befand, gekommen; ich war ordentlich froh, den munteren, aufgeweckten Jungen wiederzusehen, hatte er mir doch während unserer ersten stürmischen Reise manchen Dienst geleistet. Der Untersteuermann, ein Däne, der den Jungen auch kennen mochte, machte aber gleich ein unfreundliches Gesicht.

»Na, du Unglücksvogel,« schrie er ihn an, »bist auf dem »Pudel« noch nicht naß genug geworden? Hättest dein Fell lieber am Lande trocknen sollen als hier an Bord.«

»Auf der See trocknets schneller,« antwortete der Junge und eilte ins Mannschaftslogis.

Die Fahrt durch den Kanal ging diesmal besser, bei schönstem Wetter war auch die Bai von Biscaya passiert, und nun ging es dem Äquator entgegen. Da kam die übliche Taufe; zuerst mußten wir Passagiere »die Linie passieren«, uns von den Gehülfen des Meergottes barbieren und schließlich von Poseidon taufen lassen. Von der Mannschaft hatte nur Johann noch nicht den Äquator passiert; an ihm ließen die rohen Gesellen ihren ganzen Übermut, den sie an uns Passagieren nicht kühlen durften, aus. Schon mehrfach hatte ich die Abneigung der Leute gegen den Jungen bemerkt, und bei dieser Taufe wurde es mir klar, daß sie den Ärmsten geradezu haßten. Nach der Taufprozedur, aus der Johann geschunden und pudelnaß hervorging, sah ich zum ersten Mal so etwas wie Trauer in den Augen des sonst stets fröhlichen Burschen.

Als ich den Kapitän, einen liebenswürdigen und sonst aufgeklärten Mann, darüber befragte, meinte er:

»Das ist ein alter Aberglaube, die Leute befürchten, daß der gleich bei seiner ersten Ausfahrt schiffbrüchig gewordene Junge uns Unglück bringt ...«

»Aber, Kapitän ...«

»Mein lieber Herr, ich glaube ja den Unsinn nicht, aber der Junge hätte doch besser getan, zu Hause zu bleiben.«

Damit ließ er mich stehen. Sonderbare Leute, diese Seefahrer!

Bis zum Kap hatten wir gutes Wetter, dann brach aber ein toller Sturm los; tagelang konnten wir die Kajüte nicht verlassen. Der Orkan hatte uns zu weit südlich getrieben und wir mußten uns glücklich schätzen, daß wir nicht mit Eisbergen in Berührung kamen. Es war empfindlich kalt, Schnee- und Hagelböen gingen fortwährend nieder; mit dichtgerefften Segeln fuhren wir dahin, ja, wir mußten einen Tag sogar fast ganz beidrehen, wobei unser Schiff mächtig zu arbeiten begann. Beinahe hätte mich selbst eine Sturzwelle über Bord geschlagen.

In dieser Nacht hatte Johann mit dem Bootsmann, dem Untersteuermann und einigen anderen Leuten die Wache. Ich lag an einer Erkältung, die ich mir bei dem Malheur mit der Sturzwelle zugezogen hatte, fiebernd in meiner Koje, ein unruhiger Schlaf quälte mich, schreckliche Träume erschütterten meine Nerven ... Wieder einmal war ich eingeschlummert, als ich plötzlich durch einen dumpfen Fall emporschreckte. Während ich aus dem Bette sprang und mich notdürftig ankleidete, hörte ich Stimmengewirr und ein leises Wimmern auf Deck. Als ich die Tür meiner Koje öffnete, trug man die Treppe einen Menschen hinunter.

»Wer ist es?« rief ich.

»Kruse,« lautete die Antwort.

Sie brachten ihn in meine Koje und legten den Blutenden aufs Bett. Johann war aus dem Mast gefallen, die klammen Finger hatten ihn nicht mehr gehalten oder er war von den mit einer Eiskruste überzogenen Masten abgeglitten ... wer will das wissen, das in solchem Augenblick nachrechnen?

Der Kapitän brachte Schnee vom Deck und legte ihm den auf das Haupt und die Brust; aber kaum hatte er Johann die Linderung gebracht, da brach ein Blutstrahl ihm aus dem Munde und färbte den weißen Schnee blutrot. Lange blieben wir bei ihm, ich hatte dem armen Jungen den Arm unter den schmerzenden Kopf gelegt, damit das schlingernde Schiff ihm nicht noch mehr Schmerzen bereite, alle Mittel, welche die Schiffsapotheke bot und der Kapitän kannte, wurden erschöpft – das Bewußtsein kehrte nicht zurück. Erst gegen Morgen schien der Kranke in einen leichten Schlaf zu fallen. Da stahl ich mich leise an Deck, für wenige Augenblicke einem anderen Passagier die Krankenwache überlassend.

Als ich an Deck kam, trat mir der Bootsmann entgegen.

»Guten Morgen, Herr!« sagte er auf meinen Gruß und, nach der Kajüte deutend, fuhr er fort: »Geben Sie sich keine Mühe, der wird nicht mehr!«

»Woher wissen Sie das?«

Er führte mich an das Heck und zeigte mit der Hand nach Südwesten, wo ein schwarzer Punkt aus dem grauen Horizont auftauchte.

»Sehen Sie das?«

»Den schwarzen Punkt, ja! Was soll das?«

»Ein großer Walfisch, der ist gekommen, um seine Seele zu holen ...«

Als ich wieder in meine Koje kam, war Johann tot; friedlich lag er da, mit gefalteten Händen über der zerschmetterten Brust, bleich und kalt. Und kaum hatte der arme Junge seine Seele ausgehaucht, so stieg die Sonne aus dem Meer empor und der Sturm legte sich. Die Leute flüsterten untereinander, und einmal hörte ich, wie der Eine zum Andern leise sagte: »Nu is't vorbi!«

Ja, es war vorüber, der Aberglaube hatte eine neue Kräftigung erfahren.

Wir aber übergaben am nächsten Tage nach Seemannsbrauch Johann Kruses Leiche den Fluten; der Walfisch, der den ganzen Tag über in der Nähe des Schiffes geblieben war, verlor sich in die Ferne.

*

Jahre waren darüber hingegangen; im Osten Asiens hatte ich wie so viele andere mein Glück – nicht gefunden. Ich kehrte nach Hamburg zurück. Da sah ich eines Tages den alten Kapitän Kruse an der Landungsbrücke stehen, gerade so wie vor Jahren, die eine Hand auf dem Krückstock, die andere die Augen beschattend –, nur war er weiß geworden, ganz weiß. Ich trat auf ihn zu.

»Der Letzte,« murmelte er, »der Letzte.«

»Hier, Kapt'n Kruse,« sagte ich, »ein Andenken an ihren Johann,« und reichte ihm eine blonde Locke, welche ich dem armen Jungen kurz vor seinem Tode abgeschnitten hatte.

Verständnislos blickte der Alte auf; er nahm die Locke an sich, aber ohne Dank machte er sich auf den Heimweg.

»Der Letzte,« murmelte er und stützte sich schwer auf den Krückstock.


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