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Eine Sturmnacht auf Scharhörn-Riff.

Wer die zahlreichen Opfer kennt, die Herbst und Frühling alljährlich dem »unermüdlichen« Meere darbringen, wenn die Tag- und Nachtgleichstürme eintreten, wer einmal eine solche unglücksschwangere Wetternacht an den Elb- und Wesermündungen mit ihren zahlreichen gefährlichen Sandbänken, wenn auch nur auf einem Leuchtturm, zugebracht hat – der weiß die ganze Größe der Gefahr zu würdigen, worin die auf Fahrt befindlichen Menschen und Schiffe sich befinden; der bewundert den Wagemut, mit dem Tausende und Abertausende jährlich das Spiel mit den Wellen, den Kampf mit den Winden beginnen.

Es mag nun wohl gut zwanzig Jahre her sein, da verlebte ich einmal einen ganzen Monat auf der kleinen hamburgischen Insel Neuwerk. Dieses Fleckchen Landes, dessen Name aus novum opus übersetzt ist, wie eine Urkunde des Papstes Bonifacius VIII. lehrt, wird durch die Wasserbaubehörde der Hansestadt vermittels teuerer Buhnenbauten vor dem unaufhaltsamen Andrängen des Meeres gerettet und ist etwa so groß, wie – um einen Vergleich heranzuziehen – der Landesausstellungspark in Berlin es ist. Es besitzt als größte Merkwürdigkeit einen fünf Jahrhunderte alten Leuchtturm. Seine massigen Umrisse erblickt jeder, der auf schnellen Dampfern dem fernen Helgoland zustrebt – demselben Helgoland, das dereinst mit Neuwerk und dem Scharhörn, von dem diese Zeilen erzählen sollen, ein und dieselbe gewaltige Halbinsel bildete, die sich weit ins Meer hinausstreckte.

Ich wohnte auf dem Leuchtturm – ehemals wahrscheinlich eine jener Normannenburgen, die man außer hier nur noch im Süden Englands findet – und verbrachte in den gewaltigen, durch die Fenster gebildeten Mauernischen manch' gemütliches Plauderstündchen mit dem Inselvogt. Er war ein alter, biederer Seemann, der hier im Angesicht seines lieben Elements, das er nach allen Richtungen der Windrose durchgepflügt hatte, ein dolce far niente für seine alten, von Gicht geplagten Tage gefunden hatte.

Eines abends im Herbst – es hatte sich nach langen, schönen Sommertagen stürmische Witterung eingestellt – plauderten wir bei einer dampfenden »Welle« über meine Streifzüge durch die Insel, über das Tierleben auf den Watten, den Kampf der Kühe mit den Seeschwalben, wenn jene ein Paar der kleinen wie Kiebitzeier aussehenden Eier zertreten hatten, über den Friedhof der Namenlosen, auf dem die angetriebenen Leichen – noch kürzlich ein Matrose von der »Cimbria« – beigesetzt wurden, kurz über alles, was man sich an einem stürmischen, regnerischen Abend zu erzählen pflegt.

»Eines,« sagte da plötzlich mein Gastgeber, »haben Sie aber doch noch nicht gesehen!«

»Und das wäre?«

Er deutete mit der Hand nach dem nach Westen zu gelegenen Fenster.

»Dort!«

Tiefe Dunkelheit lagerte über der Welt draußen, Regenböen peitschten die Turmfenster, rüttelten an der kreischenden Wetterfahne, und des Aeolus wilder Sohn versuchte vergeblich, den flammenden Lichtkranz des Leuchtturms zum Erlöschen zu bringen. In weiter Ferne zogen Schiffe vorüber, die sich beeilten, ehe die Nacht ganz herabsank, auf die schützende Reede von Cuxhaven zu kommen; wir erkannten sie an ihren Lampen, die wie Irrlichter in der Ferne auf und nieder tanzten.

»Dort, wo gerade jetzt wieder das rote Licht auftaucht, liegt Scharhörn.«

»Eine Bake, ein Seezeichen, weiter nichts ...«

»Nun, Sie werden ja sehen,« erwiderte der Vogt, »das heißt, wenn Sie mit wollen. Ich muß nämlich morgen hinüber, um einmal nach dem Rechten zu sehen. War schon längst nötig, nur das Zipperlein hielt mich ab; jetzt weht's aber ein paar Tage aus Westen, und so muß ich die Gelegenheit benutzen, ehe es wieder vom Lande her pustet.«

Ich schlug ein.

Am nächsten Morgen war ich sehr zeitig auf, um ja die Aufbruchszeit nicht zu versäumen. Als ich mich dem Vogt reisefertig vorstellte, da meinte er, auf das Meer weisend, lächelnd: »Würden sie dadurch reiten?«

»Reiten?«

»Ja, wir könnten auch fahren, aber da ich außer ein paar Flaschen Portwein und einigen Pfund Schiffszwieback keinen Proviant mitnehme, so haben wir es zu Pferde bequemer.«

Mir wurde die Sache immer unklarer.

»Ich dachte, wir würden segeln,« warf ich ein.

»Nein, wenn das Wasser abgelaufen ist vom Watt, so reiten wir wie das Volk Israel durch das Rote Meer. Wir übernachten dort und kehren morgen Mittag mit derselben »Ebbetide« auf das Werk zurück.«

Mit »Werk« bezeichnen die Insulaner ihr Eiland.

Nachdem wir tapfer zu Mittag gegessen hatten – man aß gut auf dem Turm zu Neuwerk; des Vogtes Gattin rühmte sich nicht umsonst, Köchin bei einem Hamburger Senator gewesen zu sein – rüsteten wir uns zum Aufbruch.

Am Fuße des Turmes standen drei gesattelte Pferde von jener stämmigen hannoverschen Rasse, die sich gleichzeitig zum Tragen und Ziehen eignet. Diese drei Gäule paßten besonders zu Watttouren, denn sie scheuten sich nicht, durch die Prielen (flußartige Vertiefungen) zu waten oder gar, wenn es Not tat, zu schwimmen. Wir saßen auf, und im Trab ging es, ein Knecht des Vogtes mit dem mit Mundvorrat beladenen Pferde voran, über die grünen Anger der Insel hinweg dem Weststrande zu. Bald hatten wir diesen erreicht, und nachdem wir an der bereits völlig im Wasser stehenden Westbake vorbeigekommen waren, umfing uns das Wattleben mit all' seinen eigenen Reizen.

Die Sonne, welche den ganzen Tag über nur hin und wieder, wie verschämt, aus den vom Westwind gepeitschten Wolken herausgelugt hatte, trat auf wenige Minuten hervor und spiegelte sich in den tausend Prielen, Tümpeln und Waken, die Strom und Wellen in den sonst wie Zement festen Wattboden gegraben hatten. Und in diesen kleinen Watt-Seen lebte und webte es, während das eigentümliche Geräusch der an ihrer Maulwurfsarbeit befindlichen Schlickwürmer und die klagenden Rufe der sich tummelnden Seeschwalben, Austernfischer, Strandläufer und Möwen die Luft erfüllten. Dort läuft ein Taschenkrebs, schleunigst vor den Menschen fliehend, seine seitwärts gewendete Bahn, hier dicht bei uns schwimmt verängstigt ein Volk Garnelen oder Krabben, die ihr Leben bis zur nächsten Flut fristen, und endlich dort zappelt verendend eine verebbte Scholle. Muscheln, Seetang, hier und dort wohl auch eine Schiffsplanke, Trümmer eines Mastes geben der Scenerie einen eigentümlichen Ausdruck, halb wehmütig und doch wieder Kraft und Leben atmend.

Plötzlich stößt unser Führer, der Knecht des Vogtes, einen warnenden Ruf aus, und fast gleichzeitig macht sein Pferd einen mächtigen Sprung zur Seite. Der Vogt ergreift mein Roß beim Zügel, und behutsam folgen wir dem Knecht, wobei die Pferde fast wie von selbst in die Fußspuren des vorantretenden Genossen treten.

Auf meine verwunderte Frage zeigt der Vogt rechts von uns auf das Watt. »Was sehen Sie dort?«

»Pfahlmuscheln.«

»Ja; wo die sind, befindet sich stets auch Mahlsand; sie sind ein untrügliches Zeichen dafür, daß hier eine jener gefürchteten Stellen des Wattes sich befindet, in denen binnen wenigen Minuten schon oft Menschen, Wagen und Pferde versunken sind.«

Noch öfter begegnen wir solchen Stellen auf den Gründen. Kurz, ehe unsere Pferde den erhöhten Rand des Scharhörn-Riffs emporsteigen, erblicken wir zur linken Hand ein vollständiges Schiffswrack. Der Knecht bedeutet mir, daß dies sein »Holzschlag« sei; zu günstigen »Sommertiden«, wenn der Ostwind das Wasser länger vor der Elbmündung festhält, pflege er mit der Axt und einem Wagen hinauszuziehen, um aus dem Holz der Schiffsplanken seinen Vorrat zu besorgen. Früher, da dieses Überbleibsel noch ein stolzes Schiff gewesen sei, habe es noch edleres Heizmaterial geborgen: Steinkohlen; davon aber habe er nichts erhalten, denn schon in der nächsten Tide nach dem Sturm, in dem das Schiff gestrandet sei, wären die schwarzen Diamanten verschwunden.

Wo sie denn geblieben wären, fragte ich.

Da lächelte der Friese erst mich an, blickte dem Vogt ins Auge und zuckte die Achseln, als wollte er sagen: welch dumme Frage! Dann sagte er gleichgültig: »Die Flut wird sie wohl weggeschwemmt haben!«

So kamen wir denn nach Scharhörn; Schar (friesisch skor, englisch shore) heißt Küste, steile Kante. Das lehrt uns, daß dieses Riff dereinst Meeresufer gewesen ist, gewiß eine Art Vorgebirge der schon erwähnten Landzunge. Jetzt erstrecken sich meilenweit um das Riff herum Sandstrecken und Wattgründe, die dem Forschenden von versunkenen Wiesen und Feldern plaudern. Oben auf Scharhörns mächtigster Spitze erhebt sich, auf Felsen, zum Teil gewaltigen erratischen Blöcken gegründet, ein aus Eichenbalken gezimmertes Bollwerk, das in seiner Krone ein kleines Häuschen trägt, das nur einen Raum enthält.

Die Pferde sind angebunden und wir steigen in die Kammer hinauf.

Es ist ein im warmen Augustmond ganz gemütliches Plätzchen, in dem sich auf den Heubündeln wohl eine Nacht zubringen läßt – man hat im Manöver schon schlechter geschlafen.

Der Vogt ist hinter mir eingetreten; sein erster Blick ist auf zwei Flaschen gefallen, die auf dem einzigen Tisch des Raumes stehen – sie sind leer! Kaum hat der Biedere das entdeckt, so schlägt seine derbe Seemannsfaust krachend auf den Tisch, und ein unwiedergeblicher Wunsch drängt sich über seine Lippen.

Auf meinen fragenden Blick antwortet der Knecht bezeichnend kurz: »Landratten!«

Und sein Herr antwortet: »Jo, Klaus, hast Recht, en Schipper deiht so wat nich!« Und er wendet sich zu mir: »Sie müssen wissen, Herr, daß der Inhalt dieser Flaschen, guter Portwein, armen Schiffbrüchigen, die sich hierher gerettet haben, zum Labsal dienen soll, und da gibt es denn Buben, elende Wichte, die erbärmlich genug sind, wenn sie einmal auf einer Segeltour hierher gelangen, diese Flaschen leer zu trinken.«

»Vielleicht nur aus Unkenntnis!« warf ich ein. Da kam ich aber schön an.

»Ach, was nicht gar! Unkenntnis! Das weiß jedermann, daß hier mitten im Wogendrang keine Kneipe für Ausflügler gehalten wird.«

Klaus hatte inzwischen den Mundvorrat für die Nacht, den frischen Schiffszwieback und die vollen Portweinflaschen hinaufgetragen. Ich sah mir die weiß getünchten Wände an. Sie waren ganz mit Inschriften bedeckt, die meistens von Schiffbrüchen redeten; dazwischen stand auch wieder der hellste Unsinn, der sich freilich traurig genug ausnahm zwischen all' den ernsten Erinnerungen, die die Wände da trugen.

Kaum hatte ich es mir dann bequem gemacht auf einem der trefflichen Heubündel, da mahnte Klaus auch schon wieder zum Aufbruch mit der Bemerkung, das Wasser steige schneller als er geglaubt habe. Sein Herr bedeutete ihm aber, daß wir die Nacht hier zuzubringen gedächten; er solle nur mit den Pferden heimkehren und uns mit der Morgentide abholen. Der Brave machte ein ganz verdutztes Gesicht, polterte dann aber schnell mit seinen schweren Holzschuhen die eichenen Stufen hinunter und schwang sich auf sein Pferd, die andern beiden Rosse nachziehend. Von der Treppe aus sahen wir ihn noch mehrmals während seines Wattrittes bedächtig den Kopf schütteln; das galt sicherlich uns.

So waren wir denn allein! Auf zwölf Stunden abgeschnitten von aller Verbindung mit der Welt, um uns nur Wogen und Sand, über uns ein von sturmgepeitschten Wolken bedeckter Himmel. Früher als sonst zu dieser Jahreszeit sank die Nacht herab, und mit dem Dunkelwerden rauschte ein Regen hernieder, der unserem Auge selbst die Lichter der fern ziehenden Schiffe entzog. Der Vogt schob einen Laden vor das Fenster und entzündete dann erst ein Licht, indem er mich unterrichtete, daß so verfahren werden müßte, damit nicht die Schiffer und Lotsen durch ein falsches Licht irregeführt würden und ihre Segler und Dampfer auf falsche Bahn brächten.

Wir verzehrten unsere Abendmahlzeit und dann streckten wir uns müde auf unsere Heubündel. Der Vogt schnarchte bald; mich aber ließ das Unwetter drunten nicht zum Schlafen kommen. Ich hatte auf der See Stürme durchgemacht, hatte in alten Schlössern und Burgen gewohnt, um die der Nordwind grausige Melodien pfiff, ja auf Bergesgipfeln in einsamer Hütte Schneestürme überstanden – aber eine Nacht wie diese hatte ich noch nicht erlebt.

Im alten wetterfesten Hause von Neuwerk wußte man sich trotz dem Kreischen der Wetterfahne, dem Klirren der Dachrinnen sicher und geborgen, die Hütte in den Alpen war durch die dahinter aufragende Wetterwand geschützt – hier war es anders. Hier heulte der Wind über und unter uns, er rüttelte an allen Sparren der Wände und spielte in grausigen Orgeltönen um das eichene Gebälk, daß es in allen Fugen zu krachen schien. Und unten in der Tiefe rollte Woge auf Woge heran, donnernd bald an die Felsen schlagend, bald leise rauschend mit ihren Kämmen den Boden unserer Kammer berührend.

Nicht immer mit gleicher Gewalt brauste das Unwetter: bald schien es ferner zu sein, und nur das eigentümliche Rauschen, das niemand vergessen wird, der es in einer Orkannacht gehört hat, hielt an. Dann aber zog es heran: wie ein Vorbote kommenden Unheils schlug klatschend der Regen gegen das Fenster und die Wände, und dann brach mit einem Mal die ganze Gewalt des Orkans aus. In seinen Grundfesten erbebte das Häuschen, und mehr als einmal legte ich mir besorgt die Frage vor, ob es nicht ein tollkühnes Wagnis gewesen sei, so eigentlich zwecklos sein Leben diesem armen Bretterbau anzuvertrauen. In solchen Augenblicken erscholl mir aber tröstlich, wie einem Kinde das Wort der Mutter, das unbesorgte, feste Schnarchen des Vogtes; diesem Greis war der Lärm dort draußen Wiegengesang, aus seinem gesunden Schlaf konnte er ihn nicht wecken. Mir aber zauberten die Stimmen dieser Nacht Schreckbilder vor die geängstigten Sinne, wie ich sie nie zuvor gekannt. Bald schien es mir, als wenn ein Mensch mit gewaltigem Tritt die zu unserer Bude führende Treppe heraufschritte – jetzt mußte er oben sein und die Tür öffnen.

Da plötzlich ertönte ein lang gezogener klagender Schrei durch Nacht und Sturmesgrausen dahin. Sofort zauberte mir meine Einbildungskraft die furchtbaren Scenen eines Schiffbruches vor. Einer der Mannschaft schwamm auf schmalem Brett der Felsbank zu, auf der wir weilten. Schon der Rettung nahe, warf ihn eine Woge mit Gewalt an den Fels – der lang gezogene Schrei war sein letzter Seufzer gewesen.

Da ertönte der Ruf wieder – ich sprang auf, vielleicht konnte ich doch noch retten; ich eilte zur Tür und wollte sie aufreißen, da legte sich des Vogtes schwere Hand auf meine Schulter.

»Was wollen Sie?«

»Der Schiffbrüchige ...«

»Sie träumen wohl?«

Wieder ertönte der klagende Schrei, und völlig wach rief ich nun: »Hören Sie nicht den Ruf?«

»Ja,« sagte der Vogt, während er mich auf mein Heubündel niederdrückte, »eine Möwe, die um eines Seemanns Sterben klagt. Gott sei seiner armen Seele gnädig!«

»Amen!«

Während ich nun wieder einzuschlafen versuchte, summte mir die letzte Strophe des alten schwermütigen Liedes durch den Kopf:

Eine Möwe seh' ich ziehen
Weithin übers blaue Meer,
Und ihr Ruf, ein leises Jammern:
Kann die Klage deuten wer?

Am Morgen schien die Sonne wieder freundlich in unser Kämmerlein. Verschlafen rieb ich mir die Augen. Über dem noch immer tobenden Meere lag Sonnenglanz, und vom Neuwerker Strande trabten munter drei Pferde heran, um uns von Scharhörn-Riff und seiner Bake abzuholen.


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